Zum Interpretieren von Architektur
Konkrete Interpretationen

13. Jg., Heft 1, Mai 2009

 

___Alban Janson
Karlsruhe
  Zeigen und Entziehen.
Die Villa Müller in Prag von Adolf Loos

 

abb01.jpg (9347 Byte)
Abbildung 1


abb02.jpg (24390 Byte)
Abbildung 2


abb03.jpg (13804 Byte)
Abbildung 3


abb04.jpg (11315 Byte)
Abbildung 4


abb05.jpg (11681 Byte)
Abbildung 5


abb06.jpg (20564 Byte)
Abbildung 6


abb07.jpg (32993 Byte)
Abbildung 7


abb08.jpg (18052 Byte)
Abbildung 8


abb09.jpg (18555 Byte)
Abbildung 9


abb10.jpg (15474 Byte)
Abbildung 10


abb11.jpg (13605 Byte)
Abbildung 11


abb12.jpg (25720 Byte)
Abbildung 12


abb13.jpg (15802 Byte)
Abbildung 13


abb14.jpg (29284 Byte)
Abbildung 14


abb15.jpg (56706 Byte)
Abbildung 15
 
  Was sich vor uns verschließt, zieht uns zugleich an. Die versiegelte Hülle, die einen kostbaren Inhalt nur erahnen lässt, lockt uns mehr als das offen Dargebotene. Diese gegensätzlichen Impulse, die bereits den Eintritt ins Haus verführerisch machen, sind charakteristisch für das, was Adolf Loos die „Introduktion“ nennt.  

Mit Hilfe der Introduktion erscheinen die Preise im Luxusrestaurant schließlich billig. Das Vestibül muß so sein, daß Menschen, die die Preise nicht bezahlen können, sich nicht hinein trauen. Der Gast, der sich entschlossen hat, dort ein Beefsteak um 3 bis 4 Schilling zu essen, macht auf – die Türe wird vor ihm aufgerissen – (das Beefsteak kostet 4 Schilling). Er sieht den Portier, Damen in großer Toilette (das Beefsteak kostet 5 Schilling), der Hut der Schirm, wird ihm abgenommen (6 Schilling). Endlich betritt er das Lokal, hört Musik, sieht Kellner, alles ist vornehm. Er denkt sich: Das Beefsteak kostet 8 Schilling. Er setzt sich. Die Speisekarte wird ihm gereicht. Ängstlich sucht er nach dem Beefsteak. Es kostet nur 2 Schilling 50 Groschen. Wie billig! Er atmet auf.“[1]  

Bei der Villa Müller setzt die Introduktion schon vor der Haustür ein, zu der man ein paar Stufen hinuntersteigen muss und die daher eigentümlich weit unten an der Villa angebracht erscheint. (Abbildung 1) Das Haus mit seinen großen geschlossenen Außenwandflächen und den im Verhältnis dazu kleinen Öffnungen zeigt sich in der ganzen äußeren Erscheinung hermetisch und abweisend, es will offenbar nichts von sich und seinen Bewohnern preisgeben. „Das Haus sei nach außen verschwiegen, im Inneren offenbare es seinen ganzen Reichtum.“[2], verlangt Adolf Loos. Als Einziges zeigt sich die überdachte Eingangsnische, ganz mit gelbem Travertin ausgekleidet und mit einer Sitzbank, einladend und von einer gewissen Durchlässigkeit (gemäß der assoziativen Wirkung des im Gegensatz zu den glatten Putzflächen porigen Materials). Hier scheint das Innere etwas aufzuklaffen.

Der Kontrast zum spröden Äußeren ist frappierend, wenn man schließlich das Haus betritt. Die in die Eingangsnische ausgestülpte Travertinverkleidung war nur der Auftakt zu einem Reichtum an Farben, Materialwirkungen und räumlicher Dramatik, der sich nun entfaltet. „Im Inneren des Hauses schwelgt der Kulturmensch in Samt und Seide.“[3]

Smaragdgrün glasierte Opakglas-Platten begleiten zu Anfang den Weg durch das Vestibül tiefgründig schimmernd. Unten ins Haus eingetreten gleitet der Ankömmling zunächst durch diesen niedrigen Gang, wie durch eine wässrige Passage (Abbildung 2).

Der dann folgende Vorraum ist einheitlich mit einer quadratisch kassettierten Holzvertäfelung gefasst, die mit ihrer matt glänzenden, weißen Lackierung wie eine Schatulle erscheint, in der die Bewegung vorläufig zur Ruhe kommt. Nach einem axialen a – b – a – Schema auf zwei gegenüberliegenden Wandseiten streng geordnet erscheint er vorwiegend auf sich selbst bezogen (Abbildung 3).

Hier zeigt sich bereits der typische Afforderungs-Doppelcharakter, der für das Bewegungserlebnis im Haus Müller charakteristisch ist: Indem die Flurpassage sich geradlinig in den bereits sichtbaren Treppenstufen fortsetzt, zeigt sie den weiteren Wegverlauf an und fordert zum streifenden Vorbeigleiten auf. Die statische Ordnung des Vorraums dagegen veranlasst den ankommenden Gast aus der Bewegungsbahn heraus zu treten, um in der doppelt zelebrierten Mittelachse die Garderobe zu finden oder sich auf der Sitzbank zum kurzen Verweilen nieder zu lassen. Wäre das Blau der Decke etwas heller, würde sich Raum nach oben weiten, etwa als Vorankündigung für die weitere Höhenentwicklung des Hauses.

Um von hier aus weiterzukommen, muss man sich nun durch eine enger werdende gewundene Passage über die sieben Stufen einer um 90 Grad gewendelten Stiege aus den Vorraum-Niederungen hinaufschrauben. Dort erreicht man das Niveau des Salons. Die Dramatik dieses Übertritts ist auffällig. Wie wenn man in einen Schrank steigt, wird man durch die Vertäfelung der „Schatulle“ aufgenommen, ohne zu sehen, wohin es geht (Abbildungen 4 und 5). Nur indirekt durch die glänzende Lackschicht reflektiertes Licht lockt geheimnisvoll. Während des Hinauf- und Hindurchwindens geschieht die Verwandlung. Oben wird das Ergebnis präsentiert: Der Ankömmling kommt dort zunächst in einer nur etwa zwei Meter hohen Nische zu stehen wie die Figur in einer Skulpturennische; vor ihm, noch durch eine weitere Raumschicht getrennt, der doppelt so hohe Salon, der die ganze Gebäudebreite einnimmt und sich durch die Fenstertüren auf das Landschaftspanorama des Moldautales hin öffnet. Die Größe dieses Raumes und die Ausdehnung in die Ferne weiten sich durch den Kontrast zum Etui-Maßstab der Nische für den Eintretenden nur umso mehr.

Er ist der Macht des großen Raumes jedoch nicht unmittelbar ausgeliefert, denn noch steht er außerhalb des Salons, zögert noch, sieht hinein, wird gesehen und weiß sich gesehen, wie er da gerahmt in der Nische steht. Wie allenthalben im Haus Müller tangiert sein Weg zunächst nur den Raum. Auch mit dem nächsten Schritt betritt der Ankommende den Salon noch nicht, hat jetzt aber schon die volle Raumhöhe über sich, reichlich Luft, um sich – von unten aus den niedrigen Vorräumen kommend – nun ganz aufzurichten (Abbildung 6).

Diese Stelle ist das Gelenk und der Schlüssel für das Raumerlebnis im „öffentlichen“ Teil des Hauses. Hier liegt die dramatische Klimax in der Sequenz der Bewegungsetappen, hier ist die delikateste Position für das Sehen und das Gesehen-Werden, und gleichzeitig berührt das Öffentliche, wie sich zeigen wird, hier am engsten sich mit dem Intimsten (Abbildung 7).

Ob die Bewegung sich jetzt nach rechts oder nach links wendet, sie scheint jeweils in eine andere Welt zu führen. Es ist so, als würde sich in der Rechtswendung der Raum öffnen, groß und weit werden, in der Linkswendung sich dagegen introvertiert zurückziehen und verdichten. Der Aufstieg aus der Vorraumzone hat mit einer Linkswendung auf der Stiege begonnen. Wer nun dieser Drehrichtung weiter folgt, setzt den Aufstieg fort zum Zimmer der Dame, ohne in den riesigen Salon einzutreten. Ihn nur streifend führt die weitere Linksdrehung stattdessen weiter ins Innere und in immer engeren Windungen in die Intimität des Boudoirs. Dagegen bietet sich einer nach rechts ausgreifenden Geste von hier aus der ganze Bereich des Gemeinschaftslebens, Salon, Terrasse, Speisezimmer sehr offen dar. Über die Stufen hinauf, zur Plattform des Speisezimmers, öffnet sich der Raum noch weiter. Es ist die Route, auf der – in umgekehrter Richtung – auch die Bewohner aus den oberen Gemächern den Wohnbereich betreten, mit dem freien Überblick über die offen vor ihnen liegende Raumlandschaft.

Die Wendungen nach rechts und nach links sind zugleich Windungen. Durch die Schraubbewegung über die teilweise gewendelten Stiegen windet sich der Benutzer entweder zwischen engen Begrenzungen hindurch und bohrt sich ins Innere hinein, so prägt auch die Art der Annäherung den Charakter des Aufenthalts im Damenzimmer. Oder aber er windet sich heraus, befreit sich im Aufstieg aus der Masse. Treppenläufe mit wenigen Stufen wechseln sich so mit Podesten ab, dass das Treppensteigen nicht zur Last wird. Vielmehr kommt eine rhythmische Bewegung zustande, die mit ihren ständigen Richtungs-, Steigungs- und Blickwechseln sogar etwas Spielerisch-tänzerisches bekommt.

Zurück zu der Nische, aus der heraus der Gast seinen Auftritt hat. Nach rechts dehnt sich der Salon mit seiner Längsachse von elf Metern zwischen den zwei axial gegliederten Stirnwänden aus. Tritt man in sein weites Inneres, ist man umschlossen von dem stabilen, symmetrischen Raumgerüst aus Pilastern und Balken und der umlaufenden Schwelle des im Parkett eingelegten Mahagonistreifens (Abbildung 8). Hier herrscht eine erhabene, klassische Ordnung die den Eindruck eines zeitgenössischen Besuchers verständlich macht, dass „dessen donnernde Ruhe uns einen Augenblick zu Boden wirft.“[4] Durch die subtile Stofflichkeit jedoch wird der Raum in Vibration versetzt. „Grün-geäderter Marmor mit „rötlich-blauen und gelben Einsprenkelungen“[5] überzieht Wände und Pfeiler. Zusammen mit den Textilien in unterschiedlichen Farben und Mustern erscheint er wie die durchgewebte Bekleidung des Raumes. Die Stoffe mit ihren Texturen und Farben, ihren in Blick und Berührung erlebten Sinnenreizen und Anmutungen, sind für Adolf Loos das Mittel, einem Raum seine unverwechselbare Stimmung zu verleihen[6]. „Die Materie muss wieder vergöttlicht werden. Die Stoffe sind geradezu mysteriöse Substanzen. Wir müssen tief und ehrfürchtig staunen, dass etwas Ähnliches überhaupt geschaffen wurde.“[7]

So schafft auch die dunkle Tiefenstruktur des auf Hochglanz polierten Mahagoniholzes der kassettierten Decke und der Möbel im Speisezimmer zusammen mit den Spiegelungseffekten eine eigenartig hintergründige Raumwirkung (Abbildung 9); wobei der Raum im Gegensatz zu den fein differenzierten Texturen und Farben des hellen, weiten Salons streng und kompakt erscheint. Als Resonanzkörper mit dunklem Nachklang hängt er unter der Decke, in der er sich durch die Reflektion in der polierten Oberfläche doch noch einmal weitet.

Ganz anders die Welt der Innerlichkeit im Kleinen, die der Besucher erreicht, wenn er sich von der Ankunftsnische aus nach links wendet (Abbildung 10). Vom Vorraum kommend, über die gewendelte Stiege und die niedrige Nische, folgt der Weg nach dem knappen Versatz Richtung Salon in fortgesetzter Linksdrehung einer weiteren gewendelten Treppe und verschwindet wieder in einem engen Raumspalt. Dort öffnet sich die Tür zum Zimmer der Dame. Im Inneren führen drei Stufen nochmals nach links, und eine letzte Linkswendung bringt die Bewegung unmittelbar danach in der Sitznische zu ihrem Ende. Die Anordnung der Polster verlangt, dass man sich zum Niederlassen noch ein weiteres Mal dreht, um sich im Sitzen schließlich wieder zur Raummitte zu wenden. Auf dem Weg hierher werden die Wegabschnitte zuletzt immer kürzer und enger, liegen immer höher und immer weiter im Inneren. Der Weg schraubt sich als Spirale eingedreht nach innen-oben, bis in der Sitznische mit nur 1,90 m Raumhöhe der höchste und innerste Punkt erreicht ist. Die Sitznische selbst ist ein Raum im Raum, ein kleines Gehäuse, das an den drei Wänden und selbst an der Decke mit Zitronenholz ausgekleidet ist und sich selbst wieder im Inneren eines Zimmers befindet.

Der immer weiter ins Innere vordringenden Bewegung folgend wird es vom Besucher, der am „Leben bei Tage“ teilhat, als die Stelle größter Innerlichkeit im Haus erfahren, intimer noch als die Schlafzimmer im Obergeschoss, denn diese sind seiner Wahrnehmung gänzlich entzogen und gehören dem „Leben bei Nacht“[8] an.

Das ganze Vorspiel von durchlaufenen Wegetappen, Raumschichten und Steigungen, von hinausgezögerter Ankunft und Hinhalten in farbig und materialreich ausgestatteten Raumzonen steigert die Bedeutung des am Ende erreichten Ziels. So werden durch die Introduktion vom Eingang über das Vestibül den Vorraum und das Zwischenpodest die Ankunft im Salon und im Speisezimmer vorbereitet. Das innerste Ziel aber, das intime Zentrum und Herz des Hauses, ist das Boudoir, das Zimmer der Dame. Mehr Schichten sind zu durchdringen, mehr Windungen zu durchlaufen, um dorthin zu gelangen.

Es wurde auf die Parallele zur Kleidung hingewiesen[9], wie sie etwa Robert Musil bei den Menschen früherer Zeiten schildert:  

„Mit dem großen Kleid, seinen Rüschen, Puffen, Glocken, Glockenfällen, Spitzen und Raffungen hatten sie sich eine Oberfläche geschaffen, die fünfmal so groß war wie die ursprüngliche und einen faltenreichen, schwer zugänglichen, mit erotischer Spannung geladenen Kelch bildete, der in seinem Inneren das schmale weiße Tier verbarg, das sich suchen ließ und fürchterlich begehrenswert machte. Es war das vorgezeichnete Verfahren, das die Natur selbst anwendet, wenn sie ihre Geschöpfe Bälge sträuben oder Wolken von Dunkelheit ausspritzen heißt, um in Liebe und Schreck die nüchternen Vorgänge, auf die es dabei ankommt, bis zur Torheit zu steigern.“[10]  

In das Boudoir der Dame vorzudringen, verlangt von den Freundinnen oder dem Besucher die Überwindung eines windungsreichen Weges mit Steigungen und Hindernissen, bevor das Schatzkästchen in wertvollem Zitronenholzfurnier und mit feinem Cretonne bezogenen Polstern mit Rosenmuster erreicht ist (Abbildung 11). In der Sofanische sitzend wird schließlich den Sinnen geboten, was kein Bild wiedergeben kann. Für Loos ist wichtig, dass die Menschen in seinen  

Zimmern den Stoff um sich fühlen, dass er auf sie wirke, dass sie von dem geschlossenen Raum wissen, dass sie den Stoff, das Holz fühlen, dass sie es mit ihrem Gesicht und Tastsinn, überhaupt sinnlich wahrnehmen, dass sie sich bequem setzen dürfen und den Stuhl auf einer großen Fläche ihres peripheren Körpertastsinns fühlen und sagen: Hier sitzt es sich vollkommen.“[11]  

Nun liegt aber über dem Sofa eine Fensteröffnung, die in ihrer Lage zwei wesentliche Raumbezüge herstellt: Erstens ist sie vom Salon her sehr gut sichtbar, und man kann von ihr aus in den Salon (und über ihn hinweg durch die Fenster in die Landschaft) sehen. Zweitens liegt sie genau über der Nische, aus welcher der Besucher auftaucht, wenn er von Vorraum und Vestibül heraufgestiegen ist (Abbildung 12).

Wie im Ausguck, erhoben über der Szenerie des geselligen Lebens im Salon, hat die Dame ihren Platz (Abbildung 13). Wenn sie dort oben (mit ihren Freundinnen) in der Sofanische sitzt, nimmt man sie vom Salon aus allenfalls als Schatten wahr – dafür ist der Blickwinkel zu ungünstig, das kleine Fenster zu stark vergittert und verhängt – man ahnt ihre Gegenwart nur. Was deutlich gezeigt wird, ist das Gehäuse innerhalb des Hauses, dessen Wände man auf verschiedenen Seiten von außen sieht, präsentiert als Herzkammer für den ganzen räumlichen Organismus (Abbildung 14). Das Innere bleibt zwar den Blicken der Gesellschaft weitgehend entzogen, aber durch die Art der Zurschaustellung seines Behälters mit der sparsamen Öffnung wird eine Art Schlüssellocheffekt erreicht, den man mit dem voyeuristischen Blick assoziieren mag: Die nur erahnte, verhüllte und verborgene Frau als Objekt der Begierde[12].

Sieht man sie dagegen als die Herrin des Hauses, die Privatheit und Respektabilität des Hauses garantiert[13], dann mag das Zimmer der Dame eher als Ort des Überblicks in strategischer Position empfunden werden, zugleich in dieser Funktion aber auch wieder zur Schau gestellt. Welchen Blickwinkel man auch einnimmt, ein Ausschnitt des häuslichen Lebens wird wie in einer Szene vorgeführt. Ob Ort der Intimität oder der Kontrolle, das gesellige Leben im Salon wird immer von dieser Stelle her beherrscht und in Spannung gehalten, ihm kann sich keiner der Anwesenden entziehen.

Die Positionierung der Sitznische im Boudoir exakt über der Nische, in welcher der Besucher ankommt, fügt dem Erlebnis eine weitere Dimension hinzu: Wer nicht das erste Mal hier steht, weiß dass er sich dort genau unter dem Sitz befindet, auf dem die Dame des Hauses mit ihren Freundinnen tuschelt. Die Dame (mit ihren Freundinnen) weiß, dass der Ankömmling, dies wissend, genau unter ihrem Sitz steht[14], die Salongesellschaft sieht mit einem Blick den Ankömmling unter der Sitznische der Dame stehen. Das Fremde und das Intimste werden auf emblematische Weise räumlich zusammen gebracht und wahrgenommen (Abbildung 15).

Das Boudoir ist kein Serail (auch wenn die Position des Haramlik im islamischen Haus in der gleichen Beziehung zur Wohnhalle steht[15] und das Gitterornament an die islamische Mashrabijah erinnern mag), natürlich nimmt die Dame des Hauses an der Gesellschaft im Salon teil. Das Boudoir aber ist immer präsent als der zentrale Ort an dem sie sich entzieht, selbst wenn sie gar nicht dort ist. Es ist der wahrnehmbare Intimitätspol, an dem die Vertrautheit des Wohnens verankert ist.

Das zentrale Erlebnis im Haus Müller ist das Wohnen. Auch der Gast erlebt das Wohnen als „Bleibe“, indem er sich bereits bei der Ankunft im Spannungsfeld zwischen dem Intimitätspol, der sich deutlich zeigt, und dem anderen das sich entzieht, selbst vorfindet.

Etwas Ähnliches spricht Emmanuel Levinas an, wenn er Vertrautheit und Intimität im Wohnen nicht von der unmittelbaren Konfrontation mit der Gegenwart des Anderen erwartet,  

die Gegenwart des Anderen muß sich vielmehr, gleichzeitig mit dieser Gegenwart, in seinem Rückzug und in seiner Abwesenheit offenbaren. Diese Gleichzeitigkeit ist nicht eine abstrakte Konstruktion der Dialektik, sondern das eigentliche Wesen der Diskretion. Und der andere, dessen Anwesenheit auf diskrete Weise eine Abwesenheit ist, von der aus sich der gastfreundliche Empfang schlechthin, der das Feld der Intimität beschreibt, vollzieht, ist die Frau. Die Frau ist die Bedingung für die Sammlung, für die Innerlichkeit des Hauses und für das Wohnen.“[16]
 


 

 

Anmerkungen:

 

[1] Kulka, Heinrich (Hg.), Adolf Loos. Das Werk des Architekten. Wien1931, S. 36f

[2] Loos, Adolf, Sämtliche Schriften in zwei Bänden, hg. von Franz Glück. Bd. 1, Wien München 1962, S. 339

[3] Ebd., Bd. 2, Wien München 1962, S. 118

[4] So Robert Scheu in einem Artikel für das Prager Tagblatt 1931, zitiert nach Rukschio/Schachel, S. 611

[5] Ebd., S. 616

[6] Vgl. Loos, Adolf, Das Prinzip der Bekleidung. In: Ders., Sämtliche Schriften, a. a. O., S. 105f

[7] Loos, Adolf, Die potemkin’sche Stadt. Verschollene Schriften 1897-1933. Wien 1997, S. 209

[8] Unter dem Titel „Wohnen lernen!“ propagiert Adolf Loos die Trennung in einen öffentlichen und einen privaten Wohnbereich. „Der Mensch im Eigenheim wohnt in zwei Stockwerken. Er trennt sein Leben scharf in zwei Teile. In das Leben bei Tage und in das Leben bei Nacht“. Loos, Adolf, Sämtliche Schriften a. a. O., S. 383f. Der beschriebene Zugang ist der „öffentliche“ Weg zum Zimmer der Dame, den die Besucher gehen und der es mit dem Salon verbindet. Über einen zweiten Zugang kann die Dame – für den Besucher unsichtbar – von „innen“ auftauchen, aus dem Bereich des „Lebens bei Nacht“ im Obergeschoss.

[9] Den Hinweis entnehmen wir der Arbeit von Leslie van Duzer und Kent Kleinman, Villa Müller. A Work of Adolf Loos. New York 1994, S. 45

[10] Musil, Robert, Der Mann ohne Eigenschaften (1930) 11. Auflage, Reinbek 2000, S. 279 „Die wasserhelle Aufrichtigkeit, sich nackt zur Schau zu stellen, würde selbst einem Menschen, der wenig Vorurteile hatte und in der Würdigung des entkleideten Leibes von keinerlei Scham behindert wurde, damals als ein Rückfall ins Tierische erschienen sein, nicht wegen der Nacktheit, sondern wegen des Verzichtes auf das zivilisierte Liebesmittel der Bekleidung.“

[11] Loos, Adolf, Die potemkin’sche Stadt, a. a. O., S. 211

[12] Vgl. Colomina, Beatriz, The Split Wall: Domestic Voyeurism. In Dies. (Hg.), Sexuality and Space. New York 1992, S. 73-128

[13] Laura Mulvey, zitiert nach Colomina, a. a. O., S. 82

[14] Diese Beobachtung verdanke ich Arno Lederer.

[15] Vgl. Kühn, Christian, Das Schöne, das Wahre und das Richtige – Adolf Loos und das Haus Müller in Prag. Braunschweig 1989, S. 37ff

[16] Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität (1980). Freiburg München 1993, S. 222



 


feedback