Das Konkrete und die
Architektur |
___Ute
Poerschke Penn State University / München |
„Stein nicht Stein? Holz nicht Holz?“ – Zur konkreten Materialität von Architektur |
Wenn hier im Folgenden von der Konkretheit des Materials gesprochen wird, dann geht es darum, Quellen zu untersuchen, in denen Architekten und Theoretiker vom An-Sich-Sein oder vom Sich-Selbst-Sein von Material sprechen. Was soll das sein, Material-An-Sich in der Architektur? Man möchte glauben, dass dieses so aktuelle Thema zeitlich höchstens auf den Minimalismus und die Arte Povera der 1960er Jahre zurückzuführen sei. Doch die Forderung nach diesem An-Sich-Sein des Materials reicht bis in die Frühmoderne des 18. Jahrhunderts zurück. Ein provokativer Versuch über die Architectur aus dem Jahr 1756 scheint zum ersten Mal dieses Thema zu behandeln. Der Autor, Francesco Algarotti, zitiert darin seinen venezianischen Lehrer Carlo Lodoli folgendermaßen: „Warum soll Stein nicht Stein seyn? Holz nicht Holz? Jedes Ding nicht das was es ist, sondern etwas anders? [...] so wie sie sich zu der characteristischen Beschaffenheit, Biegsamkeit oder Steifigkeit der Materie, zu der verschiednen widerstehenden Kraft, mit einem Worte, zum Wesen und der Natur derselben schicket. Da nun die Natur des Holzes von der Natur des Steines auf die förmlichste Art verschieden ist, so müssen auch natürlicherweise die Gestalten, die man im Bauen dem Holze giebt, von den Gestalten, die den Steinen gegeben werden, verschieden seyn. Nichts ist abgeschmackter [...] als sich Mühe geben, daß eine Materie sich nicht selbst, sondern eine andre bedeuten solle.“[1] |
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Abb. 1: Berardo Galiani: L’architettura di M. Vitruvio Pollione, 1758 Abb. 2: gebrochene Türschwelle in Venedig |
Dieses Zitat, das das Sich-Selbst-Sein des Materials fordert, bezieht
sich zunächst, wie sollte es anders sein, auf Vitruv, nämlich auf dessen
viertes Buch, in dem er erklärt, wie die Antike die Formen des Holzbaus samt
„ihrer zimmermannsmäßigen Ausführung“,[2]
auf den Steinbau überträgt. Die Formen und Ornamentik des Tempelbaus seien,
so schreibt Vitruv, im Holzbau entstanden und dann auf den Steinbau
übertragen worden. Sehr gut kann man diese Übertragung in einem Stich der
Vitruv-Ausgabe von Berardo Galiani nachvollziehen, der das Holzgebälk und
seine Ornamentik zeigt, die dann in
den Steinausführungen übernommen wurden. Das zeitgleiche Erscheinen dieser
Ausgabe und von Algarottis Essay zeigt deutlich die Wichtigkeit dieser
Diskussion Mitte des 18. Jahrhunderts. Es ist genau diese Übertragung des Formenkanons des einen Materials auf ein anderes, das nun kritisiert wird. Algarotti schreibt, Lodoli hätte diese Nachahmung als den „feyerlichste[n] Irrthum, den man sich jemals hätte vorstellen können“ bezeichnet, und man müsse bemüht sein, diesen „mit allen Verstandeskräften auszurotten“.[3] Man müsse, so Lodoli, das jeweilige Material studieren und zu diesem die passenden „Gestalten“ finden. In der Publikation eines anderen Schülers, Andrea Memmo, gibt Lodoli dafür ein Beispiel. Die Steinschwellen seiner Heimatstadt Venedig seien in einer Weise eingebaut, die dazu führte, dass sie in ihrer Mitte zum Reißen neigten. Der Grund für das Reißen sei, dass die seitlichen Türlaibungen auf der Schwelle stünden und damit ein Biegemoment in der Mitte der Schwelle verursachten, das der Stein aufgrund seiner mangelnden Elastizität nicht aufnehmen könne. Der Zusammenhang zwischen konstruktivem Aufbau und Materialeigenschaften werde missachtet, und daraus „entstehet denn auch das Reißen, Springen und Einstürzen der Gebäude, gleichsam zur offenbaren Strafe des Unrechts, das man die Wahrheit erleiden läßt“.[4] Dieses Zitat weist auf ein Thema, das sich bis heute immer wieder mit demjenigen der Konkretheit und des An-Sich-Seins des Materials vermengt, nämlich Wahrheit und Wirklichkeit.[5] Das An-Sich-Sein des Materials, seine Wahrheit, sein Wesen und seine Natur (verità, essenza, natura, indole) sind für Lodoli die „charakteristische Beschaffenheit“, „Biegsamkeit“, „Steifigkeit“ und „Kohäsion“ – also die konstruktiven Eigenschaften. Dieses Wesen steht in unmittelbarer Beziehung zur Form. Aus den Zitaten muss man folgern, dass im 18. Jahrhundert das Material-An-Sich eine unmittelbare Beziehung von Material und Form bedeutet, Material ohne Form nicht zu denken ist. Nicht nur soll die Architektur ein Material seiner Natur nach einsetzen, sondern vielmehr und darüber hinaus soll die gesamte Form sich aus dem Material herleiten, denn man würde „vor allen diesen Zufällen [des Reißens, UP] sicher seyn, wenn man Form, Bau und Schmuck aus der Natur und Wesen der Materie selbst herleitete“.[6] |
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Abb. 3: Carlo Lodolis Fenster Abb. 4: Gottfried Semper: Anwendung der Farben in der Architectur und Plastik, 1836 Abb. 5: Gottfried Semper, Karaibische Hütte, in: Der Stil, 1863 |
Lodoli versucht diese Idee umzusetzen in einer Fensterbrüstung, die er für
sein Kloster San Francesco della Vigna 1743 entwirft und die man heute noch
sehen kann. Die kettenlinienförmige
Unterseite dieser Brüstung stellt einen Gegenentwurf zu den venezianischen
Schwellen dar. Diese Brüstung zeigt deutlich, dass es um den Zusammenhang
von Material und Form geht, um die Komplementarität von Material und Form,
um die Abhängigkeit der Form gegenüber dem Material. „Stein ist Stein“
meint hier also eigentlich „Stein ist kettenlinienförmiger Balken“.
Dies ist eine sehr kühne Forderung in Lodolis Zeit, die nur von wenigen
Architekten mitgetragen wird. Selbst Lodolis Schüler Algarotti kann sich mit
diesem neuen Gedanken nicht anfreunden und beharrt darauf, dass „in der
Architectur das Holz die Mutter aller übrigen Materien“ sei, „die
allen übrigen ihre eigene besondern Formen mittheilet“.[7] Etwa 80 Jahre später schreibt Gottfried Semper 1834 einen, dem Anfangszitat ähnlichen Satz: „Backstein erscheine als Backstein, Holz als Holz, Eisen als Eisen, ein jedes nach den ihm eigenen Gesetzen der Statik.“[8] In zweifacher Hinsicht ist Sempers Satz von Lodolis verschieden. Erstens schreibt Semper vom „Erscheinen“ und nicht vom „Sein“. Dies allerdings ist nur ein scheinbarer Unterschied, der auf Übersetzungsmängeln des ersten Textes beruht, denn im italienischen Original ist vom „Repräsentieren“ die Rede und nicht vom „Sein“.[9] Zweitens erweitert Semper die Materialliste von Stein und Holz um weitere Baumaterialien, Backstein und Eisen, und man mag dies als Modernisierung des ursprünglichen Satzes interpretieren. Das Merkwürdigste an Sempers Satz aber ist, dass dieser in einem Aufsatz auftaucht, in dem es um die Bemalung der griechischen Tempel geht: Vorläufige Bemerkungen über bemalte Architektur und Plastik bei den Alten. Semper hatte herausgefunden, dass die griechischen Tempel bemalt waren, was aber in Widerspruch zu stehen scheint mit der Forderung, das Material solle als es selbst erscheinen. Für Semper scheint das keinen Widerspruch darzustellen, im Gegenteil, er führt aus: „Backsteine, Holz, besonders Eisen, Metall und Zink ersetzen die Stelle der Quadersteine und des Marmors. Es wäre unpassend, noch ferner mit falschem Schein sie nachzuahmen. Es spreche das Material für sich und trete auf, unverhüllt, in der Gestalt, in den Verhältnissen, die als die zweckmäßigsten für dasselbe durch Erfahrungen und Wissenschaften erprobt sind. Backstein erscheine als Backstein, Holz als Holz, Eisen als Eisen, ein jedes nach den ihm eigenen Gesetzen der Statik. Dies ist die wahre Einfachheit, auf der man sich dann mit aller Liebe der unschuldigen Stickerei des Zierats hingeben darf. Das Holz, das Eisen und alles Metall bedarf der Ueberzüge, um es vor der verzehrenden Kraft der Luft zu schützen.“[10]
Semper fordert also
einerseits, dass das Material „unverhüllt“ sein solle, um dann nur ein paar
Sätze weiter festzustellen, dass es der „Überzüge“ bedürfe. Die Auflösung
dieses Widerspruchs ist, dass es Semper einerseits um das Material-An-Sich
als konstruktive Form geht – und davon andererseits die Überzüge oder die
Bekleidung gedanklich getrennt werden. Das Material-An-Sich offenbart sich
in seiner konstruktiven Form, und darin liegt die „wahre Einfachheit“.
Dagegen muss sich das Material-An-Sich nicht in der Hülle zeigen.
Den Gliedern dieser Hütte fehle die Überwindung des Stoffs, es fehle
Ornamentik, und es fehle, dass jedes Teil ein ideales Sein für sich und
gegenüber dem Ganzen habe. Zwar ergeben sich aus den Materialien ihnen
gemäße Konstruktionen, dies aber ist nur der erste Schritt der Formfindung.
Wenn man allerdings diesen ersten Schritt bereits in die falsche Richtung
geht, braucht man nicht zu hoffen, dass das Werk je Kunst werde. Der weitere
Schritt müsse dann die „Emancipation von der struktiv-stofflichen (!) Realistik“ sein.[12]
„[...] die Materialien
müssen vernünftig eingesetzt werden, ihren Eigenschaften folgend; dass es
weder Missbrauch der Stärke noch Exzess der Leichtigkeit gibt; dass diese
eingesetzten Materialien ihre Funktion durch die Form anzeigen, die ihr
ihnen gebt; dass der Stein wohl als Stein erscheint; das Eisen als Eisen;
das Holz als Holz; dass diese Materialien, indem sie alle die Formen
annehmen, die zu ihrer Natur passen, einen Einklang untereinander haben.“[13] | |
Abb. 6: Eugène Viollet-le-Duc: Quatrième Entretien, in: Entretiens sur l’Architecture, 1863 |
Genauso wie bei Semper
ist die Forderung, dass das Material als es selbst erscheine, konstruktiv
gemeint, und steht nicht im Widerspruch dazu, dass es auch noch bekleidet
wird. Viollet-le-Ducs Stiche in seinen Entretiens unterstreichen
diese Auffassung, indem sie die konstruktive Form nebeneinander mit und ohne
Überzüge darstellen. Darüber hinaus
liegt die eigentliche Bedeutung dieses Zitats in der Bemerkung, dass die
Materialien „ihre Funktion durch die Form anzeigen“ [„indiquent
leur fonction par la forme“]. Sechsundzwanzig Jahre vor Louis Sullivans
Diktum „form follows function“ formuliert Viollet-le-Duc hier den
prägnanten Zusammenhang von Funktion und Form.[14]
Dazu muss man anmerken, dass das 19. Jahrhundert diese Formulierung nicht so
eindirektional – also als einseitige Abhängigkeit der Form von der Funktion
– interpretiert, wie dies heute behauptet wird. Sempers und Viollet-le-Ducs
Zeitgenosse Karl Bötticher schreibt zum Beispiel unmissverständlich: „Die
Form erst verleiht dem baulichen Materiale die Eigenschaft seine Funktion
erfüllen zu können; umgekehrt kann aus der Form jedes Mal die Funktion
erkannt werden“.[15]
Man sieht hier einen deutlichen Unterschied zu Lodoli. Während bei Lodoli
die Form in Abhängigkeit des Materials gerät, beschreiben Semper und
Bötticher eine gegenseitige Abhängigkeit, in der die Form „den leblosen
Stoff“ belebt,[16]
aber auch erst durch ihn und durch den Architekten oder Handwerker
realisiert wird. Nur fünfunddreißig Jahre nach der Veröffentlichung von Sempers Stil, 1898, nimmt Adolf Loos in seinem Aufsatz Das Prinzip der Bekleidung auf Semper Bezug: „Ein jedes material hat seine eigene formensprache, und kein material kann die formen eines anderen materials für sich in anspruch nehmen. Denn die formen haben sich aus der verwendbarkeit und herstellungsweise eines jeden materials gebildet, sie sind mit dem material und durch das material geworden. Kein material gestattet einen eingriff in seinen formenkreis. Wer es dennoch wagt, den brandmarkt die welt als fälscher.“[17] Das Material-An-Sich kann man hier wieder als in Beziehung zur konstruktiven Form verstehen, denn wie bei Semper gibt es daneben noch die Bekleidung, also den Schutz der Primärkonstruktion. Für die Bekleidung gibt es, so Loos, mannigfache Gründe: „Bald ist sie schutz gegen die unbill des wetters, wie der ölfarbenanstrich auf holz, eisen oder stein, bald sind es hygienische gründe“[18]. Für Loos ergibt sich daraus das Problem, dass man das Oberflächenmaterial mit dem Konstruktionsmaterial verwechseln könnte, und um dies zu vermeiden, stellt er ein Gesetz auf: „Dieses gesetz lautet also: Die möglichkeit, das bekleidete material mit der bekleidung verwechseln zu können, soll auf alle fälle ausgeschlossen sein. Auf einzelne fälle angewendet, würde dieser satz lauten: Holz darf mit jeder farbe angestrichen werden, nur mit einer nicht – der holzfarbe.“[19] |
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Abb. 7: Adolf Loos, Michaelerhaus, Wien Abb. 8: Lazlo Moholy-Nagy: von material zu architektur, 1929 Abb. 9: Lazlo Moholy-Nagy: von material zu architektur, 1929 |
Doch bei Loos tritt nun
etwas Neues hinzu, und man mag dies als Verweis auf die Moderne des 20.
Jahrhunderts verstehen. Es ist die Vorliebe für die Oberfläche des
Materials. Sehr deutlich kann man diese Vorliebe im Wiener Michaelerhaus von
1909-11 mit seiner großflächigen Verkleidung aus Cipollino-Marmor sehen. Bei allen Projekten, in denen Loos
Naturstein verwendet, zeigt sich seine Meisterschaft, Farbe und Maserung als
Entwurfselemente zu verwenden. Mit Adolf Loos entwickeln sich zwei parallele Stränge der Auffassung vom Material-An-Sich. Der ältere Strang, wie bereits gesehen, betrifft das Material als konstruktive Form; der neuere das Material als Oberfläche. Man könnte diese beiden Auffassungen auch ein inneres und äußeres Material-An-Sich nennen. In Anlehnung an Günter Bandmann könnte man diese beiden Auffassungen auch als „rationalistische Materialgerechtigkeit“ einerseits und als „sensualistische Materialgerechtigkeit“ andererseits bezeichnen.[20] Bandmann versteht rationalistische Materialgerechtigkeit als „durch die Zweckmäßigkeit begründet“, was wohl die konstruktive Formbindung einschließen würde. Dagegen stehen bei der sensualistischen Materialgerechtigkeit Seh- und Tastsinn im Vordergrund. Wieweit es sich bei beidem allerdings um „Gerechtigkeit“ gegenüber dem Material handelt, kann man sicher diskutieren. Gemeint ist im ersteren Fall, dass die Konstruktion dem Material gerecht wird, und im zweiten Fall, dass die Oberflächenausbildung und -erfahrung dem Material entsprechen soll. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass das Wort „materialgerecht“ in der Zeit von Loos auftritt, er selbst verwendet es erstmalig im Jahr 1900.[21] Bei Loos sind diese beiden Auffassungen – innere und äußere Materialkonkretheit – klar vorhanden aber noch gedanklich voneinander getrennt, denn die Oberfläche gehört nach wie vor dem Reich der Überzüge an. Man könnte zwar einwenden, dass die Säulen am Michaelerhaus monolithisch sind, allerdings sind sie nicht konstruktiv-tragend. Beide Ideen des Materials-An-Sich werden im Bauhaus eingehend studiert. In seinem Buch von material zu architektur zeigt Laszlo Moholy-Nagy wie sich das Bauhaus zunächst intensiv mit der Oberfläche beschäftigt. Er stellt fest, „wie vernachlässigt unsere tastkultur ist“[22] und führt im zweiten Semester umfangreiche „Tastübungen“ durch. Er bezieht sich dabei auf Marinettis manifest über den taktilismus in dem „eine neue kunstgattung [...], die sich auf dem tastgefühl aufbauen sollte“ vorgeschlagen wird.[23] Das Erlebnis des Materials durch manuelle Bearbeitung und das Abtasten der Materialoberflächen haben den Sinn, die Materialeigenschaften Struktur, Textur und Faktur zu begreifen und „den wünschen des materials nachzugehen, statt es zu vergewaltigen“.[24] Dass es dabei wiederum um Ehrlichkeit und Wahrheit geht, zeigt sich in Moholys Beschreibung der Skulpturen Archipenkos, bei denen keine Oberflächen, zum Beispiel Haut oder Stoff vorgetäuscht werden sollen, sondern „sein holz sollte für holz, sein metall für metall usw. stehen und mit eigenem wert wirken“.[25] Darüber hinaus geht es Moholy-Nagy aber nicht nur um die Materialoberflächen allein, sondern um das „verhalten auf zug und druck“ der verschiedenen Materialien und um Gleichgewichtskonstruktionen. Moholy-Nagy zeigt weitere Übungen aus seinem Bauhauskurs, die Materialeigenschaften wie „biegsamkeit, dehnungsgrenze, elastizität usw.“[26] in Objekte umsetzen. Somit zeigen sich in den Bauhausübungen die beiden Deutungen des Materials-An-Sich, die Oberfläche einerseits, die konstruktive Form andererseits. Welche Bedeutung diese beiden Materialthemen für die Architektur haben könnten, stellt Moholy-Nagy dann aber nicht dar, sondern widmet sein letztes Kapitel über Architektur ganz dem neuen Raumverständnis. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich immer wieder die Bemühung feststellen, die Unterscheidung vom Material-An-Sich als konstruktive Form einerseits und als Oberfläche andererseits zu überwinden. Der Versuch einer Verschmelzung von innerer und äußerer Materialität ist ein Kennzeichen vieler moderner – und sicher kein Merkmal postmoderner Architekten. Insbesondere bei Louis Kahns Ziegelbauten in Indien und Bangladesh hat man nicht das Gefühl der Bekleidung, sondern des Einswerdens von Konstruktions- und Oberflächenmaterialität. In einer berühmten Vorlesung am Pratt Institute im Jahr 1973 befragt Kahn den Backstein, was dieser sein wolle: “You say to brick, ‘What do you want, brick?’ And brick says to you, ‘I like an arch.’ And you say to brick, ‘Look, I want one too, but arches are expensive and I can use a concrete lintel over you, over an opening.’ And then you say, ‘What do you think of that, brick?’ Brick says, ‘I like an arch.’ It’s important, you see, that you honor the material that you use. […] You can only do it if you honor the brick, and glorify the brick instead of just shortchanging it or giving it an inferior job to do, where it loses its character.”[27] |
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Abb. 10: Louis Kahn, Indian Institute of Management, Ahmedabad |
In Kahns Indian
Institute of Management in Ahmedabad von 1963 ist die konstruktive Logik des
Backsteins grandios zur Darstellung gebracht. Von gleicher Wichtigkeit aber
ist die Erscheinung der rauen Oberfläche im Licht. Die Verschmelzung von
innerer und äußerer Materialität gelingt dadurch, dass die Konstruktion
keiner „Überzüge“ – um hier Sempers Wort zu verwenden – bedarf. Das Gebäude
hat zur Außenluft offene Korridore und Balkone. Es ist keine Isolierung und
kein Schichtenaufbau der Außenwand notwendig, und das Material kann innen
und außen als das gleiche erscheinen. Die Oberfläche des Ziegels wirkt so
nicht als Hülle, sondern als tatsächliche Begrenzung der Konstruktion. Kahn fordert diese innere Konversation mit dem Material nicht nur für den Backstein. Jedes Material habe eine Natur, und man müsse herausfinden, „was es wirklich ist“: “When you’re making something you must consult nature, like the conversation with the brick. And you can make the same conversation with concrete. And you can make the same conversation with paper, or with papier maché, or with plastic, or with marble, or any material that has its nature. And it’s the beauty of what you create that you honor – the material for what it really is.”[28] In den letzten zwei Jahrzehnten hat die Umsetzung der Idee des Materials-An-Sich ihren vehementesten Vertreter in Peter Zumthor. Dieser schreibt oft genug vom „Konkreten“ und „der konkreten Welt“, den „konkreten Qualitäten der Architektur“, die „immer konkrete Materie“ sei, in der „konkrete Materialien gefügt und aufgerichtet“ und so „konkret erfahren“ werden können.[29] Insbesondere in seinem Essay Der harte Kern der Schönheit von 1991 kommt er immer wieder auf die „Wirklichkeit der Baumaterialien“ und die „Wirklichkeit der Konstruktionen“ zurück, „in deren Eigenschaften ich mit meiner Vorstellungskraft einzudringen versuche, um Sinn und Sinnlichkeit bemüht“.[30] Seine Entwürfe gehen dabei vom Ort, und das heißt von den materiellen Erscheinungen aus: „Sich mit den Eigengesetzlichkeiten von konkreten Dingen wie Berg, Stein, Wasser auf dem Hintergrund einer Bauaufgabe zu befassen, birgt die Möglichkeit in sich, etwas vom ursprünglichen und gleichsam ‚zivilisatorisch unschuldigen’ Wesen dieser Elemente zu fassen, zum Ausdruck zu bringen und eine Architektur zu entwickeln, die von den Dingen ausgeht und zu den Dingen zurückkehrt.“[31] |
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Seine Strategie, das „zivilisatorisch unschuldige Wesen dieser Elemente“
fassen zu wollen, fordert zur Interpretation heraus. Zumthor spricht hier
nicht von Materialien, sondern von den Elementen. Materialien, im Gegensatz
zu Materie oder Elementen, sind etwas, dessen sich Menschen bedienen, also
zivilisatorisch. Baumaterialien, Konstruktionen und Bauwerke können niemals
„zivilisatorisch unschuldig“ sein, und daher ist die Therme in Vals
auch kein Entwurf einer Grotte, und der EXPO-Pavillon in Hannover kein
Entwurf eines Waldes. Der EXPO-Pavillon und die Therme erzählen vielmehr
beide von dem Moment, in dem die Naturstoffe Holz und Stein zu (Bau-)Materialien
werden. So kann man den EXPO-Pavillon leicht mit der Holzstapelung in
einem Sägewerk assoziieren, und
ebenso die Therme mit einem
Steinbruch. Im Sägewerk findet die
Verwandlung vom Baum oder Wald zum Bauholz statt; und der Steinbruch
verkörpert den Moment, in dem der Fels oder Berg zum Baustein wird. Sägewerk
und Steinbruch charakterisieren also den Moment, in dem der Mensch sich
dieser Stoffe als Materialien bemächtigt.
Algarotti, Francesco: Saggio Sopra l’Architettura, 1756, hier in: Ders.: Saggi, Bari 1963. Algarotti, Francesco: Versuch über die Architectur, in: Versuche über die Architectur, Mahlerey und musicalische Opera, aus dem Italienischen des Grafen Algarotti übersetzt von R. E. Raspe, Cassel 1769. Bandmann, Günter: Der Wandel der Materialbewertung in der Kunsttheorie des 19. Jahrhunderts, in: Beiträge zur Theorie der Künste im 19. Jahrhundert, hg. von Helmut Koopmann, Josef Adolf Schmoll gen. Eisenwerth, Bd. 1, Frankfurt/M. 1971. Bötticher, Karl: Die Tektonik der Hellenen, Erster Band, Potsdam 1852. Kahn, Louis I.: Writings, Lectures, Interviews, Introduction and edited by Alessandra Latour, New York 1991. Loos, Adolf: Ins Leere gesprochen. Gesammelte Schriften 1897-1900, Wien 1997. Moholy-Nagy, Laszlo: von material zu architektur, Faksimile der Erstausgabe von 1929, Mainz 1968. Semper, Gottfried: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik, Bd. 1, München 1860. Semper, Gottfried: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik, Bd. 2, München 1863. Semper, Gottfried: Kleine Schriften, Berlin 1884. Viollet-le-Duc, Eugène: Entretiens sur l’Architecture (1863), Neudruck: Ridgewood (NJ) 1965. Vitruv: Zehn Bücher über Architektur, Übersetzung von Curt Fensterbusch, Darmstadt 1964. Zumthor, Peter:
Architektur Denken, Baden 1999.
[1] Algarotti 1769 (dt.), S. 11. [2] Vitruv IV, 2, 2, in: Vitruv/Fensterbusch 1964, S. 177. [3] Algarotti 1769 (dt.), S. 10f. [4] Ebd., S.11f. [5] Auch dieses Thema geht auf oben genannte Textstelle bei Vitruv IV, 2, 5, zurück, in der es heißt, die Griechen hätten geglaubt, dass „das, was in Wirklichkeit (am Holzbau) nicht entstehen kann, auch nicht, wenn es an den Nachbildungen (am Steinbau) gemacht ist, seine Berechtigung haben kann.“ Vgl. Vitruv/Fensterbusch 1964, S. 179. [6] Algarotti 1769 (dt.), S. 12. [7] Ebd., S. 39. [8] Gottfried Semper: Vorläufige Bemerkungen über bemalte Architektur und Plastik bei den Alten (1834), in: Semper 1884, S. 219. [9] „Per che ragione la pietra non rappresenta ella pietra, il legno il legno, ogni material sé medesima e non altra?“, in: Algarotti 1756, S. 36. [10] Semper 1884, S. 219. [11] Ebd., S. 294. [12] Semper 1863, S. 400. Vgl. auch Sempers Aussage: „Die Form, die zur Erscheinung gewordene Idee, darf dem Stoffe aus dem sie gemacht ist nicht widersprechen, allein es ist nicht absolut nothwendig dass der Stoff als solcher zu der Kunsterscheinung als Faktor hinzutrete.“, in: Semper 1860, S. XV. [13] Viollet-le-Duc 1863, S. 472: „[…] il faut que les matériaux soient mis en oeuvre judicieusement, suivant leur propriétés; qu’il n’y ait pas abus de force ou excès de légèreté; que ces matériaux mis en oeuvre indiquent leur fonction par la forme que vous leur donnez; que la pierre paraisse bien etre de la pierre; le fer, du fer; le bois, du bois; que ces matières, tout en prenant les formes qui conviennent à leur nature, aient un accord entre elles.” [Übersetzung UP] [14] Louis Sullivan: The Tall Office Building Artistically Considered, 1898; z. B. in: Kindergartenchats and other Writings, New York 1979, S. 202-213. [15] Bötticher 1852, S. 6. [16] Semper 1884, S. 323. [17] Adolf Loos: Das Prinzip der Bekleidung, in: Loos 1997, S. 140. [18] Loos 1997, S. 141f. [19] Ebd., S. 142. [20] Bandmann 1971, S. 149. Der Autor verwendet diese Unterscheidung allerdings in anderem Kontext, nämlich als Unterscheidung zwischen der Materialbehandlung der Architektur und derjenigen der Malerei und Plastik, doch lässt sich diese Abgrenzung sehr gut für eine Differenzierung des Themas des Materials-An-Sich in der Architektur anwenden. [21] Adolf Loos: Mein Auftreten mit der Melba, in: Loos 1997, S. 197. [22] Moholy-Nagy 1929, S. 28. [23] Ebd., S. 24. [24] Ebd., S. 82f. [25] Ebd., S. 120. [26] Ebd., S. 137, 153. [27] Kahn 1991, S. 323. [28] Ebd., S. 327. [29] Zumthor 1999, S.11f., 58f. [30] Ebd., S. 34. [31] Ebd., S. 30.
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