Das Konkrete und die Architektur
14. Jg., Heft 1, Oktober 2009

 

___Stefan Hajek
Au am Inn
  Das Konkrete, das Abstrakte und das Haptische

 

   

Das Konkrete und das Abstrakte wurden vor allem durch Boethius (Kluge 1995) als Gegensatzpaar etabliert. Dies führt zu einer Symmetrie, die zwar auf einer sprachlichen und gedanklichen Ebene gegeben scheint, aber für die angestellten Überlegungen zum Architektonischen nicht hilfreich ist. Aus diesem Grund ist es notwendig, die Begriffe des Konkreten, Abstrakten und des Haptischen unter der Prämisse des Architektonischen für diese Überlegungen neu zu fassen.


Das Konkrete

Auch wenn dieser Begriff im ersten Moment eingängig und mit dem Architektonischen auf das Innigste verbunden scheint, so bedarf es einer Erläuterung, die nicht ohne das Konzept des Abstrakten und der Bedeutung des Haptischen auskommt. Das Konkrete ist das sinnlich Erfahrbare, das nicht Reduzierbare, in all seinen Möglichkeiten Seiende. Das bedeutet, es ist – als Objekt – außerhalb des wahrnehmenden Subjekts. Diese Präsenz des Objekts ist per se nicht an das Subjekt gebunden. Aus Sicht des Subjekts ist allerdings das Konkrete das Momentane, das Lokale, also das Verständliche oder anders ausgedrückt das Greifbare – auch im Sinne von begreifbar. Psychologisch betrachtet ist es die transmodale Integration aller Sinneswahrnehmungen zu einer Gestalt, das Zusammenwachsen, das concrescere der unterschiedlichen Sinneswahrnehmungen bis zur Emergenz des Konkreten.
Das Konkrete sehe ich im Materiellen der Architektur verankert oder anders ausgedrückt, das Materielle ist die Referenz zur Verortung des Konkreten im architektonischen Objekt.


Das Abstrakte

Das Abstrakte ist das Abgezogene – von abstrahere abziehen –, es ist ein Teil des Konkreten, ein Teil mit Spuren, Abdrücken. Ich möchte hier jedoch das Abstrakte nicht als das genuine Abstrakte verstehen, die Essenz des Konkreten, diese Reduzierung auf das Wesentliche, dieser Schritt hin zum Allgemeinen, sondern als das, was vom Konkreten abgezogen wurde, um es transportierbar zu machen. Diesem Abgezogenen fehlt das in allen sinnlichen Dimensionen wahrnehmbare Gegenständliche. Dem Abstrakten ist somit ein Verlust, ein Fehlen immanent, und dieses Fehlen ist in Bezug auf das Konkrete vor allem das Greifbare, das Haptische.
Dieses Abgezogene gleicht und ist wie der fotographische Abzug, der die konkrete Situation als Bild transportierbar gemacht hat. Es ist anfänglich ein Abbild mit Referenz. Das Abstrakte ist in seiner Entstehung an das Objekt gebunden, zum anderen ist es das, was sich vom Objekt löst. Erst das vom Konkreten Abziehen macht das Konkrete als Abstraktes für den Geist verwertbar, transportierbar. Damit kann das Abstrakte als Teil des Konkreten – durch die Internalisierung der Wahrnehmung, insbesondere durch das Bild – omnipräsent werden und ist nicht mehr an die Lokalität des Konkreten gebunden. Dies hat auch zur Folge, dass es die Eigenschaft des Greifbaren verliert und zu etwas Ungefährem und Vagem wird.
Dabei ist eigentlich dem Abstrakten eine Tendenz zur Konkretisierung im Materiellen durch den menschlichen Verstand eigen, um es greifbar und verständlich zu machen – und dies nicht nur im übertragenen Sinne.[1] Dieser Tendenz folgt im Architektonischen eine kulturelle Logik der Raumproduktion. Man denke z. B. nur an die gläsernen Landtagsgebäude in Stuttgart und Dresden bei denen die abstrakte Idee der Transparenz demokratischer Entscheidungen durch die Verwendung von Glasfassaden symbolisiert und konkretisiert wird.
Das dabei entstehende Paradox, dass das Konkrete in seiner nicht reduzierbaren Komplexität für den menschlichen Verstand häufig greifbarer erscheint als das Abstrakte – eine Kategorie des menschlichen Geistes – ist dem menschlichen Sein geschuldet, dem Selbstzwang zur Suche nach dem eigenen konkreten In-der-Welt-Sein.


Das Haptische

Das Haptische ist an das Subjekt gebunden, nur: es berührt und wird berührt. Es ist das aktive Berühren, das Tasten zur Exploration der Umwelt. Damit verbunden sind der Aufbau eines Körperschemas, einer inneren Repräsentation des Selbst und die Begrenzung des Selbst. Die Haptik ist die Exploration des Objekts in seinem materiellen Sein jenseits des Visuellen. Es ist die Exploration von Form, Oberflächenstruktur, Härte, Wärme, Wärmeeigenschaften, Gewicht und Größe, das Zusammenwachsen von Form und Materialität durch einen Sinneskanal. Damit wird durch die Bündelung der Wahrnehmung im Haptischen das Subjekt in seiner Form und Materialität als authentisch und konkret erfahren. Es bringt das Subjekt in Relation zu sich selbst und zum Objekt. Das Haptische sorgt dabei für die ständige Kalibrierung des Subjekts und seiner Repräsentation in Bezug auf seine Umwelt. Das Haptische verortet den Körper des Subjekts in der Welt der Objekte – es trennt und es erweitert das Subjekt auf das Objekt hin; und es verortet auch für das Subjekt das Konkrete im Materiellen, indem es das Subjekt durch das Haptische teilhaftig werden lässt. Das Haptische ist die sinnlichste und unmittelbarste aller Wahrnehmungen des Materiellen. Das Konkrete ist für den Menschen das Greifbare und damit auch das Begreifbare, das haptisch Wahrnehmbare.
Im Haptischen verbindet sich das Begreifen des Denkens – in abstrakten Kategorien – mit dem Konkreten des Materiellen.


Die Sinneswahrnehmungen und das Haptische

Das Erleben der Welt beginnt für einen Menschen als Kind mit der Erforschung der Umwelt durch das Sehen, Greifen und Drehen von Objekten. Das Haptische und das Visuelle sind bei den ersten Wahrnehmungserfahrungen eng miteinander verbunden (Siegler et al. 2005). Es findet eine transmodale Integration von visueller und haptischer Wahrnehmung statt. Somit ist das Haptische eine der grundlegenden Erfahrungen und Hypothesen für das spätere Leben und die Wahrnehmung der Welt. Es scheint, als bestünde eine Symmetrie bei den ersten Wahrnehmungserfahrungen zwischen dem Haptischen und dem Visuellen.
Diese Verbindung zwischen den einzelnen Sinnen ist für unsere Wahrnehmung der dinglich-materiellen Welt wesentlich. Es ist deshalb bei der Exploration der Umwelt durch die unterschiedlichen Sinne ein Mitdenken der anderen Sinneseindrücke anzunehmen. Die Wahrnehmung nur durch einen Sinneskanal, wie die heute überwiegend visuell geprägte Welt vermuten lässt, entspricht nicht unserer von Kindesbeinen an verinnerlichten Art der Wahrnehmung. Bei der überwiegend visuellen Wahrnehmung wird somit auch später immer das Haptische mitgedacht. Somit liegt die Bedeutung des Haptischen für das Architektonische nicht darin begründet, dass es eine spezifische Art der Wahrnehmung ist oder für den Erwachsenen die wesentliche, sondern im ständigen bewusst oder unbewusst Mitdenken. Das Haptische hinterfragt und verkörperlicht von Kindheit an das Visuelle und wird dabei basal für die Wahrnehmung.
Das Visuelle bedarf durch das Bild nicht der Präsenz des Objekts, während das Haptische nur durch das Objekt begreifbar wird. Ohne das Haptische hat das Visuelle keine konkrete materielle Referenz und bleibt nur virtueller Eindruck mit dem Makel des noch nicht begriffen Seins. Dem rein visuell wahrnehmbaren Objekt ist somit immer ein mitgedachtes Haptisches eigen.

Wenn einem Objekt keine haptische Eigenschaft zugeordnet werden kann, so fehlt diesem Objekt etwas. Dem wahrgenommenen Objekt ist ein Mangel zu Eigen, der sich darin ausdrückt, dass etwas, was zu seiner Konkretisierung für den Menschen notwendig ist, fehlt. Ein Fehlen von etwas, der haptischen Eigenschaft, die mitgedacht wird, der aber jegliche Möglichkeit genommen ist, wahrgenommen zu werden.
Diese Dissonanz in der Wahrnehmung, dieses Fehlen einer ergänzenden, man kann schon fast sagen komplementären Wahrnehmung, ohne die der Eindruck von der Welt für den Menschen nicht vollständig erscheint, kann als Mangel an Konkretheit verspürt werden. Dieser Mangel oder auch das Negieren des Haptischen durch die Dominanz des Visuellen begründet die Bedeutung des Haptischen. Denn dieser Mangel wird als Verlust verspürt, der einer Kompensation bedarf, die jenseits einer Bedeutung liegt, die im Negieren und Verdrängen des Haptischen verortet ist. Das Vergessen des Mitgedachten macht das Haptische zu etwas Unbewusstem und unbewusst Bestimmenden, einer Kompensation die sich im Bedürfnis nach einem haptisch wahrnehmbaren Objekt ausdrückt.
Die heutige Welt ist visuell geprägt. Informationen über Objekte und auch architektonische Objekte werden nicht mehr nur durch das Wort, den Bericht weitergegeben und tradiert, sondern vor allem durch Visualisierung im Bild. Die Symmetrie in der Erfahrung des Objekts durch die visuelle und haptische Exploration der Welt beim Kind, wird beim Erwachsenen zu Gunsten des Visuellen aufgegeben und somit eine Asymmetrie eingeführt.

Diese Verschiebung vom Haptischen zum Visuellen, wobei das Haptische als unbewusst mitgedachte Referenz verbleibt, macht das Visuelle zur Ersatzwahrnehmung und präkonfiguriert eine haptische Erwartung. Doch gerade in dieser alltäglichen Negation liegt auch eine Bedeutung. Denn das Visuelle, wie das Akustische, kommt, wie angeführt, nicht ohne das mitgedachte Haptische aus. Der fast beliebigen Verfügbarkeit von Bildern und der Verfügbarkeit fast jeden Objekts im Bild steht beim Haptischen eine lokal an das Objekt und an den Menschen gebundene Wahrnehmung gegenüber. Der Mensch ist dabei nicht wie beim Akustischen oder auch Visuellen ständig von seiner Umgebung umhüllt, sondern muss bewusst durch das Berühren wahrnehmen oder beim nicht berührten Objekt das Haptische mitdenken.
Die Bedeutung des Haptischen für den visuell geprägten Erwachsenen liegt somit in diesem Mitdenken, in dem Nicht-ignorieren-Können des Haptischen und in der Tatsache, dass nur das Objekt wirklich ist, das man berühren kann. Das Haptische schließlich verifiziert das Visuelle als real existierend und dient der Unterscheidung zwischen Traum und Wirklichkeit.


Die Bedeutung für das Architektonische

Nachdem nun versucht wurde, die Begriffe näher zu fassen, ist es notwendig, die Beziehungen zwischen dem Konkreten, Abstrakten und Haptischen näher zu untersuchen. Das Konkrete des materiellen Objekts ist das dem Subjekt Gegenüberstehende, das was außerhalb liegt, wie ich vorher ausgeführt habe. Das konkrete materielle Objekt ist nicht Spiegelbild oder Abbild. Es ist die Rückversicherung der eigenen Existenz des Subjekts und der Existenz einer Welt außerhalb des Subjekts. Das Konkrete als das dingliche, materielle Objekt ist die Verortung des Subjekts in der durch das Haptische als real angesehenen Welt. Das Objekt ist für das Subjekt der Beweis der eigenen Existenz und damit von fundamentaler Bedeutung für das Sein und das In-der-Welt-Sein.
Durch das Berühren wird das visuell Wahrgenommene aus der Sphäre des rein Virtuellen in den Bereich des Materiellen verortet. Dabei ist das Materielle der Rohstoff, aus dem das Objekt geformt wird, für das Subjekt die Essenz des Wahren und Authentischen, des Unverfälschbaren. Das Subjekt leitet vom Materiellen des Objekts das eigene konkrete und materielle Sein ab, es ist örtliche und zeitliche Referenz, es ist der Beweis der eigenen Authentizität. Das Objekt ist somit – oder wird als solches angesehen – Teil einer unabhängig bestehenden und auch beständigen, aber nicht unwandelbaren Welt außerhalb des Subjekts, ohne die das Subjekt seiner eigenen Existenz nie habhaft werden könnte.

Durch das Haptische bemächtigt sich das körperliche Subjekt des Objekts. Es nimmt nicht nur Verbindung auf, sondern eignet sich das Objekt körperlich an. Das Objekt wird zur Extension des Körpers und Teil des Subjekts. Dadurch erhofft sich das Subjekt am Konkreten des Objekts teilhaftig zu werden und der Reduktion des Objekts zum Abstrakten durch die Wahrnehmung zu entgehen. Im Gegensatz dazu scheint sich das rein Visuelle nur den optischen Eindruck anzueignen, ohne die Möglichkeit, das Objekt dem Körper einzuverleiben. Das Konkrete bleibt somit für das Visuelle das außerhalb Bestehende.
Das konkrete Objekt ist ja dem menschlichen Denken nur durch die Reduktion zum Abstrakten zugänglich; durch das Haptische versucht das Subjekt dem Konkreten in all seinen Dimensionen teilhaftig zu werden. Das Konkrete wird somit zum Nachweis des eigenen In-der-materiellen-Welt-Seins. Das Abstrakte als das vom Konkreten Abgezogene erhält durch die Möglichkeit des Haptischen seine Referenz und Bedeutung, denn das Haptische ist die Rückversicherung des Denkens in der Welt des dinglich Materiellen.


Konkretes und Abstraktes in der heutigen Welt

Doch in der heutigen Welt hat sich das Verhältnis zwischen dem Konkreten und Abstrakten verändert. War früher die haptische Exploration der Umwelt, der tägliche Umgang mit dem Materiellen vorrangig und bestand somit eine Asymmetrie zu Gunsten des Haptischen, so dominiert heute das Visuelle. Früher waren Bilder häufig individuelle Bilder der eigenen Vorstellungskraft, jenseits einer allgemein zugänglichen Visualisierung, eingesperrt im Individuum. Durch die Massenmedien ist das Bild vom Objekt omnipräsent geworden und hat das reale Objekt als Grundlage der Wahrnehmung scheinbar obsolet werden lassen.
Das Abstrakte als das transportierbar Gemachte des konkret Materiellen vor allem in Form des Bildes hat somit eine weitere Asymmetrie in die Relation abstrakt/konkret eingeführt zu Ungunsten des Konkreten. Das Abstrakte – als das Abstrahierte – verliert dadurch allerdings seine Referenz im konkret Materiellen und wird zu etwas Abstraktem ohne materielle Konsequenz.

Das ehemals auf Papier gedruckte Wort erscheint heute vor allem auf Bildschirmen unter Glas und ohne haptische Eigenschaft. Das Zeichen – wie das Bild – löst sich von seinem materiellen Zeichenträger, mit dem es fest und dauerhaft verbunden war, und wird zu einer flüchtigen Erscheinung, welche unsere Erfahrung in Bezug auf das Haptische grundsätzlich in Frage stellt. Der konkrete reale Ort ist heute im digitalen Bild vervielfältigt und weltweit omnipräsent im Internet. Bilder bestimmen unsere Wahrnehmung. Die Visualisierung von Information, von abstrakten Daten oder Entwurfsgedanken ist heute nicht nur Standard, sondern geradezu zwanghaft. Das Bild erscheint der einzige Wahrheit erhaltende und vermittelnde Informationsträger in einer visuell geprägten Gesellschaft zu sein. Das Bild steht heute meist vor der tatsächlichen Wahrnehmung des Materiellen und wird zum Ersatz desselben. Die digitale Fotografie hat das Konkrete zur Unkenntlichkeit vervielfacht. Dieses verstehe ich als eine Verbildlichung der Welt, einen Prozess des ständigen Abstrahierens des Konkreten. Das inflationäre Bild verliert dabei allerdings die Referenz zum Materiellen. Das Bild entwickelt ein Leben jenseits des Konkreten. Hier möchte ich auf die Konzepte von Baudrillard zur Simulation und zum Simulacrum verweisen (Baudrillard 2007; Original 1981).

Außerdem ist unsere materielle Umwelt, mit der wir überwiegend in Berührung kommen, von „Kunststoffen“ durchdrungen, die ein beliebiges Material imitieren. Bei Imitaten löst sich die Form von der ursprünglich materiellen und damit auch haptischen Grundlage zu Gunsten eines visuellen Eindrucks. Die Form steht hierbei nicht mehr für das Material, sie ist vom Materiellen abgezogen und transportierbar gemacht. Die Form hat sich vom Material gelöst und die Sphäre des Authentischen zerbrochen. Es stellt sich die Frage nach der Übereinstimmung und Unversehrtheit der Beziehung von Form und Materie beim Subjekt selbst – nach der eigenen materiellen Integrität.
Somit haftet dem Imitat der Mangel des Fehlens an, des Fehlens einer wesentlichen Eigenschaft, der haptischen Übereinstimmung von Form und Materialität. Das Imitat hat eben nicht mehr all die Eigenschaften des Imitierten. Es wurde hier dem konkret Materiellen etwas abgezogen, und dieser Verlust ist besonders auf der Ebene des Haptischen spürbar: Es sieht zwar so aus wie etwas, aber es fühlt sich nicht so an. Trotz aller technischen Raffinesse bei der Produktion: im Bereich des Haptischen lässt sich das Subjekt eben nur schwer täuschen, weil das Haptische für das menschliche Sein so wesentlich ist. Man denke hier nur an die Bedeutung des Berührens und berührt Werdens für das Menschsein. Das Imitat manipuliert unsere Wahrnehmung – unbewusst und schleichend, indem es den Bezug zwischen dem Visuellen und dem Haptischen zerstört. Wird die haptische Erfahrung des Materiellen durch das Imitat erst einmal als beliebig verstanden, verliert der Bezug zwischen dem Haptischen und dem Visuellen allmählich seine Bedeutung.
Das Imitat führt zunächst im Subjekt zu einem Konflikt zwischen dem Haptischen und dem Optischen, welcher meist zu Gunsten des Visuellen entschieden wird. Damit können – da mit dem Haptischen das Wesentliche aus menschlicher Sicht verloren gegangen ist – weitere Abstraktionen bis zum rein Virtuellen folgen. Das Konkrete im Materiellen verliert dabei seinen Wahrheitsanspruch in Bezug auf das Materielle. Wirkt sich das Bild auf das konkret Visuelle aus, zerstört das Imitat die Beziehung zwischen Form und Material mit fataler Konsequenz für das Haptische und die Kalibrierung des körperlichen Subjekts, was natürlich nicht ohne Konsequenz für das Objekt bleiben kann.
Auch für das Zeichen – welches durch das Materielle des Zeichenträgers bis jetzt in der Welt haptisch verortet war – ist dies von Bedeutung. So hat sich vor allem durch die Medien und das Internet das Leben, die Präsenz des Zeichens im materiellen Zeichenträger, zum Visuellen und Virtuellen hin verschoben, und das kann nicht ohne Auswirkungen auf die Architektur und ihren Zeichencharakter bleiben. Das Transportierbar-Machen des Konkreten und damit die Abstraktion des Materiellen ist Grundlage der heutigen Gesellschaft.


Die Bedeutung des Konkreten für das Architektonische

Bauen ist ein Wesenszug und ein Ausdruck des menschlichen Seins. Heidegger verweist in seinem Vortrag Bauen Wohnen Denken auf die etymologische Wurzel des Wortes Bauen:

„Bauen heißt ursprünglich wohnen. Wo das Wort bauen noch ursprünglich spricht, sagt es zugleich, wie weit das Wesen des Wohnens reicht. Bauen, bhu, beo ist nämlich unser Wort bin in der Wendung: ich bin, du bist, die Imperativform bis, sei. Was heißt dann: ich bin? Das alte Wort bauen, zu dem das bin gehört antwortet: ich bin, du bist besagt: ich wohne du wohnst.“
(Heidegger 2000; Vortrag 1951)

Die menschliche Existenz spiegelt sich im Bauen wieder. Das Bauen ist eine Leistung des denkenden Menschen, ein Zeichen des In-der-Welt-Seins und nicht ein bloßer Akt des „lebendig“ Seins. Hier sei auch auf die drei von Blumer 1973 formulierten Axiome des symbolischen Interaktionismus verwiesen, die die Grundlage des sozialwissenschaftlichen Konstruktivismus bilden (zitiert nach Keupp 2001):

„1. Menschen handeln Dingen gegenüber auf Grund der Bedeutung, die diese Dinge für sie haben
2. Die Bedeutung entsteht in einem Interaktionsprozess
3. Die Bedeutung ist historisch wandelbar.“

Von diesem Standpunkt aus ist das Schaffen eines materiellen und damit als konkret wahrnehmbaren Gebäudes von fundamentaler Bedeutung für das menschliche Sein. Bauen wird zum Zeichen für das Konkrete der menschlichen Existenz, insbesondere dann, wenn der Verlust an Konkretem im Alltäglichen spürbar wird. Bauen kann man als das in Stein gemeißelte menschliche Denken und Leben verstehen – die Konkretisierung des Abstrakten.
Das Konkrete im Materiellen der Architektur ist somit auch als eine Rückversicherung der Existenz und gleichzeitig als Beweis der eigenen Schaffenskraft jenseits des Gedanklichen zu verstehen. Hierbei spielt auch die Beständigkeit des Gebauten jenseits der individuellen menschlichen Existenz eine Rolle.

Die Architektur ist dabei eine der letzten Domänen des Konkreten und unmittelbaren Materiellen, des menschlichen In-der-Weltseins. Mit der Abnahme der Anzahl von Beschäftigten im Bausektor, dem Fortschreiten der industriellen Fertigung von Bauelementen, verliert das Bauen als körperliche Tätigkeit immer mehr an Bedeutung. Somit geht das Bauen und damit das Gebaute als alltägliche haptische Erfahrung in der Wahrnehmung der Gesellschaft immer weiter verloren. Gleichzeitig beginnt sich das Materielle und damit das Konkrete in der Architektur hinter dem Visuellen zu verstecken – und zwar nicht nur auf der Ebene des Imitats. Die Konzepte der modernen Architektur beruhen großteils auf der Idee der Entmaterialisierung und der Transparenz, wobei dem Begriff der Transparenz in seiner letzten Konsequenz immer die Vermutung des nicht Haptischen anhaftet. Neue Materialien ermöglichen adaptive Fassaden mit veränderlichen optischen Eigenschaften, Videoleinwände bzw. LCD-Monitore ermöglichen, die Wand zur Leinwand mit Blick ins digitale Nirwana zu erweitern. Die Wand als Trennung zwischen innen und außen, zwischen privat und öffentlich, wird dabei nicht aufgelöst, sondern jenseits des Materiellen erweitert zu etwas nicht mehr Fassbaren. Hierbei wird die Wand, die Begrenzung des Raumes, das Konstituierende des architektonischen Raumes als materielle Grenze, durch das Visuelle negiert und ins Virtuelle verschoben.

Der dadurch entstehende virtuelle Raum degradiert, verleugnet und zerstört die Materialität des Gebauten und auch den umgebenden Raum. Hierbei wird das Dargestellte zu etwas jenseits dem Materiellen liegendes, zwar in einer konkreten Situation, aber ohne eine als konkrete und verstehbare materielle Referenz. Das Dargestellte verschwindet hinter der Scheibe Glas des Monitors und beginnt ein digitales, visuelles Eigenleben jenseits des Haptischen, verbunden mit einer oberflächigen haptischen Monotonie und Unbestimmtheit des Glases. Die Materialität und Haptik des Architektonischen wird durch die Unbestimmtheit und Flüchtigkeit des Optischen überlagert und unkenntlich gemacht. Dieser Verlust der Grenze, bezieht man ihn wieder auf das Subjekt, bedeutet den Verlust bzw. das Infragestellen der eigenen definierten und begrenzten Körperlichkeit, ohne die das Subjekt weder im Körperlichen noch im Geistigen existieren kann.

Selbstverständlich ist nicht alles Architektonische im wahrsten Sinne des Wortes greifbar, man denke nur an das Gewölbe eines Kirchenschiffs. Doch hier besteht, ich nenne es so – das Hypothetische des Haptischen –, also die Möglichkeit und die gedachte Gewissheit der haptischen Erfahrung. Das Hypothetische des Haptischen ist das Mitdenken und sich sicher Sein, dass das Visuelle im Materiellen und Dinglichen real verankert ist. In einer visuell und vor allem virtuell geprägten Welt entfällt das Hypothetische des Haptischen zu Gunsten des Ungewissen und Unbestimmten des Haptischen. Das Visuelle verliert hier seine Beziehung zum Haptischen, und damit verliert das Materielle die Verankerung im Subjekt. Auf Grund des damit fortschreitenden Bedeutungsverlusts des Konkreten und Materiellen zu Gunsten des Abstrakten und Immateriellen durch die heutige Präferenz des Visuellen im Alltäglichen, kommt es zum scheinbar letzten Aufbäumen des Konkreten im Materiellen der Architektur. Das Materielle in Form des Haptischen verlässt hier seine Rolle als „Zeichen“-Träger und wird zum tautologischen Zeichen seiner eigenen haptischen Materialität.


 



Literatur:
 

Baudrillard, J.: Simulacra and Simulation (1981), Michigan 2007, S. 1f.

Cassirer, E.: Philosophie der Symbolischen Form, Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), 3. Aufl., Darmstadt 1958, S. 24, 108f., 235.

Heidegger, M. zitiert nach Führ, E.: Bauen Wohnen Denken, in: Theoretische Untersuchungen zur Architektur, 3. Bd.: Martin Heideggers Grundlegungen einer Phänomenologie der Architektur …, hg. von E. Führ, Münster 2000, S. 32.

Keupp, H.; Weber, K.: Psychologie. Ein Grundkurs, Reinbek 2001, S. 49.

Kluge, F.: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 23., erw. Aufl., Berlin [u. a.] 1995, S. 9.

Siegler, R.; DeLoache, J.; Eisenberg, N.: Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter, hg. von S. Pauen, München 2005, S. 256f.

 




Anmerkung:

[1] Vergleiche hierzu Ernst Cassirer 1958, insbesondere auch die Überlegungen zur symbolischen Prägnanz.


 


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