ARCHITEKTUR DENKEN
40 Jahre kritische Architekturtheorie – 40 Jahre Igma

13. Jg., Heft 2, März 2009

 

___Karin Wilhelm
Braunschweig / Berlin
  „Alles ist politisch“ – Zeitgeist und Architektur-Denken um 1968 [1]

 

    Über Architektur und deren Beziehungen zum Zeitgeist nachzudenken, kann zur Leichtfertigkeit verführen. Denn nicht zu Unrecht haben die Historiker Ernst Piper und Julius H. Schoeps im Vorwort zum 1998 erschienen Band „Bauen und Zeitgeist“ zu bedenken gegeben, dass wir den Zeitgeist als einen „unsteten Gesellen“[2] kennen, der sich mal hier mal dort zeige, weshalb er sich der wissenschaftlichen Betrachtung vielleicht sogar entziehe. Mit dieser Sicht bewehrt, sind wir versucht, den Zeitgeist als ein Oberflächenphänomen zu streifen, dem nicht ganz zu trauen ist. Tatsächlich muss sich der Zeitgeist im Tagesgeschäft der Gegenwart realisieren und ist daher, wie Karl Jaspers einst zu bedenken gab, als Thema ebenso unerschöpflich wie unfixierbar, das sich zudem „... mit seinem Gedachtwerden schon verwandelt.“[3] Der Zeitgeist mag uns daher als eine Denkfigur des bloß Vagen und Modisch-Flüchtigen erscheinen; immerhin hatte um 1800 schon Johann Gottfried Herder das Unstete an ihm entdeckt. In den „Briefen der Humanität“ hatte Herder die Frage aufgeworfen: „Ist er ein Schall der Aeolsharfe, ein Lufthauch der Mode?“ und resümiert: „Die flüchtige Mode ist seine unechte Schwester; er ist ihr nicht gewogen, lernt aber auch von ihr, und hat mit ihr zuweilen lehrreichen Umgang.“[4] Im Fahrwasser der Moderne des 20. Jahrhunderts ist dieser lehrreiche Umgang verstärkt mit den Erscheinungen des Banalen oder übertrieben Spektakulären identifiziert worden und hat sich gleichsam umgangssprachlich als Begriff für das Modische eingeschliffen. So gesehen offenbart sich uns der Zeitgeist derzeit allzu leicht als dienstbarer Geist für alles, was in medialen Inszenierungen von soziokulturellen Gegenwarts- und Zukunftstendenzen erkennbar und damit durchsetzungsfähig sein und werden soll.

Nimmt man die Sache jedoch weniger salopp und versichert sich des begriffsgeschichtlichen Bestandes, so bleibt davon erhalten, was dem Zeitgeist seit der Neuzeit zugesprochen wurde: das Spiegelbild der Welt und der herrschenden Ideen von ihr in unterschiedlichen historischen Konstellationen zu sein, oder das begrifflich zu umschreiben, was „Epochenidentität“ genannt worden ist.

Jürgen Habermas hat dieses Zeitgeistverständnis 1978 noch einmal zu Grunde gelegt, als er eine Aufsatzsammlung initiierte, die später unter dem Titel „Stichworte zur geistigen Situation der Zeit“ veröffentlicht wurde. Er hatte einige Kollegen gebeten, die Zeitgeistthematik auf der Folie der 1931 erschienenen Schrift des Philosophen Karl Jaspers „Die geistige Situation der Zeit“ abermals zu beleuchten, einschränkend jedoch bemerkt, dass der Rekurs auf Jaspers als „Schlüsselattitüde“ des eigenen Denkens nicht bindend sei. Schließlich, so Habermas: „Wer traute sich noch eine Theorie des gegenwärtigen Zeitalters zu?[5]

Wiewohl die Zeitdiagnostik des Karl Jaspers in der Programmatik eines Theoriegebäudes heute gewiss nicht mehr zu Verfügung steht und die Zeitdiagnose des Heidelberger Philosophen nicht allein des „weinerlichen Kulturpessimismus“ (R. Dahrendorf) wegen als ein untaugliches Instrument unseres Denkens erscheint, ergeben sich aus dem Jaspers-Essay doch noch immer einige methodische Hinweise darauf, wie der Zeitgeist als ein Geflecht aus Ideenkonstruktionen und kollektiven Lebensformen wirksam ist, das sich ebenso den individuellen Existenzen einschreibt wie in den Räumen der Kollektive lesbar wird. Seiner kategorial gefügten Zeitkritik hat Jaspers einige grundsätzliche Überlegungen vorausgeschickt, die ihm notwendig erschienen, um zu klären, welche Gegebenheiten sich historisch hatten durchsetzen müssen, damit die Rede vom Geist einer Zeit überhaupt möglich werden konnte. Dazu gehörte die Durchsetzung des epochalen Bewusstseins, mithin eines Weltzeitbewusstseins, wie es in den Entwürfen einer Universalgeschichte im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts entwickelt und in Hegels Geschichtsphilosophie zur Vollendung gebracht worden war. Hegel war in seinen Schriften dem Weltgeist zwischen Erscheinung und Begriff und abermals zwischen Begriff und Erscheinung durch die verschiedenen Epochen in den sich ausdifferenzierenden Künsten und Wissenschaften gefolgt. Eben weil dieser Geist in Hegels Systementwurf nicht in der Abstraktion verharrte, sondern sich vorzugsweise in Krisensituationen konturierte und durch tatkräftige Individuen erklärte, konnte der Zeitgeist Charakter, ein Gesicht und sogar einen Namen annehmen. Einen solchen Kulminationspunkt aus Geistpersonalisierung und historischer Situation hat Hegel in dem berühmt gewordenen Brief vom 13. Oktober 1806 „...am Tage,“ wie der Philosoph kommentierte, „da Jena von den Franzosen besetzt wurde, und der Kaiser Napoleon in seinen Mauern eintraf[6] dem Freund Niethammer beschrieben: „...den Kaiser – diese Weltseele sah ich durch die Stadt zum Rekognoszieren hinausreiten; – es ist in der Tat eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einen Punkt konzentriert, auf einem Pferde sitzend über die Welt übergreift und sie beherrscht.“[7] Hegel ist dieser Personalisierung und der Verklärung des Imperators wegen später viel gescholten worden. Allemal aber offenbart diese Passage den Charakter der geschichtsphilosophisch begründeten modernen Zeitgeistanalytik, die Personen und Situationen gleichsam als Medien des flüchtigen Zeitgeistes (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) auffasste und in ihnen doch die Macht der Ideen feierte. So überschritten diese ihr Reich des Idealen (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) und verwirklichten sich in der politischen Praxis (Code civile).

Karl Jaspers hat diesen Sachverhalt im Kontext seiner Zeitgeistanalytik nochmals aufgegriffen und prononciert. Er schrieb:

Letzthin ist nur der einzelne in einer Situation. Von da übertragend denken wir die Situation von Gruppen, Staaten, der Menschheit, von Institutionen wie Kirche, Universität, Theater, von objektiven Gebilden wie Wissenschaft, Philosophie, Dichtung. Wie wir den Willen einzelner diese als ihre Sache begreifen sehen, ist dieser Wille mit seiner Sache in einer Situation.
Situationen sind entweder ungewußt und werden wirksam, ohne daß der Betroffene weiß, wie es zugeht. Oder sie werden als gegenwärtige von einem seiner selbst bewussten Willen gesehen, der sie übernehmen, sie nutzen und wandeln kann. Die Situation als bewusst gemachte ruft auf zu einem Verhalten ... was in ihr wird, hängt auch von dem ab, der in ihr steht, und davon, wie er sie erkennt.
[8]

In diese Dynamik des Zeitgeistes, Situationen der Gesellschaftsproduktion sowohl zu reflektieren als auch zu produzieren, sind die Künste, trotz ihres beharrlichen Autonomie-Bekenntnisses, eingebunden – die Architektur als Gebrauchskunst allemal. Nicht des politischen Aktionismus, sondern dieser Tendenz zur Erkenntnis von Situationen wegen deklarierte sich die 1957 gegründete Künstlergruppe als Situationistische Internationale, die in der Tradition der revoltierenden Praxis und in der Haltung des Protestes die „Bewusstwerdung“ (A. Camus) über die geistige Situation der Zeit zu erregen suchte. Schließlich ging es um den Nachweis, dass alles, die Existenz, das Denken und Handeln der Einzelnen und Kollektive in den jeweils verschiedenen sozialen Rollen politische Praxis ist, mithin die Architektur als „Gegenstand einer kollektiven Simultanrezeption“ (W. Benjamin) immer der bevorzugte Gegenstand gesellschaftspolitischer Manifestationen sein wird.

Von dieser Haltung ausgehend hat sich ein Diskurs zum Architektur-Denken entwickeln können, der im Umfeld des Studentenprotestes von 1968 erblühte und dezidiert mit dem Anspruch auftrat, erkennen zu wollen, in welche Situationen – und ich verstehe darunter die von Jaspers vorgeschlagene Trias der „ökonomischen, soziologischen, politischen Situationen[9] – die Architektur weltweit eingebunden war. Ich möchte dieser Verschränkung aus Zeitgeist, Protest und Ort zum Kulminationspunkt einer Situation als „bewusst gemachter“ noch einmal in zwei Kapiteln folgen. Wir suchen darin das zeitgeistige Architektur-Denken jener Jahre als Konzept der Politisierung auf, das auf dieser Basis schließlich im Umkehrschluss, dass alles Handeln politisches Handeln sei, nun behaupteten sollte: „Alles ist Architektur![10]


Architektur-Denken und revoltierender Zeitgeist

Am 12. Oktober 1968 beginnen in Mexiko Stadt die 19. Olympischen Spiele moderner Zeitrechnung. Wenige Tage zuvor hat der mexikanische Präsident Diaz Ordaz eine Studentendemonstration auf der Plaza de Tlatelolco unter Einsatz von Militäreinheiten und der Präsidialgarde blutig niederschlagen lassen. Nach Art moderner Militärdiktaturen lässt die mexikanische Regierung die über 300 Leichen der erschossenen Studenten – die genaue Zahl der Toten wird nie bekannt – verschwinden, sie werden nie gefunden werden.

Nur vier Tage später, die Olympiade in Mexiko-Stadt ist soeben eröffnet worden, und die Spiele sind in vollem Gange, kommt es zu einem Eklat besonderer Art: Während der Siegerehrung des 200-Meter-Laufs der Männer, recken die beiden afroamerikanischen US-Athleten Tommie Smith und John Carlos, der eine Gold-, der andere Bronzemedaillengewinner, jeweils eine mit einem schwarzen Handschuh bekleidete Faust in die Höhe und verweigern mit gesenktem Kopf und zu Boden blickend dem soeben gehissten Star-Spangled Banner den üblicherweise eingeforderten Respekt. Allenthalben werden Gestik und Accessoires der beiden Sportler als politisches Bekenntnis gedeutet, mit dem sich hier offensichtlich Anhänger des selbstbewusst-starken Black-Power-Movement dem weißen US-amerikanischen Patriotismus entziehen. Dass dieser Akt vor dem Hintergrund der kurz zuvor niedergeschossenen Studenten in Mexiko-City auch auf diesen kommentatorisch kritisch hindeutet, macht den Protest zu diesem Zeitpunkt der „Friedensspiele“ umso bedeutsamer, zumal nur wenige Monate zuvor ein gleichfalls politisch motivierter Mord die Vereinigten Staaten erschüttert hat.

Im April jenes Jahres ist die Leitfigur der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, der schwarze Prediger Martin Luther King in Memphis Tennessee von einem weißen Rassisten erschossen worden. Im Eingedenken dieses Mordes demonstrieren Smith und Carlos im Stadion zu Mexiko ihr Bekenntnis zu den Zielen der von Martin Luther King repräsentierten Bürgerrechtsbewegung vor den Augen der Weltöffentlichkeit und protestieren gestisch-stumm gegen Rassentrennung und soziale Diskriminierung – ein Akt, der an diesem Ort und zu diesem Anlass gleichsam Weltgeltung beansprucht. Dass die beiden Sportler in ihrer lautlosen Demonstration das Olympiastadion zu Mexiko zur Bühne symbolischer Politik und den öffentlichen Raum zum Raum der politischen Stellungsnahme machen, ihn, wie man es damals genannt hätte, umfunktionieren, macht sie zu personae non gratae. Kurz nach dem Ende der Medaillen-Zeremonie werden sie den Regeln des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) entsprechend gesperrt und müssen umgehend in die Vereinigten Staaten von Amerika zurückfliegen. Das IOC exekutiert damit seine geläufige Position, die behauptet, dass der Sport und die Olympiade als unpolitische Entitäten zu gelten haben.

Mit dieser Haltung entsprechen die Sportfunktionäre jenem von vielen geteilten Grundsatz, der bis heute behauptet, dass es Institutionen und gesellschaftlich-kulturelle Praktiken gebe, die nicht auf leitende, ethisch machtbewusste Motive und daraus folgende Begründungen hin befragbar sein dürfen, weil sie gewissermaßen interesselos wertfrei und außerhalb der Zeiten mit ihren politisch, moralischen Eigenheiten gültig seien. Die Grundannahme, dass es sozialpolitische Konstellationen jenseits normativer oder machtorientierter Voraussetzungen geben könne, gleichsam Orte der Rechtfertigungslosigkeiten, oder besser, ein Reich, das außerhalb von Parteilichkeiten und Bedeutungen setzender Handlungen existent sei, trifft im Jahr 1968 weltweiter Protestbewegungen auf Widerstand und findet nicht mehr ungeteilte Zustimmung. Mit ihrer antiautoritären Aktion sind die beiden US-Sprinter damit Teil der Enttarnung derartiger Mystifikationen, indem sie verdeutlichen, was 1968 in den Diskursen zur Öffentlichkeit – und die Architektur ist der physisch greifbare Teil dieser Öffentlichkeit – verhandelt wird: Dass es Räume der Unschuld und neutrale, kontextfreie Orte nicht gibt, weil sie alle sichtbar oder unsichtbar mit politischem Machtbegehren durchtränkt sind. Gerade in der Bundesrepublik Deutschland, wo die Jugend begierig ist, die verdeckten Spuren der NS-Vergangenheit ihrer vorgeblich unpolitisch denkenden und handelnden Eltern- und Großelterngeneration als politische Verstrickung zu entdecken, findet diese entmythologisierende Haltung der beiden Amerikaner hohe Akzeptanz.

Wenn aus Anlass der Olympischen Spiele in der Volksrepublik China 2008 vor dem Hintergrund der Ereignisse in Tibet allenthalben gefragt wurde, ob Architekten aus den westlichen Demokratien in einem durch die Kommunistische Partei Chinas autoritär regierten Land bauen sollten und, wie es die beiden Schweizer Architekten Jacques Herzog & Pierre de Meuron getan haben, dem Land gar mit der technisch-konstruktiv überwältigenden Architekturschöpfung des Olympia-Stadions zu einem weltoffenen Image verhalfen, dann war und ist die Akzeptanz der Befragung dieser Architekten sowie die Beurteilung ihrer Arbeit unter politisch-moralischen Gesichtspunkten eine Folge jener Proteste, die 1968 auch im Stadion zu Mexiko-City ihren Ort gehabt haben.

Dass wir als sozial agierende Menschen mit unserem Handeln zur Produktion von speziellem Wissen, besonderen Bedeutungen, Zeichen oder Symbolen beitragen und daher auch die Produktion der Architektur vom ersten kreativen Gedanken bis zum letzten ausgeführten Hammerschlag als eine politische Praxis zu lesen ist, diese Auffassung hat sich in den 1968er Jahren im Theoriefeld der Universitäten und besonders im Milieu der antiautoritären Studentenbewegung verbreitet. Viele Wissenschaftlerinnen und Aktivisten haben daran Anteil gehabt. Einflussreich wurden vor allem die theoretischen Modelle der Soziologen und Sozialpsychologinnen, darunter die Schriften Henri Lefèbvres. Im Rückgriff auf die Politische Ökonomie von Karl Marx hat Lefèbvre damals einen sozialpolitisch orientierten Begriff von Architektur vorgeschlagen, der aus den Fragen nach den jeweiligen Produktionsbedingungen, unter denen Architektur entwickelt wird, die Kraft ihrer sozialen Orientierungsfähigkeit begründen sollte. Es waren sehr einfache Fragen nach dominanten Interessen und historisch-kulturellen Intentionen bei den am Planungs- und Bauprozess beteiligten Akteuren:

So far as the concept of production is concerned, it does not become fully concrete or take on a true content until replies have been given to the question, that it makes possible: `Who produces?´ `What?´ `How?´ `Why and for whom?´[11]

Diesem Programm haben sich die jungen Architekturproduzentinnen und -produzenten von 1968 verpflichtet gefühlt. Anders als die Wiederaufbaugeneration, die sich im Umfeld von „Hitlers willigen Vollstreckern“ agierend, derartige Fragen der Legitimität ihrer Entwurfsarbeit grundsätzlich verbeten hatte, rezipierte man jetzt mit besonderer Aufmerksamkeit sozialpolitische Analysen, die zur Beantwortung nach spezifischen politischen Implikationen, die die Produktion von Architektur beeinflussen, tauglich wären. Ein Buch, das diesen Kontext der individuell-konkreten Prägung detailliert untersucht hat, also dem Geflecht des „Warum, für wen und auf welche Weise“ Raumfigurationen überhaupt ersonnen und realisiert werden können, ist die 1965 verfertigte und 1968 erschienene Untersuchung der in Frankfurt am Main am Sigmund Freud Institut lehrenden Heide Berndt mit dem Titel „Das Gesellschaftsbild bei Stadtplanern“ gewesen.[12] In dieser Analyse lernte man, dass gerade Planer – und Architekten waren in diesem Falle ebenfalls gemeint – unter bestimmten Weltbild-Positionen agieren, also auch unter normativ-ideologischen Prämissen und nicht allein unter sachbezogenen. Wenn heute in Westeuropa mit hoher gesellschaftlicher Akzeptanz in Zeitungen und Internetforen lautstark darüber gestritten wird, wie die Arbeit der zur Zeit in China planenden Westarchitekten zu bewerten sei, ob ihre Mitwirkung an Projekten wie dem Olympia-Stadion und anderen Großbaustellen, die mit Zwangsumsiedlungen und dem Abriss von Wohngebieten verbunden sind, als legitim anzusehen seien oder allein durch böswillige Gutmenschen propagandistisch-politisch ausgeschlachtet werden, dann ist dieser Sachverhalt für sich gesehen schon eine Folge der Architekturdebatten von 1968; denn damals wurde der Diskurs darüber verfertigt, dass Akteure, die den öffentlichen Raum verarbeiten – und das tun Architekten – sich in weit reichenden Rechtfertigungszusammenhängen politischer Natur bewegen und sich daher nach ihren Motiven befragen lassen müssen. Vor diesem Hintergrund erhält die Aussage Jacques Herzogs ihre Brisanz, sein Statement in Bezug auf das Olympia-Stadion von Peking: „Die Demokratie, wie wir sie in der Schweiz haben, hat manchmal etwas Lähmendes für Architekturprojekte...“[13] Der Tatbestand, dass das Bird´s Nest, wie das Stadion freundlich sanft und euphemistisch genannt wird, zuweilen nur mithilfe von 10.000 gleichzeitig zum Einsatz kommenden, schlecht bezahlten, ausgebeuteten Wanderarbeitern umgesetzt werden konnte, eine Leistung, die Pierre de Meuron nur im Vergleich zur menschlichen Arbeitskraftkonzentration des archaischen Pyramidenbaus qualifizieren mag, gehört aus dem Blickwinkel von 1968 betrachtet (mit dem auch die Kritik am Stalinismus verbunden war) in die Kategorie des „intellektuellen Gehilfentums“ (M. Ryklin).

Der am Entwurf beteiligte chinesische Künstler Ai Weiwei hat diesen Sachverhalt inzwischen klar gemacht, indem er sich von dem Projekt als ein Künstler zurückgezogen hat, der nicht den Anspruch verfolgt, politische Kunst zu machen, sondern als ein Künstler agiert, der Kunst politisch macht (Jean Luc Godard). Wenn die Schweizer Architekten demgegenüber geäußert haben: „So in a very strange way, we do not always know, what we do.“[14], so mögen Gutmeinende darin das Ideologem übersehen. Für die '68er aber wäre diese Aussage eine Genie kultivierende Verklärung gewesen. Wenn man dem Produkt eines derartigen Gesellschaftsbildes heute im Begriff des „Star-Architekten“ begegnet, so hätten die '68er diese Charakterisierung als spätbürgerlichen Größenwahn einer historisch überfälligen Spezies und als Leihgabe des medial verwertbaren Spektakeljargons betrachtet. Und ist da nicht etwas dran?


Architektur-Denken gegen die Zwänge der Produktion

Um 1968 verfielen die Autonomie- und Unschuldsbekundungen der Künste einer radikalen Kritik und mit ihr die Dominanz der ökonomistischen Raumordnungssysteme des Nachkriegsstädtebaus. Schließlich stand die rationalisierte, konturlose Bauproduktion selbst zur Disposition. Zu den ersten Aktivisten, die sich dem verflachten Funktionalismus im europäischen Wiederaufbau widersetzten, gehörten vor allem Künstler und Literaten, die in der Tradition der klassischen Avantgarden von 1910 argumentierten und in der bereits klassisch gewordenen Metaphorik der Moderne die Auslöschung der bestehenden Stadtarchitektur in bekannter Tabula Rasa-Manier einforderten. Der österreichische Maler Friedensreich Hundertwasser veröffentlichte 1958 eine weniger aggressive, wenngleich ebenso auf Vernichtung ausgerichtete Variante in einem Text, dem er den Titel „Verschimmelungs-Manifest gegen den Rationalismus in der Architektur“[15] gegeben hatte. Ein anderes Konzept mit gleicher Intention verfochten nur kurze Zeit später die so genannten Informellen, indem sie eine Architektur propagierten, die flüchtig sein, mithin vibrieren oder changieren können sollte, kurz, die durch die Anwendung chemischer Stoffe in permanenter Veränderung begriffen wäre (eine Vorstellung, die in der Medienarchitektur unserer Tage Wirklichkeit wird). „Man soll nicht mehr mühsam konstruieren, sondern die Architektur als Geschehnis ermöglichen.“[16] hatte der Philosoph dieser Spielart organischer Architektur William Katavolos 1960 geschrieben.

Der traditionell überlieferte Architekturbegriff, der sich erst erfüllt, sobald Architektur im gebauten Objekt erscheint, hatte sich also schon vor 1968 zunehmend unter Rechtfertigungsdruck befunden. Im Zuge der Protestbewegungen von 1968 kollabierte er vollends; überall verkündeten die jungen Architektengruppen zwischen London, Wien und Mailand jetzt den Tod einer selbstreferentiellen Objektarchitektur. Stattdessen vertrat man die Position, dass bereits die konzeptionelle Vision Architektur sei, dass also das Gedankenexperiment und selbst der Text unter den Begriff der Architektur falle. Hans Hollein brachte diesen Sachverhalt 1967 in die kurze, aufmüpfige Formel: „Alles ist Architektur.“  Bewusst oder unbewusst knüpfte diese Auffassung an kunsttheoretische Positionen an, die im Begriff des disegno bereits die Renaissancekünstler debattiert hatten.

Schon seit 1961 war in Großbritannien die Gruppe Archigram an der Londoner Architectural Association zum Vorreiter derartiger Konzepte geworden. Ihre Architekturprojekte präsentierte die Gruppe nicht mehr in detailgenauen Entwurfszeichnungen, sondern in Comic-Strip-Erzählungen verpackt, die in Flugblatt-, später im Heftchenformat veröffentlicht wurden. Archigram nutzte also ein populäres Alltagsmedium, um den Zeitgeist in konstruktiv variablen Stadtmodellen zu bebildern. Wenngleich die Vision einer Walking City oder einer Plug-in-Architecture mit den sozialpolitischen Gegebenheiten jener Jahre kaum etwas zu tun hatten, so waren doch die Lebensstilmodelle dieser Montagen faszinierend gegenwartsbezogen. Hier zogen ungebundene Großstadtnomaden ihre flüchtigen Bahnen und feierten, von der Atmosphäre des Swinging London angeregt, die Überwindung der Erwerbsarbeit in bunten Freizeitwelten. In diesen Entwürfen eines technisch strukturierten Alltagslebens war zugleich die Offensive gegen die Grundpfeiler der traditionellen Architekturtheorie mitgeliefert worden. Denn der vitruvianischen Trias, venustas, utilitas und firmitas hatte man mit lässiger Geste gleichsam den Fehdehandschuh hingeworfen: Schönheit erfüllte sich hier im Gestus eines narzistisch geprägten Freizeitvergnügens in wandelbaren Räumen für Musik, Film und Reiselust, vollkommen losgelöst von Symbolsystemen der klassischen Schmuckformeln eines bildhaften Decorums; Gebrauchsorientierung erwies sich in der Fähigkeit, den je schnell sich wandelnden Bedürfnissen von Weltenbummlern gerecht werden zu können, und das Gebot der Dauerhaftigkeit und Festigkeit war in diesen Konzepten temporärer Architektur grundsätzlich überkommen. Allenthalben experimentierte man mit neuen Konstruktionen, pneumatischen oder leichten Seilnetzkonstruktionen, wie sie Frei Otto auf der Weltausstellung in Montreal 1967 vorgeführt und damit demonstriert hatte, dass man in der Bundesrepublik vom monumentalen, steinernen, ewigkeitssüchtigen und ewigkeitstüchtigen Bauen der NS-Staatsarchitektur Abschied genommen hatte. Schließlich begannen 1968 auch die Planungen zum Zeltdach des Münchener Olympiastadions von Günther Behnisch und Frei Otto, ein Ensemble, das zur Einweihung 1972 als Demonstration des neuen, demokratischen Deutschlands weltweit Aufsehen erregte.

Überall dachte man zukunftsorientiert, allen voran die Mitglieder der 1966 gegründeten italienischen Gruppe Superstudio um Adolfo Natalini – überhaupt war der Revoltengestus dieser jungen Gruppen auf das Kommende gerichtet. Durchaus analytisch auf der Höhe der damaligen Diskurse zur Bevölkerungsexplosion und Verstädterungsdynamik, suchte Superstudio Chiffren für diesen Prozess und erfand dafür das Continuous Monument: an Architectural Model for Total Urbanization. Seit 1969 umspielte Superstudio diesen Gedanken einer Weltarchitektur, die sich um den Erdball ziehen würde, in vielerlei Varianten. Eines dieser Projekte zerschnitt die steirische Landeshauptstadt Graz, ein anderes drang bis Manhattan vor, überformte die prägnante Bebauung der amerikanischen Urbanisierung, löste sie auf, mit der Tendenz, die gewachsene Stadt letztlich auszulöschen:

And from the Bay we see New York arranged by the Continuous Monument into a great plain of ice, clouds or sky...“[17]

Diese technische Zukunftsvision visualisierte die Urbanisierungsdynamik als Option der westlichen Industrienationen, zwischen Untergang oder der Rückgewinnung einer paradiesischen Landschaft wählen zu können. Die Gruppe knüpfte damit an die Friedrich Engels und Rosa Luxemburg zugeschriebene Sentenz an, dass die Menschheitsentwicklung zwei Wege offen halte, entweder ins Reich der Freiheit oder in die Barbarei einzumünden.

Denn mit dem Continuous Monument hatte Superstudio eine Hybridfigur zwischen Utopie und Dystopie ersonnen, die die Vernichtung kultureller Traditionen im Sinne der klassischen Avantgarden zwar ironisch perfektionierte und doch meinte, diese Denkfigur im Sinne der Entfremdungskritik des Philosophen Herbert Marcuse aufklärend zu verwenden; ein Missverständnis, das der Vordenker der Studentenrevolte nur noch bedingt korrigieren konnte. Natalini jedenfalls argumentierte:

By the elimination of the city, we mean the elimination... of the city as hierarchy and social model. Looking for a new free egalitarian state, in which everyone can reach different grades in the development of his possibilities, beginning from equal starting points. By the end of the work, we mean the end of specialized and repetitive work...foreign to the nature of man.“[18]

Diese Suche nach einem gleichsam urkommunistischen Raummodell als Alternative zur funktionalistisch organisierten Industriestadt hat Superstudio nach dem Zerfall der Studentenbewegung und unter dem Schock der Ölkrise von 1973 in radikalen Formen der Konsumkritik fortgeführt. Unter dem Einfluss ethnologischer Forschungen untersuchte man jetzt bäuerliche Lebensformen innerhalb und außerhalb Europas, die als Alternative zur kapitalistisch-technischen, Natur zerstörenden Produktionsweise wieder zu beleben wären, ein Gedanke, der durch die Lektüre der Veröffentlichung von Claude Lévi-Strauss zum wilden Denken angeregt worden war und später in der Begründung des von Collin Rowe und Fred Koetter begründeten Collage City-Konzeptes der Postmoderne noch einmal vernutzt wurde.


Nachsatz

Wie wir wissen, hat sich vom Gestus der kritischen Politisierung dieser Denk-Architekturen an den deutschen Technischen Hochschulen nur wenig erhalten können. Dennoch, der Impuls, die Denk-Architektur als Situation zu erfinden, in der sich der Zeitgeist nicht nur äußert, sondern auch gleichsam selbst befragt, könnte als gewichtiger architekturtheoretischer Baustein für die Praxis aktiviert werden.


 


 

Literaturverzeichnis:

Berndt, Heide: Das Gesellschaftsbild bei Stadtplanern. Beiträge zur Umweltplanung, Stuttgart 1968.

Conrads, Ulrich: Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts. Bauwelt Fundamente 1, Basel/Boston/Berlin 2001.

Habermas, Jürgen: Stichworte zur 'Geistigen Situation der Zeit', 2 Bde, Frankfurt a. M. 1979.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Briefe von und an Hegel, hg. von Johannes Hoffmeister, 4 Bde, Hamburg 1952.

Herder, Johann Gottfried: Briefe der Humanität. Schriften zur Humanität Bd. 4, Frankfurt a. M. 1947.

Herzog, Jacques, in: Bird's Nest – Herzog & de Meuron in China, Dokumentarfilm von Ch. Schaub und M. Schindhelm, Schweiz 2005.

Hollein, Hans: Alles ist Architektur, Wien 1968.

Jaspers, Karl: Die geistige Situation der Zeit, Leipzig 1932.

Lefèbvre, Henri: The Production of Space, Oxford 1998.

Piper, Ernst / Schoeps, Julius H. (Hg.): Bauen und Zeitgeist. Ein Längsschnitt durch das 19. und 20. Jahrhundert, Basel/Boston/Berlin 1998, S. 7.

Lang P. / Menking W. (Hg.), Superstudio. Life without Objects, New York/London 2003.

 


 

Anmerkungen:
 

[1] Der Text beruht in einigen Passagen auf einem Vortrag am Fachbereich Gestaltung der Fachhochschule Würzburg am 16. April 2008. Gerhard Schweppenhäuser veröffentlicht soeben einen Tagungsband zum Symposion „Die '68er“.

[2] Piper/Schoeps 1998, S. 7.

[3] Jaspers 1932, S. 5.

[4] Herder 1947, S. 34.

[5] Habermas 1979, Bd.1, S. 7.

[6] Hegel 1952, Bd.1, S. 119.

[7] Hegel 1952, Bd.1, S.120.

[8] Jaspers 1932, S. 19.

[9] Jaspers 1932, S. 19.

[10] Hollein 1968.

[11] Lefèbvre 1998, S. 69.

[12] Berndt 1968.

[13] Jacques Herzog 2005.

[15] Conrads 2001, S. 149.

[16] Conrads 2001, S. 155.

[17] Lang/Menking 2003, S. 122.

[18] Lang/Menking 2003, S. 23.


 


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