Das Konkrete und die Architektur
14. Jg., Heft 1, Oktober 2009

 

___Andreas K. Vetter Detmold   Das wirkliche Bild.
Über die Möglichkeit des Konkreten in der Architekturfotografie

 

   

Im Kontext der Diskussion um den ‚Iconic Turn‘ formulierte Gottfried Boehm die These, dass Bilder eine ihnen eigene Logik besäßen – Logik verstanden als „konsistente Erzeugung von Sinn aus genuin bildnerischen Mitteln“.[1] Zweifellos gehört die mediale Darstellung von Architektur zu ihren fundamentalen Erscheinungsformen – Konzeptskizze, Ausführungsplan, fotografische Darstellung etc. Darüber hinaus findet sich ‚Architektur‘ wieder in graphischen Zeichen und Symbolen. Da sich Architektur aber nicht nur mittels ihrer eigenen physischen Gestalt, sondern eben auch medial vermittelt, respektive sich kommuniziert oder kommuniziert wird, erscheint es bedenkenswert, dieses Faktum in Überlegungen zu ihrer Konkretisierung einzubeziehen – analog zum Boehm’schen ‚Sinn‘-Begriff könnte somit architektonische Konkretheit durch Verbildlichung erzeugt werden. Parameter dieser Betrachtung wäre zudem die Ausrichtung der medialen Kommunikation: repräsentierend aber auch reflexiv;[2] Boehm verweist bewusst auf die Wirkkraft „genuin bildnerischer Mittel“.

Betrachten wir zuerst den Typus der ‚dokumentierenden Fotografie‘[3] in Gestalt einer der konventionellen alltagsbezogenen Privataufnahmen, beispielsweise einer innerstädtischen Straße. Selbst im Bewusstsein, dass man es nur mit einer kleinen und flächigen sowie ausschnitthaften Wiedergabe zu tun hat, wird der Nutzer keine Divergenzen zu seiner eigenen realen Seherfahrung benennen können. Ein direktes Eindringen in die speziellen Komponenten des Bildes findet ebenso wenig statt, wie bei einer unmittelbaren wirklichen Wahrnehmung eines komplexen Sujets, beispielsweise eben jener Straße – das

„Auge gleitet nur auf der Oberfläche der Dinge herum und sieht Formen, ihre Empfindung führt nirgends in die Wahrheit, sondern begnügt sich, Reize zu empfangen und gleichsam ein tastendes Spiel auf dem Rücken der Dinge zu spielen.“[4]

Doch selbst der unbedarfte Nutzer ist sich der Tatsache bewusst, dass eine solche konventionelle fotografische Aufnahme lediglich die optische Situation eines Ortes festhält, so wie sie einzig im Sekundenbruchteil der Aufnahme und aus der spezifischen Position des Fotografierenden bestand.[5] Dennoch akzeptiert er die allgemein repräsentierende Funktion und bestätigt, dass es sich um eine ‚Straße‘ oder um ein ‚Haus‘ handelt.

Der erwähnte Betrachter nun reagiert auf die Fotografie mit einer ‚Nominalisierung‘ ihres Inhalts, wie dies schon Susan Sontag bemerkte.[6] Und unbewusst konzediert er dabei, dass es keinen Anlass gibt, anzunehmen, jene sichtbaren Objekte seien etwa nicht mehr existent. Irrelevant erscheint ihm der Status-Moment zu sein, da er die Aufnahme als ein ‚Bild von‘ rezipiert. Die für ihn wichtigen visuellen Informationen zur abgebildeten Straße oder zum Haus kann er entnehmen. Das architektonische beziehungsweise baulich funktionale System wird gleichsam extrahiert aus seiner Einbettung in den dynamischen Klima- und Tageslichtverlauf sowie den ständigen Szenenwechsel durch Verkehr und Nutzung des Ortes, auch wenn jene Symbiose maßgeblich ist für die neutrale und als allgemeingültig verstandene Aussage ‚Straße‘ oder ‚Haus‘. Dass er sich hierfür eines ‚Schemas‘ bedient, darauf hat schon Immanuel Kant in seiner Erkenntnistheorie hingewiesen, gewissermaßen als anthropologische Strategie, um überhaupt zu strukturierenden Allgemeinbegriffen zu kommen. Ein solches Schemabild verschafft nach Gottfried Boehm „begrifflichen Aufschluß“, wobei es sich allerdings von einer bloßen „Ansicht“ unterscheide, da es „aktiv blickend“ gewonnen wurde.[7] Unstrittig ist das Faktum der unterschiedlichen Bilderfahrung. Divergierende Voraussetzungen bezüglich eines fachlichen Vorwissens und selektives Sehen führen zu kognitiven Differenzen in der Transformation[8] des Bildsujets in spezifische architekturbezogene Informationen. „Das Auge ist blind für das, was der Geist nicht sieht“, so Albert Renger-Patzsch 1956.[9]

Wäre im Bild durch einen bearbeitenden Eingriff alles Nicht-Architektonische entfernt worden,[10] oder hätte man eindeutig ungenutzte, also verlassene Orte vor sich, dann entstünde eine Divergenz zur routinierten Apperzeption, und der Betrachter würde im ersten Fall von einer deformierten, irrealen Ansicht sprechen, im zweiten Fall von einer Geisterstadt, von Ruinen. Keinesfalls aber sähe er im ‚Bild‘ das ihm ‚bekannte‘ Architektonische wiedergegeben. Mitunter geht es aber gar nicht darum, durch die Ansicht Informationen zu geben, um Architektur konkreter werden zu lassen. Die Kulissenansicht beispielsweise generiert lediglich eine Bildvorstellung von urbaner Normalität. Hierfür wird ein Klischee geschaffen, das ‚bekannt‘ wirken soll, ohne verortbar zu sein.
Doch nun genau gefragt: Inwieweit kann sich das Architektonische durch diese Art der bildlichen Kommunikation verdichten, pointieren, konkretisieren, Kommunikation also verstanden werden als medialer Informationsaustausch, in dem sich Architektur selbst vermittelt?


Der ‚touristische Blick‘

An erster Stelle wäre die funktionale Beziehung zwischen Architektur und Fotografie zu definieren. Architektur ist Teil vieler fotografischer Bilder, genauso wie sie Teil der für den Fotografen geltenden Umwelt ist. Insofern wird sie als Umweltkonstituent gleichsam automatisch bildlich festgestellt. Nimmt man sie dagegen bewusst in den Fokus, wird sie zentrales Motiv. Hier würde man primär von einem sozusagen ‚touristischen‘, also alleinig individuell erlebnisspeichernden Bild oder andererseits von einer spezifischen Architekturaufnahme, also einem objektiv dokumentierenden Bild sprechen.[11]

Interessant wird es in Bezug auf die erste Variante allerdings dann, wenn der Tourist als lediglich umweltbetrachtender Fotograf bewusst ein Gebäude auswählt, um einen Ort klischeehaft abzubilden – beispielsweise durch eine einzige Aufnahme der Kathedrale Nôtre Dame für einen Parisaufenthalt. Bei ausschnitthaften Herausnahmen einer Alltagsansicht entsteht eine erstaunliche Abbildhaftigkeit – Ikonizität – des fotografischen Bildes, die sich in krassen Widerspruch zur kontingenten Wirklichkeit setzt. Doch ist ein derart disziplinierter und strategischer Umgang mit dem privat genutzten Fotoapparat wohl ausgesprochen selten, wenn nicht sogar grundsätzlich unmöglich, da sich Bilder dieses Typs wohl zumeist in einer Vielzahl zusätzlich kommentierender Motive befinden, und man deshalb nicht von einem bildlichen Repräsentanten per se sprechen kann.

Als ‚Signifikant‘[12] für Paris funktioniert Nôtre Dame jedoch sehr wohl: auf zahlreichen Ansichtskartenmotiven wird ihre Fassade oder die romantische Flussseite ohne weitere Bezeichnung mit dem Schriftzug ‚Paris‘ kombiniert. Der im Deutschen bei diesem traditionellen Souvenir-Medium eingesetzte Begriff der ‚Ansicht‘ impliziert im Übrigen eine sich klar als touristische Sicht verstehende deskriptive Verbildlichung der Stadt, deren Anspruch auf objektive Wiedergabe der tatsächlichen Erscheinung zweitrangig ist.[13] Die ebenso noble wie mythische Architekturgestalt der Kathedrale war zwar eine der Hauptmotivationen einer Reise nach Paris und gehört zu den als beeindruckend wahrgenommenen Erlebnissen, von denen berichtet wird, doch ist es weniger ihre architektonische Qualität denn die kanonische Bedeutung wie auch die kollektiv-kulturelle Zeugniskraft für den Parisaufenthalt im Gesamten. Folgt man Barthes in seiner Differenzierung von Zeichenträger (Signifikant) und Zeicheninhalt (Signifikat) und analysiert die architektonischen Implikationen, dann wäre folgendes festzustellen: die Aussage der Ansichtskarte für den Versender ebenso wie für den Adressaten – nämlich als individuell gewählte bildliche Fokussierung einer Parisreise – korreliert mit der rein formalen Funktion der Kathedrale als eines der prägnantesten Gebäude.
Der Zeicheninhalt bleibt dabei ebenfalls im Bereich der Kommunikation: er bestätigt die Qualität der Stadt als grandioses Reiseziel anhand dieses Ausnahmebaus. Zum ‚Zeichen‘ im Sinne „der assoziativen Gesamtheit“ beider Termini[14] wird Nôtre Dame dabei lediglich für das touristische Paris. Die von Fotograf und Produzent des Souvenirartikels ‚Ansichtskarte‘ beabsichtigte Leistung wird somit erfüllt, wobei es unwesentlich ist, ob eben jene Aufnahme in der Lage ist, die rein architektonische Qualität des abgebildeten Bauwerks zu kommunizieren. Einer bildlichen Annäherung an die architektonische Idee des gotischen Leitbaus, die innerhalb der Kunstgeschichte durchaus zu den bedeutendsten gehört, widerstrebt der touristische Blick, da es dem emotional rezipierenden Betrachter darauf ankommt, sich selbst zu verorten, und nicht, die faktischen Bedingungen des Bildmotivs zu erforschen. Überdies gehört zu den existenzbegründenden Faktoren der Ansichtskarte die räumliche Distanz zum Objekt, die entweder durch deren Versendung an Abwesende oder durch deren Ablage als Erinnerungsmedium keinen Wert auf eine enge Beziehung zum Dargestellten und damit auch motivische Abprüfbarkeit legt. Sie ist in der Tat ein ideales Beispiel jener für die utilitarisierte Fotografie so typischen „anderen Betrachtungsweise“.[15]


Determinierung oder Dokumentation

Selbiger emotional-assoziative Effekt würde sich wohl kaum einstellen, legte man ihnen die Aufnahmen jener frühen professionellen Architekturfotografen vor, die sich im Umfeld der Mission héliographique ab 1851 zum ersten Mal einer ausführlichen fotografischen Darstellung des historisch bedeutenden Baubestandes Frankreichs widmeten – darunter auch die Kathedrale Nôtre Dame de Paris.[16] Mit ihrer auf dem Schwarzweiß-Kontrast basierenden bräunlichen Patina, den leeren Räumen und einigen Unschärfen scheinen sie unseren Zeitgenossen keine einfühlende Assoziation des beim Besuch Erlebten zu ermöglichen. Dennoch ergeben sich überraschenderweise Parallelen, unterzieht man diese inzwischen 150 Jahre alten Aufnahmen und ihre Motivation einer genaueren Analyse: auf der einen Seite folgt das damals neue Medium Fotografie den bereits um 1850 konventionalisierten Blickmustern, die sich in Zeichnungen und Drucken über Jahrhunderte hinweg gefestigt hatten, und orientiert sich somit auch maßgeblich an den Bedürfnissen eines lediglich ‚erbaulich betrachtenden‘ Abnehmerkreises, der an Wiedererkennen und Bestätigung seiner eigenen Ortserfahrung interessiert ist. Besondere Perspektiven aus den spezifischen architektonischen Bedingungen heraus zu entwickeln, steht noch nicht im Vordergrund.

Und auch die zweite Motivation hält sich in erstaunlicher Distanz zum eigentlichen Architekturkonzept geschweige denn zur religiösen Funktion des Gebäudes. Bei ihr geht es um die bildliche Fixierung der äußeren Ansicht eines bedeutenden Bauwerks, eines Monuments. Ziel der Verbildlichung ist die Einpassung in ein nationalpolitisch argumentierendes Archiv, das sich der momentan definierten kulturhistorischen ‚Großartigkeit‘ und nicht dem objektiven architektonischen Sachverhalt zuwendet.

Obwohl sich dem heutigen Bauhistoriker in diesen Aufnahmen seltene Zeugnisse der damaligen Bausituation erhalten haben und sie insofern als Dokumente verwendet werden, steht einer unkritischen Bezeichnung dieser fotografischen Arbeiten als ‚dokumentierende Architekturfotografie‘ jene eben dargestellte, keineswegs primär architektonisch sachbezogene Motivation entgegen. Nicht umsonst gehört der Bereich der Dokumentation zu den komplexen Feldern der Fotografie. Im allgemeinen Verständnis impliziert die Anfertigung eines Dokuments, sei es textlich, bildlich oder akustisch, das größte Bemühen um eine interesselose, objektive Fixierung.
Keineswegs findet sich in Laszlo Moholy-Nagys Diktum aus den 1930er Jahren, Fotografie sei „die objektive sehform unserer zeit“,[17] die Bestätigung dafür, dass diesem Medium dank seiner technischen Basis jede individuelle Interpretation oder konventionell beeinflusste Determination fremd sei. Relativ neutral darstellend war die Fotografie dann, wenn man, wie es Moholy-Nagy meinte, das Motiv objektiv, pointiert sachlich auffassen konnte – was bei der Produktfotografie des Bauhauses eher einfach, bei einer im Stadtgrund eingewachsenen Kirche kaum denkbar scheint.
Doch selbst das auf dem leeren Tisch ideal ausgeleuchtete Designprodukt, das vor allem seit 1929 unter Moholy-Nagy, Walter Peterhans und anderen Bauhausfotografen wegweisend sachlich abgebildet wurde, erfuhr eine semantische Deformation seiner eigentlichen Erscheinung: das von seinem Herstellungs- oder Funktionskontext getrennte Produkt wird durch die Fotografie zwar tatsächlich ‚objektiviert‘ – und diesbezüglich stimmt das Zitat in gewisser Weise. Es verliert aber aufgrund gerade dieser isolierenden Darstellung den Bezug zu seiner eigentlichen Funktion zugunsten einer bildhaft skulpturalen Verdinglichung. Das Objektfoto als Kommunikationsmittel zur Publikation vorhandener Gattungsware, zum Beispiel einer Teekanne, ist aber insofern problemlos zu handhaben, da es von den faktischen Bedingungen der Produkte selbst gut zu trennen ist und die abfotografierte Kanne nicht individuell dokumentieren sondern lediglich als existent darstellen soll.

Der Architekturfotograf, zumal jener im städtisch umbauten Kontext arbeitende, wird nicht mit dem Problem der Isolierung seines Motivs zu kämpfen haben, da dies ohne künstliche Freistellung schlichtweg nicht möglich ist. Vielmehr steht er unter dem Druck anderer Dimensionen bzw. Systeme, die sich in die visuelle Wahrnehmung der jeweiligen Architektur einmischen. Ein historisches Gebäude wie Nôtre Dame ist sowohl Kirche als auch kulturpolitisches Denkmal, desgleichen wirkt es als städtebaulicher Orientierungspunkt der Pariser wie als globales touristisches Ziel, von seiner kunsthistorischen Bedeutung als Leitbau der französischen Kathedralgotik ganz zu schweigen. Welchen Aspekt nun dokumentiert ein Bild, das vielleicht sogar ausschließlich nur das Materielle des Gebäudes ohne Stadtraum und Menschen zeigt? Kann es gelingen, beispielsweise eine Ansicht der Türme in ihrer Aussage auf das architektonische Entwurfskonzept und die materielle Umsetzung zu beschränken? Lassen sich Implikationen wie Historizität, bauhistorische Assoziationen oder im Gedächtnis gespeicherte Bilder zur berühmten Geschichte des Glöckners ausschließen? Und eine weitere, gleichsam defätistische Frage sei angeschlossen: Steht es überhaupt im Interesse der Verbildlichung gerade der Türme von Nôtre Dame, sich so aseptisch wie möglich zu verhalten?
Wer mag denn behaupten, dass sich die Intention des königlichen Auftraggebers allein auf die Versorgung der Glocken und die Höhenentwicklung des Gotteshauses beschränkte. Im Gegenteil erscheint es realistisch, dass gerade die Kontamination mit ‚Bedeutungen‘ angezielt war – die höchsten Türme des Landes sollen den gemeinsamen Ort des religiösen Zentrums und der herrschaftlichen Residenz signalisieren, wobei die besten Steinmetze die angemessene Form dafür zu finden hatten. Weiterhin erscheint es problematisch, sich bei skulpturengeschmückten Fassaden für einen Augenpunkt zu entscheiden. Eine wissenschaftlich-restauratorische Bauaufnahme wird einen horizontalen Blickwinkel vom Gerüst oder Kran aus vorziehen, um sich damit möglichst physikalisch objektiv und entsprechend der statisch notwendigen Horizontalität der Architektur zu verhalten.

Dass eine solche künstliche Perspektive, die Architekten und Handwerker ursprünglich allein auf dem Boden der Bauhütte oder im Gerüst während der Bauzeit einnehmen konnten, der konkreten Grundidee der Architektur nahe kommt, wäre durchaus nicht automatisch anzunehmen, plante man die Fassade doch nicht nur als konstruktiven Abschluss eines Gebäudes, sondern – wie gerade angesprochen – auch als visuelle, atmosphärische und symbolische Wirkfläche. Um dies aber zu gewährleisten, orientierten sich Architektur und Dekoration am Betrachterstandpunkt, der in Bezug auf ein Turmgeschoss tief unten und bei innerstädtischen Kathedralen auch oft sehr dicht vor dem Bauwerk positioniert war. Ergo wurden Gesimse stark aus der Wand gezogen, um die Höhenstaffelung zu dramatisieren, skulptierte man Figuren sotto in sù, um sie dennoch erkennbar zu machen. Eine dokumentierend fotografische Annäherung an die konkrete Idee des Architektonischen wäre somit vor die unlösbare Aufgabe gestellt, gleichzeitig den Standpunkt des Erbauers und den des Rezipienten einzunehmen.[18]

Und wie geht man um mit dem Metaphysischen, jenem dem Gesamtkonzept von Anfang an immanenten ‚Überwirklichen‘, wie es Hans Sedlmayr in seiner epochalen Untersuchung Die Entstehung der Kathedrale einst formulierte?[19] Offensichtlich muss sich der Fotograf nun auch noch auf den Nachempfindungshorizont des Betrachters einstellen, der sich gegenüber dem mittelalterlichen Menschen jedoch längst in einer ebenso säkularen, wie rational aufgeklärten und ohnehin nicht mehr feudalen Welt konditioniert hat.

All dies ist in seiner Gesamtheit verständlicherweise nicht zu erfassen und zu leisten. Eine fotohistorische Analyse würde außerdem bestätigen, dass sich das Bewusstsein für die Existenz jener Vielzahl unterschiedlichster Wirkungsebenen von Architektur ohnehin erst im Verlauf der letzten Jahrzehnte ausprägen konnte. Darüber hinaus wäre festzustellen, dass diese, in einem Zeitraum vieler Jahrzehnte entstandenen Produkte einer im weiteren Sinne dokumentarisch arbeitenden Fotografie jeweils in ihrem eigenen historischen Umfeld zu betrachten sind. Ein Vergleich zwischen der Intention der selektiv nach einer nationalen Kulturform suchenden französischen Fotografen der Mission im 19. Jahrhundert und der isolierend ‚versachlichenden‘ Zugangsweise modernistischer Strategien, wie sie beispielsweise von Moholy-Nagy oder den sozialkritisch motivierten realistischen Stadtfotografen der 1960er und 70er Jahre verfolgt wurden,[20] bestätigt diese Notwendigkeit.
Als unverzichtbar für eine objektanalytische und möglichst sachbezogen vorgehende Dokumentierung, die sich bewusst auf die Ermittlung und Darstellung des architektonischen Konzepts konzentriert, erweist sich darüber hinaus eine möglichst unmittelbare Kommunizierung des Inhalts, das heißt eine optimierte Zugänglichkeit des fotografierten Sujets. Im Zusammenhang mit den Arbeiten August Sanders findet sich der tragfähige Begriff der „clarté“ in der Bedeutung von Klarheit, Schärfe, Exaktheit, Erkennbarkeit beziehungsweise Lesbarkeit des Bildes,[21] eine Klarheit, die jene Fotografengeneration im Rahmen ihres Mediums über die reine Darstellung der sichtbaren Erscheinungsform hinaus anstrebte, um einen neuen objektiv analytischen wie ästhetisch sensiblen Wahrnehmungsmodus zu erzeugen. Ziel war, damit auf die ‚wahren‘ Qualitäten des Bildobjekts hinzulenken. In unserem Sinne also eher keine reine Dokumentation, sondern vielmehr die ausgesprochen interessante Art eines interpretierenden Verismus, bei dem der Fotograf zum ‚Sprachrohr‘ der Wirklichkeit wurde.[22]


Idealbild

Die fachspezifisch dokumentierende Architekturfotografie ergänzt das notwendige Spektrum der bildgestützten Architekturkommunikation. Eine auf der Baustelle eingesetzte Bilddokumentation speichert den Zustand des Bauvorgangs zu jeder Zeit und an jedem Ort und dient damit ebenso als Beurteilungsgrundlage für die Planung wie als Beweismedium bei Rechtsstreitigkeiten. Diese gleichsam technische Ab-Bildung begleitet die Produktion und ist ohne das Gebäude selbst kaum von Bedeutung. Die Virulenz der Fotografie an sich lässt sich allerdings schon weit vor dem eigentlichen Arbeiten feststellen. Gemeint ist die Verwendung von ‚Bildern‘ der architekturhistorisch und aktuell omnipräsenten richtungweisenden Bauten, Ikonen oder Archetypen, mit denen sich der Architekt eine Vorbildsammlung für seine Entwurfstätigkeit anlegt, beziehungsweise aus einem unbewusst geführten Gedächtnis-Archiv memoriert, das ihm über das Studium und eigene Vorlieben ankonditioniert wurde.[23]
Wenn sich also anhand der Präsentationsaufnahme eines Einfamilienhauses Stilfacetten beispielsweise der berühmten Villa Savoye von Le Corbusier vermitteln,[24] so müsste – im Bezug auf unsere Fragestellung – differenziert werden, ob diese Verwandtschaft Teil des Entwurfs war und deshalb aus unterschiedlichen Perspektiven als solche wahrnehmbar ist, ob sie sich im Bild durch Zufall ohne Absicht des Architekten ergibt, oder ob der Architekt es darauf anlegte, die visuelle Interessantheit seiner gar nicht dem Le Corbusier’schen Haus entsprechende Konzeption durch ein Anfertigung einer Außenaufnahme zu erzeugen, die einem allseits bekannten Bild der Villa Savoye entspricht.[25]

Womit eine wichtige, wenn nicht die langfristig wirkungsvollste Aufgabe im Kontext der Dokumentation des Bauprozesses angesprochen ist: die Anfertigung von Außen- und Innenansichten des Bauwerks nach dessen Fertigstellung. In diesen Aufnahmen kulminiert der Entstehungsverlauf der Architektur, sie stellen in ihrer Übereinstimmung mit den Präsentationszeichnungen oder -animationen die Leistung und Verlässlichkeit des Architekten unter Beweis. Wichtiger aber ist, dass sie sich um eine Optimierung der Erscheinungsform bemühen. Der professionelle Architekturfotograf wird hierzu beauftragt, denn sein Können geht über die ‚Ablichtung‘ hinaus. Angestrebt wird ein ‚Idealbild‘, welches vor den Zeiten der Computeranimation – ihre Renderings sind allerdings noch nicht wirklich vergleichbar – kein anderes Medium als die Fotografie zu leisten im Stande war, keine Zeichnung, kein Aquarell und keine Farblithographie. Der Architekturfotograf kümmert sich um Dreierlei: er reist zumeist vor Inbetriebnahme an, um einen noch ‚reinen‘, von den Accessoires der Nutzung unverstellten Bau vor sich zu haben, er leuchtet so aus, dass sich Räume und Raumbezüge unabhängig von tatsächlichen Lichtverhältnissen perfekt abbilden, und er nimmt Einfluss auf die ‚vitalen‘ Aspekte des Ortes, was heißt, dass er sich entweder einen menschenleeren Gebäudezustand zur Verfügung stellen lässt, oder dass er eine Nutzung inszenierend andeutet.[26]

Aus der Perspektive des Fachmanns entsteht hierbei eine sehr ambivalente Verpflichtung auf eine „sachgemäße“ Aufnahme.[27] Doch was ist ‚sachgemäß‘? Wer die Fotografiegeschichte Revue passieren lässt und in der Evolution dieses Mediums nach einem Zustand sucht, auf dem man die Formulierung eines Reglements oder eines Berufsethos gründen könnte, der wird nicht fündig werden. Dies scheitert bereits an grundsätzlichen Fragen wie beispielsweise der maßgeblichen Überlegung, ob eine ‚ehrliche‘ Aufnahme eine ‚sachgerechte‘ ist. Unter rein technischen Aspekten nun wäre es diesbezüglich absolut legitim, durch Variieren des Standpunktes oder des Winkels merklich unterschiedliche Darstellungsversionen zu erzeugen. Hinsichtlich der medialen Funktion als Kommunikationsmittel ergeben sich allerdings schnell Grenzen: hier unterliegt die Fotografie der Forderung nach Visualisierungen, die einen sinnvollen Diskurs ermöglichen. So objektiv der Begriff des Sinnes aber verstanden werden kann, in unserem Fall dominiert die Zielvorgabe des beauftragenden Architekten oder Bauherren zu einer in seinem Interesse ‚optimalen‘ Darstellung, wodurch sich der Radius auf das eng begrenzte Feld der ‚Werbeaufnahme‘ verringert.

Die Bedeutung, die eine solcherart ästhetisierende Dokumentation für die Vermittlung des Neubaus einnimmt, ist nicht zu gering einzuschätzen. Allein ihre Dominanz in den Fachmedien verschafft dem idealisierten Architekturbild eine Deutungshoheit, welche die Apperzeption des Gebäudes und der Leistungen des Architekturbüros nachhaltig und international prägt. Jenes Bildmaterial fundiert gemeinhin das Urteil eines Fachmanns über die Qualität der vorgestellten Objekte, die er vermutlich nie aufsuchen wird. Es kommt damit weder zu einem Nachvollzug der im Bild vermuteten räumlichen und atmosphärischen Bedingungen, noch zu einer persönlichen Verifizierung des angebotenen visuellen Wirklichkeitsbelegs.
Rolf Sachsse findet es diesbezüglich keineswegs erstaunlich, dass

„[...] die Botschaften architektonischer Literatur nicht durch Texte, sondern über Bilder vermittelt“ werden, sind „diese doch nicht nur die schneller lesbaren Transporteure von Inhalten, sondern auch die letzten Träger komplexer Semantiken nach dem Verlust sprachlicher Repräsentativität.“[28]

Auf was genau aber zielt nun Sachsses ‚bildliche Vermittlung‘? Nach den virtuell generierenden computergestützten Planzeichnungen, in denen sich das Gebäude absolut komplett – bis hin zur Materialität und Funktion (z. B. Fließrichtung der Rohrleitungen) – in geometrischer und schriftlicher Form abbildet, ist es nach Fertigstellung auch räumlich und physikalisch vorhanden. Deshalb bedarf es eigentlich keiner weiteren Verbildlichung, da ohnehin keine einzige mediale Technik eine der Realität adäquate Wiedergabe, also eine Duplikation leisten kann. Zu einem kleinen Teil aber ist Architektur mit einem besonderen Anspruch verbunden, wie beispielsweise der Rechtfertigung öffentlicher Baugelder oder einem ambitionierten Büromarketing. Architekten und Bauherren interessiert dann vorrangig zweierlei: Das Bild vom neuen Haus verkündet dessen Existenz und multipliziert sein Bild für eine über den Standort selbst hinausgehende Wahrnehmung. Weitergehend jedoch ist ihr Anliegen, das Gebäude, präziser formuliert eigentlich seine ‚Architektur‘, hervorzuheben. Insofern unterscheidet sich das inszenatorische Moment von der ureigenen Aufgabe des Architekturbildes, das Gebaute, Projektierte oder nur als ‚Invention‘ Vorhandene suggestiv darzustellen.[29]

Damit geht es vor allem dem Architekten weniger um die Dokumentation des Realisierten als um die Präsenz seiner architektonischen Idealidee, dessen, was sich letztlich in seiner liebsten Planversion befand, und das in Teilen eventuell den üblichen Kompromissen zum Opfer fiel. Einerseits kann er mittels des Fotografen nun die Rezeption seines Entwurfs steuern und durch ausgewählte Perspektiven und Ausleuchtungen in Richtung seines ‚Ideal-Bildes‘ modifizieren. Andererseits erlauben die Wahl des Ausschnitts sowie weitere fotografische Techniken die Herstellung einer pointiert ästhetischen Erscheinungsform. Sie mag exogener Herkunft sein und durch den Fotografen erzeugt, oder wurde dank einer ausgewählten Ansicht zu einem „typischen“ Gesamtausdruck geführt.[30]
Wenn es bei Gernot Böhme heißt: „Das Foto zeigt die Realität von etwas unter Einschränkung seiner Möglichkeiten und Steigerung seiner Wirklichkeit.“[31], dann trifft es eben jenen utilitaristischen Aspekt. Der Architekt als Schöpfer der Idealversion und Erbauer der Realversion konzipiert sich auf dem Wege der Fotografie eine passende Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit wird dem Gebäude dann durch das ‚Bild von ihm‘ tatsächlich zugeordnet, da es für die Mehrzahl seiner Rezipienten ausschließlich medial präsent ist, und sich die fotografische Verbildlichung hierbei zumeist unkommentiert im kollektiven Gedächtnis einschreibt. Im Rahmen seiner Untersuchung zu Repräsentationsmodellen bestätigt dies auch Ralf Christophori, der von einer Gleichsetzung der „Wirklichkeit des fotografischen Bildes“ spricht: „[...] als ein Substitut, als eine Art Ersatzwirklichkeit‘, die neben oder gar vor die Erfahrung der tatsächlichen Wirklichkeit tritt.“[32]

Selbstverständlich ist es des Weiteren als Interesse des Architekten anzunehmen, dass sein Entwurf – unterzieht er sich denn schon der Mühe, ihn zu publizieren – in der populären Wahrnehmung für ‚schön‘ gehalten wird. Als ein solch ‚schönes Gebäude‘ mag in der laienhaften Öffentlichkeit sicher jenes bezeichnet werden, das hinsichtlich der oberflächlich erfahrbaren Funktionsleistung den allgemeinen Maßstäben entspricht, sich harmonisch in das Umfeld einfügt und zudem in Großform und Materialwirkung attraktiv erscheint. Wichtiger als die Überprüfung des Einsatzes herausragender Detaillösungen oder innovativer Technik ist das Erfüllen und Bestätigen allgemeiner Seherwartungen und damit die Orientierung an vorbildhaften Images. Die ‚schöne‘ Erscheinung aber ist nicht gleichzeitig auch an gute Architektur gebunden, was allein schon anhand des Umstandes sichtbar wird, dass jenes Prädikat bereits seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als fachspezifische Qualifikation respektive als absolut verstandene ästhetische Kategorie keine Verwendung mehr findet.

Wenn wir nun einräumen, dass sich in die Entwurfsarbeit der Architekten – neben ihrer für jedes Projekt spezifischen Detailplanung – zum Teil bewusst, vor allem aber unwillkürlich ‚Bilder‘ aus dem Vorbildkanon einfügen und sich mit dem angestrebten Idealkonzept amalgamieren, so erhält diese eben charakterisierte Problematik der Wirklichkeit eine weitere kritische Dimension. Vernachlässigen wir das naheliegende Verständnis von Konkretisierung im Sinne der Erzeugung einer materiellen Präsenz und deuten das ‚Sich-Konkretisieren‘ von Architektur als ‚Bild werden‘ – für den Architekten während des Entwurfsprozesses ebenso wie für den Konsumenten einer bebilderten Publikation –, dann entsteht die Frage nach der Authentizität der architektonischen Uridee eines jeden Entwurfs. Gleichsam aufgedeckt durch die Problematik der medialen Wirklichkeit wird sichtbar, dass es sich bei dem ‚Bild‘ von einem Haus nicht nur um die physikalische Ablichtung handelt, von der ein Laie allerdings ausgeht, sondern auch um die Generierung einer optimierten Ansicht.[33] Um für sich selbst oder innerhalb des Fachdiskurses eine Bestätigung der Entwurfsqualität zu erzielen, strebt der Architekt danach, eine ‚Bildwirklichkeit‘ zu erzeugen, die sich in größtmöglicher Übereinstimmung mit dem Kanon befindet.

Angesichts der Tatsache, dass sich vor allem bei Wettbewerben ein wesentlicher Anteil der frühen Entwurfsphase auf eine attraktive Außenansicht konzentriert – für die man erst nach Auftragserteilung eine Baubarkeit erarbeitet –, kommt dem ‚Bild-Denken‘ des Entwerfenden de facto eine größere Relevanz zu als der Sachkenntnis des Fassadenbauers, der dagegen ausnahmslos konstruktiv vorgeht. Der ästhetisch konzipierende Entwerfer aber unterliegt, wie eben dargestellt, einem dialektischen Prozess der unbewussten oder willentlich herbeigeführten Einmischung als gut anerkannter Vor-Bilder. Hierin begründen sich einige für die Architektur gültigen Phänomene, so die Ausprägung und Konservierung bestimmter ‚Klassizismen‘ vor allem bei herrschafts- und staatstragenden Bauvorhaben oder auch die formtypische Ausformung von Moden und Strömungen, wobei hier dann die Halbwertszeit der Referenzbauten vergleichsweise kurz anzusetzen ist. Aufgrund der gestalterischen Bandbreite zugänglicher Vor-Bilder, die wir der schnellen und globalen Informationsabdeckung verdanken, lässt sich heute aber eine formale Homogenisierung der Spitzenarchitektur vermeiden, wie sie noch zu Zeiten des beginnenden 20. Jahrhunderts durch akademische Musterlehre und Stildoktrinen vorherrschte.

In Rückwendung auf die hier maßgebliche Frage danach, wann denn eigentlich welche Art der Konkretheit eintritt, ließe sich bezüglich der Konkretisierung der ‚architektonischen Idee‘ Unsicherheit anmelden. Wird eine solche konkret, wenn sich eine grundsätzliche Erwartung aus dem Planverfahren erfüllt? Der Plan selbst ist abstrakt, beinhaltet jedoch bereits das Gebäude in seiner Ganzheit. Schicksalhaft für die meisten der größeren Bauvorhaben ist allerdings der Widerspruch zwischen professionellen architektonischen Ambitionen und Bauwirklichkeit – Bauherren, Behörden, Baunormen oder Banken. Irgendwann im Verlauf des Entwurfsprozesses stellt sich eine Vorstellung von einer optimalen Gestalt ein, die dem Architekten ‚vor Augen schwebt‘. Es handelt sich demnach in Vorwegnahme einer späteren Begegnung mit dem sichtbaren, manifesten Gebäude um eine ‚Ansicht‘ und nicht um eine virtuelle räumliche oder haptische Begehung. Diese Gestalt aber ist, da nicht originär aus den Bedingungen des Baues gewonnen, nur schwer zu realisieren. Sie ist ja Resultat einer Kombination: einerseits die imaginierte Ansicht, die sich auf bis dato noch unvollständige Baupläne stützt beziehungsweise der diese Baupläne in ihrer Ausarbeitung erst nachfolgen müssen, und andererseits jene oben erwähnten Vor-Bilder, die selbst bekanntermaßen oft nur zweidimensionale Ausschnittsansichten darstellen. Vermutlich also wird die Erfahrung des realisierten Gebäudes von den Architekten selbst selten als die Idealprojektion treffend erlebt werden. Eine Konkretisierung der architektonischen Idee wäre damit nicht erreicht, die des Bauplanes zumeist schon.

Typisch für diese Disparität zwischen Anspruch und Baurealität ist der Umgang der großen deutschen Architekturbüros mit ihren umfangreichen Bauvorhaben in China. Fotobeiträge oder Ausstellungen, in denen sich die faktischen Gegebenheiten darstellen, wurden gerne vermieden, begründet damit, dass die Resultate bedauerlicherweise nicht den Vorstellungen und dem Anspruch des Büros entsprächen. Gleichzeitig aber erschienen die für den Markt notwendigen Publikationen mit umfassenden Animationen, in denen sich keinerlei Zweifel an der kommenden Qualität manifestierte.[34] Gelingt die Verbildlichung eines Gebäudes dagegen durch den Fotografen, dann – so scheint es – erfüllt sich in der solcherart gewonnen ‚idealen‘ Ansicht der Traum des Architekten, denn erstens sieht er in diesen Fotografien das wiedergegeben, was er immer sehen wollte – unabhängig von der faktisch errichteten Version seines Plans. Und zweitens wird genau diese Bildwirklichkeit für die öffentliche Bekanntmachung des Gebäudes maßgeblich sein, denn aufgrund des am allgemeinen Wertkonsens abgeprüften Bildes vermittelt sich der Eindruck von Qualität. Jeder Fachmann, der es nicht selbst besichtigt, folgt – entsprechend dem Rezeptionsmodus nach dem ‚Iconic Turn‘ – dieser durchaus autoritären medialen Informationsquelle.


Resümee

Unter dem Eindruck der im Vorausgegangenen aufgeführten unterschiedlichen Modi der fotografischen Verbildlichung von Architektur – sie sind hier aus Platzgründen in ihrer Varianz nicht komplett behandelt – stellt sich die Reflexion darüber, ob sich eine architektonische Idee im Bild konkretisieren kann, keineswegs als unproblematisch heraus. Allein schon die systemische Divergenz zwischen dem Begriff der Idee und der planerischen Komplexität, die einem architektonischen Objekt üblicherweise zu eigen ist, muss dieses Unterfangen automatisch als hoffnungslos erscheinen lassen. Einem Gebäude in der Vielfalt seiner Formen, Materialien und Binnenfunktionen kann im architektonischen Sinne selbst die genialste Idee seines Schöpfers nicht gerecht werden. Wie sollte dies dann erst im Bild gelingen? Hinzu kommt die Einsicht, dass eine maßgebliche Korrelation zwischen Architektur und ihrer Verbildlichung existiert – insofern läge Susan Sontag mit ihrem Diktum falsch: „Das Fotografieren ist seinem Wesen nach ein Akt der Nicht-Einmischung“,[35] zumal sich die Veranlassung einer fotografischen Verbildlichung sowie ihre Nutzung durchaus als fotografieimmanente Qualitäten begreifen lassen. In der Tat ist es nicht einfach, das Kommunikationspotential der Fotografie zu ergründen, zumal unter der Aufgabenstellung, im Bildmaterial fundamentale Aussagen über die Bedingungen seines Sujets zu identifizieren. Letztendlich hätte jeder selbstverständlich Recht, der darauf beharrte, das ‚Bild‘ sei und bleibe doch immer nur ein Referent und könne demzufolge sein eigenes Objekt – das Architektonische – keinesfalls konkretisieren.

Belassen wir es abschließend salomonisch bei Karl Paweks hilfreicher Definition von Fotografie als „besondere Intellektualität, die in der Begegnung mit dem Konkreten von der Besonderheit des Wirklichen Besitz ergreift.“[36]



 



Literatur:

 

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Maar, Christa; Burda, Hubert (Hg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004.

Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen (Werke Band 2), Stuttgart 1921.

Pawek, Karl: Das optische Zeitalter, Olten 1963.

Perspektive Dokumentarfotografie, Publikation des gleichnamigen Symposiums am Museum für Angewandte Kunst Köln, Redaktion Kristina Hasenpflug, Ludwigsburg 2003.

Robinson, Cervin; Herschman, Joel: Architecture Transformed. A History of the Photography of Buildings from 1839 to the Present, Cambridge Mass. 1987.

Sachsse, Rolf: Bild und Bau. Zur Nutzung technischer Medien beim Entwerfen von Architektur, Braunschweig 1997.

August Sander – „In der Photographie gibt es keine ungeklärten Schatten“, Katalogbuch August Sander Archiv, zusammengestellt von Gerd Sander, Berlin 1994.

Sedlmayr, Hans: Die Entstehung der Kathedrale, vermehrter Nachdruck, Graz 1988.

Sontag, Susan: Über Fotografie (1977), Frankfurt/M. 1980.

Stiegler, Bernd: Theoriegeschichte der Photographie, München 2006.

Urry, John: The Tourist Gaze, Nachdruck der 2. Aufl., London 2005.

v. Amelunxen, Hubertus (Hg.): Theorie der Fotografie IV 1980-1995, München 2000.

Vetter, Andreas K.: Leere Welt. Über das Verschwinden des Menschen aus der Architekturfotografie, Heidelberg 2005.





Anmerkungen:
 

[1] Gottfried Boehm: Jenseits der Sprache? Anmerkungen zur Logik der Bilder, in: Maar, Burda 2004, S. 28-43.

[2] Nach Hans Dieter Huber changiert die bildliche Darstellung im Dualismus von „Selbstreferenz und Weltreferenz“: der Betrachter kann einerseits eine Selbstbezüglichkeit feststellen, andererseits aber auch eine „Entwertung“ der Autonomie des Bildes dadurch vornehmen, dass er es lediglich als Repräsentant auffasst. Huber 2004, S. 66.

[3] Zur vielseitigen Diskussion der Probleme der Wirklichkeitswiedergabe durch die Dokumentaraufnahme vgl.: Rolf Sachsse: Copy & Paste. Das Dokument als Halbzeug in der Fotografie, in: Perspektive Dokumentarfotografie 2003, S. 44-53.

[4] Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außerordentlichen Sinn (1873), in: Ders. 1921, S. 5.

[5] Zu den Bedingungen der Selektivität sowie der medialen Reflexivität vgl. Michael Schumacher: Architektur/Portrait. Soziologische Annäherungen an Photoarbeiten von Axel Hütte und Thomas Ruff, in: Breuer 1997, S. 73-91, hier S. 75.

[6] Sontag 1980, S. 28. Weiter unten heißt es dann aber: „Die letzte Weisheit des fotografischen Bildes lautete: Hier ist die Oberfläche. Nun denk darüber nach – oder besser: erfühle, erkenne intuitiv –, was darunter ist, wie eine Realität beschaffen sein muß, die so aussieht.“ Fotos, die von sich aus nichts erklären, fordern unwiderstehlich zu Deduktion, Spekulation und Phantastereien auf.

[7] „Kant hat den Umkreis dessen, was man einem Begriff anschaulich hinzugesellen kann, die ihm eingeschriebene Vorstellung oder das Schema genannt. Zwischen das Auge und die Sache schaltet sich mithin ein unsichtbares Schemabild ein, das dafür sorgt, daß wir eine anschauliche Evidenz gewinnen können. Es regelt alle möglichen anschaulichen Zugangsweisen, mittels deren wir einsehen können, was etwas ist. Man kann dieses vermittelnde Schemabild die anthropologische Grundlage dafür nennen, daß wir blickend überhaupt zur Sache kommen. Es verschafft uns begrifflichen Aufschluß. Seine Rolle ist, Sichten und Bilder zu ermöglichen, ohne selbst schon ein fertiges Bild zu sein.“ – Boehm 2007, S. 102f. Kant zum Schema in: Ders. 1787, Zweites Buch, S. 135ff.

[8] ‚Transformation im Sinne von Übersetzung, Umwandlung hat sich auch für die Architekturfotografie etabliert. Siehe z. B.: Robinson, Herschman 1987.

[9] Vermutlich arabisches Sprichwort, zit. von Albert Renger-Patzsch in: Ders.: Versuch einer Einordnung der Fotografie, Vortrag, 27. Januar 1956, Studium Generale, Universität Freiburg, publ. in: Schrift 6, Folkwangschule für Gestaltung, Oktober 1956, ohne Seitenangabe.

[10] Anlass für diese Überlegung bieten die digital bearbeiteten Architekturfotografien der letzten Jahre, so z. B. Lukas Roth, o.T. (Ludwigstraße München), 2002, publ. in: Vetter 2005, S. 128. Oder: Michael Reisch, Serie ‚Haus, 2000.

[11] Der ‚touristische Blick als ein durch Normen und Institutionen beeinflusster wird ausführlich dargestellt von: Urry 2005.

[12] Hier im Sinne Roland Barthes’ verstanden als ‚Zeichenträger. Vgl.: Ders. 1981, S. 103.

[13] Rosalind Krauss betont in diesem Zusammenhang das konzeptionelle Zurücktreten des Bildautors, was zu einer gleichsam „natürlichen“ Verbildlichung beispielsweise der Stadtlandschaft führt. In: Dies. 1998, S. 48. Der Konsument kann sich diese ‚Ansicht damit leichter zueigen machen und als Bild seiner eigenen Seherfahrung annehmen.

[14] ‚Signifikant und ‚Signifikat. Barthes 1964, S. 90.

[15] So auch bemerkt von Heinz-Norbert Jocks, in: Ders.: Der Gebrauch der Fotografie. Ein Versuch über die Fotologie, in: Kunstforum international, Nr. 171, Juli/August 2004, S. 37-79.

[16] Hierzu: De Mondenard, Hermange 2002. Von Edouard Baldus beispielsweise existiert eine Fassadenaufnahme aus dem Jahr 1857.

[17] Laszlo Moholy-Nagy: fotografie. die objektive sehform unserer zeit, in: Telehor, 1/2.1936, S. 120ff.

[18] Ein Beispiel mit vergleichbarer Problematik: Das Konzept des ‚Neuen Sehens, wie es vor allem Laszlo Moholy-Nagy am Bauhaus vertrat, versuchte, auf dem Wege von Blickirritationen neue Wahrnehmungsmodi zu erschließen. Sein Kollege Paul Klee äußerte zu einer jener Bildstrategien, die eine in verkürzter Perspektive wiedergegebene senkrechte Hauswand zeigte: „Dieses Bild ist also nicht logisch falsch, sondern psychologisch falsch!“, womit er die Architekturfotografie an sich zwar nicht in Frage stellte, sondern deren Kommunikationsweise; Zitat Paul Klees in: Andreas Haus: Laszlo Moholy-Nagy, in: Fiedler 1990, S. 9-12, hier S. 17.

[19] Vgl.: Sedlmayr 1988, S. 369.

[20] Z. B.: Chargesheimer und Wilhelm Schürmann.

[21] Begriff verwendet von Lugon 2001, passim.

[22] Vgl. Sanders Arbeiten in: August Sander 1994.

[23] Gernot Weckherlin, der das ‚Architekturhandbuch als maßgeblichen Literaturtyp im Sinne eines Leitfadens des entwerfenden Architekten untersuchte, lässt die Fotografie erstaunlicherweise vollkommen außer Acht. So in: Ders.: Die Angst vor dem leeren Blatt: Architekturhandbücher als Medien im künstlerischen Prozess, in: Geiger, Hennecke, Kempf 2005, S. 105-191.

[24] Vgl. Hertha Hurnau, Fotografie der Gartenansicht der Villa 13x13, Freistadt, Oberösterreich, 2001, publ. in: Architektur, Februar 2002.

[25] Nicht genug zu betonen ist in diesem Zusammenhang die Macht der Publizisten und Kompilatoren. Für die Klassische Moderne sei exemplarisch auf die umfangreichen Bildpublikationen von Alberto Sartoris mit einer weltumspannenden Fotoserie von über 2000 Bildern hingewiesen, die in der Rezeption durch Tausende kommender Architekten damit für diese Vorbildcharakter erhielten. Vgl. dazu: Baudin 2005. Über die durch Vorerfahrung und selektives Sehen kontaminierte Wahrnehmung und deren Konsequenz schreibt Joan Ockman: “The architect’s gaze too is a product of these discursive formations as well as practices, conventions, and codes specific to architecture as a discipline and profession.“ In: Dies.: Bestride the World like a Collosus. The Architect as Tourist, in: Dies., Frausto 2005, S. 158-185, hier S. 160.

[26] Hierzu ausführlich: Vetter 2005.

[27] So formuliert von Wilfried Dechau, in: Ders.: Architektur zweidimensional, in: Jäger 2005, S. 108-117.

[28] Siehe: Sachsse 1997, S. 239.

[29] Barthes wies bereits darauf hin, dass sich im Falle der Inszenierung keine Unmittelbarkeitswirkung einstellt. So: Ders. 1970, S. 105-107.

[30] So als Vorgehensweise beschrieben bei Bernd und Hilla Becher im Gespräch mit Susanne Lange, in: Dies. 2002, S. 11. Bewusst ist den Fotografen allerdings, dass sie ihre Motive in Vorwegnahme des Aufnahmeresultats präzise auswählen. Auf die Frage nach dem Künstlerischen in ihrer Arbeit antwortete Bernd Becher: „Es ist weniger der Blick als die Haltung und die Auswahl der Gegenstände. Wir greifen uns stets solche Objekte heraus, die typisch sind für unsere Art der Ansicht. Dadurch kommt eine wenn auch subjektive Sicht auf die Zeit zustande. Die Betrachtung des Gegenstandes ist hingegen absolut objektiv.“ Bernd Becher: Die Geburt des Fotografischen Blicks aus dem Geist der Historie, Interview mit Heinz-Nobert Jocks, in: Kunstforum international, Nr. 171, Juli/August 2004, S. 159-175, hier S. 172f.

[31] Gernot Böhme: Ist ein Foto realistisch?, in: Ders. 1999, S. 111-127, hier S. 127.

[32] Christofori 2005, S. 112. Bereits 1982 betonte Andreas Haus, dass der „Begriff Wirklichkeit mehr besagt als den Realitätsgrad des Abgebildeten.“ Es schlösse „die Wirklichkeit der Fotografie eben auch ihre Praxis und ihren Gebrauch mit ein: sowohl den allgemeinen [...] wie auch den persönlichen, individuellen, subjektiven Gebrauch.“ Andreas Haus: Fotografie und Wirklichkeit (Vortrag 1982), partiell publ. in: v. Amelunxen 2000, S. 89-93, hier S. 90.

[33] Bezüglich des von Barthes beschriebenen „tautologischen Verhältnisses“ zwischen der Fotografie und dem in ihr Abgebildeten entsteht jedoch grundsätzlich ‚Sinn. Vgl.: Roland Barthes: Die Rhetorik des Bildes, in: Ders. 1990, S. 28-46, hier S. 31.

[34] Vgl. Deutsch-Chinesische Projekte 2005.

[35] Sontag 1978, S. 17. Die leicht polemische Verwendung des Zitats sei hier gestattet. Eigentlich gründet sich die Oberflächlichkeit dieser gleichwohl sehr apodiktisch auftretenden Aussage auf die wie nicht eben selten willkürlich gesetzte Basis ihrer Betrachtung – Hitchcocks Motiv des aufgrund seiner Behinderung zur Beobachtung verdammten Fotografen im Film Ein Fenster zum Hof.

[36] So der Mitbegründer von magnum und Fotopublizist Karl Pawek, in: Ders. 1963, S. 333. Vgl. hierzu: Stiegler 2006, S. 330.




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