Nach Vorträgen, gehalten von Architekt H. P. Berlage aus
Amsterdam
auf Veranlassung
des Kunstgewerbemuseums der Stadt Zürich. 1)
1) An Hand des uns vom
Vortragenden gütigst zur Verfügung gestellten
Manuskripts haben wir versucht, im Folgenden die Hauptgedanken dieser
Vortragsreihe wiederzugeben.
Die Red.
I.
RAUMKUNST UND ARCHITEKTUR
Wenn es auch einerseits selbstverständlich
ist, dass bei jeder Beurteilung der individuelle Geschmack eine
hervorragende
Rolle zu spielen hat, erscheint es andererseits doch
unverständlich, wie oft
rücksichtslos, nicht selten ohne jede Begründung,
Geschmacksäusserungen
vorgebracht und wie selbst bedeutende Kunstwerke mit der billigen
Redensart
abgetan werden, es gefällt mir nicht. In Laien- wie in
Künstlerkreisen sollte
es möglich werden, bei der Beurteilung von Kunstwerken gewisse
Abweichungen in
den Schönheitsbegriffen auszugleichen, um zu einer objektiven
Würdigung der
betreffenden Schöpfung zu gelangen. Denn sobald von einem
Kunstwerke, ganz
besonders aber von einem Bauwerk, behauptet und nachgewiesen werden
kann, dass
sein Aufbau logisch und mit Talent aus dem Plan entwickelt, dass seine
Verhältnisse vorzüglich und seine
Ausschmückung mit Verständnis und Geschmack
durchgeführt sind, kurz dass das ganze Bauwerk in allen seinen
Teilen absolute
Einheit aufweist, dann steht es über dem gewöhnlichen
Geschmack und selbst über
einer sachverständigen Beurteilung; d. h. auch wenn man
für das Werk als
solches keine Sympathie empfindet, wird man es doch nicht tadeln
können. Nur
von diesem Gesichtspunkte aus sollten Kunstwerke beurteilt werden; wer
dazu
nicht imstande ist, kann auch nicht verlangen, dass sein Urteil ernst
genommen
wird. Es ist zunächst die wichtige Frage zu beantworten, wie
denn
ein Kunstwerk
gestaltet sein solle, damit in ihm jene "Einheit in der Vielheit"
vorherrsche, die zuletzt nichts anderes als Stil bedeutet. Was eine
zarte Pflanze, schneegekrönte Felsenmassen, die
Himmelskörper, kurz
das ganze menschenumgebende Universum zu erhabenen Kunstwerken macht,
ist nicht
die Erscheinung als solche; es sind die Gesetze, denen das ganze
Weltall
unterworfen ist, die wir mehr ahnen als kennen und die in ihrer
Einheitlichkeit
alles bis zu den unsichtbarsten Teilchen durchdringen. Diese
Gesetzmässigkeit
in der Natur weist darauf hin, dass auch in der Kunst nicht reine
Willkür
herrschen darf; und gleich wie die Gestaltungsgesetze des Weltalls
mathematischer Natur sind, sollten auch dem Kunstwerk mathematische
Gesetze
zugrunde liegen. Eine Arbeit ohne Organisation, ohne Methode wird
niemals zu einem
befriedigenden Ergebnis führen; trotzdem steht das Verlangen
nach Gesetzen für
das künstlerische Schaffen in direktem Gegensatz zu der bis
jetzt als einzig
richtig behaupteten absoluten Willkür in der Kunst. "Die Kunst
soll frei
sein", ist die herrschende Meinung. Es frägt sich nur, worauf
sich diese
Meinung gründet und welche Berechtigung ihr zukommt. Eine
derartige Auffassung von der Freiheit der Kunst ist durch die
übertriebene
Wertschätzung der Malerei d. h. der Staffeleimalerei her
vorgerufen worden, die
seit der Renaissance-Zeit solchen Einfluss gewann, dass die
übrigen Künste
gewissermassen darunter gelitten haben. Das Wort "malerisch" ist ein
Zauberwort geworden, das jeden Schutthaufen verklärte und
Bildhauer wie
Architekten zwang, ebenfalls malerisch zu arbeiten. Die Bildhauer
schufen
malerische Gruppen, die Architekten malerische Gebäude, je
nach ihrem
persönlichen d. h. rein willkürlichen Geschmack.
Dabei soll nicht das
malerische als solches bestritten werden, denn ein griechischer Tempel
und ein
gotischer Dom sind eben sowohl malerisch als gesetzmässig,
sondern all die
unnötigen nur einer sogenannten malerischen Wirkung zuliebe
angebrachten
Zutaten wie Erkerchen, Türmchen usw., die das eigentliche
architektonische
völlig in den Hintergrund drängen. Auch malerische
Entwurfzeichnungen sind eine
Folge von der Anerkennung der Ueberlegenheit des Malerischen, aber zur
Beurteilung eines Entwurfs ebenso belanglos wie eine schöne
Notenschrift für
die Wertbemessung einer musikalischen Komposition. Die geometrische
oder
perspektivische Darstellung eines Projektes ist ja nur Mittel und nicht
Endzweck. Erst wenn das Publikum am Gebäude selbst, wie z. B.
an der Ausführung
einer Symphonie das Kunstwerk zu verstehen gelernt hat, wird es
vielleicht auch
dazu kommen, die Entwurfzeichnungen mit demselben Genuss zu studieren,
wie ein
Kenner die Partitur eines Musikstücks. Von dem Augenblick an,
in dem die Architektur das Gebiet der
sogenannten freien
Kunst betrat, war es mit ihr vorbei: denn entgegen dem Grundsatz, dass
in der
Kunst nur das Gefühl massgebend sein dürfte, ist
hervorzuheben, dass sich die
Künste, und zwar die Architektur ebenso wie Skulptur und
Malerei, nicht allein
Gesetzen fügen müssen, sondern gerade durch diese
Unterordnung zu wertvollern
Aeusserungen getrieben werden. Das Staffeleibild und die Salonplastik
aber, die
sich allmählich der künstlerischen Gemeinschaft
entzogen haben, können nur dann
wieder aufgenommen werden, wenn sie sich freiwillig oder gezwungen den
Gesetzen
der Gemeinschaft aufs neue unterwerfen. Denn das erscheint als das
einzige
Mittel, wieder zu einer höhern Kunst d. h. zu einem Stiel zu
gelangen, der als
das Endziel all unseres Strebens ohne Gesetze nicht gedacht werden
kann. Zur Wiedererlangung jener "Einheit in der Vielheit" d. h. eines
Stiles gibt es kein Rezept; nur auf einem langen Weg von Kunstexperten
wird man
zum Ziel gelangen. Man studiere die Natur im allgemeinen nach ihren
Gesetzen
und dann die alten Monumente, nicht um sie zu kopieren oder ihnen
detaillierte
Motive zu entnehmen, sondern um die Elemente in ihnen aufzusuchen, die
ihnen Stil
gegeben haben. Dabei wird sofort deutlich werden, dass das Urprinzip
eines
jeden Stils "Ordnung" ist d. h. Regelmass. So wie in der nach festen
Gesetzen schaffenden Natur überall Ordnung herrscht, ebenso
findet sich in
allen alten Monumenten eine gewisse Ordnung; es ist somit kein Zufall,
wenn wir
von "klassischen Ordnungen" reden. Sollte demnach unsere heutige
Architektur nicht auch wieder nach einer
gewissen
Ordnung bestimmt werden und wäre das Entwerfen nach einem
gewissen geometrische
System nicht ein grosser Schritt vorwärts? Eine derartige
Methode, die zu jedem
Entwurf eine geometrische Grundlage vorraussetzt und die bereits von
mehrern
modernen niederländischen Architekten befolgt wird, soll
natürlich nur Mittel
zum Zweck sein, die Formen kontrollieren und die Verhältnisse,
die sonst rein
willkürlich, allein nach dem individuellen Geschmack des
Künstlers gewählt
werden, näher bestimmen. Wie die musikalische Komposition eine
bestimmte
Tonart, einen bestimmten Takt, wie das Gedicht ein Versmass
voraussetzt, so
soll auch die Architektur nach gewissen rhythmischen, d. h.
geometrischen
Gesetzen komponiert werden; und ebensowenig wie die
künstlerische Idee in Musik
und Dichtkunst durch derartige gesetzmässige
Einschränkungen an ihrer
Entfaltung gehindert wird, ebensowenig wird die bildende Kunst, vor
allem die
Baukunst darunter leiden. Im Gegenteil, derartige Gesetze sind
Schönheitsbedingungen, ohne die das Tonwerk oder das Gedicht
eben kein Tonwerk
oder Gedicht ist. Erscheint dann die Folgerung allzu gewagt, dass ein
Architekturwerk ohne solch bewährte und gesetzmässige
Rhythmik ebenfalls kein
Architekturwerk sein kann? Das alles ist nun durchaus nichts Neues.
Schon die Griechen haben ihre
Tempel
nach einer festgesetzten Norm aufgebaut, nach einfachen in Zahlen
ausdrückbaren
Verhältnissen, denen jene Bauten unzweifelhaft ihre wunderbare
Schönheit, ihren
Stil, verdanken. Um noch weiter zurückzugehen, darf mit
ziemlicher Sicherheit
angenommen werden, dass auch die alten Aegypter ihren Bauten bei ihren
grossen mathematischen
Kenntnissen geometrische Massverhältnisse zugrunde legten.
Eingehende
Untersuchungen haben ergeben, dass das ägyptische Dreieck,
also der
Pyramidenschnitt mit dem Verhältnis von 8 zu 5 zwischen Basis
und Höhe
"der Schlüssel aller Verhältnisse" in der
ägyptischen Baukunst sei,
während bei einzelnen Pyramidenbauten die Masse der Hypotenuse
und halbe Basis
nach dem goldenen Schnitt bestimmt zu sein scheinen. Ja selbst die
Arche Noah
und der Salomonische Tempel waren, wie die Bibel berichtet, in
einfachen aber
ganz genau bestimmten Verhältnissen gebaut. Ebenso berechtigt
ist ferner die Annahme, dass die mittelalterliche
Kunst, die
ja in ihrem ganzen Wesen geometrische Gestaltung zeigt und in ihren
architektonischen Formen und Verzierungen aufs deutlichste die
Tätigkeit von
Zirkel und Richtscheit zu erkennen gibt, in ihren
Verhältnissen nicht
willkürlich, sondern nach festen Regeln bestimmt wurde. Und da
die Kenntnis des
griechischen Modul-Systems als allgemein bekannt vorausgesetzt werden
darf (Abb.
1), die Kenntnis der mittelalterlichen Konstruktions-Systeme dagegen
weniger
verbreitet ist, sei es gestattet, diesen einige kurze Bemerkungen zu
widmen.
Abb.
1. Triumphbogen nach dem
Modul-System mit nachträglich eingezeichneter Quadratur
Eingehende Studien über mittelalterliche Architektur haben
ergeben, dass die
Baumeister der romanischen und gothischen Dome die Mathematik und zwar
die
Geometrie zur Bestimmung der Verhältnisse zuhilfe genommen
haben, anfangs nur
für die Lösung der Grundrisse, später auch
zur Bestimmung der Aufrisse, und dass
dabei Dreieck und Quadrat hauptsächlich Verwendung fanden.
Dehio, Professor der Kunstgeschichte an der Universität zu
Strassburg, hat in
zwei Schriften "Untersuchungen über das gleichseitige
Dreieckais als Norm
gotischer Bauproportionen" (Stuttgart
1894) und "Ein Proportionsgesetz der antiken Baukunst und sein
Nachleben
im Mittelalter und in der Renaissancezeit" (Stuttgart 1895) die im
Mittelalter üblich gewesene
Triangulation nachgewiesen. Ebenso ist durch vor kurzem zum Vorschein
gekommene
alte Risse für den Dombau zu Mailand (Zeichnung von Gabriel
Stornaloco [1391]
als Sachverständiger "expertus in arte geometriae" berufen)
und für
den Bau von S. Petronio in Bologna (Kupferstich von 1592) nachgewiesen,
dass
bei der "deutschen" d. h. gotischen Regel das gleichseitige Dreieck
als Grundlage der Konstruktion benützt wurde. Allerdings mag
die Triangulation
anfänglich in der Praxis lediglich aus Gründen der
Zweckmässigkeit angewandt
und erst später auch in ihrer ästhetischen Wirkung
erkannt worden sein. Bei gleichseitigen Dreiecken ist das
Verhältnis von
Höhe zur Basis eine
inkomensurable Zahl (=). Sind demnach bei einem Bau die
zu einander senkrechten Abmessungen nicht ganzzahlig mit der bei der
Konstruktion zugrunde gelegten Masseinheit messbar, so geht daraus
hervor, dass
die Proportionierung nicht auf arithmetischer Grundlage, sondern auf
geometrischer
erfolgte, möglicherweise unter Verwendung von gleichseitigen
Dreiecken. Damit
können auch zahlreiche Unregelmässigkeiten
erklärt werden, die an
mittelalterlichen Bauten vorkommen. Aus der Zusammenstellung zweier
Dreiecke ergibt sich das sogenannte
"Pythagoräische
Hexagramm" und aus der Konstruktion der Höhenlinien in einem
Dreieck,
sowie aus der Verbindung ihrer Fusspunkte die eigentliche
Triangulation, deren
sämtliche Punkte benutzbar sind. Die bei weitem wichtigste
Verwendung des
gleichseitigen Dreiecks für die mittelalterliche Architektur
bestand aber in
der Herstellung von triangulierten Rechtecken. Neben dem Dreieck kommt
als wichtigste Figur das Quadrat in Betracht
und neben
der Triangulation die Quadratur. Bei der einfachsten Verwendung des
Quadrats d.
h. bei der Verbindung der Seitenmittelpunkte entstehen zwei Reihen
konzentrischer Quadrate, die jedoch für die Konstruktion noch
nicht verwendbar
sind. Die Quadratur gewinnt erst dann an Bedeutung, wenn zwei
gleichgrosse
Quadrate, von denen das eine um 45° gedreht ist, einander
durchschneiden und
zum Achtseit verbunden werden, wobei acht langgestreckte
gleichschenkelige
Dreiecke entstehen, mit der Basis = . In einem solchen
Dreieck, das bei dem von Frankreich herübergekommenen
gotischen Stil zum
erstenmal in Deutschland zu Strassburg Verwendung fand, lässt
sich nun
ebenfalls durch Verbindung der Fusspunkte der Höhenlinien eine
Triangulation
konstruieren, die offenbar als Hilfsmittel
vielfach benutzt wurde. Vor der systematischen Ausbildung der
Triangulation und
Quadratur sind auch noch andere Konstruktionsmethoden nachweisbar, doch
hat der
sogenannte goldene Schnitt nirgendwo Verwendung gefunden. Als
älteste Beispiele von mittelalterlichen Bauten, bei deren
Entwürfen die
Triangulation verwendet wurde, sei die aus dem Anfang des IX.
Jahrhunderts
stammende Einhards Basilika zu Steinbach im Odenwald und der noch im
Original
vorhandene Bauplan des Klosters St. Gallen (um 820) genannt. Beispiele
der
sogenannten Triangulation geben die St. Michaelskirche zu
Fulda, die Kirche zu Othmarsheim im
Elsass und das Oktogon des Münsters zu Aachen, bei dem sich
auch im Aufbau die
Triangulation nachweisen lässt. Wir geben als
charakteristisches Beispiel
Grundriss und Querschnitt der Kathedrale von Reims (Abb. 2 und 3).
Abb.
2. Grundriss der
Kathedrale von Reims mit eingezeichneter Triangulation. -
1:1000
Abb.
3. Querschnitt der Kathedrale
von Reims mit eingezeichneter Triangulation. -1:500
Als Beispiel von gleichzeitiger Benutzung der Triangulation und
Quadratur sei
die Kirche des Klosters Breitenau erwähnt. Die Stiftskirche zu
Königslutter,
die Klosterkirche zu Lippoldsberg, die Stiftskirche St. Peter zu
Fritzlar, der
Dom zu Paderborn und die
Elisabethenkirche zu Marburg mögen als weitere Beispiele
für die Verwendung der
Triangulation genannt werden. Aus allen diesen Untersuchungen scheint
hervorzugehen, dass die eigentliche Triangulation das
den Hüttenmeistern allein bekannte und
geoffenbarte Geheimnis vom "Rechten Steinmetzengrund" bildete und
dass den Gesellen zwar die Hilfsfiguren und Konstruktionsregeln bekannt
waren,
nicht aber die Konsequenzen, die sich aus diesen Figuren ergaben. Die
einem jeden wahren Kunstwerke zugrundeliegende
Gesetzmässigkeit muss sich
aber nicht nur im grossen Ganzen, sondern
auch in allen einzelnen Teilen verfolgen lassen. Handelt es sich also
um die
Triangulation mit dem gleichschenkeligen Dreieck, so wird dieses
Proportionsgesetz auch für die Bildung aller Einzelheiten
massgebend sein
müssen. Ist dagegen das Quadrat zugrunde gelegt, so sind auch
alle übrigen
Teile darnach zu bilden; kurz, einerlei welches System verwendet wird,
immer muss
selbst bei der Benützung verschiedener Systeme bei einem
Bauwerk möglichste
Einheit angestrebt werden. Wenn daraus hervorgeht, dass die Architektur
der grossen Stilperioden,
insbesondere jene der beiden am meisten konstruktiven Stile, des
griechischen und
des mittelalterlichen, nach gewissen geometrischen Grundgesetzen
gebildet
wurden, erscheint die Frage gewiss am Platze, ob nicht auch heute auf
dieses
Verfahren zurückgegriffen werden sollte. Denn es ist, wie
schon angedeutet, ein
Irrtum, wenn man meint, dass Gesetzlosigkeit die Phantasie
fördere. Im
Gegenteil, man entdeckt die Unendlichkeit der Formen-Variationen erst
dann,
wenn die Schrankenlosigkeit und Armut der wahren Freiheit der
Gebundenheit und
mit ihr verbunden dem Reichtum Platz gemacht haben. Dies geht mit
überzeugender
Deutlichkeit aus dem unendlich mannigfaltigen Schaffen der mit ihren
Mitteln so
überaus sparsam haushaltenden Natur hervor; das zeigt auch der
erstaunliche
Phantasiereichtum der orientalischen Völkerschaften, die
gerade in der Bildung
geometrischer Formen soviel Erstaunliches geleistet haben. Wenn wir
Naturformen
stilisieren, so ist das nichts anderes als die Festlegung der in der
Natur
vorhandenen Hauptlinien unter Weglassung aller Zufälligkeiten;
das bedeutet
aber nichts anderes, als eine Formgebung nach geometrischen Gesetzen.
Und
weshalb soll diese Methode nur am Ornament, nicht auch an andern
architektonischen Gebilden Anwendung finden? Schliesslich ist eine
Fassade ja
doch nichts anderes als eine ornamentierte Fläche, in der
Fenster, Gesimse,
Skulpturen usw. zu verteilen sind. Und das Gebäude selbst kann
wohl verglichen
werden mit einem von der Natur nach streng stereometrischen Formen
geschaffenen
Kristall oder mit einem Gebilde von
Kristallen mit Abweichungen, die durch die besonderen
Verhältnisse gefordert
wurden. Wenn wir also nach dem grossen Vorbilde der Natur unsere
architektonischen Schöpfungen durch Einhaltung von
Gesetzen zu vervollkommnen suchen, tun wir nichts anderes, als was die
Aegypter, Griechen, Römer und die europäischen
Völker des Mittelalters getan haben und womit sie so
staunenswerte Ergebnisse erzielten. Der Wahn, ein Bauwerk sei gotisch,
wenn es
mit gotischen Verzierungen versehen ist, muss zerstört werden,
denn die
Schmuckformen sind nur die äussere Schale; der innere, allein
richtige Kern
besteht in der Konstruktion der Grundformen, die geometrischen Figuren
entnommen sind. Um daher Karrikaturen alter Stilarchitektur zu
vermeiden, ist
es durchaus notwendig, auf die Regeln der alten Meister
zurückzugreifen und den
Faden da wieder anzuknüpfen, wo er im XV. oder Anfang des XVI.
Jahrhunderts
abgerissen wurde. Und wenn es auch bis jetzt noch nicht ganz feststeht,
dass selbst
profane
Gebäude früherer Stilperioden nach festen
geometrischen Regeln gebildet wurden,
so darf das doch mit einiger Sicherheit angenommen werden. Der Einfluss
der
kirchlicher Architektur auf die profane Baukunst war immer und
namentlich im
Mittelalter so stark, dass die baulichen Regeln, die zur Herstellung
der
erstern dienten, wahrscheinlich auch zur Bildung verschiedener Bauteile
an
profanen Gebäuden benutzt wurden, ebenso wie zur
Grundriss-Einteilung, obwohl
deren Lösung schon damals infolge ihrer Abhängigkeit
von komplizierteren
praktischen Bedingungen, ungemein viel grössere
Schwierigkeiten verursachte als
bei kirchlichen Bauten. Ob und in welchem Masse deutsche und andere
Architekten bereits in
ähnlicher
Weise gearbeitet haben, ist nicht festgestellt; es kann aber nochmals
darauf
hingewiesen werden, dass viele holländische
Baukünstler schon lange mit dieser
Methode vertraut sind. Die untenstehende Abbildung 4 zeigt einen
kunstgewerblichen Gegenstand, einen Becher von H. P. Berlage, bei
dessen
Entwurf geometrische Konstruktionen zur Bestimmung der wichtigsten
Verhältnisse
des Grund- und Aufrisses benutzt wurden. Auch aus der Baukunst selbst
können
ähnliche Beispiele genannt werden. So der Entwurf der
Türe eines Landhauses
(Abb. 5), bei dem Netz von über Eck gestellten Quadraten die
Grundlagen der
Komposition bildet.
Abb.
4. Entwurf
eines Bechers von H. P. Berlage
Abb.5.
Türe eines Landhauses mit eingezeichneter
Quadratur
Als weiteres Beispiel eines bis in alle
Einzelheiten auf Grund eines geometrischen Systems
durchgeführten Baues sei das
Börsengebäude von H. P. Berlage 1) genannt (Abb. 6),
das ganz nach
dem ägyptischen Dreieck proportioniert ist.
1) Vergleiche unsern
Artikel «Die neue Börse in Amsterdam», Bd.
XLII, S.103.
Abb.
6. Fassade des Börsengebäudes zu
Amsterdam mit eingezeichneten Konstruktionslinien. Architekt H. P.
Berlage
Es besteht also aus einem System von Pyramiden mit dem
Verhältnis von 8 zu 5,
während der Grundriss in Quadrate eingeteilt wurde, deren
Seitenlänge 3,8 m
beträgt, ein Mass, das sich nach langem Suchen als das
richtige Grundmass ergab
und auch Achsenmass der Fenster wurde. Zur praktischen
Durchführung einer
solchen Methode erscheint es wünschenswert, beim Zeichnen
nicht die
gebräuchlichen Dreiecke von 60° und 45° zu
verwenden, sondern solche, die nach den zur Verwendung bestimmten
Verhältnissen
angefertigt sind. Zur Herstellung der Zeichnungen für die
Amsterdamer Börse
sind denn auch in der Tat Dreiecke mit dem Verhältnis von 5 zu
8 benutzt
worden, nicht nur zur Einhaltung des Grundsystems für alle
Details, sondern
auch für die Führungslinien aller Profile sowie der
ornamentalen Kompositionen.
Die Einhaltung des genannten Konstruktionssystems ist bis zum kleinsten
Möbeldetail durchgeführt worden, ja auch Skulpturen
und Wandmalereien dieses
Gebäudes wurden dem gleichen System unterworfen. An der
Kunstgewerbeschule zu Düsseldorf lässt ein
holländischer Architekt, Lauveriks,
alle Entwürfe nach einer ähnlichen aber sehr
speziellen Methode ausarbeiten,
auf deren Besonderheiten hier einzugehen
zu weit führen würde. Der Grundriss und Aufriss einer
nach diesem System
hergestellten Schülerarbeit seien als Beispiele dieser
interessanten
Konstruktionsweise angeführt. (Abb. 7. und 8.)
Abb.
7 u. 8. Grundriss und Aufriss eines Kirchenentwurfs aus der
Schule des Architekten Lauveriks in Düsseldorf
Eine weitere prinzipielle Eigenschaft der mittelalterlichen Baukunst
besteht
unzweifelhaft darin, dass die Fassaden nichts anderes sein sollen als
die
Hüllen des innern Aufbaues und dass folglich die innere
Proportionen mit den
äussern Verhältnissen übereinstimmen
müssen. Die Architektur hat den Zweck,
Räume zu bilden und hat deshalb vom Raume auszugehen; das
Verfahren, zuerst
eine schöne Fassade zu gestalten und nachher das
Gebäude dahinter zu komponieren,
ist heute wie einst durchaus verwerflich. In gleicher Weise ist das
Ornament in
die vorher rhythmisch eingeteilte Fläche einzuzeichnen und
aufs strengste zu
vermeiden, dass zunächst eine Naturform gewählt und
nachher dazu der Rhythmus,
die Stilisierung gesucht wird. Damit soll nun durchaus nicht gesagt
sein, dass man sich zum Sklaven
eines
solchen Systems machen muss; gewiss wird das künstlerische
Gefühl da und dort
ein Verlassen des Systems fordern, aus Gründen, die der
Verstand nicht
begreift. Denn zum richtigen Gebrauch all dieser Konstruktionen
gehören vor
allem Geschmack und Uebung. Im Gegensatz zu frühern Zeiten
gestaltet sich für den
modernen Architekten das
Zusammenarbeiten mit Malern und Bildhauern allerdings besonders
schwierig, da
beide in ihren Arbeiten viel zu wenig Rücksicht auf die
Grundzüge der
Architektur zu nehmen gewillt sind. Der Grund liegt darin, dass Maler
wie
Bildhauer derart in der sogenannten malerischen Tendenz befangen sind,
dass an
ein einheitliches Zusammenwirken der drei Künste an modernen
Bauwerken kaum
gedacht werden kann. Deshalb muss der moderne Architekt
vorläufig alles selbst
entwerfen, bis einmal eine Zeit kommen wird, die eine Einigung in
formaler
Beziehung bringt. Ebenso steht es mit den andern technischen
Künsten, die zur
Ausstattung einer architektonischen Schöpfung nötig
sind, die Möbel,
Beleuchtungsapparate und alle sonstigen Geräte herzustellen
haben. Während das
früher Sache der betreffenden Gewerbe war, muss heute beim
Fehlen eines
einheitlich formalen Stils auch hier der Architekt alles selbst tun,
darf zum
mindesten die betreffenden Meister nicht völlig
selbständig arbeiten lassen.
Erst wenn die Anerkennung der Gesetze der Baukunst allgemein geworden
ist, wird
von einer wirklichen Raumkunst die Rede sein können, da erst
dann die völlige
Harmonie zwischen dem Ganzen und den einzelnen Teilen, also die
erstrebte
"Einheit in der Vielheit", im Stil erreicht sein wird. Dies
wären die Grundlagen zu einer Vorschule der modernen
Architektur im
besondern und zu einer modernen bildenden Kunst im allgemeinen. Wenn
man sich,
um nochmals zusammenfassend zu wiederholen, die an mittelalterlichen
Bauten
erfüllte Forderung der Einhaltung eines geometrischen Systems
bei der
Massenverteilung und den Details vergegenwärtigt, wird man
sich der Einsicht
nicht verschliessen können, dass in einer solchen, auf
geometrischer Basis
beruhenden Methode der Keim zur Erlangung eines einheitlichen
Grundprinzips
gefunden werden könne. Es kann aber auch weiterhin durch die
Betrachtung derselben
alten Denkmäler die Ueberzeugung geweckt werden, dass eine
derartige Methode
künstlerisch nichts Geringschätziges oder
Unwürdiges bedeutet, im Gegenteil zu
höherer Auffassung anregt, da die künstlerische
Phantasie dadurch nicht
getötet, sondern geweckt und gemehrt wird. Wer den Zweck will,
soll auch die
Mittel wollen! Und schliesslich liegt eine solche Methode auch ganz im
Geiste
unserer Zeit, der unbewusst ganz von selbst darauf hinarbeitet; wird
doch auf
allen Gebieten einer gewissen Organisation zugestrebt, die endlich
wieder zu
einer bestimmten Kultur führen soll. Denn Kultur ist doch wohl
nichts anderes,
als die harmonische Uebereinstimmung zwischen geistigen und materiellen
Bedürfnissen.
(Fortsetzung
folgt)
RAUMKUNST UND ARCHITEKTUR
II. (FORTSETZUNG)
Nachdem so die Basis, d. h. die Methode
eines zielbewussten künstlerischen Bauschaffens gefunden ist,
muss zum Aufbau
geschritten werden, d. h. zur Beantwortung der Frage, wie sich denn nun
die
zukünftige Architektur gestalten solle. Das einseitig
stilistisch eklektische Schaffen der Architekten des XIX.
Jahrhunderts ist diesen von den modernen Baukünstlern in den
letzten zwanzig
Jahren häufig genug zum Vorwurf gemacht worden. Einerseits mit
Berechtigung,
insofern jede Zeit ihre eigene Formengestaltung haben sollte,
anderseits aber
auch mit einem gewissen Unrecht, da die intensive Verarbeitung und
Wiederverwendung des gewaltigen Stilmaterials doch nicht ganz ohne
Einfluss auf
die Entwicklung unseres Geschmacks geblieben sein durfte. Allerdings
wurden die
gesammelten Stilkenntnisse grösstenteils statt als Mittel zur
künstlerischen
Gestaltung, irrtümlicherweise als Endzweck betrachtet. "Der
ästhetisierende Kunstprofessor," schreibt Muthesius beissend,
"ein
neuer Typus des XIX. Jahrhunderts, trat sein Amt an und belehrte,
begutachtete,
kritisierte und systematisierte über Kunst. Er wurde um so
mächtiger, je mehr
das natürliche Kunstleben erstarb. So sitzt an der Quelle der
Künste des XIX.
Jahrhunderts nicht mehr der Künstler, sondern der
Kunstprofessor".
Und ein holländischer Architekt führt aus, dass durch
die rein mechanische
Nachahmung von Werken früherer Zeit, deren konstruktive und
ästhetische
Ueberlegenheit über moderne Schöpfungen anerkannt
sei, noch lange nicht
gleichwertiges geschaffen werde, da die Liebe fehle, der jene ihre
Entstehung
verdankten. Die Folgerung, dass zwei Dinge, die sich
äusserlich ähnlich seien,
auch gleich schön sein müssten, ist irrig. Solange
das Aeussere eines Werkes
ebenso wie früher nicht eine notwendige Folge von etwas
Innerlichem ist, wird
die neue Schöpfung selbst als Nachahmung des
schönsten Gegenstandes nicht
wirklich schön genannt werden können, da ihr das
belebende Element des
schöpferischen Geistes fehlt. Wir müssten also, meint
jener holländische Architekt,
dazu gelangen, unsere
Werke wieder mit Liebe zu schaffen, der sich der Sinn für das
Konstruktive in
glücklicher Weise zugesellen sollte. Dies wird aber weder mit
Hilfe der Kunst-
oder Bauschulen, noch durch Bücher über
Schönheitslehre erreicht werden können.
Nicht durch Schulen, weil diese, was die Baukunst anlangt, zumeist am
altgewohnten Schlendrian festhalten, hauptsächlich nur Theorie
lehren und stets
zwanzig Jahre zurück sind; nicht durch
Schönheitslehren, da alle Philosophie
über Kunst dem wirklich schöpferischen
Künstler verhasst ist, der weiss, dass
Regeln mit Liebe nichts zu schaffen haben, und dass die
Schönheitslehre nicht
die Grundbedingung eines schönen Werkes ist, sondern sich erst
aus diesem
ergibt. Das was uns allein auf einen sichern Weg führen
könnte, ist die Erkenntnis
dessen, was eigentlich "Künstler sein" heisst. Ein
Künstler ist ein
Mensch, des das Leben seiner Zeit inniger lebt als andere Menschen. Ein
Baukünstler insbesondere hat sein ganzes Leben darnach zu
streben, den
Bedürfnissen seiner Zeitgenossen mit seinen Arbeiten zu
genügen und in ihnen
sein inneres Gefühl, sein Erleben zum wahren Ausdruck zu
bringen. Es muss ihm
deshalb alles Entlehnte, das mit seinem eigenen Wesen nichts zu tun
hat,
folglich nicht aus diesem hervorgegangen ist, verhasst sein. Nur
jemand, der
seine Zeit nicht begreift, und demzufolge auch nichts als
Aeusserlichkeiten zu
erzählen hat, kann, um Geld zu verdienen, Gebäude in
unverstandener, rein
nachgeahmter Stilarchitektur entwerfen. Denn eine derartige
Stilarchitektur ist
kein Kunst-, sondern ein Handelsgegenstand aus dem Laden eines
Architektenkaufmanns. Stilarchitektur ist der Handgriff eines
Pseudoarchitekten, die Devise, mit der ein Kaufmann für
baukünstlerische
Entwürfe seine Ware anpreist. Stilarchitektur und
Künstlertum haben nichts
miteinander zu tun und können unmöglich Hand in Hand
arbeiten. Diesem ungemein scharfen Urteil eines Mannes des XIX.
Jahrhunderts muss
doch
zweierlei entgegengehalten werden. Erstens vermag sich kein Mensch, er
sei noch so stark, auf die Dauer
mit Erfolg
dem Zeitgeist zu widersetzen, und man fühlte sich eben damals
in der
Wiederholung der frühern Stile wohl, und war ohne jedes
Bedürfnis nach etwas
neuem. Dabei hat das XIX. Jahrhundert, dessen Architektur sich als
chaotisches
Durcheinander aller Stile kennzeichnet, doch als Ergebnis eine
völlige
Entwertung dieses Stiltreibens hervorgerufen, was auch daraus
hervorgeht, dass
sich keiner der wieder aufgenommenen alten Baustile als vor andern
lebensfähig,
als einziger Gegenwartsstil bewährt hat. Zweitens und im
Gegensatz zu diesem negativen Ergebnis darf sich aber
das XIX.
Jahrhundert auch auf die positiven Erfolge der Neurenaissance und
Neugotik
berufen, die sich beide für die Folgezeit als sehr wertvoll
erweisen sollten,
wobei es prinzipiell der mittelalterlichen Kunst vorbehalten blieb, uns
den
neuen Weg zu ebnen. Wenn wir die Lehren der beiden grossen praktischen
Aesthetiker
Viollet-le-Duc
und Semper in Betrachtung ziehen, darf das Verdienst des ersteren nicht
geringer eingeschätzt werden als das Sempers. Denn
Viollet-le-Duc erkannte,
dass die mittelalterliche Kunst für die moderne Zeit
grundsätzlich die
richtigste Grundlage ergeben könne, wogegen die ganze
Neurenaissancebewegung um
die Mitte des vorigen Jahrhunderts nur von vorübergehendem
Werte gewesen ist.
Die Wiederbelebung einer Kunst, die nicht der Hauptsache nach
konstruktiv war
und daher sehr bald rein dekorativ werden musste, war von vornherein
bedenklich, da ihre Apostel wohl bald auf Widersprüche stossen
mussten. Und
selbst Semper ist davon nicht ganz frei geblieben. Man denke nur an die
Verwendung des Säulen- und Pilasterschemas als gegen die Wand
geklebtes
Dekorationsmittel mit allen den bedenklichen Folgen der
Kapitellzerschneidung,
der verkröpften Gebälkstücke, der
angeklebten Wasserrinnen usw. Während
Viollet-le-Duc von der mittelalterlichen Kunst ausgeht, die
für ihn den
Inbegriff des grundsätzlich reinsten
baukünstlerischen Stils vergegenwärtigt
und aus ihr die von ihm als allein richtig befundenen Stilbegriffe
ableitet,
ist Semper mehr der Philosoph, der aus seinen Ideen über Stil
keine bestimmten
Folgerungen zieht, demzufolge aber auch bald in gewisse
Irrtümer verfällt, die
für die Baukunst des XIX. Jahrhunderts verhängnisvoll
werden sollten. Es ist
Tatsache, wenn auch beinahe unbegreiflich, dass Semper, der Verfasser
eines
Buches "Der Stil in den technischen Künsten", das allen
überflüssigen
und allen falschen Schein, ja alle der Natur der Dinge widerstrebenden
Aeusserungen verdammt und darin geradezu apostolisch auftritt, alle
diese
Untersuchungen von unsterblichem Wert bei seinen Bauten ausser acht
liess. Bei
der Grossartigkeit seiner Auffassung und der Feinheit seiner Details
hätte die
Kunst dieses Meisters kräftigste Keime in sich geborgen zu
einer lebensfähigen
Weiterentwicklung. So ist sie nur von vorübergehendem Wert
gewesen. In ihrem
Zurückgreifen auf alte Konventionen wurde sie selbst
konventionell. Wenn nun wiederholt betont wurde, dass Stilarchitektur
eine
Lüge sei und
obendrein die Neurenaissance eine Stilinkonsequenz, wie kann dann
behauptet
werden, dass man, wie Viollet-le-Duc, bei der mittelalterlichen Kunst
in die
Lehre gehen müsse, um in Zukunft etwas befriedigendes schaffen
zu können? Auch
hierüber gibt uns Semper in seinem "Stil" Auskunft. Er sagt:
"Ja,
die Natur, die grosse Urbildnerin, muss ihren eigenen Gesetzen
gehorchen; denn
sie kann nicht anders, als sich selbst wiedergeben. Ihre Urtypen
bleiben
dieselben durch alles, was ihr Schoss in den Aeonen hervorbrachte".
Dies
heisst für den Künstler, dass er gleich wie die
Natur, die ihre Urtypen nur
umformt, die ursprünglichen Kunstformen umformen muss, da er
gar nicht imstande
ist, neue zu erschaffen. Die ganze Geschichte der menschlichen Kultur
lehrt,
dass sie sich stets wiederholt, dass sich nur das Formale
ändert, die
Grundlagen der Kultur aber stets dieselben bleiben. Daraus folgt, dass
der
Künstler künstlerische Formen umformen muss, aber
nicht kopieren darf. Er soll
nach dem Geiste, der in den Werken früherer Zeiten wohnt,
forschen, denn der
ist das ewig wahre, freie und konstruktive Baugesetz; das Formale ist
in andern
künstlerischen Formen auszudrücken, die durch die
Liebe des Schöpfers
hervorgezaubert werden. Hat man den Geist allein erfasst, hat man noch
nichts
Originelles getan, sondern nur ein ewiges Gesetz verstanden, und hat
man nur
das Formale kopiert, so ist wertloses geschaffen worden. Hat man aber
das
Formale umgeformt und den Geist in sich aufgenommen, so ist etwas
Originelles
erreicht. Die Natur tut dasselbe mit den einfachsten Mitteln und bleibt
deswegen
auch stets originell. "Von historischen Zeiten," sagt Muthesius einmal,
"ragen in
unserer westlichen Kultur zwei Glanzperioden der Menschheit als
vorwiegend
künstlerisch heraus: das griechische Altertum und das
nordische Mittelalter,
das erstere eine Höhenmarke in künstlerischer
Beziehung bedeutend, welche die
Welt wohl kaum je wieder zu erreichen hoffen kann, das letztere eine
vollkommene künstlerische Selbständigkeit und
unbedingte Volkstümlichkeit der
Kunst verkörpernd, die man als Grundbedingungen einer
künstlerischen Zeit
voraussetzen muss". Erwägen wir dabei die Tatsache, dass es
gerade diese
beiden grossen Architekturen sind, die sich nach einem gewissen
geometrischen
Gesetz entwickelt haben, so erscheint es abermals als fast
selbstverständlich,
dass wir, um den Geist zu erfassen, ebenfalls wieder nach einem
geometrischen
Gesetz, zu arbeiten, anfangen müssen, wodurch, wie bereits
mehrfach ausgeführt
wurde, weder das freie künstlerische Schaffen noch die
Entfaltung der Phantasie
beeinträchtigt wird. Die "Sachlichkeit", d. h. das intensive
Streben nach klarer
Konstruktion, ergibt sich beim Studium des Geistes der griechischen wie
gotischen Baukunst als vornehmstes Merkmal dieser Stile. Und wenn wir
heutzutage in unverkennbarem Drange demselben Ziele zustreben, so
erfüllen wir
damit nicht nur ewig gültige Baugesetze, sondern auch eine
Forderung der
Zeitentwicklung, die in gesunder Reaktion gegen die unmotivierte
Verzierungswut
des XIX. Jahrhunderts mit entschiedenster Hervorhebung des rein
zweckmässigen auf
Unterlassung jeglichen Schmuckes hinarbeitet. Das soll aber nicht zu
dem
voreiligen Schluss führen, dass wir einer schmucklosen Kultur
entgegengingen.
Im Gegenteil! Die Menge der Ornamentisten, die sich gerade jetzt mit
der
Entwicklung des modernen Ornaments beschäftigen, zeigt
deutlich, dass die
zukünftige Kultur schon als Folge des innerlichen Dranges
aller Menschen nach
Schmuck keineswegs eine schmucklose sein wird. Dagegen wird auch hier
mehr und
mehr die Sachlichkeit allein bestimmend wirken, sodass sich das
Ornament immer
mehr durch Klarheit in der Linienführung und durch Einfachheit
in der Bildung
auszeichnen wird. Nach diesen Betrachtungen scheint der Weg, der uns zu
einer neuen Kunst
führen
kann, durch folgende Forderungen bestimmt:
1. Die Grundlage einer
architektonischen Komposition soll wie ehemals nach einem geometrischen
Schema bestimmt werden.
2. Die charakteristischen
Formen früherer Stile sollen nicht wieder verwendet werden.
3. Die Architekturformen
sollen sich sachlich und zweckentsprechend entwickeln.
Was den ersten Punkt anlangt, so ist im
vorstehenden wohl klar genug nachgewiesen, dass in den erhabensten
Stilperioden
die Forderung nach einer geometrischen Basis erfüllt wird, und
dass sie, wie
Beispiele moderner Bauwerke zeigen, auch heute noch erfüllbar
ist und dabei die
Phantasie nicht fesselt, sondern leitet und anregt. Der zweite Punkt
spricht
für sich selbst, da nur das Individuelle einen Stil macht und
mit dem Kopieren
alter Formen jede Originalität preisgegeben wird. Der dritte
Punkt endlich
antwortet auf die Verneinung des zweiten Punkts und gibt, da man das
Individuelle nicht vorschreiben kann, natürlich nur
umschrieben an, wie sich
denn die neuen Formen gestalten sollen. Der Beschreibung dieses Weges
bereitet der in der heutigen Zeit so
überstark
ausgeprägte Individualismus grosse Hindernisse. Hatte man in
der Renaissance
doch noch eine gewisse Tradition, die in der Antike wurzelt, so fehlt
uns heute
eine solche vollständig. Und doch wissen wir, dass ein Stil
nicht die
Aeusserung eines Individuums, sondern die eines ganzen Volkes ist, der
sich der
einzelne unterordnen muss. Die Entstehung eines neuen wirklichen Stils
wird
somit erst dann möglich sein, wenn es gelingt, eine neue
Tradition zu schaffen.
Aber auch wenn es modernen Künstlern glücken sollte,
sich nach vielem Suchen
und Irren zuletzt zu einer künstlerischen Uebereinkunft, zu
einer Einigung auf
formale Schönheit zusammenzufinden, so wäre damit
noch lange nicht der grosse
moderne Stil geboren, da vorläufig auch dann noch immer jenes
Etwas fehlte, das
in letzter Instanz einen erhabenen Stil macht, die Liebe zu einem
Ideal. Es ist nicht zu leugnen, dass eine derartige Einigung auf
formale
Schönheit, d.
h. zu einem konsequent durchgeführten Formensystem auf
geometrischer Basis
immerhin einen grossen Schritt vorwärts bedeutete, besonders
dann, wenn sich zu
ihr eine geistige Konvention gesellte, die sich in der Kunst
wiederspiegelte.
Es ist zwar möglich, schon mit formaler Uebereinkunft
beträchtlich vorwärts zu
kommen, aber der Kunst jene grosse nötige Lebensfreude
einzuflössen, vermag sie
allein nicht. Dass anderseits das Zusammenwirken einer idealen
Grundidee mit
einer formalen einen grossen Stil entstehen lassen kann, zeigt das
Mittelalter.
Die Geschlossenheit seiner Kunst beruhte ebenso wie die fast aller
frühern
Epochen beinahe ausschliesslich darauf, dass die Menschen sich auf eine
Religion geeinigt hatten, was beweist, dass die Zersplitterung in der
künstlerischen Produktion der Gegenwart aus dem Fehlen einer
allgemein
anerkannten Weltidee zu erklären ist.
(Schluss
folgt)
RAUMKUNST UND ARCHITEKTUR
III. (SCHLUSS)
Alle diese Betrachtungen ergeben, nochmals
kurz zusammengefasst, folgendes: Ein Stil entsteht durch
Beschränkung und
bedarf als Grundlage eines Systems, ja er ist in gewissem Sinne selbst
ein
System, nach dem die Menschheit, je bewusster sie wird, desto
eindringlicher
verlangt. In ihm sollen viele Zweifel beantwortet und alle
Widersprüche des
Lebens aufgelöst werden. Deswegen waren auch die
verschiedenartigsten
Religionen, die die Menschen geeinigt hatten, imstande, zu
allerhöchsten
künstlerischen Aeusserungen anzuregen. Heutzutage aber leben
wir, was die
geistige Konvention anlangt, zwischen zwei Religionen, und unsere Zeit
ist
demnach wohl für die bildende Kunst unfruchtbar. Da kein
Vertrag über die Art
der Ideale mehr gilt, und infolgedessen auch dem Künstler
keine
gemeinverständlichen Symbole zur Verfügung stehen,
muss er aus sich heraus für
seine Empfindungen neue Gleichnisse suchen, die seiner Erkenntnis wohl
symbolisch erscheinen, andern aber nicht, und deshalb vielfach
unverstanden
bleiben. Das klingt allerdings nicht sehr hoffnungsvoll: Was wir auch
schaffen,
was wir
auch ringen, wir können es höchstens zu einer
Einigung in formaler Schönheit
bringen, also höchstens zu einem formalen Stil, nicht aber zu
einem Stil als
Spiegelbild einer geistigen Idee, eines geistigen Ideals, einer Kultur.
Unsere
heutige moderne Bewegung ist nur als eine Formenumbildung zu
betrachten, die
nach der Erschlaffung des XIX. Jahrhunderts eintreten musste. Und doch,
wenn diese moderne Bewegung in vernünftiger konstruktiver
Form, d. h. sachlich
klar arbeitet, wie es die beiden grossen Stile getan haben, dann
arbeitet
auch sie mit einer gewissen religiösen Tendenz, mit einer
Sehnsucht. Und
zuletzt wird diese Sehnsucht vielleicht doch zur Wirklichkeit werden
und eine
neue Weltidee gebären. Wie diese neue Weltidee sich kundgeben
und welches geistige Ideal ihr
zur
Grundlage dienen wird, darauf kann heute niemand eine Antwort geben.
Das
Christentum erscheint tot, hat wenigstens seine
überwältigende Macht auf die
Gemüter grösstenteils eingebüsst und von
einer neuen Form universaler
Weltbegriffe, als unerbittliche Konsequenzen unserer modernen
naturwissenschaftlichen Forschungen, ist kaum ein leichter Hauch zu
spüren. Unter sachlich klarer Arbeit ist aber
zunächst das erneuerte
Bewusstsein
verstanden, dass die Architektur die Kunst der Raumumschliessung ist,
dass somit
auf den Raum in architektonischer Beziehung konstruktiv sowie dekorativ
der
Hauptwert zu legen ist, und ein Gebäude nicht in ersten Linie
eine
Manifestation nach aussen darstellen soll. Eine Raumumschliessung wird
durch
Mauern hergestellt, auf die vor allem Rücksicht zu nehmen ist.
Und da eine zu
sehr gegliederte Mauer ihren Charakter als solche verliert, ergibt
sich, dass
die Architektur der Wandfläche nur Dekoration bleiben soll,
dass die
vorspringenden Architekturteile möglichst auf jene zu
beschränken sind, die,
wie Fensterstützen, Wasserspeier, Gesimse usw., durch die
Konstruktion verlangt
werden. Aus dieser sogenannten "Architektur der Mauer", bei der die
vertikale Gliederung von selbst wegfällt, folgt, dass die
etwaigen Stützen, wie
Pfeiler und Säulen, keine vorspringenden Kapitale erhalten
dürfen, sondern dass
sich jede Entwicklung der Uebergänge innerhalb der
Mauerfläche abzuspielen hat.
Die eigentliche Flächendekoration bilden die
Fensteröffnungen in der ihrem
jeweiligen Zwecke entsprechenden Lage und Grösse. Die
bildnerische Verzierung
darf nicht vorherrschen und nur an den Stellen angebracht werden, die
sich nach
peinlichem Studium als die richtigen herausgestellt haben. Dem Prinzip
nach
sollen alle Dekorationen Flachornamente bleiben, d. h. in der Mauer
vertieft
angebracht werden; selbst Figuren sollen schliesslich nur verzierte
Mauerteile
darstellen; vor allen Dingen aber soll die nackte Wand wieder in all
ihrer
schlichten Schönheit gezeigt werden. Eine sachlich klare
Architektur unterlässt schliesslich aufs
peinlichste jede
Ueberladung und sorgt durch Vermeidung unnatürlicher
Kompliziertheit und
Unklarheit dafür, dass Interesse und Verständnis
für sie wieder geweckt werden. Nur eine solche sachlich
vernünftige und daher klare
Konstruktion kann die
Basis der neuen Kunst werden, und erst dann, wenn dieses Prinzip sich
genügend
Geltung verschafft hat, werden wir an der Pforte einer neuen Kunst
angelangt
sein. Dann aber wird auch die neue Weltidee geboren werden mit ihrem
Ideal, das
im Gegensatz zu früher nicht im Jenseits gipfelt, sondern von
dieser Erde ist.
Von diesem Moment an wird die Kunst wiederum eine geistige Basis haben
und
diejenigen Kunstsymbole besitzen, die der formale Stil zur
Versinnbildlichung
der geistigen Idee nötig hat. Ein architektonisches Kunstwerk
wird dann aber
nicht mehr spezifisch individuellen Charakter tragen, sondern als
Ergebnis der
Gemeinschaft allen angehören, insofern unter der
Führung des geistig
hervorragendsten, des Meisters, alle Arbeiter in gleicher Weise geistig
daran
mitarbeiten. Heutzutage allerdings fehlt dieses geistige Interesse des
Arbeiters an seiner Arbeit zumeist noch völlig. Nach den
gesellschaftlichen und geistigen Erscheinungen der Gegenwart
zu
urteilen, scheint die Architektur, die das ganze Volk am wenigsten
entbehren
kann, die Kunst des XX. Jahrhunderts werden zu sollen, der Malerei und
Skulptur wiederum wie einst vor sechs Jahrhunderten dienend zur Seite
schreiten
werden. Und dies deswegen, weil die Baukunst nicht die Kunst des
Einzelnen,
sondern die Kunst aller, der Gemeinschaft ist, in der sich der
Zeitgeist
spiegelt. Zur Herstellung eines Bauwerkes sind sämtliche
Nutzkünste und damit
alle als Mitarbeiter nötig; sie fordert ein Zusammenwirken
aller Kräfte, die
nur bei ökonomischer Unabhängigkeit aller geistig
verwendbar sind; sie ist
somit die Manifestation des äussersten Könnens eines
ganzen Volkes. Denn nur
durch das Zusammenwirken aller Kräfte zu einem idealen Zwecke,
und nicht durch
die Arbeit eines einzigen Individuums, kann jene staunenswerte
Vollkommenheit
erreicht werden, die das Geheimnis der höheren Baukunst ist.
Die Künstler der Gegenwart stehen demnach vor der
schönen Aufgabe, den grossen
architektonischen Stil jener zukünftigen Gemeinschaft formal
vorzubereiten.
Wenn sie auch jetzt noch von dem Gefühl der Einsamkeit, dem
charakteristischen
Merkmal eines jeden religiösen Interregnums geplagt und als
Träger von
Kunstideen, die der Masse unverständlich kommende Zeiten ahnen
lassen,
Beschimpfungen ausgesetzt sind, werden sie sich doch sicherlich bald
zusammenfinden. Ein schöneres Ziel aber gibt es wohl kaum;
jene
künftigen Zeiten werden wieder
eine Kultur besitzen und noch nie dagewesene Aufgaben zu stellen
vermögen. Denn
um soviel als jene Epoche dem Mittelalter und allen vorhergegangenen
Perioden
geistig überlegen sein wird, da ihr Ideal, die
gesellschaftliche Gleichheit
aller Menschen, weit über den Idealen jener Zeiten steht, um
so viel schöner
werden sich ihre künstlerische Verkörperung, ihre
architektonischen Monumente,
ihr ganzer Stil darstellen. Wenn es aber auch einerseits traurig sein
mag zu
wissen, dass wir jene Zeiten nicht mehr erleben können, so ist
doch anderseits
die Gewissheit tröstlich, dass die Verwirklichung des bereits
am Horizont
auftauchenden Zukunftsbildes unserer Vorarbeit zu danken sein wird. |