Das Konkrete und die Architektur
14. Jg., Heft 1, Oktober 2009

 

___Ute Poerschke
Penn State University /
München
  „Stein nicht Stein? Holz nicht Holz?“ –
 Zur konkreten Materialität von Architektur

 

   

Wenn hier im Folgenden von der Konkretheit des Materials gesprochen wird, dann geht es darum, Quellen zu untersuchen, in denen Architekten und Theoretiker vom An-Sich-Sein oder vom Sich-Selbst-Sein von Material sprechen. Was soll das sein, Material-An-Sich in der Architektur? Man möchte glauben, dass dieses so aktuelle Thema zeitlich höchstens auf den Minimalismus und die Arte Povera der 1960er Jahre zurückzuführen sei. Doch die Forderung nach diesem An-Sich-Sein des Materials reicht bis in die Frühmoderne des 18. Jahrhunderts zurück. Ein provokativer Versuch über die Architectur aus dem Jahr 1756 scheint zum ersten Mal dieses Thema zu behandeln. Der Autor, Francesco Algarotti, zitiert darin seinen venezianischen Lehrer Carlo Lodoli folgendermaßen:

„Warum soll Stein nicht Stein seyn? Holz nicht Holz? Jedes Ding nicht das was es ist, sondern etwas anders? [...] so wie sie sich zu der characteristischen Beschaffenheit, Biegsamkeit oder Steifigkeit der Materie, zu der verschiednen widerstehenden Kraft, mit einem Worte, zum Wesen und der Natur derselben schicket. Da nun die Natur des Holzes von der Natur des Steines auf die förmlichste Art verschieden ist, so müssen auch natürlicherweise die Gestalten, die man im Bauen dem Holze giebt, von den Gestalten, die den Steinen gegeben werden, verschieden seyn. Nichts ist abgeschmackter [...] als sich Mühe geben, daß eine Materie sich nicht selbst, sondern eine andre bedeuten solle.“[1]

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Abb. 1:
Berardo Galiani: L’architettura di M. Vitruvio Pollione, 1758



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Abb. 2:
gebrochene Türschwelle in Venedig

  Dieses Zitat, das das Sich-Selbst-Sein des Materials fordert, bezieht sich zunächst, wie sollte es anders sein, auf Vitruv, nämlich auf dessen viertes Buch, in dem er erklärt, wie die Antike die Formen des Holzbaus samt „ihrer zimmermannsmäßigen Ausführung“,[2] auf den Steinbau überträgt. Die Formen und Ornamentik des Tempelbaus seien, so schreibt Vitruv, im Holzbau entstanden und dann auf den Steinbau übertragen worden. Sehr gut kann man diese Übertragung in einem Stich der Vitruv-Ausgabe von Berardo Galiani nachvollziehen, der das Holzgebälk und seine Ornamentik zeigt, die dann in den Steinausführungen übernommen wurden. Das zeitgleiche Erscheinen dieser Ausgabe und von Algarottis Essay zeigt deutlich die Wichtigkeit dieser Diskussion Mitte des 18. Jahrhunderts.

Es ist genau diese Übertragung des Formenkanons des einen Materials auf ein anderes, das nun kritisiert wird. Algarotti schreibt, Lodoli hätte diese Nachahmung als den „feyerlichste[n] Irrthum, den man sich jemals hätte vorstellen können“ bezeichnet, und man müsse bemüht sein, diesen „mit allen Verstandeskräften auszurotten“.[3] Man müsse, so Lodoli, das jeweilige Material studieren und zu diesem die passenden „Gestalten“ finden. In der Publikation eines anderen Schülers, Andrea Memmo, gibt Lodoli dafür ein Beispiel. Die Steinschwellen seiner Heimatstadt Venedig seien in einer Weise eingebaut, die dazu führte, dass sie in ihrer Mitte zum Reißen neigten. Der Grund für das Reißen sei, dass die seitlichen Türlaibungen auf der Schwelle stünden und damit ein Biegemoment in der Mitte der Schwelle verursachten, das der Stein aufgrund seiner mangelnden Elastizität nicht aufnehmen könne. Der Zusammenhang zwischen konstruktivem Aufbau und Materialeigenschaften werde missachtet, und daraus „entstehet denn auch das Reißen, Springen und Einstürzen der Gebäude, gleichsam zur offenbaren Strafe des Unrechts, das man die Wahrheit erleiden läßt“.[4]

Dieses Zitat weist auf ein Thema, das sich bis heute immer wieder mit demjenigen der Konkretheit und des An-Sich-Seins des Materials vermengt, nämlich Wahrheit und Wirklichkeit.[5] Das An-Sich-Sein des Materials, seine Wahrheit, sein Wesen und seine Natur (verità, essenza, natura, indole) sind für Lodoli die „charakteristische Beschaffenheit“, „Biegsamkeit“, „Steifigkeit“ und „Kohäsion“ – also die konstruktiven Eigenschaften. Dieses Wesen steht in unmittelbarer Beziehung zur Form. Aus den Zitaten muss man folgern, dass im 18. Jahrhundert das Material-An-Sich eine unmittelbare Beziehung von Material und Form bedeutet, Material ohne Form nicht zu denken ist. Nicht nur soll die Architektur ein Material seiner Natur nach einsetzen, sondern vielmehr und darüber hinaus soll die gesamte Form sich aus dem Material herleiten, denn man würde „vor allen diesen Zufällen [des Reißens, UP] sicher seyn, wenn man Form, Bau und Schmuck aus der Natur und Wesen der Materie selbst herleitete“.[6]

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Abb. 3:
Carlo Lodolis Fenster



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Abb. 4:
Gottfried Semper: Anwendung der Farben in der Architectur und Plastik, 1836



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Abb. 5:
Gottfried Semper, Karaibische Hütte,
 in: Der Stil, 1863
  Lodoli versucht diese Idee umzusetzen in einer Fensterbrüstung, die er für sein Kloster San Francesco della Vigna 1743 entwirft und die man heute noch sehen kann. Die kettenlinienförmige Unterseite dieser Brüstung stellt einen Gegenentwurf zu den venezianischen Schwellen dar. Diese Brüstung zeigt deutlich, dass es um den Zusammenhang von Material und Form geht, um die Komplementarität von Material und Form, um die Abhängigkeit der Form gegenüber dem Material. „Stein ist Stein“ meint hier also eigentlich „Stein ist kettenlinienförmiger Balken“. Dies ist eine sehr kühne Forderung in Lodolis Zeit, die nur von wenigen Architekten mitgetragen wird. Selbst Lodolis Schüler Algarotti kann sich mit diesem neuen Gedanken nicht anfreunden und beharrt darauf, dass „in der Architectur das Holz die Mutter aller übrigen Materien“ sei, „die allen übrigen ihre eigene besondern Formen mittheilet“.[7]

Etwa 80 Jahre später schreibt Gottfried Semper 1834 einen, dem Anfangszitat ähnlichen Satz: „Backstein erscheine als Backstein, Holz als Holz, Eisen als Eisen, ein jedes nach den ihm eigenen Gesetzen der Statik.“[8]
In zweifacher Hinsicht ist Sempers Satz von Lodolis verschieden. Erstens schreibt Semper vom „Erscheinen“ und nicht vom „Sein“. Dies allerdings ist nur ein scheinbarer Unterschied, der auf Übersetzungsmängeln des ersten Textes beruht, denn im italienischen Original ist vom „Repräsentieren“ die Rede und nicht vom „Sein“.[9] Zweitens erweitert Semper die Materialliste von Stein und Holz um weitere Baumaterialien, Backstein und Eisen, und man mag dies als Modernisierung des ursprünglichen Satzes interpretieren. Das Merkwürdigste an Sempers Satz aber ist, dass dieser in einem Aufsatz auftaucht, in dem es um die Bemalung der griechischen Tempel geht: Vorläufige Bemerkungen über bemalte Architektur und Plastik bei den Alten. Semper hatte herausgefunden, dass die griechischen Tempel bemalt waren, was aber in Widerspruch zu stehen scheint mit der Forderung, das Material solle als es selbst erscheinen. Für Semper scheint das keinen Widerspruch darzustellen, im Gegenteil, er führt aus:

„Backsteine, Holz, besonders Eisen, Metall und Zink ersetzen die Stelle der Quadersteine und des Marmors. Es wäre unpassend, noch ferner mit falschem Schein sie nachzuahmen. Es spreche das Material für sich und trete auf, unverhüllt, in der Gestalt, in den Verhältnissen, die als die zweckmäßigsten für dasselbe durch Erfahrungen und Wissenschaften erprobt sind. Backstein erscheine als Backstein, Holz als Holz, Eisen als Eisen, ein jedes nach den ihm eigenen Gesetzen der Statik. Dies ist die wahre Einfachheit, auf der man sich dann mit aller Liebe der unschuldigen Stickerei des Zierats hingeben darf. Das Holz, das Eisen und alles Metall bedarf der Ueberzüge, um es vor der verzehrenden Kraft der Luft zu schützen.“[10]

Semper fordert also einerseits, dass das Material „unverhüllt“ sein solle, um dann nur ein paar Sätze weiter festzustellen, dass es der „Überzüge“ bedürfe. Die Auflösung dieses Widerspruchs ist, dass es Semper einerseits um das Material-An-Sich als konstruktive Form geht – und davon andererseits die Überzüge oder die Bekleidung gedanklich getrennt werden. Das Material-An-Sich offenbart sich in seiner konstruktiven Form, und darin liegt die „wahre Einfachheit“. Dagegen muss sich das Material-An-Sich nicht in der Hülle zeigen.

Darüber hinaus geht es Semper aber um viel mehr. Für ihn muss ein Werk nicht nur einem Material genügen, sondern über dieses hinauswachsen. So sagt er über den berühmten Bau der „Karaibischen Hütte“, der auf der Weltausstellung in London 1851 gezeigt wurde, dieser würde
„in seiner Gesamtheit wie in seinen Teilen dem Zwecke, zu dem er errichtet wurde, und selbst den Gesetzen der Statik und Proportionen“ durchaus entsprechen, aber die „Säulen sind nichts anderes als Baumstämme“ und das „Ganze hat nichts mit der Architektur als Kunst gemein“.[11]

Den Gliedern dieser Hütte fehle die Überwindung des Stoffs, es fehle Ornamentik, und es fehle, dass jedes Teil ein ideales Sein für sich und gegenüber dem Ganzen habe. Zwar ergeben sich aus den Materialien ihnen gemäße Konstruktionen, dies aber ist nur der erste Schritt der Formfindung. Wenn man allerdings diesen ersten Schritt bereits in die falsche Richtung geht, braucht man nicht zu hoffen, dass das Werk je Kunst werde. Der weitere Schritt müsse dann die „Emancipation von der struktiv-stofflichen (!) Realistik“ sein.[12]
Sempers bedeutendste Schrift, Der Stil, zeigt, welche Rolle er dem Material zuweist. Der Stil ist unterteilt in fünf Teile – Textile Kunst, Keramik, Tektonik, Stereotomie und Metallotechnik – und dies ist nicht etwa eine Unterteilung nach Materialien, sondern nach Bearbeitungs- oder Herstellungstechniken. Es geht um Textile Kunst und nicht um Textilien, um Stereotomie (Steinschnitt) und nicht um Stein, um Tektonik und nicht um Holz usw. Daraus folgt, dass sich das Material-An-Sich in der Architektur für Semper in der Bearbeitung offenbart. Die Fertigkeit, bestimmten Materialien eine Form abzugewinnen, ist das Interessante für Semper.

Der Satz „Holz erscheine als Holz“ wird im 19. Jahrhundert von vielen Architekten und Theoretikern verwendet, zum Beispiel auch von Eugène Viollet-le-Duc in seiner zehnten Entretien, die 1863 veröffentlicht wird:

„[...] die Materialien müssen vernünftig eingesetzt werden, ihren Eigenschaften folgend; dass es weder Missbrauch der Stärke noch Exzess der Leichtigkeit gibt; dass diese eingesetzten Materialien ihre Funktion durch die Form anzeigen, die ihr ihnen gebt; dass der Stein wohl als Stein erscheint; das Eisen als Eisen; das Holz als Holz; dass diese Materialien, indem sie alle die Formen annehmen, die zu ihrer Natur passen, einen Einklang untereinander haben.“[13]

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Abb. 6:
Eugène Viollet-le-Duc:
Quatrième Entretien, in:
Entretiens sur l’Architecture, 1863
  Genauso wie bei Semper ist die Forderung, dass das Material als es selbst erscheine, konstruktiv gemeint, und steht nicht im Widerspruch dazu, dass es auch noch bekleidet wird. Viollet-le-Ducs Stiche in seinen Entretiens unterstreichen diese Auffassung, indem sie die konstruktive Form nebeneinander mit und ohne Überzüge darstellen. Darüber hinaus liegt die eigentliche Bedeutung dieses Zitats in der Bemerkung, dass die Materialien „ihre Funktion durch die Form anzeigen“ [„indiquent leur fonction par la forme“]. Sechsundzwanzig Jahre vor Louis Sullivans Diktum „form follows function“ formuliert Viollet-le-Duc hier den prägnanten Zusammenhang von Funktion und Form.[14] Dazu muss man anmerken, dass das 19. Jahrhundert diese Formulierung nicht so eindirektional – also als einseitige Abhängigkeit der Form von der Funktion – interpretiert, wie dies heute behauptet wird. Sempers und Viollet-le-Ducs Zeitgenosse Karl Bötticher schreibt zum Beispiel unmissverständlich: „Die Form erst verleiht dem baulichen Materiale die Eigenschaft seine Funktion erfüllen zu können; umgekehrt kann aus der Form jedes Mal die Funktion erkannt werden“.[15] Man sieht hier einen deutlichen Unterschied zu Lodoli. Während bei Lodoli die Form in Abhängigkeit des Materials gerät, beschreiben Semper und Bötticher eine gegenseitige Abhängigkeit, in der die Form „den leblosen Stoff“ belebt,[16] aber auch erst durch ihn und durch den Architekten oder Handwerker realisiert wird.

Nur fünfunddreißig Jahre nach der Veröffentlichung von Sempers Stil, 1898, nimmt Adolf Loos in seinem Aufsatz Das Prinzip der Bekleidung auf Semper Bezug:

„Ein jedes material hat seine eigene formensprache, und kein material kann die formen eines anderen materials für sich in anspruch nehmen. Denn die formen haben sich aus der verwendbarkeit und herstellungsweise eines jeden materials gebildet, sie sind mit dem material und durch das material geworden. Kein material gestattet einen eingriff in seinen formenkreis. Wer es dennoch wagt, den brandmarkt die welt als fälscher.“[17]

Das Material-An-Sich kann man hier wieder als in Beziehung zur konstruktiven Form verstehen, denn wie bei Semper gibt es daneben noch die Bekleidung, also den Schutz der Primärkonstruktion. Für die Bekleidung gibt es, so Loos, mannigfache Gründe: „Bald ist sie schutz gegen die unbill des wetters, wie der ölfarbenanstrich auf holz, eisen oder stein, bald sind es hygienische gründe“[18]. Für Loos ergibt sich daraus das Problem, dass man das Oberflächenmaterial mit dem Konstruktionsmaterial verwechseln könnte, und um dies zu vermeiden, stellt er ein Gesetz auf:

„Dieses gesetz lautet also: Die möglichkeit, das bekleidete material mit der bekleidung verwechseln zu können, soll auf alle fälle ausgeschlossen sein. Auf einzelne fälle angewendet, würde dieser satz lauten: Holz darf mit jeder farbe angestrichen werden, nur mit einer nicht – der holzfarbe.“[19]

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Abb. 7:
Adolf Loos, Michaelerhaus, Wien



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Abb. 8:
Lazlo Moholy-Nagy:
von material zu architektur, 1929



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Abb. 9:
Lazlo Moholy-Nagy:
von material zu architektur, 1929
  Doch bei Loos tritt nun etwas Neues hinzu, und man mag dies als Verweis auf die Moderne des 20. Jahrhunderts verstehen. Es ist die Vorliebe für die Oberfläche des Materials. Sehr deutlich kann man diese Vorliebe im Wiener Michaelerhaus von 1909-11 mit seiner großflächigen Verkleidung aus Cipollino-Marmor sehen. Bei allen Projekten, in denen Loos Naturstein verwendet, zeigt sich seine Meisterschaft, Farbe und Maserung als Entwurfselemente zu verwenden.

Mit Adolf Loos entwickeln sich zwei parallele Stränge der Auffassung vom Material-An-Sich. Der ältere Strang, wie bereits gesehen, betrifft das Material als konstruktive Form; der neuere das Material als Oberfläche. Man könnte diese beiden Auffassungen auch ein inneres und äußeres Material-An-Sich nennen. In Anlehnung an Günter Bandmann könnte man diese beiden Auffassungen auch als „rationalistische Materialgerechtigkeit“ einerseits und als „sensualistische Materialgerechtigkeit“ andererseits bezeichnen.[20] Bandmann versteht rationalistische Materialgerechtigkeit als „durch die Zweckmäßigkeit begründet“, was wohl die konstruktive Formbindung einschließen würde. Dagegen stehen bei der sensualistischen Materialgerechtigkeit Seh- und Tastsinn im Vordergrund.
Wieweit es sich bei beidem allerdings um „Gerechtigkeit“ gegenüber dem Material handelt, kann man sicher diskutieren. Gemeint ist im ersteren Fall, dass die Konstruktion dem Material gerecht wird, und im zweiten Fall, dass die Oberflächenausbildung und -erfahrung dem Material entsprechen soll. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass das Wort „materialgerecht“ in der Zeit von Loos auftritt, er selbst verwendet es erstmalig im Jahr 1900.[21] Bei Loos sind diese beiden Auffassungen – innere und äußere Materialkonkretheit – klar vorhanden aber noch gedanklich voneinander getrennt, denn die Oberfläche gehört nach wie vor dem Reich der Überzüge an. Man könnte zwar einwenden, dass die Säulen am Michaelerhaus monolithisch sind, allerdings sind sie nicht konstruktiv-tragend.

Beide Ideen des Materials-An-Sich werden im Bauhaus eingehend studiert. In seinem Buch von material zu architektur zeigt Laszlo Moholy-Nagy wie sich das Bauhaus zunächst intensiv mit der Oberfläche beschäftigt. Er stellt fest, „wie vernachlässigt unsere tastkultur ist“[22] und führt im zweiten Semester umfangreiche „Tastübungen“ durch. Er bezieht sich dabei auf Marinettis manifest über den taktilismus in dem „eine neue kunstgattung [...], die sich auf dem tastgefühl aufbauen sollte“ vorgeschlagen wird.[23] Das Erlebnis des Materials durch manuelle Bearbeitung und das Abtasten der Materialoberflächen haben den Sinn, die Materialeigenschaften Struktur, Textur und Faktur zu begreifen und „den wünschen des materials nachzugehen, statt es zu vergewaltigen“.[24] Dass es dabei wiederum um Ehrlichkeit und Wahrheit geht, zeigt sich in Moholys Beschreibung der Skulpturen Archipenkos, bei denen keine Oberflächen, zum Beispiel Haut oder Stoff vorgetäuscht werden sollen, sondern „sein holz sollte für holz, sein metall für metall usw. stehen und mit eigenem wert wirken“.[25]

Darüber hinaus geht es Moholy-Nagy aber nicht nur um die Materialoberflächen allein, sondern um das „verhalten auf zug und druck“ der verschiedenen Materialien und um Gleichgewichtskonstruktionen. Moholy-Nagy zeigt weitere Übungen aus seinem Bauhauskurs, die Materialeigenschaften wie „biegsamkeit, dehnungsgrenze, elastizität usw.“[26] in Objekte umsetzen. Somit zeigen sich in den Bauhausübungen die beiden Deutungen des Materials-An-Sich, die Oberfläche einerseits, die konstruktive Form andererseits. Welche Bedeutung diese beiden Materialthemen für die Architektur haben könnten, stellt Moholy-Nagy dann aber nicht dar, sondern widmet sein letztes Kapitel über Architektur ganz dem neuen Raumverständnis.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich immer wieder die Bemühung feststellen, die Unterscheidung vom Material-An-Sich als konstruktive Form einerseits und als Oberfläche andererseits zu überwinden. Der Versuch einer Verschmelzung von innerer und äußerer Materialität ist ein Kennzeichen vieler moderner – und sicher kein Merkmal postmoderner Architekten. Insbesondere bei Louis Kahns Ziegelbauten in Indien und Bangladesh hat man nicht das Gefühl der Bekleidung, sondern des Einswerdens von Konstruktions- und Oberflächenmaterialität. In einer berühmten Vorlesung am Pratt Institute im Jahr 1973 befragt Kahn den Backstein, was dieser sein wolle:

“You say to brick, ‘What do you want, brick?’ And brick says to you, ‘I like an arch.’ And you say to brick, ‘Look, I want one too, but arches are expensive and I can use a concrete lintel over you, over an opening.’ And then you say, ‘What do you think of that, brick?’ Brick says, ‘I like an arch.’ It’s important, you see, that you honor the material that you use. […] You can only do it if you honor the brick, and glorify the brick instead of just shortchanging it or giving it an inferior job to do, where it loses its character.”[27]

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Abb. 10:
Louis Kahn, Indian Institute of Management, Ahmedabad

  In Kahns Indian Institute of Management in Ahmedabad von 1963 ist die konstruktive Logik des Backsteins grandios zur Darstellung gebracht. Von gleicher Wichtigkeit aber ist die Erscheinung der rauen Oberfläche im Licht. Die Verschmelzung von innerer und äußerer Materialität gelingt dadurch, dass die Konstruktion keiner „Überzüge“ – um hier Sempers Wort zu verwenden – bedarf. Das Gebäude hat zur Außenluft offene Korridore und Balkone. Es ist keine Isolierung und kein Schichtenaufbau der Außenwand notwendig, und das Material kann innen und außen als das gleiche erscheinen. Die Oberfläche des Ziegels wirkt so nicht als Hülle, sondern als tatsächliche Begrenzung der Konstruktion.
Kahn fordert diese innere Konversation mit dem Material nicht nur für den Backstein. Jedes Material habe eine Natur, und man müsse herausfinden, „was es wirklich ist“:

“When you’re making something you must consult nature, like the conversation with the brick. And you can make the same conversation with concrete. And you can make the same conversation with paper, or with papier maché, or with plastic, or with marble, or any material that has its nature. And it’s the beauty of what you create that you honor – the material for what it really is.”[28]

In den letzten zwei Jahrzehnten hat die Umsetzung der Idee des Materials-An-Sich ihren vehementesten Vertreter in Peter Zumthor. Dieser schreibt oft genug vom „Konkreten“ und „der konkreten Welt“, den „konkreten Qualitäten der Architektur“, die „immer konkrete Materie“ sei, in der „konkrete Materialien gefügt und aufgerichtet“ und so „konkret erfahren“ werden können.[29] Insbesondere in seinem Essay Der harte Kern der Schönheit von 1991 kommt er immer wieder auf die „Wirklichkeit der Baumaterialien“ und die „Wirklichkeit der Konstruktionen“ zurück, „in deren Eigenschaften ich mit meiner Vorstellungskraft einzudringen versuche, um Sinn und Sinnlichkeit bemüht“.[30] Seine Entwürfe gehen dabei vom Ort, und das heißt von den materiellen Erscheinungen aus:

„Sich mit den Eigengesetzlichkeiten von konkreten Dingen wie Berg, Stein, Wasser auf dem Hintergrund einer Bauaufgabe zu befassen, birgt die Möglichkeit in sich, etwas vom ursprünglichen und gleichsam ‚zivilisatorisch unschuldigen’ Wesen dieser Elemente zu fassen, zum Ausdruck zu bringen und eine Architektur zu entwickeln, die von den Dingen ausgeht und zu den Dingen zurückkehrt.“[31]

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Abb. 11:
Peter Zumthor, EXPO-Pavillon

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Abb. 12:
Bretterstapel


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Abb. 13:
Peter Zumthor, Therme in Vals


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Abb. 14:
Steinbruch bei Salzburg


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Abb. 15:
Peter Zumthor, Therme in Vals, Detail

 

Seine Strategie, das „zivilisatorisch unschuldige Wesen dieser Elemente“ fassen zu wollen, fordert zur Interpretation heraus. Zumthor spricht hier nicht von Materialien, sondern von den Elementen. Materialien, im Gegensatz zu Materie oder Elementen, sind etwas, dessen sich Menschen bedienen, also zivilisatorisch. Baumaterialien, Konstruktionen und Bauwerke können niemals „zivilisatorisch unschuldig“ sein, und daher ist die Therme in Vals auch kein Entwurf einer Grotte, und der EXPO-Pavillon in Hannover kein Entwurf eines Waldes. Der EXPO-Pavillon und die Therme erzählen vielmehr beide von dem Moment, in dem die Naturstoffe Holz und Stein zu (Bau-)Materialien werden. So kann man den EXPO-Pavillon leicht mit der Holzstapelung in einem Sägewerk assoziieren, und ebenso die Therme mit einem Steinbruch. Im Sägewerk findet die Verwandlung vom Baum oder Wald zum Bauholz statt; und der Steinbruch verkörpert den Moment, in dem der Fels oder Berg zum Baustein wird. Sägewerk und Steinbruch charakterisieren also den Moment, in dem der Mensch sich dieser Stoffe als Materialien bemächtigt.

Zumthors Strategie der Erzeugung eines Gefühls von materieller Ursprünglichkeit ist, wie die beiden Beispiele zeigen, an den Ursprung des Verarbeitungsprozesses der Materialien zurückzugehen. Kann das Material als Baumaterial mehr An-Sich-Sein als in diesem „ursprünglichsten“ Zustand im Sägewerk und im Steinbruch? Was gerade noch Baum oder Wald oder Stein oder Fels war, ist jetzt Holz-An-Sich und Stein-An-Sich. Die Präsenz des Materials wird gesteigert durch die Reduktion auf diesen ersten Zustand der Materialbehandlung. Und doch ist auch dieses Material-An-Sich in Vals und in Hannover letztlich nur ein Zitat von Steinbruch und Sägewerk.
Zumthor gelingt es wie nur selten einem Architekten, inneres und äußeres Material-An-Sich, das heißt, „Sinn“ der Konstruktion und „Sinnlichkeit“ der Oberfläche, in Einklang zu bringen. Im Hannover’schen Pavillon, in der Wachendorfer Kapelle und auch in den Churer Ausgrabungsüberdachungen, kurzum in allen Projekten, die keine speziellen Anforderungen an klimatische Trennung oder Feuchtigkeitsabdichtung stellen, sind innere und äußere Materialität eins. Aber auch Zumthor kann dem Unterschied von Material-Als-Konstruktion und Material-Als-Oberfläche nicht immer entrinnen. Die Wände der Therme, die einen konstruktiven Verbund aus äußerem Gneis und innerem Beton bilden, mag man noch zu dieser Einheit zählen, die Böden und Treppen mit ihrem komplexen Aufbau gegen Feuchte jedoch nicht mehr.

Für die Architektur stellt es bis heute eine intellektuelle Herausforderung dar, die beiden Auffassungen vom Material-An-Sich-Als-Konstruktive-Form und vom Material-An-Sich-Als-Oberfläche miteinander in Einklang zu bringen. Die Mehrschichtigkeit der konstruktiven Elemente ist eine bedeutende Strategie des Bauens und steht diesem Einklang entgegen. Es gibt zwar immer wieder den Versuch einer Überwindung der Mehrschichtigkeit, etwa bei den Schweizer Experimenten mit Leichtbeton für einschalige Außenwände; diese genügen aber trotz einer Wandstärke von mehr als 40 Zentimetern nicht den gegenwärtigen Anforderungen an die entsprechende Klimatrennung bei Niedrig- und Nullenergiehäusern. Trotzdem zeigen diese Versuche den dringenden Wunsch nach dieser Einheit, der einher geht mit den Wünschen nach Konkretheit, Authentizität, Wahrheit und Wirklichkeit.

Darüber hinaus muss man fragen: gibt es das nun, das Material-An-Sich? Immer und überall hängt das Material ab von der Form, und in der Architektur auch von der Bearbeitung und der Wahrnehmung. In der Architektur ist es an den Kontakt mit den Menschen gebunden, die es formen, gebrauchen und wahrnehmen. Andererseits aber lässt sich auch sagen, dass Holz immer Holz bleibt, egal hinter welcher Verkleidung, in welcher konstruktiven Form, wie gut oder schlecht bearbeitet, und wie wahrgenommen. Egal, ob ein Material zeigt, was es ist oder nicht, es ist und bleibt dieses Material. Warum also fordern Architekten dieses An-Sich-Sein des Materials? Ein Grund mag sein, dass die Forderung nach Material-An-Sich ein Beispiel dafür ist, wie der Wunsch nach Authentizität und authentischem Ausdruck des „Selbst“ auf die Architektur übertragen wird: Bei Menschen wie bei Materialien ist die Realisierung und Darstellung des „Selbst“ ein vielschichtiger Akt.


 



Literatur:

Algarotti, Francesco: Saggio Sopra l’Architettura, 1756, hier in: Ders.: Saggi, Bari 1963.

Algarotti, Francesco: Versuch über die Architectur, in: Versuche über die Architectur, Mahlerey und musicalische Opera, aus dem Italienischen des Grafen Algarotti übersetzt von R. E. Raspe, Cassel 1769.

Bandmann, Günter: Der Wandel der Materialbewertung in der Kunsttheorie des 19. Jahrhunderts, in: Beiträge zur Theorie der Künste im 19. Jahrhundert, hg. von Helmut Koopmann, Josef Adolf Schmoll gen. Eisenwerth, Bd. 1, Frankfurt/M. 1971.

Bötticher, Karl: Die Tektonik der Hellenen, Erster Band, Potsdam 1852.

Kahn, Louis I.: Writings, Lectures, Interviews, Introduction and edited by Alessandra Latour, New York 1991.

Loos, Adolf: Ins Leere gesprochen. Gesammelte Schriften 1897-1900, Wien 1997.

Moholy-Nagy, Laszlo: von material zu architektur, Faksimile der Erstausgabe von 1929, Mainz 1968.

Semper, Gottfried: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik, Bd. 1, München 1860.

Semper, Gottfried: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik, Bd. 2, München 1863.

Semper, Gottfried: Kleine Schriften, Berlin 1884.

Viollet-le-Duc, Eugène: Entretiens sur l’Architecture (1863), Neudruck: Ridgewood (NJ) 1965.

Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, Übersetzung von Curt Fensterbusch, Darmstadt 1964.

Zumthor, Peter: Architektur Denken, Baden 1999.


 

 



Abbildungsnachweis:


Abb.1: Berardo Galiani: L’architettura di M. Vitruvio Pollione, Tavola IV, Neapel 1758
Abb. 2, 3, 14: Fotos: Ute Poerschke
Abb. 4: Gottfried Anwendung der Farben in der Architectur und Plastik, Dresden 1836, Ausschnitt aus Tafel V
Abb. 5: Gottfried Semper, Karaibische Hütte, in: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik, Bd. 2, München 1863, S. 276
Abb. 6: Eugène Viollet-le-Duc: Quatrième Entretiens, in: Entretiens sur l’Architecture (1863), Neudruck: Ridgewood (NJ) 1965, S. 131Abb. 7: Foto: James G. Cooper
Abb. 8, 9: Lazlo Moholy-Nagy: von material zu architektur, Faksimile der Erstausgabe von 1929, Mainz 1968, S. 25, 151
Abb. 10: Foto: Kaustav Gupta
Abb. 11: Foto: Gabriele Grimm
Abb. 12: Foto: Stefan Zwink
Abb. 13: Peter Zumthor: a+u, Februar 1998, S. 150
Abb. 15: Peter Zumthor: Therme Vals, Zürich 2006, S. 110



 



Anmerkungen:

[1] Algarotti 1769 (dt.), S. 11.

[2] Vitruv IV, 2, 2, in: Vitruv/Fensterbusch 1964, S. 177.

[3] Algarotti 1769 (dt.), S. 10f.

[4] Ebd., S.11f.

[5] Auch dieses Thema geht auf oben genannte Textstelle bei Vitruv IV, 2, 5, zurück, in der es heißt, die Griechen hätten geglaubt, dass „das, was in Wirklichkeit (am Holzbau) nicht entstehen kann, auch nicht, wenn es an den Nachbildungen (am Steinbau) gemacht ist, seine Berechtigung haben kann.“ Vgl. Vitruv/Fensterbusch 1964, S. 179.

[6] Algarotti 1769 (dt.), S. 12.

[7] Ebd., S. 39.

[8] Gottfried Semper: Vorläufige Bemerkungen über bemalte Architektur und Plastik bei den Alten (1834), in: Semper 1884, S. 219.

[9] „Per che ragione la pietra non rappresenta ella pietra, il legno il legno, ogni material sé medesima e non altra?“, in: Algarotti 1756, S. 36.

[10] Semper 1884, S. 219.

[11] Ebd., S. 294.

[12] Semper 1863, S. 400. Vgl. auch Sempers Aussage: „Die Form, die zur Erscheinung gewordene Idee, darf dem Stoffe aus dem sie gemacht ist nicht widersprechen, allein es ist nicht absolut nothwendig dass der Stoff als solcher zu der Kunsterscheinung als Faktor hinzutrete.“, in: Semper 1860, S. XV.

[13] Viollet-le-Duc 1863, S. 472: „[…] il faut que les matériaux soient mis en oeuvre judicieusement, suivant leur propriétés; qu’il n’y ait pas abus de force ou excès de légèreté; que ces matériaux mis en oeuvre indiquent leur fonction par la forme que vous leur donnez; que la pierre paraisse bien etre de la pierre; le fer, du fer; le bois, du bois; que ces matières, tout en prenant les formes qui conviennent à leur nature, aient un accord entre elles.” [Übersetzung UP]

[14] Louis Sullivan: The Tall Office Building Artistically Considered, 1898; z. B. in: Kindergartenchats and other Writings, New York 1979, S. 202-213.

[15] Bötticher 1852, S. 6.

[16] Semper 1884, S. 323.

[17] Adolf Loos: Das Prinzip der Bekleidung, in: Loos 1997, S. 140.

[18] Loos 1997, S. 141f.

[19] Ebd., S. 142.

[20] Bandmann 1971, S. 149. Der Autor verwendet diese Unterscheidung allerdings in anderem Kontext, nämlich als Unterscheidung zwischen der Materialbehandlung der Architektur und derjenigen der Malerei und Plastik, doch lässt sich diese Abgrenzung sehr gut für eine Differenzierung des Themas des Materials-An-Sich in der Architektur anwenden.

[21] Adolf Loos: Mein Auftreten mit der Melba, in: Loos 1997, S. 197.

[22] Moholy-Nagy 1929, S. 28.

[23] Ebd., S. 24.

[24] Ebd., S. 82f.

[25] Ebd., S. 120.

[26] Ebd., S. 137, 153.

[27] Kahn 1991, S. 323.

[28] Ebd., S. 327.

[29] Zumthor 1999, S.11f., 58f.

[30] Ebd., S. 34.

[31] Ebd., S. 30.




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