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Im Kontext der Diskussion
um den ‚Iconic Turn‘ formulierte Gottfried Boehm die These, dass Bilder
eine ihnen eigene Logik besäßen – Logik verstanden als „konsistente
Erzeugung von Sinn aus genuin bildnerischen Mitteln“.[1]
Zweifellos gehört die mediale Darstellung von Architektur zu ihren fundamentalen
Erscheinungsformen – Konzeptskizze, Ausführungsplan, fotografische
Darstellung etc. Darüber hinaus findet sich ‚Architektur‘
wieder in graphischen Zeichen und Symbolen. Da sich Architektur aber nicht
nur mittels ihrer eigenen physischen Gestalt, sondern eben auch medial
vermittelt, respektive sich kommuniziert oder kommuniziert wird, erscheint
es bedenkenswert, dieses Faktum in Überlegungen zu ihrer Konkretisierung
einzubeziehen – analog zum Boehm’schen ‚Sinn‘-Begriff könnte
somit architektonische Konkretheit durch Verbildlichung erzeugt werden.
Parameter dieser Betrachtung wäre zudem die Ausrichtung der medialen Kommunikation:
repräsentierend aber auch reflexiv;[2]
Boehm verweist bewusst auf die Wirkkraft „genuin bildnerischer
Mittel“.
Betrachten wir zuerst den Typus der ‚dokumentierenden Fotografie‘[3]
in Gestalt einer der konventionellen alltagsbezogenen Privataufnahmen,
beispielsweise einer innerstädtischen Straße. Selbst im Bewusstsein, dass
man es nur mit einer kleinen und flächigen sowie ausschnitthaften Wiedergabe
zu tun hat, wird der Nutzer keine Divergenzen zu seiner eigenen realen
Seherfahrung benennen können. Ein direktes Eindringen in die speziellen
Komponenten des Bildes findet ebenso wenig statt, wie bei einer unmittelbaren
wirklichen Wahrnehmung eines komplexen Sujets, beispielsweise eben jener
Straße – das
„Auge gleitet nur auf der Oberfläche der Dinge herum
und sieht ‚Formen‘, ihre Empfindung führt nirgends
in die Wahrheit, sondern begnügt sich, Reize zu empfangen und gleichsam
ein tastendes Spiel auf dem Rücken der Dinge zu spielen.“[4]
Doch
selbst der unbedarfte Nutzer ist sich der Tatsache bewusst, dass eine
solche konventionelle fotografische Aufnahme lediglich die optische Situation
eines Ortes festhält, so wie sie einzig im Sekundenbruchteil der Aufnahme
und aus der spezifischen Position des Fotografierenden bestand.[5]
Dennoch akzeptiert er die allgemein repräsentierende Funktion und bestätigt,
dass es sich um eine ‚Straße‘ oder um ein ‚Haus‘ handelt.
Der erwähnte Betrachter nun reagiert auf die Fotografie mit einer ‚Nominalisierung‘
ihres Inhalts, wie dies schon Susan Sontag bemerkte.[6]
Und unbewusst konzediert er dabei, dass es keinen Anlass gibt, anzunehmen,
jene sichtbaren Objekte seien etwa nicht mehr existent. Irrelevant erscheint
ihm der Status-Moment zu sein, da er die Aufnahme als ein ‚Bild von‘
rezipiert. Die für ihn wichtigen visuellen Informationen zur abgebildeten
Straße oder zum Haus kann er entnehmen. Das architektonische beziehungsweise
baulich funktionale System wird gleichsam extrahiert aus seiner Einbettung
in den dynamischen Klima- und Tageslichtverlauf sowie den ständigen Szenenwechsel
durch Verkehr und Nutzung des Ortes, auch wenn jene Symbiose maßgeblich
ist für die neutrale und als allgemeingültig verstandene Aussage ‚Straße‘
oder ‚Haus‘. Dass er sich hierfür eines ‚Schemas‘ bedient,
darauf hat schon Immanuel Kant in seiner Erkenntnistheorie hingewiesen,
gewissermaßen als anthropologische Strategie, um überhaupt zu strukturierenden
Allgemeinbegriffen zu kommen. Ein solches Schemabild verschafft nach Gottfried
Boehm „begrifflichen Aufschluß“, wobei es sich allerdings
von einer bloßen „Ansicht“ unterscheide, da es „aktiv
blickend“ gewonnen wurde.[7]
Unstrittig ist das Faktum der unterschiedlichen Bilderfahrung. Divergierende
Voraussetzungen bezüglich eines fachlichen Vorwissens und selektives Sehen
führen zu kognitiven Differenzen in der Transformation[8]
des Bildsujets in spezifische architekturbezogene Informationen. „Das
Auge ist blind für das, was der Geist nicht sieht“, so Albert
Renger-Patzsch 1956.[9]
Wäre im Bild durch einen bearbeitenden Eingriff alles Nicht-Architektonische
entfernt worden,[10]
oder hätte man eindeutig ungenutzte, also verlassene Orte vor sich, dann
entstünde eine Divergenz zur routinierten Apperzeption, und der Betrachter
würde im ersten Fall von einer deformierten, irrealen Ansicht sprechen,
im zweiten Fall von einer Geisterstadt, von Ruinen. Keinesfalls aber sähe
er im ‚Bild‘ das ihm ‚bekannte‘ Architektonische wiedergegeben.
Mitunter geht es aber gar nicht darum, durch die Ansicht Informationen
zu geben, um Architektur konkreter werden zu lassen. Die Kulissenansicht
beispielsweise generiert lediglich eine Bildvorstellung von urbaner Normalität.
Hierfür wird ein Klischee geschaffen, das ‚bekannt‘ wirken soll,
ohne verortbar zu sein.
Doch nun genau gefragt: Inwieweit kann sich das Architektonische durch
diese Art der bildlichen Kommunikation verdichten, pointieren, konkretisieren,
Kommunikation also verstanden werden als medialer Informationsaustausch,
in dem sich Architektur selbst vermittelt?
Der ‚touristische Blick‘
An erster Stelle wäre die funktionale Beziehung zwischen Architektur
und Fotografie zu definieren. Architektur ist Teil vieler fotografischer
Bilder, genauso wie sie Teil der für den Fotografen geltenden Umwelt ist.
Insofern wird sie als Umweltkonstituent gleichsam automatisch bildlich
festgestellt. Nimmt man sie dagegen bewusst in den Fokus, wird sie zentrales
Motiv. Hier würde man primär von einem sozusagen ‚touristischen‘,
also alleinig individuell erlebnisspeichernden Bild oder andererseits
von einer spezifischen Architekturaufnahme, also einem objektiv dokumentierenden
Bild sprechen.[11]
Interessant wird es in Bezug auf die erste Variante allerdings dann, wenn
der Tourist als lediglich umweltbetrachtender Fotograf bewusst ein Gebäude
auswählt, um einen Ort klischeehaft abzubilden – beispielsweise durch
eine einzige Aufnahme der Kathedrale Nôtre Dame für einen Parisaufenthalt.
Bei ausschnitthaften Herausnahmen einer Alltagsansicht entsteht eine erstaunliche
Abbildhaftigkeit – Ikonizität – des fotografischen Bildes, die sich in
krassen Widerspruch zur kontingenten Wirklichkeit setzt. Doch ist ein
derart disziplinierter und strategischer Umgang mit dem privat genutzten
Fotoapparat wohl ausgesprochen selten, wenn nicht sogar grundsätzlich
unmöglich, da sich Bilder dieses Typs wohl zumeist in einer Vielzahl zusätzlich
kommentierender Motive befinden, und man deshalb nicht von einem bildlichen
Repräsentanten per se sprechen kann.
Als ‚Signifikant‘[12]
für Paris funktioniert Nôtre Dame jedoch sehr wohl: auf zahlreichen Ansichtskartenmotiven
wird ihre Fassade oder die romantische Flussseite ohne weitere Bezeichnung
mit dem Schriftzug ‚Paris‘ kombiniert. Der im Deutschen bei diesem
traditionellen Souvenir-Medium eingesetzte Begriff der ‚Ansicht‘
impliziert im Übrigen eine sich klar als touristische Sicht verstehende
deskriptive Verbildlichung der Stadt, deren Anspruch auf objektive Wiedergabe
der tatsächlichen Erscheinung zweitrangig ist.[13]
Die ebenso noble wie mythische Architekturgestalt der Kathedrale war zwar
eine der Hauptmotivationen einer Reise nach Paris und gehört zu den als
beeindruckend wahrgenommenen Erlebnissen, von denen berichtet wird, doch
ist es weniger ihre architektonische Qualität denn die kanonische Bedeutung
wie auch die kollektiv-kulturelle Zeugniskraft für den Parisaufenthalt
im Gesamten. Folgt man Barthes in seiner Differenzierung von Zeichenträger
(Signifikant) und Zeicheninhalt (Signifikat) und analysiert die architektonischen
Implikationen, dann wäre folgendes festzustellen: die Aussage der Ansichtskarte
für den Versender ebenso wie für den Adressaten – nämlich als individuell
gewählte bildliche Fokussierung einer Parisreise – korreliert mit der
rein formalen Funktion der Kathedrale als eines der prägnantesten Gebäude.
Der Zeicheninhalt bleibt dabei ebenfalls im Bereich der Kommunikation:
er bestätigt die Qualität der Stadt als grandioses Reiseziel anhand dieses
Ausnahmebaus. Zum ‚Zeichen‘ im Sinne „der assoziativen
Gesamtheit“ beider Termini[14]
wird Nôtre Dame dabei lediglich für das touristische Paris. Die von Fotograf
und Produzent des Souvenirartikels ‚Ansichtskarte‘ beabsichtigte
Leistung wird somit erfüllt, wobei es unwesentlich ist, ob eben jene Aufnahme
in der Lage ist, die rein architektonische Qualität des abgebildeten Bauwerks
zu kommunizieren. Einer bildlichen Annäherung an die architektonische
Idee des gotischen Leitbaus, die innerhalb der Kunstgeschichte durchaus
zu den bedeutendsten gehört, widerstrebt der touristische Blick, da es
dem emotional rezipierenden Betrachter darauf ankommt, sich selbst zu
verorten, und nicht, die faktischen Bedingungen des Bildmotivs zu erforschen.
Überdies gehört zu den existenzbegründenden Faktoren der Ansichtskarte
die räumliche Distanz zum Objekt, die entweder durch deren Versendung
an Abwesende oder durch deren Ablage als Erinnerungsmedium keinen Wert
auf eine enge Beziehung zum Dargestellten und damit auch motivische Abprüfbarkeit
legt. Sie ist in der Tat ein ideales Beispiel jener für die utilitarisierte
Fotografie so typischen „anderen Betrachtungsweise“.[15]
Determinierung oder Dokumentation
Selbiger emotional-assoziative Effekt würde sich wohl kaum einstellen,
legte man ihnen die Aufnahmen jener frühen professionellen Architekturfotografen
vor, die sich im Umfeld der Mission héliographique ab 1851 zum
ersten Mal einer ausführlichen fotografischen Darstellung des historisch
bedeutenden Baubestandes Frankreichs widmeten – darunter auch die Kathedrale
Nôtre Dame de Paris.[16]
Mit ihrer auf dem Schwarzweiß-Kontrast basierenden bräunlichen Patina,
den leeren Räumen und einigen Unschärfen scheinen sie unseren Zeitgenossen
keine einfühlende Assoziation des beim Besuch Erlebten zu ermöglichen.
Dennoch ergeben sich überraschenderweise Parallelen, unterzieht man diese
inzwischen 150 Jahre alten Aufnahmen und ihre Motivation einer genaueren
Analyse: auf der einen Seite folgt das damals neue Medium Fotografie den
bereits um 1850 konventionalisierten Blickmustern, die sich in Zeichnungen
und Drucken über Jahrhunderte hinweg gefestigt hatten, und orientiert
sich somit auch maßgeblich an den Bedürfnissen eines lediglich ‚erbaulich
betrachtenden‘ Abnehmerkreises, der an Wiedererkennen und Bestätigung
seiner eigenen Ortserfahrung interessiert ist. Besondere Perspektiven
aus den spezifischen architektonischen Bedingungen heraus zu entwickeln,
steht noch nicht im Vordergrund.
Und auch die zweite Motivation hält sich in erstaunlicher Distanz zum
eigentlichen Architekturkonzept geschweige denn zur religiösen Funktion
des Gebäudes. Bei ihr geht es um die bildliche Fixierung der äußeren Ansicht
eines bedeutenden Bauwerks, eines Monuments. Ziel der Verbildlichung ist
die Einpassung in ein nationalpolitisch argumentierendes Archiv, das sich
der momentan definierten kulturhistorischen ‚Großartigkeit‘ und
nicht dem objektiven architektonischen Sachverhalt zuwendet.
Obwohl sich dem heutigen Bauhistoriker in diesen Aufnahmen seltene Zeugnisse
der damaligen Bausituation erhalten haben und sie insofern als Dokumente
verwendet werden, steht einer unkritischen Bezeichnung dieser fotografischen
Arbeiten als ‚dokumentierende Architekturfotografie‘ jene
eben dargestellte, keineswegs primär architektonisch sachbezogene Motivation
entgegen. Nicht umsonst gehört der Bereich der Dokumentation zu den komplexen
Feldern der Fotografie. Im allgemeinen Verständnis impliziert die Anfertigung
eines Dokuments, sei es textlich, bildlich oder akustisch, das größte
Bemühen um eine interesselose, objektive Fixierung.
Keineswegs findet sich in Laszlo Moholy-Nagys Diktum aus den 1930er Jahren,
Fotografie sei „die objektive sehform unserer zeit“,[17]
die Bestätigung dafür, dass diesem Medium dank seiner technischen Basis
jede individuelle Interpretation oder konventionell beeinflusste Determination
fremd sei. Relativ neutral darstellend war die Fotografie dann, wenn man,
wie es Moholy-Nagy meinte, das Motiv objektiv, pointiert sachlich auffassen
konnte – was bei der Produktfotografie des Bauhauses eher einfach, bei
einer im Stadtgrund eingewachsenen Kirche kaum denkbar scheint.
Doch selbst das auf dem leeren Tisch ideal ausgeleuchtete Designprodukt,
das vor allem seit 1929 unter Moholy-Nagy, Walter Peterhans und anderen
Bauhausfotografen wegweisend sachlich abgebildet wurde, erfuhr eine semantische
Deformation seiner eigentlichen Erscheinung: das von seinem Herstellungs-
oder Funktionskontext getrennte Produkt wird durch die Fotografie zwar
tatsächlich ‚objektiviert‘ – und diesbezüglich stimmt das
Zitat in gewisser Weise. Es verliert aber aufgrund gerade dieser isolierenden
Darstellung den Bezug zu seiner eigentlichen Funktion zugunsten einer
bildhaft skulpturalen Verdinglichung. Das Objektfoto als Kommunikationsmittel
zur Publikation vorhandener Gattungsware, zum Beispiel einer Teekanne,
ist aber insofern problemlos zu handhaben, da es von den faktischen Bedingungen
der Produkte selbst gut zu trennen ist und die abfotografierte Kanne nicht
individuell dokumentieren sondern lediglich als existent darstellen soll.
Der Architekturfotograf, zumal jener im städtisch umbauten Kontext arbeitende,
wird nicht mit dem Problem der Isolierung seines Motivs zu kämpfen haben,
da dies ohne künstliche Freistellung schlichtweg nicht möglich ist. Vielmehr
steht er unter dem Druck anderer Dimensionen bzw. Systeme, die sich in
die visuelle Wahrnehmung der jeweiligen Architektur einmischen. Ein historisches
Gebäude wie Nôtre Dame ist sowohl Kirche als auch kulturpolitisches Denkmal,
desgleichen wirkt es als städtebaulicher Orientierungspunkt der Pariser
wie als globales touristisches Ziel, von seiner kunsthistorischen Bedeutung
als Leitbau der französischen Kathedralgotik ganz zu schweigen. Welchen
Aspekt nun dokumentiert ein Bild, das vielleicht sogar ausschließlich
nur das Materielle des Gebäudes ohne Stadtraum und Menschen zeigt? Kann
es gelingen, beispielsweise eine Ansicht der Türme in ihrer Aussage auf
das architektonische Entwurfskonzept und die materielle Umsetzung zu beschränken?
Lassen sich Implikationen wie Historizität, bauhistorische Assoziationen
oder im Gedächtnis gespeicherte Bilder zur berühmten Geschichte des Glöckners
ausschließen? Und eine weitere, gleichsam defätistische Frage sei angeschlossen:
Steht es überhaupt im Interesse der Verbildlichung gerade der Türme von
Nôtre Dame, sich so aseptisch wie möglich zu verhalten?
Wer mag denn behaupten, dass sich die Intention des königlichen Auftraggebers
allein auf die Versorgung der Glocken und die Höhenentwicklung des Gotteshauses
beschränkte. Im Gegenteil erscheint es realistisch, dass gerade die Kontamination
mit ‚Bedeutungen‘ angezielt war – die höchsten Türme
des Landes sollen den gemeinsamen Ort des religiösen Zentrums und der
herrschaftlichen Residenz signalisieren, wobei die besten Steinmetze die
angemessene Form dafür zu finden hatten. Weiterhin erscheint es problematisch,
sich bei skulpturengeschmückten Fassaden für einen Augenpunkt zu entscheiden.
Eine wissenschaftlich-restauratorische Bauaufnahme wird einen horizontalen
Blickwinkel vom Gerüst oder Kran aus vorziehen, um sich damit möglichst
physikalisch objektiv und entsprechend der statisch notwendigen Horizontalität
der Architektur zu verhalten.
Dass eine solche künstliche Perspektive, die Architekten und Handwerker
ursprünglich allein auf dem Boden der Bauhütte oder im Gerüst während
der Bauzeit einnehmen konnten, der konkreten Grundidee der Architektur
nahe kommt, wäre durchaus nicht automatisch anzunehmen, plante man die
Fassade doch nicht nur als konstruktiven Abschluss eines Gebäudes, sondern
– wie gerade angesprochen – auch als visuelle, atmosphärische und symbolische
Wirkfläche. Um dies aber zu gewährleisten, orientierten sich Architektur
und Dekoration am Betrachterstandpunkt, der in Bezug auf ein Turmgeschoss
tief unten und bei innerstädtischen Kathedralen auch oft sehr dicht vor
dem Bauwerk positioniert war. Ergo wurden Gesimse stark aus der Wand gezogen,
um die Höhenstaffelung zu dramatisieren, skulptierte man Figuren sotto
in sù, um sie dennoch erkennbar zu machen. Eine dokumentierend fotografische
Annäherung an die konkrete Idee des Architektonischen wäre somit vor die
unlösbare Aufgabe gestellt, gleichzeitig den Standpunkt des Erbauers und
den des Rezipienten einzunehmen.[18]
Und wie geht man um mit dem Metaphysischen, jenem dem Gesamtkonzept von
Anfang an immanenten ‚Überwirklichen‘, wie es Hans Sedlmayr in seiner
epochalen Untersuchung Die Entstehung der Kathedrale einst formulierte?[19]
Offensichtlich muss sich der Fotograf nun auch noch auf den Nachempfindungshorizont
des Betrachters einstellen, der sich gegenüber dem mittelalterlichen Menschen
jedoch längst in einer ebenso säkularen, wie rational aufgeklärten und
ohnehin nicht mehr feudalen Welt konditioniert hat.
All dies ist in seiner Gesamtheit verständlicherweise nicht zu erfassen
und zu leisten. Eine fotohistorische Analyse würde außerdem bestätigen,
dass sich das Bewusstsein für die Existenz jener Vielzahl unterschiedlichster
Wirkungsebenen von Architektur ohnehin erst im Verlauf der letzten Jahrzehnte
ausprägen konnte. Darüber hinaus wäre festzustellen, dass diese, in einem
Zeitraum vieler Jahrzehnte entstandenen Produkte einer im weiteren Sinne
dokumentarisch arbeitenden Fotografie jeweils in ihrem eigenen historischen
Umfeld zu betrachten sind. Ein Vergleich zwischen der Intention der selektiv
nach einer nationalen Kulturform suchenden französischen Fotografen der
Mission im 19. Jahrhundert und der isolierend ‚versachlichenden‘
Zugangsweise modernistischer Strategien, wie sie beispielsweise von Moholy-Nagy
oder den sozialkritisch motivierten realistischen Stadtfotografen der
1960er und 70er Jahre verfolgt wurden,[20]
bestätigt diese Notwendigkeit.
Als unverzichtbar für eine objektanalytische und möglichst sachbezogen
vorgehende Dokumentierung, die sich bewusst auf die Ermittlung und Darstellung
des architektonischen Konzepts konzentriert, erweist sich darüber hinaus
eine möglichst unmittelbare Kommunizierung des Inhalts, das heißt eine
optimierte Zugänglichkeit des fotografierten Sujets. Im Zusammenhang mit
den Arbeiten August Sanders findet sich der tragfähige Begriff der „clarté“
in der Bedeutung von Klarheit, Schärfe, Exaktheit, Erkennbarkeit beziehungsweise
Lesbarkeit des Bildes,[21]
eine Klarheit, die jene Fotografengeneration im Rahmen ihres Mediums über
die reine Darstellung der sichtbaren Erscheinungsform hinaus anstrebte,
um einen neuen objektiv analytischen wie ästhetisch sensiblen Wahrnehmungsmodus
zu erzeugen. Ziel war, damit auf die ‚wahren‘ Qualitäten des Bildobjekts
hinzulenken. In unserem Sinne also eher keine reine Dokumentation, sondern
vielmehr die ausgesprochen interessante Art eines interpretierenden Verismus,
bei dem der Fotograf zum ‚Sprachrohr‘ der Wirklichkeit wurde.[22]
Idealbild
Die fachspezifisch dokumentierende Architekturfotografie ergänzt das
notwendige Spektrum der bildgestützten Architekturkommunikation. Eine
auf der Baustelle eingesetzte Bilddokumentation speichert den Zustand
des Bauvorgangs zu jeder Zeit und an jedem Ort und dient damit ebenso
als Beurteilungsgrundlage für die Planung wie als Beweismedium bei Rechtsstreitigkeiten.
Diese gleichsam technische Ab-Bildung begleitet die Produktion und ist
ohne das Gebäude selbst kaum von Bedeutung. Die Virulenz der Fotografie
an sich lässt sich allerdings schon weit vor dem eigentlichen Arbeiten
feststellen. Gemeint ist die Verwendung von ‚Bildern‘ der architekturhistorisch
und aktuell omnipräsenten richtungweisenden Bauten, Ikonen oder Archetypen,
mit denen sich der Architekt eine Vorbildsammlung für seine Entwurfstätigkeit
anlegt, beziehungsweise aus einem unbewusst geführten Gedächtnis-Archiv
memoriert, das ihm über das Studium und eigene Vorlieben ankonditioniert
wurde.[23]
Wenn sich also anhand der Präsentationsaufnahme eines Einfamilienhauses
Stilfacetten beispielsweise der berühmten Villa Savoye von Le Corbusier
vermitteln,[24]
so müsste – im Bezug auf unsere Fragestellung – differenziert werden,
ob diese Verwandtschaft Teil des Entwurfs war und deshalb aus unterschiedlichen
Perspektiven als solche wahrnehmbar ist, ob sie sich im Bild durch Zufall
ohne Absicht des Architekten ergibt, oder ob der Architekt es darauf anlegte,
die visuelle Interessantheit seiner gar nicht dem Le Corbusier’schen Haus
entsprechende Konzeption durch ein Anfertigung einer Außenaufnahme zu
erzeugen, die einem allseits bekannten Bild der Villa Savoye entspricht.[25]
Womit eine wichtige, wenn nicht die langfristig wirkungsvollste Aufgabe
im Kontext der Dokumentation des Bauprozesses angesprochen ist: die Anfertigung
von Außen- und Innenansichten des Bauwerks nach dessen Fertigstellung.
In diesen Aufnahmen kulminiert der Entstehungsverlauf der Architektur,
sie stellen in ihrer Übereinstimmung mit den Präsentationszeichnungen
oder -animationen die Leistung und Verlässlichkeit des Architekten unter
Beweis. Wichtiger aber ist, dass sie sich um eine Optimierung der Erscheinungsform
bemühen. Der professionelle Architekturfotograf wird hierzu beauftragt,
denn sein Können geht über die ‚Ablichtung‘ hinaus. Angestrebt wird
ein ‚Idealbild‘, welches vor den Zeiten der Computeranimation –
ihre Renderings sind allerdings noch nicht wirklich vergleichbar –
kein anderes Medium als die Fotografie zu leisten im Stande war, keine
Zeichnung, kein Aquarell und keine Farblithographie. Der Architekturfotograf
kümmert sich um Dreierlei: er reist zumeist vor Inbetriebnahme an, um
einen noch ‚reinen‘, von den Accessoires der Nutzung unverstellten
Bau vor sich zu haben, er leuchtet so aus, dass sich Räume und Raumbezüge
unabhängig von tatsächlichen Lichtverhältnissen perfekt abbilden, und
er nimmt Einfluss auf die ‚vitalen‘ Aspekte des Ortes, was heißt,
dass er sich entweder einen menschenleeren Gebäudezustand zur Verfügung
stellen lässt, oder dass er eine Nutzung inszenierend andeutet.[26]
Aus der Perspektive des Fachmanns entsteht hierbei eine sehr ambivalente
Verpflichtung auf eine „sachgemäße“ Aufnahme.[27]
Doch was ist ‚sachgemäß‘? Wer die Fotografiegeschichte Revue passieren
lässt und in der Evolution dieses Mediums nach einem Zustand sucht, auf
dem man die Formulierung eines Reglements oder eines Berufsethos gründen
könnte, der wird nicht fündig werden. Dies scheitert bereits an grundsätzlichen
Fragen wie beispielsweise der maßgeblichen Überlegung, ob eine ‚ehrliche‘
Aufnahme eine ‚sachgerechte‘ ist. Unter rein technischen Aspekten
nun wäre es diesbezüglich absolut legitim, durch Variieren des Standpunktes
oder des Winkels merklich unterschiedliche Darstellungsversionen zu erzeugen.
Hinsichtlich der medialen Funktion als Kommunikationsmittel ergeben sich
allerdings schnell Grenzen: hier unterliegt die Fotografie der Forderung
nach Visualisierungen, die einen sinnvollen Diskurs ermöglichen. So objektiv
der Begriff des Sinnes aber verstanden werden kann, in unserem Fall dominiert
die Zielvorgabe des beauftragenden Architekten oder Bauherren zu einer
in seinem Interesse ‚optimalen‘ Darstellung, wodurch sich
der Radius auf das eng begrenzte Feld der ‚Werbeaufnahme‘ verringert.
Die Bedeutung, die eine solcherart ästhetisierende Dokumentation für die
Vermittlung des Neubaus einnimmt, ist nicht zu gering einzuschätzen. Allein
ihre Dominanz in den Fachmedien verschafft dem idealisierten Architekturbild
eine Deutungshoheit, welche die Apperzeption des Gebäudes und der Leistungen
des Architekturbüros nachhaltig und international prägt. Jenes Bildmaterial
fundiert gemeinhin das Urteil eines Fachmanns über die Qualität der vorgestellten
Objekte, die er vermutlich nie aufsuchen wird. Es kommt damit weder zu
einem Nachvollzug der im Bild vermuteten räumlichen und atmosphärischen
Bedingungen, noch zu einer persönlichen Verifizierung des angebotenen
visuellen Wirklichkeitsbelegs.
Rolf Sachsse findet es diesbezüglich keineswegs erstaunlich, dass
„[...]
die Botschaften architektonischer Literatur nicht durch Texte, sondern
über Bilder vermittelt“
werden, sind „diese doch nicht nur die schneller lesbaren Transporteure
von Inhalten, sondern auch die letzten Träger komplexer Semantiken nach
dem Verlust sprachlicher Repräsentativität.“[28]
Auf
was genau aber zielt nun Sachsses ‚bildliche Vermittlung‘? Nach
den virtuell generierenden computergestützten Planzeichnungen, in denen
sich das Gebäude absolut komplett – bis hin zur Materialität und
Funktion (z. B. Fließrichtung der Rohrleitungen) – in geometrischer
und schriftlicher Form abbildet, ist es nach Fertigstellung auch räumlich
und physikalisch vorhanden. Deshalb bedarf es eigentlich keiner weiteren
Verbildlichung, da ohnehin keine einzige mediale Technik eine der Realität
adäquate Wiedergabe, also eine Duplikation leisten kann. Zu einem kleinen
Teil aber ist Architektur mit einem besonderen Anspruch verbunden, wie
beispielsweise der Rechtfertigung öffentlicher Baugelder oder einem ambitionierten
Büromarketing. Architekten und Bauherren interessiert dann vorrangig zweierlei:
Das Bild vom neuen Haus verkündet dessen Existenz und multipliziert sein
Bild für eine über den Standort selbst hinausgehende Wahrnehmung. Weitergehend
jedoch ist ihr Anliegen, das Gebäude, präziser formuliert eigentlich seine
‚Architektur‘, hervorzuheben. Insofern unterscheidet sich das inszenatorische
Moment von der ureigenen Aufgabe des Architekturbildes, das Gebaute, Projektierte
oder nur als ‚Invention‘ Vorhandene suggestiv darzustellen.[29]
Damit geht es vor allem dem Architekten weniger um die Dokumentation des
Realisierten als um die Präsenz seiner architektonischen Idealidee, dessen,
was sich letztlich in seiner liebsten Planversion befand, und das in Teilen
eventuell den üblichen Kompromissen zum Opfer fiel. Einerseits kann er
mittels des Fotografen nun die Rezeption seines Entwurfs steuern und durch
ausgewählte Perspektiven und Ausleuchtungen in Richtung seines ‚Ideal-Bildes‘
modifizieren. Andererseits erlauben die Wahl des Ausschnitts sowie weitere
fotografische Techniken die Herstellung einer pointiert ästhetischen Erscheinungsform.
Sie mag exogener Herkunft sein und durch den Fotografen erzeugt, oder
wurde dank einer ausgewählten Ansicht zu einem „typischen“
Gesamtausdruck geführt.[30]
Wenn es bei Gernot Böhme heißt: „Das Foto zeigt die Realität
von etwas unter Einschränkung seiner Möglichkeiten und Steigerung seiner
Wirklichkeit.“[31],
dann trifft es eben jenen utilitaristischen Aspekt. Der Architekt als
Schöpfer der Idealversion und Erbauer der Realversion konzipiert sich
auf dem Wege der Fotografie eine passende Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit
wird dem Gebäude dann durch das ‚Bild von ihm‘ tatsächlich zugeordnet,
da es für die Mehrzahl seiner Rezipienten ausschließlich medial präsent
ist, und sich die fotografische Verbildlichung hierbei zumeist unkommentiert
im kollektiven Gedächtnis einschreibt. Im Rahmen seiner Untersuchung zu
Repräsentationsmodellen bestätigt dies auch Ralf Christophori, der von
einer Gleichsetzung der „Wirklichkeit des fotografischen Bildes“
spricht: „[...] als ein Substitut, als eine Art ‚Ersatzwirklichkeit‘,
die neben oder gar vor die Erfahrung der tatsächlichen Wirklichkeit tritt.“[32]
Selbstverständlich ist es des Weiteren als Interesse des Architekten anzunehmen,
dass sein Entwurf – unterzieht er sich denn schon der Mühe, ihn
zu publizieren – in der populären Wahrnehmung für ‚schön‘
gehalten wird. Als ein solch ‚schönes Gebäude‘ mag in der laienhaften
Öffentlichkeit sicher jenes bezeichnet werden, das hinsichtlich der oberflächlich
erfahrbaren Funktionsleistung den allgemeinen Maßstäben entspricht, sich
harmonisch in das Umfeld einfügt und zudem in Großform und Materialwirkung
attraktiv erscheint. Wichtiger als die Überprüfung des Einsatzes herausragender
Detaillösungen oder innovativer Technik ist das Erfüllen und Bestätigen
allgemeiner Seherwartungen und damit die Orientierung an vorbildhaften
Images. Die ‚schöne‘ Erscheinung aber ist nicht gleichzeitig auch
an gute Architektur gebunden, was allein schon anhand des Umstandes sichtbar
wird, dass jenes Prädikat bereits seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
als fachspezifische Qualifikation respektive als absolut verstandene ästhetische
Kategorie keine Verwendung mehr findet.
Wenn wir nun einräumen, dass sich in die Entwurfsarbeit der Architekten
– neben ihrer für jedes Projekt spezifischen Detailplanung –
zum Teil bewusst, vor allem aber unwillkürlich ‚Bilder‘ aus dem
Vorbildkanon einfügen und sich mit dem angestrebten Idealkonzept amalgamieren,
so erhält diese eben charakterisierte Problematik der Wirklichkeit eine
weitere kritische Dimension. Vernachlässigen wir das naheliegende Verständnis
von Konkretisierung im Sinne der Erzeugung einer materiellen Präsenz und
deuten das ‚Sich-Konkretisieren‘ von Architektur als ‚Bild
werden‘ – für den Architekten während des Entwurfsprozesses
ebenso wie für den Konsumenten einer bebilderten Publikation –,
dann entsteht die Frage nach der Authentizität der architektonischen Uridee
eines jeden Entwurfs. Gleichsam aufgedeckt durch die Problematik der medialen
Wirklichkeit wird sichtbar, dass es sich bei dem ‚Bild‘ von
einem Haus nicht nur um die physikalische Ablichtung handelt, von der
ein Laie allerdings ausgeht, sondern auch um die Generierung einer optimierten
Ansicht.[33]
Um für sich selbst oder innerhalb des Fachdiskurses eine Bestätigung der
Entwurfsqualität zu erzielen, strebt der Architekt danach, eine ‚Bildwirklichkeit‘
zu erzeugen, die sich in größtmöglicher Übereinstimmung mit dem Kanon
befindet.
Angesichts der Tatsache, dass sich vor allem bei Wettbewerben ein wesentlicher
Anteil der frühen Entwurfsphase auf eine attraktive Außenansicht konzentriert
– für die man erst nach Auftragserteilung eine Baubarkeit erarbeitet
–, kommt dem ‚Bild-Denken‘ des Entwerfenden de facto eine
größere Relevanz zu als der Sachkenntnis des Fassadenbauers, der dagegen
ausnahmslos konstruktiv vorgeht. Der ästhetisch konzipierende Entwerfer
aber unterliegt, wie eben dargestellt, einem dialektischen Prozess der
unbewussten oder willentlich herbeigeführten Einmischung als gut anerkannter
Vor-Bilder. Hierin begründen sich einige für die Architektur gültigen
Phänomene, so die Ausprägung und Konservierung bestimmter ‚Klassizismen‘
vor allem bei herrschafts- und staatstragenden Bauvorhaben oder auch die
formtypische Ausformung von Moden und Strömungen, wobei hier dann die
Halbwertszeit der Referenzbauten vergleichsweise kurz anzusetzen ist.
Aufgrund der gestalterischen Bandbreite zugänglicher Vor-Bilder, die wir
der schnellen und globalen Informationsabdeckung verdanken, lässt sich
heute aber eine formale Homogenisierung der Spitzenarchitektur vermeiden,
wie sie noch zu Zeiten des beginnenden 20. Jahrhunderts durch akademische
Musterlehre und Stildoktrinen vorherrschte.
In Rückwendung auf die hier maßgebliche Frage danach, wann denn eigentlich
welche Art der Konkretheit eintritt, ließe sich bezüglich der Konkretisierung
der ‚architektonischen Idee‘ Unsicherheit anmelden. Wird eine solche
konkret, wenn sich eine grundsätzliche Erwartung aus dem Planverfahren
erfüllt? Der Plan selbst ist abstrakt, beinhaltet jedoch bereits das Gebäude
in seiner Ganzheit. Schicksalhaft für die meisten der größeren Bauvorhaben
ist allerdings der Widerspruch zwischen professionellen architektonischen
Ambitionen und Bauwirklichkeit – Bauherren, Behörden, Baunormen
oder Banken. Irgendwann im Verlauf des Entwurfsprozesses stellt sich eine
Vorstellung von einer optimalen Gestalt ein, die dem Architekten ‚vor
Augen schwebt‘. Es handelt sich demnach in Vorwegnahme einer späteren
Begegnung mit dem sichtbaren, manifesten Gebäude um eine ‚Ansicht‘
und nicht um eine virtuelle räumliche oder haptische Begehung. Diese Gestalt
aber ist, da nicht originär aus den Bedingungen des Baues gewonnen, nur
schwer zu realisieren. Sie ist ja Resultat einer Kombination: einerseits
die imaginierte Ansicht, die sich auf bis dato noch unvollständige Baupläne
stützt beziehungsweise der diese Baupläne in ihrer Ausarbeitung erst nachfolgen
müssen, und andererseits jene oben erwähnten Vor-Bilder, die selbst bekanntermaßen
oft nur zweidimensionale Ausschnittsansichten darstellen. Vermutlich also
wird die Erfahrung des realisierten Gebäudes von den Architekten selbst
selten als die Idealprojektion treffend erlebt werden. Eine Konkretisierung
der architektonischen Idee wäre damit nicht erreicht, die des Bauplanes
zumeist schon.
Typisch für diese Disparität zwischen Anspruch und Baurealität ist der
Umgang der großen deutschen Architekturbüros mit ihren umfangreichen Bauvorhaben
in China. Fotobeiträge oder Ausstellungen, in denen sich die faktischen
Gegebenheiten darstellen, wurden gerne vermieden, begründet damit, dass
die Resultate bedauerlicherweise nicht den Vorstellungen und dem Anspruch
des Büros entsprächen. Gleichzeitig aber erschienen die für den Markt
notwendigen Publikationen mit umfassenden Animationen, in denen sich keinerlei
Zweifel an der kommenden Qualität manifestierte.[34]
Gelingt die Verbildlichung eines Gebäudes dagegen durch den Fotografen,
dann – so scheint es – erfüllt sich in der solcherart gewonnen
‚idealen‘ Ansicht der Traum des Architekten, denn erstens sieht
er in diesen Fotografien das wiedergegeben, was er immer sehen wollte
– unabhängig von der faktisch errichteten Version seines Plans.
Und zweitens wird genau diese Bildwirklichkeit für die öffentliche Bekanntmachung
des Gebäudes maßgeblich sein, denn aufgrund des am allgemeinen Wertkonsens
abgeprüften Bildes vermittelt sich der Eindruck von Qualität. Jeder Fachmann,
der es nicht selbst besichtigt, folgt – entsprechend dem Rezeptionsmodus
nach dem ‚Iconic Turn‘ – dieser durchaus autoritären medialen
Informationsquelle.
Resümee
Unter dem Eindruck der im Vorausgegangenen aufgeführten unterschiedlichen
Modi der fotografischen Verbildlichung von Architektur – sie sind hier
aus Platzgründen in ihrer Varianz nicht komplett behandelt – stellt sich
die Reflexion darüber, ob sich eine architektonische Idee im Bild konkretisieren
kann, keineswegs als unproblematisch heraus. Allein schon die systemische
Divergenz zwischen dem Begriff der Idee und der planerischen Komplexität,
die einem architektonischen Objekt üblicherweise zu eigen ist, muss dieses
Unterfangen automatisch als hoffnungslos erscheinen lassen. Einem Gebäude
in der Vielfalt seiner Formen, Materialien und Binnenfunktionen kann im
architektonischen Sinne selbst die genialste Idee seines Schöpfers nicht
gerecht werden. Wie sollte dies dann erst im Bild gelingen? Hinzu kommt
die Einsicht, dass eine maßgebliche Korrelation zwischen Architektur und
ihrer Verbildlichung existiert – insofern läge Susan Sontag mit ihrem
Diktum falsch: „Das Fotografieren ist seinem Wesen nach ein Akt
der Nicht-Einmischung“,[35]
zumal sich die Veranlassung einer fotografischen Verbildlichung sowie
ihre Nutzung durchaus als fotografieimmanente Qualitäten begreifen lassen.
In der Tat ist es nicht einfach, das Kommunikationspotential der Fotografie
zu ergründen, zumal unter der Aufgabenstellung, im Bildmaterial fundamentale
Aussagen über die Bedingungen seines Sujets zu identifizieren. Letztendlich
hätte jeder selbstverständlich Recht, der darauf beharrte, das ‚Bild‘
sei und bleibe doch immer nur ein Referent und könne demzufolge sein eigenes
Objekt – das Architektonische – keinesfalls konkretisieren.
Belassen wir es abschließend salomonisch bei Karl Paweks hilfreicher Definition
von Fotografie als „besondere Intellektualität, die in der Begegnung
mit dem Konkreten von der Besonderheit des Wirklichen Besitz ergreift.“[36]
Literatur:
Barthes, Roland:
Mythologies (1957), Paris 1970.
Ders.: Das Reich der
Zeichen (1970), Frankfurt/M. 1981.
Ders.: Der
entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt/M. 1990.
Ders.: Mythen des
Alltags, Frankfurt/M. 1964.
Baudin,
Antoine (Hg.): Photography, Modern Architecture and Design. The Alberto
Sartoris Collection. Objects from the Vitra Design Museum, Lausanne
2005.
Boehm, Gottfried: Wie
Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007.
Böhme, Gernot:
Theorie des Bildes, München 1999.
Breuer, Gerda (Hg.):
Außenhaut und Innenraum. Mutmaßungen zu einem gestörten Verhältnis zwischen
Photographie und Architektur, Frankfurt/M. 1997.
Christofori, Ralf:
Bild – Modell – Wirklichkeit. Repräsentationsmodelle in der zeitgenössischen
Fotografie, Heidelberg 2005.
De Mondenard,
Anne; Hermange, Emmanuel: La mission héliographique. Cinq photographes
parcourent la France en 1851, Paris 2002.
Deutsch-Chinesische Projekte.
Architektur.
Landschaftsarchitektur,
Einleitung von Jürgen Frauenfeld, Wiesbaden 2005.
Fiedler, Jeannine (Hg.):
Fotografie am Bauhaus, Katalogbuch Bauhaus-Archiv Berlin, Berlin
1990.
Geiger, Annette;
Hennecke, Stefanie; Kempf, Christin (Hg.): Imaginäre Architekturen. Raum
und Stadt als Vorstellung, Berlin 2005.
Huber, Hans Dieter:
Bild Beobachter Milieu, hg. von der Staatlichen Akademie der Bildenden
Künste Stuttgart, Ostfildern-Ruit 2004.
Jäger, Frank Peter
(Hg.): Offensive Architektur. Präsentation, Public Relations und
Marketing für Architekten, Berlin 2005.
Kant, Immanuel:
Critik der reinen Vernunft, 2. hin und wieder verb. Auflage, Riga 1787.
Krauss, Rosalind: Das
Photographische. Eine Theorie der Abstände, München 1998.
Lange, Susanne:
Industrielandschaften, München 2002.
Lugon, Olivier: Le
style documentaire.
D’August
Sander à Walker Evans, 1920-1945,
Paris 2001.
Maar,
Christa; Burda, Hubert (Hg.): Iconic Turn.
Die neue Macht der
Bilder, Köln
2004.
Nietzsche, Friedrich:
Unzeitgemäße Betrachtungen (Werke Band 2), Stuttgart 1921.
Pawek, Karl: Das
optische Zeitalter, Olten 1963.
Perspektive
Dokumentarfotografie,
Publikation des gleichnamigen Symposiums am Museum für Angewandte Kunst
Köln, Redaktion Kristina Hasenpflug, Ludwigsburg 2003.
Robinson,
Cervin; Herschman, Joel: Architecture Transformed. A History of the
Photography of Buildings from 1839 to the Present, Cambridge Mass. 1987.
Sachsse, Rolf: Bild
und Bau. Zur Nutzung technischer Medien beim Entwerfen von Architektur,
Braunschweig 1997.
August Sander – „In der
Photographie gibt es keine ungeklärten Schatten“,
Katalogbuch August Sander Archiv, zusammengestellt von Gerd Sander, Berlin
1994.
Sedlmayr, Hans: Die
Entstehung der Kathedrale, vermehrter Nachdruck, Graz 1988.
Sontag, Susan: Über
Fotografie (1977), Frankfurt/M. 1980.
Stiegler, Bernd:
Theoriegeschichte der Photographie, München 2006.
Urry, John: The
Tourist Gaze, Nachdruck der 2. Aufl., London 2005.
v. Amelunxen, Hubertus
(Hg.): Theorie der Fotografie IV 1980-1995, München 2000.
Vetter, Andreas K.:
Leere Welt. Über das Verschwinden des Menschen aus der
Architekturfotografie, Heidelberg 2005.
Anmerkungen:
[1]
Gottfried Boehm: Jenseits der Sprache? Anmerkungen zur Logik der
Bilder, in: Maar, Burda 2004, S. 28-43.
[2]
Nach
Hans Dieter Huber changiert die bildliche Darstellung im Dualismus
von „Selbstreferenz und Weltreferenz“: der Betrachter kann
einerseits eine Selbstbezüglichkeit feststellen, andererseits aber
auch eine „Entwertung“ der Autonomie des Bildes dadurch vornehmen,
dass er es lediglich als Repräsentant auffasst. Huber 2004, S. 66.
[3]
Zur
vielseitigen Diskussion der Probleme der Wirklichkeitswiedergabe
durch die Dokumentaraufnahme vgl.: Rolf Sachsse: Copy & Paste.
Das Dokument als Halbzeug in der Fotografie, in: Perspektive
Dokumentarfotografie 2003, S. 44-53.
[4]
Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außerordentlichen
Sinn (1873), in: Ders. 1921, S. 5.
[5]
Zu den
Bedingungen der Selektivität sowie der medialen Reflexivität vgl.
Michael Schumacher: Architektur/Portrait. Soziologische
Annäherungen an Photoarbeiten von Axel Hütte und Thomas Ruff,
in: Breuer 1997, S. 73-91, hier S. 75.
[6]
Sontag
1980, S. 28. Weiter unten heißt es dann aber: „Die letzte
Weisheit des fotografischen Bildes lautete: Hier ist die Oberfläche.
Nun denk darüber nach – oder besser: erfühle, erkenne intuitiv –,
was darunter ist, wie eine Realität beschaffen sein muß, die so
aussieht.“ Fotos, die von sich aus nichts erklären, fordern
unwiderstehlich zu Deduktion, Spekulation und Phantastereien auf.
[7]
„Kant hat den Umkreis dessen, was man einem Begriff anschaulich
hinzugesellen kann, die ihm eingeschriebene Vorstellung oder das Schema
genannt. Zwischen das Auge und die Sache schaltet sich mithin ein
unsichtbares Schemabild ein, das dafür sorgt, daß wir eine anschauliche
Evidenz gewinnen können. Es regelt alle möglichen anschaulichen Zugangsweisen,
mittels deren wir einsehen können, was etwas ist. Man kann dieses
vermittelnde Schemabild die anthropologische Grundlage dafür nennen,
daß wir blickend überhaupt zur Sache kommen. Es verschafft uns begrifflichen
Aufschluß. Seine Rolle ist, Sichten und Bilder zu ermöglichen, ohne
selbst schon ein fertiges Bild zu sein.“
– Boehm 2007, S. 102f. Kant zum ‚Schema‘
in: Ders. 1787, Zweites Buch, S. 135ff.
[8]
‚Transformation‘
im Sinne von Übersetzung, Umwandlung hat sich auch für die
Architekturfotografie etabliert. Siehe z. B.: Robinson, Herschman
1987.
[9]
Vermutlich arabisches Sprichwort, zit. von Albert Renger-Patzsch in:
Ders.: Versuch einer Einordnung der Fotografie, Vortrag, 27.
Januar 1956, Studium Generale, Universität Freiburg, publ. in:
Schrift 6, Folkwangschule für Gestaltung, Oktober 1956, ohne
Seitenangabe.
[10]
Anlass
für diese Überlegung bieten die digital bearbeiteten
Architekturfotografien der letzten Jahre, so z. B. Lukas Roth, o.T.
(Ludwigstraße München), 2002, publ. in: Vetter 2005, S. 128. Oder:
Michael Reisch, Serie ‚Haus‘,
2000.
[11]
Der
‚touristische Blick‘
als ein durch Normen und Institutionen beeinflusster wird
ausführlich dargestellt von: Urry 2005.
[12]
Hier
im Sinne Roland Barthes’ verstanden als ‚Zeichenträger‘.
Vgl.: Ders. 1981, S. 103.
[13]
Rosalind Krauss betont in diesem Zusammenhang das konzeptionelle
Zurücktreten des Bildautors, was zu einer gleichsam „natürlichen“
Verbildlichung beispielsweise der Stadtlandschaft führt. In: Dies.
1998, S. 48. Der Konsument kann sich diese ‚Ansicht‘
damit leichter zueigen machen und als Bild seiner eigenen
Seherfahrung annehmen.
[14]
‚Signifikant‘
und ‚Signifikat‘.
Barthes 1964, S. 90.
[15]
So
auch bemerkt von Heinz-Norbert Jocks, in: Ders.: Der Gebrauch der
Fotografie. Ein Versuch über die Fotologie, in: Kunstforum
international, Nr. 171, Juli/August 2004, S. 37-79.
[16]
Hierzu: De Mondenard, Hermange 2002. Von Edouard Baldus
beispielsweise existiert eine Fassadenaufnahme aus dem Jahr 1857.
[17]
Laszlo
Moholy-Nagy: fotografie. die objektive sehform unserer zeit,
in: Telehor, 1/2.1936, S. 120ff.
[18]
Ein
Beispiel mit vergleichbarer Problematik: Das Konzept des ‚Neuen
Sehens‘,
wie es vor allem Laszlo Moholy-Nagy am Bauhaus vertrat, versuchte,
auf dem Wege von Blickirritationen neue Wahrnehmungsmodi zu erschließen.
Sein Kollege Paul Klee äußerte zu einer jener Bildstrategien, die
eine in verkürzter Perspektive wiedergegebene senkrechte Hauswand
zeigte: „Dieses Bild ist also nicht logisch falsch, sondern
psychologisch falsch!“, womit er die Architekturfotografie
an sich zwar nicht in Frage stellte, sondern deren Kommunikationsweise;
Zitat Paul Klees in: Andreas Haus: Laszlo Moholy-Nagy, in:
Fiedler 1990, S. 9-12, hier S. 17.
[19]
Vgl.:
Sedlmayr 1988, S. 369.
[20]
Z. B.:
Chargesheimer und Wilhelm Schürmann.
[21]
Begriff verwendet von Lugon 2001, passim.
[22]
Vgl.
Sanders Arbeiten in: August Sander 1994.
[23]
Gernot
Weckherlin, der das ‚Architekturhandbuch‘
als maßgeblichen Literaturtyp im Sinne eines Leitfadens des
entwerfenden Architekten untersuchte, lässt die Fotografie
erstaunlicherweise vollkommen außer Acht. So in: Ders.: Die Angst
vor dem leeren Blatt: Architekturhandbücher als Medien im
künstlerischen Prozess, in: Geiger, Hennecke, Kempf 2005, S.
105-191.
[24]
Vgl.
Hertha Hurnau, Fotografie der Gartenansicht der Villa 13x13,
Freistadt, Oberösterreich, 2001, publ. in: Architektur,
Februar 2002.
[25]
Nicht
genug zu betonen ist in diesem Zusammenhang die Macht der
Publizisten und Kompilatoren. Für die Klassische Moderne sei
exemplarisch auf die umfangreichen Bildpublikationen von Alberto
Sartoris mit einer weltumspannenden Fotoserie von über 2000 Bildern
hingewiesen, die in der Rezeption durch Tausende kommender
Architekten damit für diese Vorbildcharakter erhielten. Vgl. dazu:
Baudin 2005. Über die durch Vorerfahrung und selektives Sehen
kontaminierte Wahrnehmung und deren Konsequenz schreibt Joan Ockman:
“The architect’s gaze too is a product of these discursive
formations as well as practices, conventions, and codes specific to
architecture as a discipline and profession.“
In:
Dies.: Bestride the World like a Collosus. The Architect as
Tourist, in: Dies., Frausto 2005, S. 158-185, hier S. 160.
[26]
Hierzu
ausführlich: Vetter 2005.
[27]
So
formuliert von Wilfried Dechau, in: Ders.: Architektur
zweidimensional, in: Jäger 2005, S. 108-117.
[28]
Siehe:
Sachsse 1997, S. 239.
[29]
Barthes wies bereits darauf hin, dass sich im Falle der Inszenierung
keine Unmittelbarkeitswirkung einstellt. So: Ders. 1970, S. 105-107.
[30]
So als
Vorgehensweise beschrieben bei Bernd und Hilla Becher im Gespräch
mit Susanne Lange, in: Dies. 2002, S. 11. Bewusst ist den Fotografen
allerdings, dass sie ihre Motive in Vorwegnahme des
Aufnahmeresultats präzise auswählen. Auf die Frage nach dem
Künstlerischen in ihrer Arbeit antwortete Bernd Becher: „Es ist
weniger der Blick als die Haltung und die Auswahl der Gegenstände.
Wir greifen uns stets solche Objekte heraus, die typisch sind für
unsere Art der Ansicht. Dadurch kommt eine wenn auch subjektive
Sicht auf die Zeit zustande. Die Betrachtung des Gegenstandes ist
hingegen absolut objektiv.“ Bernd Becher: Die Geburt des
Fotografischen Blicks aus dem Geist der Historie, Interview mit
Heinz-Nobert Jocks, in: Kunstforum international, Nr. 171,
Juli/August 2004, S. 159-175, hier S. 172f.
[31]
Gernot
Böhme: Ist ein Foto realistisch?, in: Ders.
1999, S. 111-127, hier S. 127.
[32]
Christofori 2005, S. 112. Bereits 1982 betonte Andreas Haus, dass
der „Begriff Wirklichkeit mehr besagt als den Realitätsgrad des
Abgebildeten.“ Es schlösse „die Wirklichkeit der Fotografie
eben auch ihre Praxis und ihren Gebrauch mit ein: sowohl den
allgemeinen [...] wie auch den persönlichen, individuellen,
subjektiven Gebrauch.“ Andreas Haus: Fotografie und
Wirklichkeit (Vortrag 1982), partiell publ. in: v. Amelunxen
2000, S. 89-93, hier S. 90.
[33]
Bezüglich des von Barthes beschriebenen „tautologischen
Verhältnisses“ zwischen der Fotografie und dem in ihr Abgebildeten
entsteht jedoch grundsätzlich ‚Sinn‘.
Vgl.: Roland Barthes: Die Rhetorik des Bildes, in: Ders.
1990, S. 28-46, hier S. 31.
[34]
Vgl.
Deutsch-Chinesische Projekte 2005.
[35]
Sontag
1978, S. 17. Die leicht polemische Verwendung des Zitats sei hier
gestattet. Eigentlich gründet sich die Oberflächlichkeit dieser
gleichwohl sehr apodiktisch auftretenden Aussage auf die wie nicht
eben selten willkürlich gesetzte Basis ihrer Betrachtung –
Hitchcocks Motiv des aufgrund seiner Behinderung zur Beobachtung
verdammten Fotografen im Film Ein Fenster zum Hof.
[36]
So der
Mitbegründer von magnum und Fotopublizist Karl Pawek, in:
Ders. 1963, S. 333. Vgl. hierzu: Stiegler 2006, S. 330.
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