Das Konkrete und die Architektur
14. Jg., Heft 1, Oktober 2009

 

__Eva Reblin
Berlin
  Lücken im Konkreten – die Leerstellen der Stadt

 

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Abb. 1:
Leerstehendes Bürogebäude, Potsdamer Straße


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Abb. 2:
Kulturforum, September 2008
 

„[…] weil halt überall so komische Lücken sind. Lücken, Lücken, Lücken. Überall sind halt irgendwelche Dinger, die leer stehen.“
Zitat aus einem Interview zur Potsdamer Straße in Berlin

 

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit Lücken, Löchern und Leerstellen[1] in der Stadt. Ausgangspunkt für diese Überlegungen waren Aussagen von Anwohnern und Gewerbebetreibenden der Potsdamer Straße in Berlin, die ich im Sommer 2008 zu ihrem Vorstellungsbild der Potsdamer Straße interviewt habe. Für die Befragten sind diese Abwesenheiten offenbar sehr konkrete Phänomene: es sind ständig präsente Teile ihres Lebensumfelds. Viele stören sich an diesen Lücken, sie sind für sie Zeichen eines Scheiterns der Straße. Sie unterbrechen die Kontinuität und sie schaffen Grenzen zum umgebenden Stadtkontext. Gesprochen wird in den Interviews beispielsweise von „Putenschlund“ oder „Wüste“ (gemeint ist in beiden Fällen das Kulturforum); leerstehende Bürogebäude oder auch ganze Straßenabschnitte werden als „trostlos“, „abgefuckt“ und „tot“ bezeichnet.
In den Feuilletons der letzten Jahre konstatiert man Ähnliches über die Mitte Berlins, auch wenn die Lücken und Brachen im Zentrum Berlins an vielen Stellen durch Neubebauung (Regierungsviertel, Potsdamer Platz) oder ‚kritische Rekonstruktion‘ (Pariser Platz) wieder gefüllt wurden. Die Rede ist von der „Stadt der Löcher“[2]; man fühlt sich „verloren in Berlins größter Leerstelle“[3] (dem Schlossplatz), beschwört und beklagt den „offenen Horizont“ südlich des Brandenburger Tors und „fatamorganische Leeren“ am neuen Hauptbahnhof.[4] Auf der anderen Seite entdecken „Raumpioniere“ die Potentiale der Leerstellen. Industriebrachen an den Flüssen, Areale im ehemaligen Grenzgebiet und leerstehende Läden werden zu Experimentierfeldern. Der Begriff der „Zwischennutzung“ war wahrscheinlich einer der beliebtesten Begriffe des urbanistischen Diskurses der letzten Jahre.

Näher thematisieren möchte ich im Folgenden jedoch weder die Ursachen städtischer Leerstellen noch die Strategien, diese neu zu besetzen und zu nutzen. Ich frage vielmehr, in welcher Weise das Leere überhaupt als konkretes ‚Etwas‘ wahrgenommen werden kann,[5] welche Wirkungen urbane Leerstellen auf den Betrachter haben und wie einzelne Leerstellen Zeichenstatus erhalten, d. h. interpretiert werden können. Abschnitt 1 beschäftigt sich kurz mit Semantik und Pragmatik der Begriffe ‚Lücke‘, ,Loch‘ etc. und leitet hin zu der Auseinandersetzung mit den konkreten städtischen Leerstellen in Abschnitt 2.
Dieser methodisch zwischen Wahrnehmungstheorie und Semiotik angesiedelte Beitrag ist nur als vorsichtige Annäherung an das komplexe Thema der Leerstellen im städtischen Raum zu verstehen. Viele Aspekte können leider nur angerissen und hier nicht vertieft bearbeitet werden.


1. Abstrakte Lücken: die Lücke als sprachliches Privativum

‚Lücke‘ wird lexikalisch definiert als Unterbrechung innerhalb eines Zusammenhangs oder auch als Stelle, wo etwas mangelt. Die Linguistik fasst Begriffe wie Lücke, Loch, Leere, Nichts oder auch Schatten oder Krankheit unter die Privativa (von lat. privare – rauben).[6] Der Inhalt dieser Begriffe ist nur negativ vor dem Hintergrund eines Bezugssystems, also relational definierbar. Wenn wir von Lücken oder Leerstellen etc. sprechen, sehen wir diese Phänomene zwar substantivisch, gegenstandshaft, als eigenständige, isolierbare Einheiten. Spezifische Bedeutungen können wir jedoch nur herstellen, indem wir diese Begriffe in sprachlichen Äußerungen an anderen Begriffen verankern, denen wir zumindest metaphorisch eine räumliche Ausdehnung zuschreiben (die Gedächtnislücken), die wir also wie Konkreta behandeln.

‚Lücke‘ etc. kann im sprachlichen Kontext oder auch im situationellen Kontext auf zeit-räumlich relativ deutlich abgegrenzte empirische Phänomene referieren („Schau mal, dort ist eine Parklücke“). An diesem Beispiel zeigt sich auch die notwendige deiktische Einbindung dieser Begriffe, die inner- oder außersprachlich stattfinden kann.[7] Ein eigenständiger semantischer Gehalt dieser Privativa, d. h., positive semantische Merkmale sind jedoch ohne eine pragmatische Verankerung nur vage bestimmbar. Eine Denotation von „Lücke“ lässt sich nur negativ formulieren: als Abwesenheit oder Mangel von etwas Erwartetem. Damit leiten sich auch die Konnotationen des Begriffs aus jenen von Leere, Abwesenheit, Mangel her und übernehmen deren eher negative, dysphorische Tendenz. Die ursprüngliche Wortbedeutung von „Lücke“ als „das zu Schließende“ weist noch auf einen weiteren Aspekt als eine Handlungsanweisung hin: diese Leere ist nicht akzeptabel, sie muss gefüllt und die unversehrte Ganzheit wieder hergestellt werden. Etwas als Lücke zu bezeichnen, schließt also häufig eine Bewertung ein.

Handelt es sich hier bei der Leerstelle oder Lücke nun im linguistischen Sinne um abstrakte oder konkrete Begriffe? Aus dem eben gesagten folgt, dass sie aus einer semantischen Perspektive als abstrakt anzusehen sind. In der Sprechhandlung werden sie jedoch konkretisiert: sobald wir sie einbetten in eine sprachliche Umgebung, mit der wir unsere konkrete, sinnlich erlebbare Umwelt beschreiben, wird auch die Leerstelle zu etwas sinnlich Vorstellbarem[8]: „Weil auf der anderen Straßenseite eine Baulücke ist, habe ich auch im Winter noch Sonne in meiner Wohnung.“


2. Konkrete Lücken? Die Leerstellen der Stadt

Was sind für uns urbane Leerstellen? Wie konstituieren wir das Abwesende in der Wahrnehmung? Wie machen wir das Fehlende also konkret?
Rudolf Arnheim schreibt in Anschauliches Denken:
 

„Die Leere sehen, heißt etwas in eine Wahrnehmung aufnehmen, das in sie hineingehört, aber abwesend ist; es heißt, die Abwesenheit des Fehlenden als eine Eigenschaft des Gegenwärtigen zu sehen“.[9]

Das Abwesende wird hier in Bezug zum konkret Anwesenden gesetzt und dabei zu einem Teil von ihm. Das Negative, das Fehlende, wird positiv umgedeutet, es wird zur Figur auf dem Grund seines Kontextes. Die Leere kann aber nur dann als solche erfasst werden, wenn die Wahrnehmung auf eine bestimmte vorgängige Ordnung zurückgreifen kann, wenn das, „was hineingehört“, überhaupt in irgendeiner Weise festgelegt wurde. Welche Bezugssysteme sind es nun, die die Konstitution von urbanen Leerstellen in der Wahrnehmung möglich machen?

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Abb. 3:
Potsdamer Platz 1927

 

Städte sind zum einen konkrete, relativ dichte, strukturierte Ansammlungen von Häusern und Menschen, verknüpft durch dichte Netzwerke von sozialen, ökonomischen, politischen Funktionen (Funktion soll hier im weiten Sinne verstanden werden); sie sind, sehr verkürzt ausgedrückt, Artefakte, die gebraucht werden. Sie sind aber auch imaginierte Einheiten in den Köpfen der Stadtbewohner und derjenigen, die nicht in Städten leben. Einerseits werden die konkreten Erfahrungen der Stadt konzentriert und umgesetzt in stärker abstrahierte mentale Bilder. Andererseits wird die Stadt der Vorstellungen zurückprojiziert in den konkret wahrgenommenen materiellen und sozialen Raum. Natürlich erwachsen unsere Stadtbilder nicht nur aus dem direkt Erlebten, sie sind auch geformt von historischen Bildern und Erzählungen (z. B. der unzerstörten Stadt vor dem Krieg), von medialen Repräsentationen anderer Städte, Stadttypen und Stadtidealen.

Damit sind Leerstellen zweistufig relationale Phänomene: sie können einmal nur relational zu einem geordneten oder anders gesagt, syntagmatischen urbanen Kontext als Leerstellen wahrgenommen werden.[10] Diese Stadtordnung ist jedoch wieder vom Betrachter in einem ständigen Abgleich von realem Konkreten und Symbolischen konstituiert, hat also keine objektive, betrachterunabhängige Existenz. Eigene Erfahrungen, Erinnerungen, Wissen, Interessen, Einstellungen und Lebensstile spielen hier eine Rolle.

Folgende Typologie möglicher urbaner Leerstellen möchte ich vorschlagen[11]:
 

a)     Baulich-räumliche Leerstellen: häufig entstanden an Bruchstellen der Stadt (wie entlang der Berliner Mauer), durch Kriegszerstörungen oder Abriss brachgefallene und nicht neubebaute oder neugenutzte Flächen. Ebenso kann eine offene, lockere Bebauung als räumliche Leerstelle wirken.[12]

b)     Nutzungsleerstellen: leerstehende Ladenräume, Büroflächen, Wohnungen sowie nicht länger genutzte Industrieareale, Bahn- und Hafenanlagen. Eine geringe Nutzungsdichte kann ebenfalls als Leerstelle wirken.

c)     Historisch-virtuelle Leerstellen: Orte, die historisch eine markante Bebauung und/oder wichtige Funktion aufwiesen. Die Leerstelle muss aktuell nicht mehr wahrnehmbar sein, sondern kann nur im kulturellen Gedächtnis als solche existieren. Beispiel: Sportpalast in der Potsdamer Straße, Palast der Republik/Berliner Stadtschloss, alter Potsdamer Platz.

d)     Relevanzleerstellen: bezeichnet Orte, deren jeweilige Nutzung für den Stadtbewohner unwichtig, uninteressant ist oder auf Ablehnung stößt. Diese werden im Folgenden nicht weiter betrachtet.[13]

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Abb. 4:
Baulücke, Potsdamer Straße


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Abb. 5:
Ladenleerstand, Potsdamer Straße

 

2.1 Die unterbrochene Ordnung: Axiologie der Leerstelle

Die Betrachter stehen den städtischen Lücken selten neutral gegenüber. Trotz ihres nichtmateriellen Charakters scheinen Lücken meist entweder negative oder positive Bewertungen auszulösen.

Die Leerstelle als Störstelle
Wenn eine städtische Ordnung oder Gestalt, auch in ihrer idealisierten Form, als richtig, notwendig, für die Gesellschaft vorteilhaft, interessant oder harmonisch empfunden wird, dann wirken konkrete Leerstellen als Störfaktoren. Indem sie diese Ordnung unterbrechen, werden sie in den Augen der Betrachter auch zur Bedrohung dieser Ordnung und gefährden ihre Existenz.

Diese Sicht spiegelt sich in vielen Aussagen zu den Lücken der Potsdamer Straße wieder. Die Ordnungsmuster, die hier zu Grunde liegen, sind die der ökonomisch beständigen, vielfältigen, dicht bebauten traditionellen Geschäftsstraße der europäischen Stadt. Neben den materiellen Lücken im Baukörper erscheinen besonders die Nutzungslücken, also geringe Nutzungsdichte und einseitige Nutzungen als störende Leerstellen. Hier verlieren die städtischen Artefakte ihre Gebrauchsfunktion (z. B. im Fall von leerstehenden Läden) oder erfüllen sie nur mangelhaft. Man könnte hier von einem Prozess der Re-Abstraktion sprechen: diese Räume wurden als Laden- oder Büroräume geplant und gebaut (abstrakte Funktionsbestimmung), aber sie erfüllen diese Funktion nicht mehr konkret.

Die Leerstelle als Möglichkeitsstelle
Wird aber die Ordnung oder Gestalt der Stadt als zu rigide, starr, verdichtet, als einschränkend oder unharmonisch empfunden, dann können Leerstellen diese Ordnung lockern. Dann wirken sie in einer zunehmend regulierten, kommerzialisierten oder auch sozial segregierten städtischen Umwelt als Frei- und Möglichkeitsräume. Nur wo noch keine baulichen oder funktionalen Setzungen erfolgt sind, kann Neues entstehen.[14] Noch zwei Zitate aus den Befragungen, die diese andere Bewertung widerspiegeln:

„Für mich ist es ja eigentlich auch immer interessant da, wo tatsächlich die Infrastruktur gar nicht mehr so funktioniert. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich auch immer ganz froh bin, wenn ich leere Geschäfte sehe, weil ich immer denke, hier lassen sich die Mieten höchstwahrscheinlich bezahlen.“

„Positiv empfinde ich dagegen letzte Oasen der Stadt, die noch nicht so sehr durchkultiviert sind, wo die Natur noch scheinbar wild wuchern kann.“


2.2 Bedeutungsvolles Fehlen: Semiosen der städtischen Leerstelle

In welcher Weise können Leerstellen bedeuten, also für einen Interpreten zum Zeichen werden? Die Semiotik kennt den Begriff des Nullzeichens; Roman Jakobson hat sich mit diesen Nullfunktionen auf der phonologischen und morphologischen Ebene beschäftigt.[15] Hier zeigen Nullzeichen z. B. unterschiedliche Genera an, wie in Freund/Freundin (fehlende Endung bei Freund), sie dienen der Herstellung von Oppositionen nach dem Schema merkmalhaft/merkmallos. Roland Barthes gibt eine Definition von semantischen Leerstellen: es liegt dann ein Nullzeichen vor, wenn die Abwesenheit eines expliziten Signifikanten selbst wie ein Signifikant funktioniert.[16]
Auf der syntaktischen Ebene stellen z. B. Ellipsen Leerstellen dar.[17] Juri Lotman bringt dagegen explizit eine pragmatische und intertextuelle Ebene ins Spiel. Er spricht von dem „bedeutungsvollen Fehlen“ eines Elements in einem ästhetischen Syntagma, und bezeichnet dies als Minus-prijom oder „Nullposition“.[18] Bei dem Minus-prijom handelt es sich um ein Element, das vom Interpreten aus seiner bisherigen Erfahrung heraus im Kontext dieser ästhetischen Botschaft erwartet, aber nicht vorgefunden wird. Durch dessen Abwesenheit wird im Text eine zusätzliche Bedeutung geschaffen.

Folgt man der linguistischen Analogie, sind die städtischen Leerstellen sowohl auf einer stadtsyntaktischen als auch auf einer stadttextuellen bzw. -intertextuellen Ebene angesiedelt. Als syntaktische Leerstelle kann z. B. ein leerstehender Ladenraum oder eine deutliche Baulücke aufgefasst werden, dagegen werden die historisch-virtuellen Leerstellen immer intertextuell-pragmatisch hergestellt. Um sie zu erkennen, muss auf ein spezifisches Weltwissen zurückgegriffen werden. Die Übergänge zwischen syntaktischer und textueller Ebene sind unscharf. Ein mögliches Unterscheidungskriterium ist die Bindung an kulturelle Muster der Wahrnehmung, die eher auf der Ebene der Konstitution der textuellen Leerstellen anzutreffen ist. Die großflächigen Lücken in den locker bebauten Zentren vieler US-amerikanischer Großstädte wirken für einen europäischen Betrachter wahrscheinlich als Leerstellen. Für einen amerikanischen Stadtbewohner gehören sie dagegen zum vertrauten Alltagsbild amerikanischer Städte; z. B. wird die Funktion dieser Räume als Parkplätze erwartet und begrüßt.

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Abb. 6:
Schlossplatz Berlin,
September 2008

 

Wenn aber ein materieller Zeichenträger nur negativ, als Unterbrechung oder Abwesenheit in einem Kontext definiert wird, kann von einer stabilen Zeichenfunktion Ausdruck-Inhalt (wie sie noch Barthes Definition suggeriert) nicht die Rede sein. Dennoch können die individuellen Leerstellen in ihrer zeitlichen und räumlichen Einbindung bedeutungsvoll werden.

Dies zeigt sich beispielsweise am Schlossplatz in Berlin: Die im September 2008 durch die Ecktürme nur noch vage räumlich definierte Leere kann z. B. Erinnerungen an den Palast der Republik erzeugen oder auf eine zukünftige Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses hinweisen oder abstrahierend und konnotativ auf die Brüche in der deutschen Geschichte hindeuten. Je nach eingenommener Perspektive verweisen Leerstellen indexikalisch auf frühere Nutzungen mit teilweise hoher Symbolkraft (Palast der Republik), auf die Ursachen ihrer Entstehung (leerstehende Läden zeigen geringe Kaufkraft im Viertel an), auf mögliche zukünftige Besetzungen oder falsch prognostizierte Entwicklungen. Städtische Leerstellen sind oft Indizien für einen Wandel, einen Bruch in der Zeit. Sie spiegeln politische, ökonomische, soziale und kulturelle Prozesse. Sie sind zeitimprägniert.

Wo etwas fehlt, eine Füllstelle, ein Slot, wie es in der Frametheorie heißt, synchron nicht besetzt ist, aktuelle Gebrauchsfunktionen fehlen, schiebt sich ein virtueller Zeichenträger hinein, der die Bedeutungen der Vergangenheit oder der Zukunft transportiert. Auf diese Weise wird die Vagheit der Leerstelle reduziert, ein Zeichen als vollständige Einheit kann entstehen. Aber es handelt sich hier nicht um die unmittelbare Transparenz des Präsent-Funktionalen. Die funktionierenden Objekte der Stadt, der Supermarkt an der Ecke mit den Obstauslagen vor der Tür, die Bushaltestelle, signifizieren ihre ganz aktuellen Gebrauchsmöglichkeiten nicht nur, sondern sind eben Orte, an denen man einkauft, wartet etc. Bei den Leerstellen gibt es dagegen keine eindeutige Affordanz,[19] keine Handlungsanweisung. Vielmehr wird auf etwas an dieser konkreten Stelle im Raum Abwesendes, nicht Sichtbares (und folglich auch nicht Nutzbares) verwiesen, etwas Vergangenes, Zukünftiges oder auch auf abstrakte Ursachen-Wirkungsrelationen. Die indexikalische Beziehung ist eher die einer Spur und nicht einer konkreten Kopräsenz von Signifikant und Signifikat an einem eng begrenzten Ort im Raum (um mit Umberto Eco zu sprechen, handelt es sich hier um Heteromaterialität und nicht um Homomaterialität, um Erkennen und nicht um Ostension[20]). Damit erfüllt die Leerstelle die klassische Bedingung für Zeichenhaftigkeit: für etwas Anderes, Abwesendes zu stehen (man könnte ihr also einen gegenüber den alltäglichen städtischen Artefakten intensivierten Zeichencharakter zusprechen).


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Abb. 7:
Gleisdreieckgelände, Berlin
 

Neben dem Blick auf das Abwesende gibt es jedoch auch einen Blick der Präsenz, einen Gegenwartsblick. Diesem fehlt aber die Transparenz, seine Grundlage ist die aktuelle, konkrete Materialität. Auch wenn diese Materialität im Vergleich zu ihrem Kontext reduziert ist, so kann sie aber gerade aus diesem Grund auch stärker in den Vordergrund treten. Wo die Nutzungen des Raumes und der Gebäude, ihre konventionellen Funktionen ausdünnen oder verschwinden, wird die Wahrnehmung auf das Material konzentriert. Die akzidentellen Eigenschaften, die Nutzungsspuren, die Atmosphäre und natürlich die Leere des Raumes selbst werden sichtbar. Es handelt sich um eine Ästhetisierung der Wahrnehmung; Aleida Assmann hat diese Spielart der Interpretation auch „wilde Semiose“ genannt.[21]

Diese unterschiedliche Perspektivierung ist nicht nur zwischen unterschiedlichen Interpreten möglich, sondern kann gerade auch in einem einzigen Wahrnehmungsakt stattfinden. Ich möchte daher Leerstellen mit Vexier- oder Kippbildern vergleichen. Es erfolgt hier nämlich eine Kippbewegung von transparenten Zeichen, die auf das aktuell Abwesende verweisen, zu den anwesenden opaken Oberflächen. Diese Aspektualität ist auch anderen materiellen Objekten zu eigen, aber der Shift wird bei der Leerstelle erleichtert, da hier kein abstrakter, eindeutig zuzuweisender Typ und keine aktuelle, kopräsente Gebrauchsfunktion vorliegt. Allerdings ist dieser Shift zur wilden Semiose bei den historisch-virtuellen Leerstellen, also den aktuell wieder gefüllten, erschwert oder vielleicht sogar unmöglich.

Insgesamt sind sowohl der Blick der Abwesenheit als auch der Blick der Präsenz nur als zwei ideale Pole zu denken: auch in der zeitbezogenen Sicht wird das Materielle, Konkrete, werden z. B. die Spuren ehemals vorhandener Gebäude mit einbezogen. Und die zeitvergessene Sicht wird nicht vermeiden können, dem Material, den Spuren des Vergangenen, Bedeutungen zuzuschreiben.

Bewertung und Bedeutung, axiologische und semiotische Interpretation stehen in vielfacher Wechselwirkung miteinander. Wo die ehemalige Bebauung noch stark im individuellen oder kollektiven Gedächtnis verankert ist (oder die Abwesenheit in der Öffentlichkeit mit lauter Stimme beschworen wird, siehe die Diskussion um den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses) und die Transparenz des Vergangenen im Vordergrund steht, wird die Leerstelle eher Störstelle sein als noch freier Möglichkeitsraum.


3. Schluss: Leerstellen als beispielhafte städtische Konkreta?

Leerstellen sind sicherlich Sonderfälle für Wahrnehmung und Interpretation, aber sie sind Sonderfälle nicht im Sinne eines vollständig Anderen. Raumzeitliche Kontextgebundenheit und Aspektualität sind generelle Merkmale der Wahrnehmung und Semiotisierung unserer Umwelt, in der Interpretation von Leerstellen werden sie jedoch verstärkt sichtbar.

Leerstellen sind sowohl maximal abstrakt als auch maximal konkret. Maximal abstrakt sind sie in Hinsicht auf ihre Unterbestimmtheit, ihre nur in Abhängigkeit von ihrem Kontext zu konstituierende Existenz. Aber die gleichen Eigenschaften bewirken auch, dass Leerstellen maximal konkret werden können: Leerstellen erlauben keine automatische Kategorisierung als Objekt X mit Funktion Y, und damit kann ihr Material in den Vordergrund treten.

In ihrer Unterbestimmtheit, ihrem Schwanken zwischen (immer noch mehrdeutiger) Transparenz und Opazität, zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, Materialität und Immaterialität, Konkret und Abstrakt können Leerstellen Wahrnehmungsmuster in positivem oder negativem Sinne aufbrechen. Einerseits kann die Lesbarkeit der Stadt erschwert werden, wo keine Transparenz des Aktuellen, der konkreten vitalen, erwünschten städtischen Funktionen vorgefunden wird. Andererseits kann gerade dieser zusätzliche Interpretationsaufwand die symbolische Tiefe von Orten intensivieren, weniger Fata Morganen als neue Imaginationsräume in Richtung auf Vergangenheit und Zukunft schaffen.[22]


„Die Großstadt, wie Kunst und Leben auch, braucht Flecken des Zufälligen, Abwesenheiten des Geplanten und im Voraus bestimmten, Lücken, die wir deuten und mit Bedeutung ausfüllen können.“
Richard Shusterman[23]



 



Literatur:

Arnheim, Rudolf: Anschauliches Denken. Zur Einheit von Bild und Begriff, Köln 1972.

Assmann, Aleida: Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose, in: Materialität der Kommunikation, hg. von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt/M. 1988, S. 237-251.

Barthes, Roland: Elemente der Semiologie, Frankfurt/M. 1983.

Büscher, Wolfgang: Stadt der Spieler, in: Die Zeit, 06.07.2006.

Dotzler, Bernhard J.: Leerstellen, in: Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel, hg. von Heinrich Bosse und Ursula Renner, Freiburg/Br. 1999, S. 211-229.

Eco, Umberto: Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, München 1987.

Gibson, James Jerome: Wahrnehmung und Umwelt. Der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung, München [u. a.] 1982.

Harweg, Roland: Studien zur Deixis, Bochum 1990.

Hauser, Susanne: Metamorphosen des Abfalls. Konzepte für alte Industrieareale, Frankfurt/M. 2001.

Heinke, Lothar: Verloren in Berlins größter Leerstelle, in: Der Tagesspiegel, 18.11.2007.

Hoffmann, Joachim: Die visuelle Identifikation von Objekten, in: Enzyklopädie der Psychologie, Bd. C,2,1, hg. von Carl F. Graumann, Göttingen [u. a.] 1994, S. 391-456.

Jakobson, Roman: Das Nullzeichen, in: Jakobson: Aufsätze zur Linguistik und Poetik, hg. von Wolfgang Raible, München 1979, S. 44-53.

Joedicke, Jürgen: Raum und Form in der Architektur. Über den behutsamen Umgang mit der Vergangenheit, Stuttgart 1985.

Kleiber, Georges: Prototypensemantik. Eine Einführung, Tübingen 1993.

Köller, Wilhelm: Perspektivität und Sprache. Zur Struktur von Objektivierungsformen in Bildern, im Denken und in der Sprache, Berlin 2004.

Lotman, Jurij. M.: Die Struktur literarischer Texte, München 1972.

Maak, Niklas: Stadt der Löcher, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.12.2003.

Paimann, Rebecca: Formale Strukturen der Subjektivität. Egologische Grundlagen des Systems der Transzendentalphilosophie bei Kant und Husserl, Hamburg 2002.

Romeiß-Stracke, Felizitas: Die europäische Stadt – touristische Attraktion im Wandel, in: Zukünfte der europäischen Stadt. Ergebnisse einer Enquete zur Entwicklung und Gestaltung urbaner Zeiten, hg. von Ulrich Mückenberger und Siegfried Timpf, Wiesbaden 2007, S. 299-311.

Seel, Martin: Ethisch-ästhetische Studien, Frankfurt/M. 1996.

Shusterman, Richard: Die urbane Ästhetik des Abwesenden: Pragmatische Überlegungen in Berlin, in: Kultur – Urbanität – Moderne. Differenzierungen der Moderne in Zentraleuropa um 1900, hg. von Heidemarie Uhl, Wien 1999, S. 19-38.

Trubetzkoy, Nikolaus S.: Grundzüge der Phonologie, 7. Aufl., Göttingen 1989.



 



Abbildungsnachweis:

Abb. 1, 2, 4, 5, 6, 7: Fotos: Eva Reblin
Abb. 3: Foto: Max Missmann; Quelle: Stiftung Stadtmuseum Berlin; Reproduktion: Märkisches Museum




 



Anmerkungen:

[1] Die Begriffe ‚Lücke‘ und ‚Leerstelle‘ werden hier synonym verwendet, ohne die unterschiedlichen Verwendungsweisen (Alltagssprache vs. theoretisch-abstrakte Sprache) zu berücksichtigen.

[2] Maak 2003.

[3] Heinke 2007.

[4] Büscher 2006.

[5] Vgl. Dotzler 1999, S. 223: „Dazu ist vorgängig die Materialität in den Blick zu rücken, in der Leerstellen überhaupt greifbar werden.“ Es geht „um die Paradoxie, ein Etwas zu erkennen, das durch nichts gegeben ist, oder auch umgekehrt ein Nichts, das doch als etwas vorhanden ist.“

[6] Vgl. Köller 2004, S. 555ff. Siehe auch Kants Begriff des nihil privativum. Als Beispiele für nihil privativa nennt Kant die Begriffe Schatten und Kälte (Kant KrV, B347-349). In der Linguistik vgl. auch den Begriff der privativen Opposition (merkmaltragend vs. merkmallos) bei Trubetzkoy 1989.

[7] Vgl. z. B. Harwegs Begriff der Semideiktika (Harweg 1990, S. 103ff.).

[8] Vgl. auch Paimann 2002, S. 122, Fußnote 51 zu Kant: „Beim ‚nihil privativum‘ kann zwar ein Begriff gebildet werden, der aber dadurch, dass er sich nur auf den Mangel eines Gegenstandes bezieht, […] nicht selber positiv bestimmt werden kann. Dem Begriff (beim nihil privativum) korrespondiert damit zwar eine Anschauung, die aber nur als Gegensatz zu einer anderen Anschauung vom Verstand überhaupt gedacht werden kann.“ [Hervorhebungen ER]

[9] Arnheim 1972, S. 92.

[10] Die durch Opposition zwischen geschlossenem Baukörper (der Randbebauung) und umschlossenem, nach oben offenem Raum gebildeten städtischen Räume wie Straßen und Plätze sind daher nicht als Leerstellen anzusehen. Vielmehr sind sie notwendige Strukturmerkmale des Stadtsyntagmas, es sind im semiotischen Sinne paradigmatische Elemente. Auch diese der Ordnung inhärenten Elemente unterliegen wieder gewissen Schemata. Erst wenn sie nicht mehr „ins Schema passen“, Straßen als zu breit, Plätze zu groß und unbehaust wirken, stellt sich wieder das Gefühl des Fehlenden, der Leere ein. Auch Bahntrassen, Wasserläufe, Fuhrparkflächen etc. können daher sicher individuell als Leerstellen wahrgenommen werden.

[11] Die Mischung von Kategorien der Form (a), der Funktion (b) sowie der symbolischen Kraft (c) in dieser Typologie führt zwar zu Unschärfen und Schnittmengenbildungen. Sie kann m. E. jedoch nicht sinnvoll, das heißt nicht ohne Verlust von Unterscheidungskriterien vermieden werden. Wenn in Wahrnehmung und Kognition Form, Gebrauchsfunktion und symbolischer Wert von Objekten entscheidend sind (vgl. z. B. Kleiber 1993, S. 62, Hoffmann 1994, S. 440f), kann nicht eine Kategorie auf die andere reduziert werden.

[12] Vgl. z. B. Joedicke 1985, S. 16 zu Raum und Körper in der Architektur: „Die Leere ist definiert durch eine Abwesenheit von wahrnehmbaren Orten.“

[13] Bei einer von mir durchgeführten knappen, in keinem Fall repräsentativen Umfrage nach den Vorstellungsinhalten, die sich mit dem Begriff einer „städtischen Leerstelle“ verknüpfen, wurden auffallend häufig solche Relevanz- oder Interessenlücken genannt. Beispiele waren u. a. große Supermarktparkplätze und Großsiedlungen in der Peripherie. Auf diese grundsätzlich interessante Form kann ich leider in dem engen Rahmen dieses Beitrags nicht näher eingehen.

[14] In Hans Scharouns Vortrag von 1946 bildete das zerstörte Zentrum Berlin diesen Möglichkeitsraum: „Was blieb, nachdem Bombenangriffe und Endkampf eine mechanische Auflockerung vollzogen […] gibt uns die Möglichkeit, eine ‚Stadtlandschaft’ daraus zu gestalten.“ Hans Scharoun, Zur Ausstellung ‚Berlin plant‘. Aus der Ansprache des Stadtrats Professor Scharoun zur Eröffnung, in: Neue Bauwelt, H. 10, 1946, S. 3-6.

[15] Jakobson 1979.

[16] Barthes 1983, S. 64f.

[17] Vgl. auch Dotzler 1999, S. 214f. Dotzler unterscheidet zwischen Leerstellen auf der Ebene des Sprachsystems (also phonologischen, morphologischen und syntaktischen Leerstellen) und Leerstellen auf Textebene.

[18] Lotman 1972, S. 82.

[19] Gibson 1982.

[20] Eco 1987, S. 289.

[21] Assmann 1988. Zum Zusammenhang zwischen Störungen der urbanen Ordnung und Ästhetisierung vgl. auch Martin Seel, der die Leerstelle des Potsdamer Platzes 1993, also vor seiner Bebauung, als ‚Landschaft in der Stadt‘ im Sinne eines ästhetisch erfahrbaren Raumes betrachtet (Seel 1996, S. 62). „Nur da kann sich Landschaft in der Stadt entfalten, wo ihre wie immer schöne oder hässliche Organisation ein Ende hat, wo es mit ihrer Gemütlichkeit (auch) vorbei ist, wo sie den Raum, den sie einnimmt, nicht (im ganzen) umhegen kann – wo sie ein Stück ihrer Herrschaft über den Raum aufgibt: wo sie Raum entstehen lässt, ohne über ihn verfügen zu können oder zu wollen. Landschaft der Stadt entfaltet sich da, wo ihr Raum von den Einrichtungen der Stadt – ihren Gebäuden, Verkehrswegen, Parks und Plätzen, Wahrzeichen usw. – nicht vollständig koordiniert werden kann.“ (Seel 1996, S. 66). Siehe ferner Hauser 2001, S. 213ff. und 206ff.

[22] In dieser Sichtweise können auch Lücken und Brachen zu neuen touristischen Anziehungspunkten werden. So beschreibt Felicitas Romeiß-Stracke den Wandel touristischer Anziehungsmuster, der auch städtische Orte abseits der homogenen, ästhetisch harmonischen alten Zentren attraktiv werden lässt: „Das reine Sightseeing geht in die Suche nach neuen, ungewohnten persönlichen Erfahrungen über, der eher passive Unterhaltungsanspruch in aktive Teilnahme an einer urbanen Szene.“ (Romeiß-Stracke 2007, S. 310).

[23] Shusterman 1999, S. 22.

 


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