Das Konkrete und die Architektur
14. Jg., Heft 1, Oktober 2009

 

___Susanne Hauser
& Claus Dreyer

Berlin / Detmold
  Editorial

 

   

Die Rede vom Konkreten in der Architektur erscheint zunächst paradox: Ist Architektur nicht per se konkret, die konkreteste aller Kunstformen, so dass es tautologisch wäre, über ihre Konkretion zu reden? Erfordert es nicht eine erhebliche Abstraktion, wenn man in der Architektur ein besonderes Konkretes hervorheben will, das hinter, über, unter oder vor den ohnehin konkreten architektonischen Phänomenen steht?
Eine eindeutige und verbindliche Definition des „Konkreten“ in der Architektur gibt es bisher ebenso wenig wie für die Begriffe „Konkretion“ und „Konkretismus“. Aber diverse Facetten dieser Begriffe und der dahinter stehenden Konzeptionen tauchen seit langem und wiederholt in architekturtheoretischen und -praktischen Diskursen auf – nicht nur, wenn das Haptische, Materielle und Tektonische verhandelt wird, sondern auch im Zusammenhang mit so unterschiedlichen Konzepten wie dem Realen, dem Sinnlichen, der Form, dem Ästhetischen, der Präsenz, dem Performativen und der Praxis.

Anlass der hier zur weiteren Debatte vorgestellten Diskussion über „Das Konkrete und die Architektur“ war der 12. Internationale Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik (DGS) im Oktober 2008 an der Universität Stuttgart. Unter Bezug auf die Tradition Stuttgarts als zeitweiliger Hochburg sowohl der Konkreten Kunst und Poesie in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts als auch ihrer semiotischen Reflexion und Inspiration durch Max Bense und seinen Kreis hatte die DGS das übergreifende Thema des „Konkreten“ gewählt und sich vor die Aufgabe gestellt, seinen mannigfachen Ausfaltungen in den vielen in ihr vertretenen Disziplinen nachzugehen.
Trans- und interdisziplinäre Themensetzungen haben den unbestreitbaren Nachteil, dass sie die Ordnungen der Gegenstände und die etablierten Wege des Nachdenkens in den Einzeldisziplinen nicht respektieren. Gleichzeitig ist genau das aber auch der ebenso unbestreitbare und höchst produktive Vorteil fachübergreifender Fragestellungen: Sie erlauben, einen neuen Blick auf das jeweils eigene Fach zu werfen und, beispielsweise zum „Konkreten“, unterschiedlichste Einlassungen herauszufordern.

Was ist nun das Konkrete in der Architektur? Ist es das Material, die Konstruktion, die Haustechnik, der Alltagsgebrauch, die Aneignung durch Nutzung und Inbesitznahme? In welcher Weise ist die erlebte Architektur konkret? Sind Stimmungen, Atmosphären, Erinnerungen, Imaginationen, Interpretationen, die Architekturen, die Bauten auslösen, ihr Konkretes? Wieweit bestimmt die Form die architektonische Konkretion? Kann die sozioökonomische Verwertbarkeit sinnvoll als Bestandteil der architektonischen Konkretion (Architektur als Ware und Dienstleistung) begriffen werden? Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Konkreten und dem Authentischen, der für den historischen Architekturdiskurs fruchtbar wäre? Ist der Konkretismus ein ästhetisches Programm in der modernen Architektur oder ein architektonischer „Stil“? Wie ist das Konkrete auf das Abstrakte oder Virtuelle zu beziehen?

Diesen Fragen stellte sich die Tagung „Das Konkrete und die Architektur“, die im Rahmen des Stuttgarter Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Semiotik organisiert wurde, und deren Ergebnisse im Folgenden dokumentiert werden. Dabei zeigt sich, dass viele der von der Architektur und dem Bauen ausgehenden Fragen neben der Expertise der Entwerfenden eine Reflexion aus kunst-, kultur- und sozialwissenschaftlicher Sicht erfordern und ihrerseits disziplinübergreifend zu beantworten sind.
Deutlich geworden ist, dass es gute Gründe gibt, nach dem Konkreten der Architektur und den Zeichen, in denen es sich manifestiert, zu fragen: Die Frage nach dem Konkreten der Architektur bietet einen Anlass, sich mit grundsätzlichen Überlegungen von Architekten und Architektinnen, von Architekturtheoretikern und -theoretikerinnen dazu auseinanderzusetzen, was sie als Kern ihrer Interessen, Tätigkeiten und Produktionen begreifen. In den hier vorliegenden Texten kommen fundamentale Setzungen und Wertungen in den Blick, die bis an die Frage nach dem Selbstverständnis der Akteure heranreichen.

Das Themen- und Methodenspektrum der hier vorgestellten Beiträge ist breit und entspricht den vielfältigen Kontexten, in denen die Architektur und das Konkrete bis heute verhandelt worden sind. Fünf Themencluster, fünf Aspekte, die die Diskussionen auf der Tagung besonders geprägt haben, sind dennoch zu identifizieren. An ihnen orientiert sich im Folgenden die Zusammenstellung der Texte unter den Überschriften „Haptik und Material“, „Wahrnehmung und Gebrauch“, „Das Abstrakte und das Konkrete“, „System und ‚Form‘“, „Transformation und Aktualisierung“.


Haptik und Material: Die älteste Variante der Thematisierung des Konkreten in der Architektur dürfte die der Konkretheit der Stoffe, der Materialien und der Konstruktionen sein, aus denen Bauten gemacht sind. Der Gedanke der Materialgerechtigkeit der Gestaltung schließt sich an; die Erweiterung dieses Ansatzes zur Maxime, dass die Architektur die Prinzipien ihrer Gestaltung aus ihren ureigenen Mitteln, Materialien und bautechnischen Methoden zu entwickeln habe, gehört zum ideellen Repertoire der klassischen Moderne.

Ute Poerschke zeigt, dass die Frage nach dem Konkreten des Materials in der Architektur eine lange Tradition hat, die sich im Ringen um die „Materialgerechtigkeit“ der Gestaltung niederschlägt und bis in die Gegenwart hinein wirkt. Zu unterscheiden ist zwischen einem konstruktiven und einem ästhetischen Materialverständnis, das einmal auf die Angemessenheit an die konstruktive Form, zum anderen auf die „Wahrheit“ und „Ehrlichkeit“ der Oberfläche gerichtet ist. Beide Konzepte konkurrieren miteinander, bis in der Moderne und Gegenwart die Forderung auftaucht, „innere“ und „äußere“ Materialität miteinander zur Deckung zu bringen, und damit die Konkretheit der materiellen Form als sinnliche und zugleich sinnvolle Erfahrung zu erleben und so dem „Selbst“ (des Bauwerks, des Produzenten und des Rezipienten) Ausdruck zu verleihen.

Marisol Vidal Martinez zeigt in ihrem Beitrag an aktuellen Projekten beispielhaft, wie in der Verwendung des Baustoffs Beton dieser Prozess der Zusammenführung von innerer und äußerer Materialgerechtigkeit und der Vermittlung von rationaler und sinnlicher Material- und Selbsterfahrung stattfinden kann.

Dass das Konkrete der Architektur sich vornehmlich in der haptischen Wahrnehmung von Bauten erfahren lässt, ist die Ausgangsthese von Stefan Hajek. Er geht davon aus, dass diese Erfahrung grundlegende Bedeutung für die existenzielle Selbstvergewisserung des Menschen in der Welt hat: In der haptischen Wahrnehmung des Objekts kann sich das Subjekt seiner konkreten Existenz vergewissern. Diese Grunderfahrung, die auch im Bauen als praktischem Prozess verankert ist, sieht Stefan Hajek in Frage gestellt durch die Übermacht des Visuellen und Virtuellen in der medial vermittelten Umwelterfahrung und -gestaltung. Wie im Gegenzug lässt sich ein letztes „Aufbäumen“ des Konkreten in der exponierten Materialität einiger Gegenwartsarchitekturen beobachten.


Wahrnehmung und Gebrauch: Dem eher „materialistischen“ Ansatz zur architektonischen Konkretion, der allerdings auch ein nicht zu übersehendes idealistisches Potenzial enthält, steht ein gänzlich anderes, aber ebenso einflussreiches Konzept gegenüber, das die Konkretion in der Architektur primär in ihrem Gebrauch sieht. Die Architektur liefert demnach nur den mehr oder weniger geeigneten äußeren Rahmen, innerhalb dessen sich durch diverse Nutzungen und praktische Aneignungsweisen das konkretisiert, was den Kern des Architektonischen ausmacht und Fluchtpunkt und Maß des gelungenen Bauens darstellt: der mit Leben erfüllte Raum. Prozesse der sinnlichen Wahrnehmung, des leibhaften Erlebens und des bedürfnisorientierten Verhaltens spielen hier eine zentrale Rolle im Verständnis der Konkretisierung von architektonischen Situationen, die in eine soziale Praxis eingebunden und durch sie soziokulturell geprägt werden. Theorie und Praxis des architektonischen „Funktionalismus“ setzen sich direkt oder indirekt mit diesem Konzept auseinander; die Diskussion des Gebrauchs hat sich fortgesetzt und differenziert in der Analyse raumbezogener Praktiken, insbesondere in der durch phänomenologische Ansätze unterstützten architekturtheoretischen Auseinandersetzung mit leiblichen Erfahrungen wie in der Debatte um „Atmosphären“.

Christa Kamleithner führt mit Walter Benjamins Konzept der „zerstreuten Wahrnehmung“ die Gewöhnung und vor allem den Gebrauch von Architektur als bestimmend für die Erfahrung des architektonisch Konkreten ein und unternimmt den Versuch, aus dieser Perspektive Gernot Böhmes Theorie der „Atmosphären“ kritisch zu ergänzen und zu konkretisieren. An Beispielen aus dem Werk Ottokar Uhls wird gezeigt, wie die Berücksichtigung von baulicher Materialität, leibhaften Bezügen, zeitlichen Rhythmen von Nutzungen, Vermittlungsformen seiner Architektur und von technischen Netzen zur umfassenden sinnlichen und medialen Konstruktion der Alltagswelt beitragen und Situationen konkreter architekturästhetischer Erfahrung gestalten kann.

Dass der Gebrauch erst Bauten ihre konkrete Bedeutung gibt, erläutert Katja Friedrich an dem als nutzungsneutrales und für individuelle Aneignungen offenes Raumgefüge entworfenen „Kölner Brett“ von Brandlhuber & Kniess. Die Inbesitznahme und Einrichtung des eigenen Lebensraumes stellt für viele Menschen eine existenzielle Grunderfahrung dar, mit der zugleich auch der architektonische Rahmen seine konkrete Bedeutung erhält. Gebrauch und architektonische Umgebung bedingen sich gegenseitig: das eine wird erst durch das andere konkretisiert.

Die Rolle von Wahrnehmung in der Erfahrung und Bestimmung des Konkreten thematisiert Eva Reblin in ihrer Untersuchung von Leerstellen im stadträumlichen Kontext. Die Leere stimuliert den Sinn für das Konkrete: die Lücke kann transparent und lesbar werden im Hinblick auf vergangenes oder zukünftiges Geschehen, zum anderen kann der Ort in seiner konkreten Materialität als opake Oberfläche aufgefasst werden. In diesem Schwanken zwischen Transparenz und Opazität, Materialität und Immaterialität, Konkretem und Abstrakten, können Wahrnehmungsgewohnheiten erkannt und aufgebrochen werden und zu einer Intensivierung der Stadtwahrnehmung und Stadtvorstellung führen.


Das Abstrakte und das Konkrete: Spricht man über „das Konkrete“, so kommt als Gegenbegriff „das Abstrakte“ in den Sinn. Die architektonische Konkretion und ihr Verhältnis zur Abstraktion ist unter anderem ein genuines Thema in der Gestaltung moderner Architektur. Ein bis heute rezipierter und reinterpretierter Ausgangspunkt von Debatten dazu liegt in der Konkreten Kunst, die sich Ende der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts als programmatische Alternative von der Abstrakten Kunst der niederländischen De-Stijl-Bewegung abgesetzt hat und die im Werk von Theo van Doesburg und Cornelius van Eesteren architektonisch in Erscheinung getreten ist. Doch die Diskussion um das Abstrakte und das Konkrete in der Architektur ist älter und unterhält komplexe Beziehungen zu Entwicklungen der ästhetischen Theorie wie der bildenden Kunst.

Matthias Noell zeichnet in einem historischen Überblick den Weg der Idee der Abstraktion bis in die Moderne nach und stellt dar, wie die verschiedenen Ansätze zur Reduktion der architektonischen Mittel auf den konstruktiven und bautechnischen Kern dazu führen, das Konkrete der Architektur hervortreten zu lassen. Dass diese Ansätze einerseits bis zur bewussten Negation des Architektonischen gehen, und das Konkrete in einem wie immer verstandenen Sozialen sehen wollen, erscheint ebenso konsequent, wie die andauernde Überschreitung der Grenzen der Architektur in Richtung bildender Kunst, wobei dem Einsatz von Farbe als den Raum erweiterndem Mittel eine zentrale Bedeutung zukommt. Es stellt sich die Frage, ob nicht erst in der äußersten Abstraktion das Konkrete der Architektur zu haben ist.

In einem Überblick über Stufen der Entwicklung der modernen Kunst versucht Michael Steigemann deutlich zu machen, wie sich das Motiv der Konkretion in Abgrenzung gegen Verfahren der Abstraktion entwickelt und dabei den Anspruch erhebt, auf besondere Weise Ausdruck rein geistiger Gehalte zu sein. An Beispielen aus der Klassischen Moderne zeigt er, wie sich in der Entwicklung der bildenden Kunst wie in der architektonischen Realisierung die beiden einander entgegengesetzten Konzeptionen und ihre Dynamiken deutlich voneinander abgrenzen lassen.

Claus Dreyer diskutiert die Entwurfsmethoden des Schweizer Künstlers und Architekten Max Bill, der unter dem Eindruck der "Konkreten Kunst" seine Konzepte entwickelt und in eine Reihe von Gebäudeentwürfen umgesetzt hat, deren spektakulärster die „Hochschule für Gestaltung“ in Ulm von 1955 ist. „Konkrete Gestaltung“ ist für ihn diejenige, die ausschließlich aus ihren eigenen Mitteln und Gesetzen entsteht, ohne sich an äußeren Motiven und Themen zu orientieren: der Gestaltungsgedanke konkretisiert sich im Werk. Dieser einflussreiche Entwurfsansatz hat vielfältige Abwandlungen gefunden. Insbesondere einige derzeit aktuelle Entwürfe aus Schweizer Architekturbüros (Herzog & de Meuron, Peter Zumthor) schließen an diese Tradition an. Die dabei erkennbaren „reduktionistischen“ Praktiken zur Hervorbringung des Konkreten werden als Gegenbewegung gegen den zunehmenden Einfluss des Virtuellen auf die aktuelle Architektur interpretiert, wobei die Entscheidung zwischen Abstraktion und Konkretion eine Frage des reflektierenden Standpunkts zu sein scheint.


System und „Form“: Die Frage, inwiefern systemtheoretische Perspektiven in der Tradition Niklas Luhmanns zur Diskussion um das Konkrete und die Architektur beitragen können, stellen die folgenden Beiträge. Im Unterschied zu den bisher vorgestellten Positionen können sie auf keine ausgeprägte Vorgeschichte in der Architekturtheorie zurückgreifen, wohl aber auf eine universelle und insofern abstrakte Theorie, die verspricht, in der Übertragung ihrer grundlegenden Konzepte einen analytischen Beitrag unter anderem zur Architektur zu leisten. Zentral sind dabei, neben der Prämisse, dass Architektur als Zusammenhang von Kommunikationsoperationen formuliert werden kann, die in der Systemtheorie spezifisch gefassten Begriffe der Beobachtung, der Information, der Differenz und der Form.

Wie architektonische Konkretion unter dem Gesichtspunkt der Kommunikation beschrieben werden kann und welche Konsequenzen das für die Architekturtheorie hat, zeigen Thomas Hackenfort und Stefan Hochstadt in ihrem Beitrag. Unter Rückgriff auf Luhmanns „Allgemeine Systemtheorie“ verstehen sie Architektur als kumuliertes Wissen, das kulturell konstruiert ist und insoweit als ein an sich selbst anschließender Prozess zu begreifen ist. Das architektonische Werk bildet dabei nur den Pol der Kenntlichmachung und Vermittlung von besonderer Information, die durch Deutung und Interpretation im kommunikativen Prozess einen konkreten Wert erhält, der ständig neu zu bestimmen und anzueignen ist. Die Differenz zwischen dem Verständnis von Architektur als materiellem Zustand und als dynamischem Prozess der Nutzung und Deutung gibt dem architektonisch Konkreten eine nicht hintergehbare „Unschärfe“.

Markus Heidingsfelder versteht Architektur als ein System, in dem sich eine spezifische Art gesellschaftlicher Kommunikation konkretisiert. Es sind für ihn bestimmte Wahrnehmungen, die in der Architektur reflexiv werden, indem sie vom Architekten derart in Bauformen übersetzt und arrangiert werden, dass sie „Sinnlesemöglichkeiten“ eröffnen. Obwohl dabei „Beobachtungsdirektiven“ gesetzt und konventionelle Wahrnehmungsschemata aktiviert werden, bleibt in der Dichte und Kompaktheit der architektonischen Kommunikation eine Undeutlichkeit und Offenheit, die zu immer neuen Lesarten und Interpretationen auffordert. Architektur entsteht in der Konkretisierung dieser kommunikativen Vorgänge und macht sie wahrnehmbar, zugleich fördert sie die Weiterentwicklung des architektonischen Systems in einem autopoetischen Prozess.

In ebenfalls explizit systemtheoretischer Sicht versucht Michael Dürfeld das Konkrete der Architektur zu bestimmen. Dabei konzentriert er sich auf die Suche nach deren generativen Mechanismen und entwickelt aus systemtheoretischer Perspektive ein formentheoretisches Entwurfsmodell. Er stellt den Prozess der Konkretisierung der architektonischen Form in den Mittelpunkt und beschreibt ihn als einen variablen, pluralen und egalitären Vorgang. Die jeweiligen Konkretisierungen operieren seiner Ansicht nach auf der Basis eines unveränderlichen architektonischen Codes, der aus den Elementen der Abschirmung zwischen Innen und Außen besteht, und die auf so unterschiedlichen Ebenen wie der technischen, der funktionalen und der künstlerischen konkretisiert werden können. Deshalb gibt es nach Dürfeld nicht das Konkrete der Architektur, sondern vielfältige Arten und Weisen der Konkretisierung, deren Zeichen den jeweiligen Stand kultureller, technischer und sozialer Entwicklung anzeigen und entsprechend zu lesen und zu interpretieren wären.


Transformation und Aktualisierung: Die Untersuchung von Konkretisierungsvorgängen unter Betonung ihrer Prozessualität und Aktualität verbindet die folgenden Beiträge. Sie alle stellen die Erzeugung des Konkreten in der Architektur als vermittelten und vermittelnden Prozess vor. Diskutiert werden bildmediale „Verwirklichungen“ gebauter oder zu bauender Strukturen und ihre Effekte, die Entwicklung und Übersetzung architektonischer „Gedanken“ in konkrete „Form“ sowie Strategien der Aktivierung und kreativen Übersetzung historischer Formensprachen.

Die Rolle von Bildmedien untersucht Andreas K. Vetter in seiner Antwort auf die Frage nach der architektonischen Konkretion: zwischen der Idealität des Entwurfs und der Realität des Bauwerks identifiziert er ein Drittes – die durch bildhafte Vermittlung erzeugte und publizistisch verbreitete Wirklichkeit der Architektur, die in vielen Fällen die einzige ist, in der sie für die allgemeine wie für die Fachöffentlichkeit existiert. Am Beispiel insbesondere der Architekturfotografie und ihrer Verwendung im professionellen, im touristischen wie im wissenschaftlichen Bereich macht der Autor deutlich, wie stark Bildmedien und insbesondere die Fotografie das Verständnis davon bestimmen, was ein Bauwerk im einzelnen und was Architektur insgesamt eigentlich und „konkret“ sei.

Eva Grubbauer beginnt ihre Überlegungen zum Konkreten mit der These Hermann Czechs, dass bei Adolf Loos jedes Bauwerk zuerst „Gedanke“ sein solle: Die Kritik des Ornaments ist die Kritik einer „Form“, die nicht „Gedanke“ ist. Erst aus dem „Gedanken“ entwickelt sich also die „Form“, die eine konkrete Lösung für eine jeweils singuläre Aufgabe und Situation darstellen kann. In der konkreten Ausformulierung des besonderen Falls entsteht eine Architektur, deren Qualität in der konzeptionellen Abstraktion liegt. Die jeweilige Lösung wäre als formale Abstraktion missverstanden – sie gibt sich in reflektierter Betrachtung in ihrer konzeptuellen Komplexität zu erkennen.

Dass historische Bau- und Stilformen für die aktuelle architektonische Konkretion eine zentrale Funktion gewinnen können, zeigen Christian Holl und Luc Merx. Sie verweisen auf die uneingelösten Potentiale historischer Formensprachen, die heute in subversiver und unorthodoxer Zugangsweise für den eigenen kreativen Prozess freigelegt und neu aktiviert werden können. Eine radikale Subjektivität des Zugriffs und ein unkonventionelles Geschichtsverständnis werden dabei wie selbstverständlich in Anspruch genommen. Der Prozess der Konkretisierung erscheint dann als Fortsetzung von Geschichte mit anderen Mitteln: die historischen Zeichen bekommen im aktuellen Kontext eine völlig neue Bedeutung.


Abschließend erscheint die Feststellung naheliegend, dass es „das Konkrete“ der Architektur nicht ‚gibt‘, sondern nur sehr vielfältige und unterschiedliche Arten und Facetten konkreter Gestaltungen und Formbildungen, in denen sich sinnliche, geistige, materiale, technologische, im weitesten Sinne soziale und historische Verhältnisse konkretisieren sowie divergierende Methoden und Prozesse, um diese Konkretisierungen zu erzeugen und zu präsentieren. Dabei sind sowohl das „Was“ der jeweiligen Konkretisierung wie auch das „Wie“ von theoretischem Interesse. Es ist eine Frage der Perspektive und des Interesses, wo die erkenntnisleitenden Schwerpunkte gesetzt werden.

Dass es keine Architektur ohne „Verdichtung“ (concretum) von kulturellen Gegenständen im oben genannten Sinne geben kann, erscheint offensichtlich, und insofern ist Architektur immer konkret. Doch kann grundsätzlich unterschieden werden zwischen Methoden der Konkretisierung durch Planung, Entwurf und Produktion und Methoden der Konkretisierung durch Wahrnehmung, Beobachtung, Interpretation und den Gebrauch von Architektur.

Beide Seiten der architektonischen Konkretisierung gehören letztlich zusammen und bilden gemeinsam „das Konkrete“, das ein jeweiliges architektonisches Objekt ausmacht – wobei ersichtlich ist, dass dieses Konkrete eines Objekts immer neu bestimmt wird und werden muss und sich im zeitlichen Verlauf erheblich verändern kann. Wenn die hier vorgelegten Studien einen Beitrag zum besseren Verständnis dieser Prozesse leisten können, wäre ihr Zweck mehr als erfüllt.

 


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