Zum Wohnen im 21. Jahrhundert
15. Jg., Heft 1, April 2010

 

__Kai-Uwe Rohn
Braunschweig
  Neues Wohnen entwickeln

 

   

Ein Wohnprojekt für 400 bis 500 Menschen

Auf dem Rasen um eine große alte Rotbuche spielen Kinder, die Eltern stehen zusammen und unterhalten sich. Es ist der 1. Juli 2007. Die Stadt Braunschweig hat auf dem Gelände des alten Straßenbahndepots zu einer Informationsveranstaltung „St. Leonhards Garten“ eingeladen. Ein innerstädtisches Wohnprojekt, die städtebauliche Figur ist über Wettbewerbe bereits entworfen, stellt sich vor und skizziert den Weg für die nächsten Jahre. Viele Braunschweiger, aber auch viele Auswärtige sind heute gekommen, um sich über das Projekt „St. Leonhards Garten“ zu informieren. Die Stadt öffnet sich und stellt das Projekt bewusst vor Ort und nicht in einer Pressekonferenz im Rathaus vor. Einzelne Themen werden angesprochen: Mehrgenerationenwohnen, Baugruppen, Universal oder Urban Design, Partizipation.
Die drei jungen Familien unter der Rotbuche kennen sich und sind seit längerem auf der Suche nach einem Grundstück in der Stadt, auf dem sie ihre Vorstellungen verwirklichen können. Die Kinder beschließen, dass die Rotbuche in ihrem Garten stehen soll. Viele Fragen tauchen auf: „Wie groß sind die Grundstücke?“, „Was ist eine „Baugruppe?“, „Wie geht es weiter?“ Die Mitarbeiter aus der Projektgruppe erklären ihnen, was es mit dem Thema „Baugruppen“ auf sich hat und schildern den Stand der Planungen. Infowände geben Auskunft über die nächsten Schritte im Projekt.


Moderation und Koordination in einem städtischen Projekt

Ich bin 2007 von der Stadt angesprochen worden, als Koordinator und Moderator in diesem Wohn-Entwicklungsprozess tätig zu sein. Normalerweise begleite ich strategische Veränderungsprozesse in Unternehmen. Immer wieder hatte ich in der Vergangenheit mit Architekturprojekten zu tun. Meist gehörten architektonische Veränderungen zu den Entwicklungsprozessen, die ich in Unternehmen geleitet hatte – veränderte Organisation erfordert veränderte oder neue Räume.

Mich reizte die Kombination als Externer in einem städtischen Projektteam mitzuarbeiten. Um es vorwegzunehmen, die Zusammenarbeit war sehr förderlich. Die Stadt sorgte für eine solide Planung, fachliches Know-how und langfristige Prozesssicherheit. Ich brachte die externe Sicht und meine Erfahrung aus den Veränderungsprozessen in der Wirtschaft mit. Gemeinsam ließen wir uns auf dieses Experiment der Zusammenarbeit ein. Es wurde ein durchaus neuer Weg für ein zu entwickelndes Wohnprojekt in dieser Größenordnung beschritten, ein Weg, der als Experiment zu dem Bundesmodellprojekt „St. Leonhards Garten“ gehörte.

Zu meinen Aufgaben gehörte es, als externer Ansprechpartner zwischen Interessenten und dem Projektentwickler, in diesem Fall der Stadt Braunschweig, zur Verfügung zu stehen und zu vermitteln. Gemeinsam mit dem Projektteam koordinierte ich öffentliche Veranstaltungen und moderierte themenbezogene Workshops und Diskussionsrunden. Eine Hauptaufgabe bestand in der Entwicklung, z. B. der Unterstützung bei der Bildung von Baugruppen, und einer begleitenden Moderation im weiteren Planungsprozess. Ein Thema, für das es in Braunschweig bis dahin wenige Vorbilder gibt.


Wohnbauprojekt als Entwicklungsprozess

Etwa 75 Prozent aller Veränderungsprozesse in Unternehmen scheitern. Die Gründe sind vielschichtig: Führungskräfte agieren planlos, Mitarbeiter werden nicht informiert, es gibt kein Vertrauen untereinander, einen neuen Weg zu gehen, um nur einige zu nennen, so meine Erfahrungen aus der „freien Wirtschaft“.

Das Wohnbauprojekt „St. Leonhards Garten“ war und ist ein Entwicklungsprozess. Es galt, potenzielle Bauherren für das Vorhaben zu interessieren, eine bestimmte Zahl durch eine Kaufoption zu binden und schließlich zum Kauf eines Grundstücks zu bewegen.
Planung, Strategie und Kommunikation stellten entscheidende Faktoren in diesem Prozess dar. In vielen öffentlichen Formaten wie einem Symposium, Infoveranstaltungen, Workshops, Ausstellungen, Podiumsdiskussionen wurde immer wieder Wert darauf gelegt, zielgerichtet zu informieren und den Austausch zwischen Zielgruppen und Projekt zu sichern. In der Kommunikation wurde darauf geachtet, immer wieder die Partizipation der potenziellen Bauherren zu gewährleisten. Und zwar so, dass Meinungen, Einwände oder Anregungen in den weiteren Projektverlauf einfließen konnten. Dies authentisch in den Projektverlauf zu integrieren, ist sicherlich eine große Herausforderung, stärkt aber die Motivation und die Identifikation der Anspruchsgruppen.


Ansprechpartner personalisieren ein Projekt

Die Verknüpfung von Personen mit Projekten ist ein probates Mittel, um Kommunikation zu erleichtern. Ein Projekt, und gerade ein städtisches Projekt, tritt öffentlich in Erscheinung und wird durch entsprechende Personen verkörpert. Sowohl der Projektleiter aus dem Rathaus als auch ich wurden nach und nach feste Ansprechpartner für das Projekt. Auf diese Weise war eine geplante, eindeutige Kommunikation ausführbar.


Entwicklungs- und Planungsphase

Völlig neu an dem Braunschweiger Projekt „St. Leonhards Garten“ war die Tatsache, dass der Impuls als „Baugruppe“ in ein neues Wohngebiet zu ziehen, nicht von den Nutzern ausging. In den klassischen, bekannten Baugruppenprojekten ist zunächst eine Gruppe von Interessierten da, die sich bereits kennt und gemeinsam ein Wohnbauprojekt realisieren will.
Diese Nachfrage wurde in „St. Leonhards Garten“ erst über das Projekt erzeugt. Potenziellen Bauherren wurde das Prinzip der Realisierung von Wohnraum als Baugruppe in öffentlichen Veranstaltungen, Vorträgen, Diskussionen und Gesprächen nahe gebracht.

Die erste konzentrierte Ansprache zum Thema „Wohnen in Baugruppen“ fand über einen Vortrags- und Diskussionsabend statt. Zwei Referenten, Klaus Wehrle aus Gutach bei Freiburg und Christian Schöningh aus Berlin, berichteten in Impulsreferaten über ihre Erfahrungen in Projekten mit Baugruppen. Über hundert Interessierte verfolgten in der anschließenden Podiumsdiskussion diesen Abend und hörten teilweise zum ersten Mal etwas über die Vorzüge, das eigene Wohnprojekt nicht als Einzelner sondern als Baugruppe zu planen. Die Besucher des Abends konnten am Schluss der Veranstaltung an einer Pinnwand ihren ersten Steckbrief (Kontaktdaten / Interesse an Geschosswohnungsbau bzw. gereihten Stadthäusern) unter „Suche“ und „Biete“ hinterlassen. Nach einer Phase der Sensibilisierung für das Thema „Baugruppe“ musste die Anbahnung konkreter Baugruppen initiiert werden. Um mit anderen Personen, anderen Familien zusammen planen zu wollen, benötigt man Vertrauen, man muss sich austauschen können, man muss sich kennen lernen. Um dieses zu ermöglichen, richteten wir einen Stammtisch für Baugruppeninteressierte zum Projekt „St. Leonhards Garten“ in einem Restaurant unweit des Projektareals ein. Zu den Stammtischen, die immer in den Abendstunden stattfanden, kamen zwischen fünfzig und achtzig Personen. An den Stammtischabenden waren stets Teilnehmer aus dem Projektteam der Stadt sowie ich selbst vor Ort. Durch die bis dahin durchgeführten Abfragen hatte ich einen guten Überblick über die Interessen der Teilnehmer und konnte so bei der Bildung von Interessengruppen assistieren. Neu hinzu Kommende konnten gut zugeordnet werden. In den Gesprächen an vielen Tischen wurden Lebensbilder, Gedanken aber auch Wertvorstellungen ausgetauscht. Baugruppeninteressierte wechselten auch mehrfach die Gruppen, um schließlich bei einer zu bleiben, die ähnliche oder für diese Person interessante Vorstellungen hatte.


Gesonderte Moderation für einzelne Baugruppen

Den sich gebildeten Interessengruppen wurde von der Stadt eine individuelle Moderation angeboten, mit dem Ziel, innerhalb von drei Terminen die Planung bis zur Bewerbung um eine Grundstücksoption zu unterstützen. Die Baugruppen hatten die Möglichkeit, individuelle Moderatoren hinzuzuziehen und jeweils zwei „Pakete“ bestehend aus je drei Baugruppensitzungen als Serviceleistungen der Stadt in Anspruch zu nehmen, die aus Fördermitteln zum Experimentellen Wohnungs- und Städtebau (ExWoSt) finanziert wurden. Die individuellen Moderatoren wurden geschult und erhielten einen Zielkatalog an die Hand. Vielfach betätigte sich dann einer der beteiligten Architekten als Moderator innerhalb der Gruppe.

Ich selbst wurde von einer „besonderen“ Baugruppe gebeten, als Moderator tätig zu werden. Vier Paare, beruflich alle als Architekten tätig, suchten bewusst einen Nicht-Architekten, der sie unterstützen sollte, eine Baugruppe zu werden und als diese auch ein Projekt in „St. Leonhards Garten“ zu realisieren. Die Gruppe, ein Paar stieg aus, verkleinerte sich, und befindet sich jetzt in der Vorbereitung zum Baubeginn. Fokussierung auf die wichtigen Themen, Meinungs- und Entscheidungsbildung bildeten die Hauptaufgaben in dieser Moderation.

Der individuelle Baugruppenmoderator war in erster Linie der Baugruppe und ihrem Ziel, dem gemeinsamen Bauen, verpflichtet und sollte einen erfolgreichen Gruppenprozess gewährleisten; in zweiter Linie sollte er aber auch die planerischen Ziele, die mit „St. Leonhards Garten“ verknüpft sind (Mehrgenerationenwohnen, Spielregeln u. a.), in der Gruppe verankern. Im Abstand von zwei Monaten kamen die eingesetzten Moderatoren zu einem Erfahrungsaustausch unter meiner Leitung zusammen. Bei diesen Treffen wurden Probleme, die in den Baugruppen auftraten, besprochen und Lösungswege diskutiert und ausgetauscht. Ein wichtiges Thema war in diesen Gesprächen die Gestaltung von Verträgen innerhalb einer Baugruppe zwischen ihren Mitgliedern. Die einzelnen Moderatoren stellten immer wieder fest, dass sie einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit der Moderation der Baugruppenmitglieder untereinander widmeten.

Bei Themen, die mehrere Baugruppen betrafen, wie z. B. der Frage nach einer Einrichtung eines gemeinsames Wirtschaftsweges, moderierte ich zwischen den Beteiligten und versuchte Lösungen zu entwickeln, die von einem möglichst großen Kreis akzeptiert werden konnten.
Im Verlauf des Projektes entstand so etwas wie eine St. Leonhards Garten-Gemeinschaft. Die Mitglieder der Baugruppen lernten sich kennen, und über den internen Austausch entwickelten sich die Baugruppen zu spürbaren Einheiten. Jede Baugruppe musste einen Baugruppensprecher benennen, diese wiederum verabredeten sich in selbst organisierten Treffen mit den Sprechern der anderen Gruppen. Sowohl durch diese Form der Vernetzungen als auch durch den insgesamt partizipatorischen Ansatz des Planungsprozesses entstand bereits in dieser Planungsphase so etwas wie eine Gemeinschaft, eine Community. Diese Unterstützung wurde nicht von allen Baugruppen genutzt. Vielfach betätigte sich dann einer der beteiligten Architekten sowohl als Moderator als auch als Baugruppensprecher.


„Baugruppen“ – die zeitgenössischen Wohngemeinschaften

Viel Zeit wurde investiert von den Baugruppenmitgliedern. Es wurde gestritten und Konsens gesucht, es wurden Kompromisse gefunden. Öfter habe ich die Bemerkung gehört, „das ist ja wie früher in der Wohngemeinschaft“ – gemeint ist der Leidensweg durch endlose Diskussionen, immer mit der Hoffnung verbunden, eine neue, bessere Qualität im Zusammenleben zu finden. Nicht alle waren diesen Anstrengungen gewachsen und nicht alle waren für diese Form der Beteiligung geschaffen. Es sind immer wieder auch Interessierte aus dem Projekt ausgestiegen. Als Grund wurde häufig angegeben, dass der zeitlich erforderliche Aufwand nicht aufgebracht werden konnte.


Der Prozess setzt Impulse für das Quartier

Zweieinhalb Jahre sind vergangen seit die erste öffentliche Veranstaltung den Entwicklungsprozess für das neue Wohnquartier „St. Leonhards Garten“ eröffnete. In Gesprächen haben die zukünftigen Bewohner sich kennen gelernt, Sichtweisen ausgetauscht und teilweise neue Freundschaften geschlossen. Zukünftige Nachbarn kennen sich und engagieren sich bereits jetzt für die Qualität ihres Wohnumfeldes. Das Interesse an einer Gemeinschaftseinrichtung wird dokumentiert durch eine hohe Teilnehmerzahl der Baugruppensprecher an einem angebotenen Workshop. Besondere Beachtung findet bei den neuen Bewohnern die Beteiligung an der Gestaltung der städtischen Freiräume. Dies alles sind Indizien dafür, dass es bereits vor Baubeginn eine sehr hohe Identifikation der Bauherren mit ihrem Quartier gibt: Identifikation durch Partizipation.


Das Braunschweiger Modell – ein richtiger Weg?

Das Braunschweiger Modell erfordert einen hohen Zeit- und Kostenaufwand für eine Kommune, für alle Beteiligten. Wir haben uns im Projektteam die Frage gestellt, ist dieser Aufwand gerechtfertigt: Ich meine ja. Natürlich können Abläufe optimiert werden und Kosten eingespart werden, aber die bisherigen Ergebnisse geben uns Recht. Bei der Vergabe der Grundstücke haben sich die doppelte Anzahl an Interessenten beworben (es musste sogar eine notariell beaufsichtigte öffentliche Verlosung durchgeführt werden); die Grundstücksoptionen sind vergeben, die Entwürfe der einzelnen Häuser sind durch den Gestaltungsbeirat begutachtet und „St. Leonhards Garten“ ist bereits in den Sprachschatz der Braunschweiger Bürger aufgenommen worden.


Wohnungsbauprojekte der anderen Art – eine Notwendigkeit


Auf was gründet der Erfolg in „St. Leonhards Garten“ und was ist dabei modellhaft auch für andere Kommunen? Ich sehe hier wieder Parallelen zu meinen Projekten in der Wirtschaft. Auffällig ist das Phänomen der Partizipation. Ohne die Beteiligung der Mitarbeiter und Führungskräfte in ganzheitlichen Zusammenhängen ist eine Weiterentwicklung von Unternehmen kaum mehr möglich. Die Mitarbeiter wollen mitdenken und mitgenommen werden. Dies alles schafft ein neues gesellschaftliches Bewusstsein. Jeder sieht sich nicht mehr nur als Individuum, sondern eingewoben in eine soziale Struktur. Verantwortung wird auf dem beruflichen Sektor übernommen und als Muster auch auf den privaten Bereich übertragen. Die zukünftigen Bauherren wollen ihre eigenen Räume planen, aber auch Verantwortung übernehmen für die Gemeinschaft, die Nachbarschaft, für ihr Quartier.

Glücklicherweise konnte in diesem Projekt als Bundesmodellprojekt einmal anders gehandelt und experimentiert werden. In zukünftigen Wohnbauprojekten, auch ohne Unterstützung durch ein Bundesmodellprojekt, sollten Initiatoren vorab überlegen, ob sie einzelne Schwerpunkte mit in die Strategie des Gesamtablaufs aufnehmen sollten. „Partizipation“ nimmt da für mich eine Schlüsselrolle ein.

Ich freue mich schon auf meine ersten Spaziergänge durch das neue Quartier und vielleicht treffe ich ja auf eine kleine Kindergruppe, die unter der großen alten Rotbuche spielt, als wenn es diesen Ort schon immer gegeben hätte.



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