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Autor: Ebe, Gustav
In: Deutsche Bauzeitung 35 (1901); Nr. 41: S. 257 - 259 und Nr. 44: S. 275 - 278
 
Der Werth des historischen Erbes für das architektonische Schaffen der Jetztzeit
 
Die große Frage nach dem Werthe des auf uns überkommenden Erbes an typischen Architekturformen für das Schaffen der Jetztzeit tritt heute in erhöhter Wichtigkeit in den Vordergrund des Interesses. Die Beantwortung der Frage nach dem Werthe der geistigen Potenzen, welche wir jetzt noch als wirksam anerkennen müssen, ist nicht mehr abzuweisen. Ueberblicken wir die gesammte Baugeschichte, so tritt als wichtiges Ergebniss derselben ein stetiger Fortschritt hervor, der, abgesehen von stilistischen Wandlungen, in der Ausbildung der Gebäudetypen stattfindet, und zwar sowohl in den Aussensystemen, wie in den Raumbildungen, welche nachweisbar sich in fortlaufender Kette immer aus dem Vorhergehenden entwickeln. Anders verhält es sich dagegen mit den stilistischen Veränderungen. Das stilistische Element hängt zwar ebenfalls von der Ueberlieferung ab, wird aber durch die verschieden beanlagte Kunstphantasie der Völker oft von dem geraden Wege des Fortschrittes abgelenkt und erhält eine stetige Zufuhr neuer Motive, die nur zuweilen durch die obwaltenden Konstruktions-Bedingungen zu erklären sind. Um es kurz zu sagen: die Darstellung des historischen Erbes aus allen Stilepochen fällt wesentlich mit einer Entwicklungsgeschichte der Hauptanordnungen für das Aeussere und Innere der Bauwerke zusammen.

Die Architektur auf der Grossen Berliner Kunstausstellung 1901 - Landhaus Andrevits - Arch: Alfr. J. Balcke in Berlin

Das Architekturschaffen der Jetztzeit kann ungeachtet alles Ringens nach originellem Ausdruck doch nur eine Weiterbildung der bereits gefundenen Typen für die einzelnen Gebäudeklassen bezwecken und muss sich sogar des vorhandenen stilistischen Apparates für die Einzelformen bedienen, wenn auch für diese die bisher vielfach festgehaltene puristische Hartnäckigkeit in Fortfall kommt. Vielleicht verlangen wir Neueren überhaupt ein zu grosses Maass von Originalität. In der klassischen Antike äusserte sich diese keineswegs in weit ab führenden Sprüngen des individuellen Beliebens. Jene grossen Künstler hielten sich Original genug, wenn sie die Fähigkeit beweisen konnten, den typischen Ausdruck einer Idee in sich aufzunehmen und ihn auf ihre Weise wieder darzustellen. Auch der Verlauf aller folgenden Jahrhunderte beweist die Richtigkeit des Satzes von der Herrschaft der Ueberlieferung. Zwar bildet das von alter Denkmälern Erhaltene und Bekanntgewordene nur ein Bruchstück des Geleisteten, aber doch treffen wir auf tausendfältige Wiederholungen derselben Form für den gleichen Gedanken, ein Umstand, der wohl zur Genüge auf die Schranke hinweist, welche der Erfindungskraft des Menschengeistes gesteckt ist. Offenbar trägt in der Baukunst das Gebundensein der Phantasie an konstruktive Bedingungen, welche sich meist aus dem Gesetz der Schwere ergeben, viel zur Beschränkung in der Anzahl der ausgebildeten Typen bei. Uebrigens ergiebt sich erst aus der häufiger wiederholten Erscheinungsform für den Ausdruck desselben Gedankens das Charakteristische für eine bestimmte Gebäudeklasse. In seiner Vollendung tritt das Charakteristische zuerst in der Blüthezeit des griechischen Stils auf; vorher, in den vorklassischen Stilepochen, finden sich meist mehrere Erscheinungsformen für dieselbe Idee. Es ist eine der bezeichnendsten Eigenschaften der „klassisch" genannten Perioden, dass in ihrem Verlaufe dasselbe Bauprogramm stets mit denselben Mitteln zur Erledigung kommt, und gerade deshalb seine für Jedermann verständliche Sprache spricht. Die neueste Richtung in der Architektur wird aus Furcht vor dem Schablonenhaften zu einer krankhaften Neuerungssucht getrieben. Allerdings haben wir in den letzten Jahrzehnten das Gegentheil; eine Uebertreibung in der Nachfolge des historischen Bildes, zugleich einen gesuchten Stilpurismus hervortreten sehen. Man wollte keine neuere Form gelten lassen wenn sie nicht durch den Stempel einer gegebenen Stilepoche geheiligt war. Dieser gedankenarmen Nachahmungskunst mag die moderne frische Richtung mit Recht entgegentreten, indem sie vorzugsweise Gewicht auf das selbständige, das persönliche Empfinden des Künstlers legt. Aber gewiss kann kein Einzelner die Ueberlieferung ganz beiseite schieben, und in Wirklichkeit wird dies auch nur selten versucht. Den sklavischen Nachahmern einer historischen Stilart treten nur die prinzipienlosen Eklektiker entgegen, die aus allen Blüthen ohne Wahl ihren Honig saugen. Die allgemein übliche Wahl des Stils nach gelehrten Erwägungen oder nach den für den besonderen Fall und die Umgebung passenden Umständen kann so recht eigentlich für den Ausdruck einer unkräftigen Zeitrichtung angesehen werden. Ein älteres Bauwerk ist vollständig charakterisirt, wenn man sagt, es sei im Stile des 13., 14. oder irgend eines anderen Jahrhunderts ausgeführt; wird aber das Gleiche der Fall sein, wenn von einer Schöpfung des 19. Jahrhunderts die Rede ist? Für uns Mitlebende gewiss nicht, obgleich vielleicht die Zukunft auch für die Architektur des 19. Jahrhunderts gewisse unterscheidende Kennzeichen herausfinden wird, wenn auch diese ausserhalb der früher als Norm geltenden stilistischen Bedingungen liegen sollten.

Die wiederholt aufgeworfene Frage: „Ob ganz allgemein in der Neuzeit ein Nachlassen der künstlerischen Erfindungskraft und damit zugleich eine Minderschätzung der hervorgebrachten Kunstwerke durch den Zeitgenossen stattfindet?", ist nicht zu beantworten und eigentlich ganz unnöthig. Die grossartigen Erfindungen, welche den Menschen immer mehr zum Herrn über die Naturkräfte machen, stehen wohl augenblicklich im Vordergrunde, weil sie unzählige praktisch greifbare Lebensinteressen fördern; indess zeigt sich der Menschengeist doch besonders in den Schöpfungen der Kunst von seiner erhabensten Seite, gewissermaassen als einer, der die Geheimnisse der Schöpfung erlauscht hat und sich selbständig bildend mit Freiheit innerhalb ihrer gesetzmässigen Kreise bewegt, während die Naturforschung immer nur neue Eigenschaften der Materie entdeckt, ohne den Grundursachen näher zu kommen. Die künstlerische Phantasie und der Antrieb zum künstlerischen Bilden sind ein allgemeines Erbtheil der ganzen Menschheit; schon die Urmenschen des Steinzeitalters haben Schnitzereien und Zeichnungen hervorgebracht, welche nicht entfernt an Nützlichkeitszwecke anstreifen, wie es heute noch die sogenannten Wilden thun. Eine Fortsetzung dieses allgemeinen Kunsttriebes ergiebt sich bei den in der Kultur fortgeschrittenen Völkern durch das, was wir heute Volkskunst oder, mit Bezug auf die neueren Völker Mittel- und Westeuropas, „Bauernkunst" nennen. Der Kreis, den diese volksentsprungene Kunst umspannt, ist nicht allzu klein; es fallen in denselben: die Grundzüge der Wehrbauten für Burgen und Städte, die verschiedenen Typen der Bauernhäuser, welche dann auf das Burghaus und das städtische Wohnhaus übertragen werden. Unter den Arbeiten im Kleinen, die wir heute als „kunstgewerbliche'' zusammenfassen, ist besonders der Kerbschnitt in Holz wichtig. Die in dieser Technik hervorgebrachten Formen gehen von den Geräthen auf die Fachwerks- und Schrotholzbauten über und bestimmen selbst noch später den Charakter der romanischen, ornamentalen Steinskulptur. Weberei, Gefässbildnerei, sowie das Giessen und Treiben von Schmuckstücken in Metall und das Verzieren derselben mit eingelegten Glasflüssen gehören ebenfalls in den Bereich der ursprünglichen Volkskunst. Gehen wir von dem oben berührten Besonderen wieder auf Allgemeines zurück, so finden wir den Boden, auf dem eine Volkskunst gedeihen kann, durch gewisse Bedingungen beschränkt. Jede künstlerische Thätigkeit setzt eine in sich beruhende Sinnigkeit und ein freies Spiel der Phantasie voraus, also seelische Zustände, die nur mit einer gewissen Musse und Befreiung von der gemeinen Sorge für das Bedürfniss des täglichen Lebens vereinbar sind. Deshalb blüht die Volkskunst bei den einfachen Naturvölkern, wird aber nicht von den Arbeiterklassen der modernen Kulturvölker geübt, denen die freie Zeit mangelt. Wer genöthigt ist, seine ganze Tageszeit in mechanischer harter Arbeit zuzubringen, kann keine Anmuthung zur Kunst haben. Die vorhistorischen Höhlenmenschen, von denen wir so naturwahre geschnitzte und auf Knochenstücke eingeritzte Menschen- und Thierbilder besitzen, waren ohne Zweifel Jäger, die einen guten Theil ihrer Zeit auf der Bärenhaut verträumen konnten. Auch den Ackerbauern der älteren Zeiten blieb noch freie Zeit genug zu einer sinnvollen feineren Thätigkeit. So sehen wir die Kunstübung von ihrem Beginn an, auch in den zum Kunstgewerbe zählenden Zweigen, an eine gewisse Vornehmheit der Lebensauffassung geknüpft. Jedoch fordert die Ausübung der Monumentalkunst weit mehr, als das Ledigsein von gewöhnlichen mechanischen Verrichtungen, sie verlangt ein besonderes, das ganze Leben in Anspruch nehmendes Studium, mit einem Worte die Ausbildung eines Künstlerstandes. Wir sehen im Verlaufe der Geschichte nur wenige zur höheren Kultur fortschreitende Völkerschaften eine Monumentalkunst zur Reife bringen, und wie diese als eine Kunst der Gebildeten bezeichnet werden kann, so muss dieselbe nothwendig in Gegensatz zu der in breiten ungelehrten Schichten wurzelnden Volkskunst treten. Das Aufnehmen und Fortbilden der vorhandenen Formen, wie es die Monumentalkunst fordert, setzt immer einen gewissen Grad von Bildung des Künstlers voraus.

Die eigenthümlich veranlagte Kunstphantasie der verschiedenen Völker ist es aber, welche durch das Zusammentreffen mit konstruktiven Bedingungen zur Ursache der verschiedenen Stilformen wird. Es ist richtig, dass nichts in die Phantasie hineinkommt, was nicht durch einen Natureindruck von aussen angeregt wird; aber die künstlerische Phantasie beschränkt sich nicht darauf, ein Abbild des Naturgegenstandes zu geben, sie verarbeitet diese Vorbilder nach eigenen Prinzipien und bringt durch Ueber- und Unterordnen nach bestimmten harmonischen Gesetzen das Element der Schönheit in die sinnliche Erscheinung. Die Schönheit wird erst im Menschengeiste durch freie schöpferische That hervorgebracht; ein fester Kanon für dieselbe ist nicht aufzustellen, da das Empfinden des Einzelnen verschieden ist. Symmetrie, Eurythmie, gelten als Eigenschaften des Schönen, sind aber nicht unentbehrlich wenigstens wird gelegentlich die Symmetrie ohne Schaden dem Charakteristischen aufgeopfert. Wie sich in den älteren Zeitabschnitten die Bauformen durch Ueberlieferung fortpflanzten, ist bekannt. Erst mit der Bearbeitung der „Allgemeinen Kunstgeschichte" und den Aufnahmen und Veröffentlichungen der alten Baudenkmäler um die Wende des 18. Jahrhunderts beginnt für das Neuschaffen die Zeit des Experimentirens. Als rettenden Anker in diesem Wirbelstrome begrüsste man um die Mitte des 19. Jahrhunderts die schon immer betonten, aber nun in aller Stärke, politisch wohl zuerst in Italien, wieder auftauchende Nationalitätsidee, über deren Einwirkung auf das Kunstschaffen hier nur das Wesentliche inbezug auf deutsche Verhältnisse bemerkt werden soll. So musste die Deutsche Renaissance geradezu erst wieder entdeckt werden, - man hatte bis dahin diese eigenartige Verbindung zwischen Spätgothik und Renaissance garnicht der Beachtung werth gehalten und nur die Leistungen der Florentinischen Frührenaissance und der römischen Hochrenaissance in das kanonische Musterbuch aufgenommen. Nun fand man in der Deutschen Renaissance einen durch kühne Umrisse und reizvolle Einzelheiten für das malerische Empfinden der Jetztzeit höchst geeigneten Stil, der in seiner Anwendung auf städtische Wohnhäuser viel zur Belebung der monoton gewordenen Strassenbilder beitragen konnte, jedoch noch mehr den Landhäusern zugute kam, und endlich auch für einzelne Klassen der öffentlichen Gebäude, namentlich für die Rathhäuser, einen genügenden Grad ernster Monumentalität zuliess. In dem fortgesetzten Suchen nach „deutscher Art" erkannte man den hohen Werth der heimischen romanischen Bauperiode, in welcher Deutschland, wie weder früher noch später wieder, die führende Rolle innerhalb der grossen germanischen Gruppe zufiel; und die Folge war eine praktische Verwerthung der romanischen Formen für moderne Baugedanken. Auch im Bereiche der Gothik und des Barocks studirte man jetzt mehr als früher die vaterländischen Neubildungen und die neuschöpferischen Erfindungen deutscher Meister und suchte die Unterschiede der deutschen Denkmäler von den französischen, beziehungsweise italienischen Vorbildern festzustellen. Diese Bestrebungen setzten unter anderem die reiche und eigenartige deutsche Spätgothik wieder an den ihr gebührenden Platz, und besonders fand die Tiroler Gothik, welche den Uebergang zur Renaissance markirt, durch ihre weichen malerischen Formen Eingang in den modernen Wohnhausbau. Ebenso würdigte man in den deutschen Barockpalästen und den grossartigen Repräsentations-Bauten der süddeutschen Klöster derselben Zeit den erreichten, niemals übertroffenen Grad der Ausbildung, der in der Anlage des Inneren wohl die italienischen Palastbauten übertrifft, und im Aeusseren der Neigung, zum Malerischen, die seit alters her einen deutschen Grundzug ausmacht, glücklich entgegenkommt.

Neuere palastartige Wohnhäuser und öffentliche Gebäude sind denn auch vielfach mit Erfolg diesen Spuren nachgeschritten. Selbst das Rokoko, dessen Selbständigkeit der Formgebung in der Gliederung der Innenräume erst jetzt wieder anerkannt wurde, welches sogar in der Vermeidung des Apparates der Aussenformen für das Innere mit den hellenistischen Wohnhausformen Pompeji's und Rom's in innige Parallele tritt, hat in seiner deutschen Umbildung eine Wiederaufnahme erfahren. Zweifellos nehmen die Kunstformen unter dem Einflusse der nationalen, landschaftlich bedingten Phantasie eine besondere Färbung an, deren Wichtigkeit nicht zu verkennen ist. Wenn nun die neueste Architekturbewegung in dem Hervorkehren des ausschliesslich nationalen Standpunktes eine Klippe sieht, indem durch diese Beschränkung eine Blindheit gegen fremde Leistungen hervorgebracht wird, so ist auch diese Meinung nicht ohne tiefere Berechtigung. Denn, was wäre sonst aus der ganzen Kunstentwicklung der Jahrhunderte geworden, die von Volk zu Volk fortschreitend, in jeder folgenden Epoche sich auf den Errungenschaften der vorhergehenden aufbaut?

(Schluss folgt)


DER WERTH DES HISTORISCHEN ERBES FÜR DAS ARCHITEKTONISCHE SCHAFFEN DER JETZTZEIT
(Schluss aus No. 41.)

Das den jetzigen Zustand des Kunstschaffens anbelangt, so wäre der vielerorts behauptete, aber schon weiter oben infrage gestellte Mangel an Kunstempfinden der Massen erst noch zu beweisen. Sehen wir uns auf architektonischem Gebiete um, so finden wir, dass gerade jetzt eine grössere Anzahl an Umfang und Ausstattung hervorragender Monumentalbauten entstehen, als je zuvor, und zwar in immer vermehrter Zahl, je mehr sich das Jahrhundert seinem Abschlusse genähert hat. Allerdings wird dies vortheilhaft erscheinende Bild wieder einigermaassen durch die Betrachtung getrübt, dass man nur allzuhäufig die grossen modernen Aufgaben schablonenhaft mit den hergebrachten Mitteln erledigt, zwar mit einer grossen Gewandtheit in der Verwendung der alten Stilformen, aber ohne eine Fortbildung derselben im Zeitsinne anzustreben. Diese echt romanischen und gothischen Kirchen, die zahlreichen Rathhäuser in Deutscher Renaissance, an denen der jetzt bedeutungslos gewordene Rathsthurm nicht fehlen darf, die Verwaltungs-Gebäude in den Formen der Barockpaläste u. a. müssen nothwendig, sobald sie des Stempels eigenartiger Erfindung entbehren, eine gewisse Gleichgiltigkeit gegen die modernen Architekturschöpfungen hervorrufen. Wir wollen indess trotzdem im guten Glauben an die aufsteigende Linie in der heutigen Kunstbewegung verharren. Schon vorhin wurde die Nothwendigkeit einer Erziehung zur Kunst betont, sowohl für den Künstler, wie für den Laien; ein wesentlicher Theil dieser Aufgabe wird immer nur durch das Studium der Entwicklungs-Geschichte des überlieferten Formenschatzes gelöst werden können. Soll aber die Baugeschichte zum Erreichen dieses Zieles helfen, so muss sie den Nachdruck auf die Darstellung der typischen Schöpfungswerke legen und den verwirrenden Ballast der nebenhergehenden Erscheinungen beiseite lassen. Ausserdem wäre so manche sich ins Unendliche fortschleppende Phrase zu unterdrücken. Eine der inhaltsleersten Behauptungen ist die vom Verfall der Kunst am Ende jeder nationalen Stilperiode, die doch nur wahr ist, wenn sie auf die Bildung der EinzeIgliederungen bezogen wird, jedoch sofort in der Ausdehnung auf die Typenbildung im Grossen ihre Geltung verliert; denn diese bildet eine Kette stetigen Fortschrittes zu höheren Entwicklungsstufen. Ein zweiter, gelegentlich auf ganze Perioden ausgedehnter, unhaltbarer Vorwurf ist der des Unorganischen in der Stilbildung, der doch auch wieder von den mehr dekorativ verwendeten als konstruktiv entwickelten Einzelformen hergenommen ist und den Kern der Sache, die Systeme des Innen und Aussenbaues, nicht trifft. Ein kunsttheoretischer Tadel dieser Art hat namentlich die Römerbauten eine Zeit lang in Missachtung gebracht, auf deren Fortschritten im Gewölbebau doch die ganze spätere Entwicklung beruht. Das Kasettensystem der römischen Gewölbedecke darf keineswegs als eine dekorative Uebertragung von der flachen Balkendecke aufgefasst werden, dasselbe ist vielmehr durch die Konstruktion des Gewölbes aus aufsteigenden Rippen, dazwischen gespannten wagrechten Bändern und dem Füllwerk aus Beton gegeben. Für das Tonnengewölbe und die Kuppel kann man die Kasettenform als eine vollständig gelungene Lösung betrachten; nur bei dem Kreuzgewölbe ist der Konflikt der Diagonalgurte mit der beibehaltenen Dekoration des Tonnengewölbes nicht ausgeglichen. Auch der architravirte Bogen sowie das zwischen Säule und Bogen eingeschobene Gebälkstück sind keineswegs widersinnige Formen; und besonders muss die römische Auflösung der Wand in Arkaden zwischen Säulen and Pilastern als eine der wichtigsten ästhetischen Thaten gelten. Ueberhaupt wird der Begriff des „organischen Stiles" gewöhnlich zu eng und einseitig aufgefasst, und in dieser Art mit Unrecht als Werthmesser für die Schöpfungen aller Perioden hingestellt. Zudem ist der organische Stil keineswegs bereits ein Eigenthum der frühen Stilperioden, sondern erscheint erst in den eigentlichen Blüthezeiten. Namentlich bieten die alt-orientalischen Stile keine Muster organischer Durchbildung. In den Pyramiden und Mastabagräbern Aegyptens sind unregelmässig liegende Kammern ausgespart, wie in einem Felsklotz; selbst in den ägyptischen Tempelbauten erscheinen die ungegliederte Umwallung und die Pylonen als ungefüge Elemente, welche sich nicht mit den Hallen der Höfe und den Säulensälen zu einem harmonischen Ganzen verbinden.

Nach der strengen, hauptsächlich von den griechischen Tempelbauten abgeleiteten Auffassung wäre ein vollkommen harmonisches Bauwerk ein solches, in dem jeder Bautheil, jede Einzelgliederung eine wirklich statische Funktion ausübte, dem Umschliessen, Stützen oder Ueberdecken diente, und auch seinen ornamentalen Schmuck nur in dem Sinne erhielte, dass damit den im Inneren latent wirkenden Kräften Sprache und sinnlicher Ausdruck gegeben würde. Das hiesse also: die Säule oder der Pfeiler sowie das Gebälk sollen wirklich tragen, das Hauptgesims soll nur am Dachrande erscheinen und der Giebel wirklich den Abschluss des Daches bilden usw. Man wird aber diesen Forderungen einer einseitigen Kunsttheorie entgegenstellen können, dass die Phantasie für ihr Wirken einen freieren Spielraum verlangt und nur ihr gutes Recht behauptet, wenn sie die Gliederungen wieder als ästhetische Kunstmittel behandelt, um ganze Baumassen geistig zu beleben. Hier und da hat irgend ein philosophirender Jemand der Architektur die Eigenschaft einer Kunst abstreiten wollen, doch wohl ohne Zustimmung zu finden; denn die Bauwerke höherer Ordnung zeigen vor allem die Haupteigenschaft einer echten Kunst in der Fähigkeit, die vom Urheber gewollte ideale Stimmung auf den Beschauer zu übertragen. Ausserdem ist die Architektur in den Raumbildungen selbstschöpferisch ohne Naturvorbild. Von einer Seite hat die Architektur sogar einen Vorzug vor den anderen Zweigen der bildenden Kunst, indem ihr vor allem der Ausdruck des Erhabenen zu Gebote steht. Das Gefühl des Erhabenen führt den Menschen mehr als alles Andere aus seinen gewöhnlichen Grenzen, es steht über dem Sinnlich-Schönen. Nun kann aber das Erhabene der Quantität, das Unfassbare für den Verstand besonders zur Darstellung des Uebersinnlichen dienen. Ein Beispiel aus der Plastik, mit welcher die Architektur in dieser Beziehung einen Berührungspunkt hat, gab der olympische Zeus des Phidias. Der Gott verdankte doch wohl den grössten Theil seiner überwältigenden Wirkung der ungeheuren Grösse seiner Bildung. Als Mittel der Architektur, um das Erhabene zum Ausdruck zu bringen, ist als vornehmstes die Raumbildung zu betrachten. Ohne diese wären Eindrücke, wie sie beispielsweise das Innere des Pantheons und der Peterskirche in Rom, der Sophienkirche in Konstantinopel, der Dome zu Speier und Köln u. a. bieten, nicht möglich; und nichts Anderes könnte sie ersetzen, wenigstens nicht im Bereiche der bildenden Kunst. Unerlässlich für jedes Kunstwerk, zumal für das architektonische, ist die Erfüllung der ideellen Zweckmässigkeit. Das architektonische Gebilde wird erst zum Kunstwerk, wenn dasselbe zum Ausdrucke einer Idee dient. So mag zwar ein einfacher Brettersteg praktisch genügen, um den Zugang von einem Wasserlauf zu dem Ufer zu vermitteln, aber ein kunstgemässer Ausdruck wird doch erst durch eine geordnet aufsteigende, an den Anfangs- und Endpunkten durch Pfeiler, Säulen oder Figuren bezeichnete Landungstreppe erreicht. Ein Heckenthor giebt genügsam Eintritt in einen Nutzgarten, aber erst ein festlich geschmücktes Portal bereitet würdig auf den dahinter liegenden Schmuckgarten vor. Nicht anders ist es mit den Quellen, Springbrunnen und Wasserstürzen, welche erst durch die Einfassungen und Aufbauten eine Sprache für den inneren Sinn bekommen. Es lässt sich durch das ganze weite Gebiet der Architektur nachweisen, wie sich die zur Befriedigung des gemeinen Bedürfnisses erfundenen Anlagen erst durch gleichzeitige Erfüllung der ideellen Zweckmässigkeit zur Kunstform steigern. Die Laube aus Pfosten, Balken und Brettern wird zur Säulenhalle, die Lichtöffnungen und Thüren werden zur schmückenden Wandgliederung, das Dachgesims erscheint als Bekrönung und das Dach selbst ergiebt sich als ästhetisch nothwendiger Abschluss des Baukörpers und giebt durch seine Giebelaufbauten Veranlassung zu reizvollen Umrissen. Die Innenräume gewinnen durch die Gliederung der Wände und Decken, durch die auf perspektivische Zusammenwirkung berechnete axiale Verbindung, sowie durch den ornamentalen und figürlichen Schmuck ein Stimmungselement, welches wohl geeignet ist, alle Schattirungen des Empfindens, von höchster weihevoller Würde bis zur heiteren Traulichkeit allgemeinverständlich zum Ausdruck zu bringen; der Mensch hauchte seine Seele in den todten Stoff und gab ihm damit geistiges Leben. Die Vermischung zwischen Nutzbau und Kunstbau ist wohl die nächste Veranlassung gewesen, dass man gelegentlich der Architektur die Eigenschaft einer Kunst abgesprochen hat, umsomehr, als scheinbar eine feste Grenze zwischen beiden Arten nicht zu ziehen ist. Man sollte sich indess hüten, gewissen Klassen von Nützlichkeitsbauten den Anschein von Kunstwerken aufzuzwingen, da der Missbrauch von Kunstformen nur Schaden anrichten kann, indem derselbe den praktischen Zweck unkenntlich macht oder gar vereitelt. Die Bogenreihen einer römischen Wasserleitung oder einer in kühner Höhe über einen Strom geschwungenen Brücke, ein Festungsthurm oder eine Bastion können allein durch ihre Massenhaftigkeit wirken und entfernt den Eindruck von Kunstgebilden hervorrufen; auch Fabrikgebäude können durch Gruppirung, technische Sauberkeit und überlegte Konstruktion einen angenehmen Eindruck verschaffen, aber in den Bereich der wahren Kunst gehören diese Bauten nicht.

Entwurf "Sichel". I. Preis. Ingenieure: Maschinen-Fabrik Nürnberg, Grün & Bilfinger, Mannheim. Architekt: Geh. Ob.-Brth. Prof. K. Hofmann, Darmstadt

Entwurf "Freie Bahn C". Ingenieure: Grün & Bilfinger, Mannheim. Architekt: Herrmann Billing, i. F. Bilfing & Mallebrein, Karlsruhe - Mannheim. Wettbewerb um den Entwurf zu einer 2. festen Strassenbrücke über den Neckar bei Mannheim


Alle Architekturwerke, fast allein mit Ausnahme der Tempel und Kirchen, setzen sich, besonders vom Beginn der hellenistischen Periode ab, nicht nur aus einer oder mehreren Reihen nebeneinander, sondern auch in zwei oder mehreren Geschossen übereinander gelagerter Räume zusammen; welche einzeln für einen besonderen Zweck bestimmt sind, und in einem gewissen Bezuge der Lage zu einander stehen. Bei den grossen, vielfältigen Anforderungen unterworfenen Aufgaben der Neuzeit ist es schon hinreichend schwierig, die praktische Zweckerfüllung in der Anlage und dem Zusammenordnen der Räume zu erledigen. Es giebt Viele und nicht blos Laien, welche in dieser Arbeit die Hauptleistung der Architekten erblicken, und alles übrige nur für beiläufigen Aufputz halten wollen. Wäre dem wirklich so, läge die Arbeit des Architekten allein oder wesentlich in der praktischen Lösung der Nützlichkeitsforderung, so wäre die Architektur allerdings keine Kunst, sondern höchstens ein Kunsthandwerk. Es ist dies eine Auffassung, welche selbst Platon in seiner „Republik" theilt, indem er alle Künste von seinem Staate ausschliessen oder zum Handwerk herabdrücken will. Vortrefflichkeit, Schönheit und Richtigkeit des Gebildes bezieht Platon auf nichts anderes, als auf den praktischen Gebrauch. Das eigentlich künstlerische Schaffen, dem ein in der Phantasie empfangenes Bild zugrunde liegt, geht indess weit über die zu erreichenden praktischen Zwecke hinaus, oder geht vielmehr denselben voran. Gleich an diesem Ausgangspunkte der geistigen Arbeit scheiden sich die Klassen der Monumental-Gebäude nach ihren charakteristischen Typen; und zwar wird die bildende Phantasie bewusst oder unbewusst von der Ueberlieferung beeinflusst. In den älteren Perioden klassischer Kunstübung war im Wesentlichen für jede Klasse von Gebäuden nur eine Lösung möglich, die Hauptform stand fest, wenn dieselbe auch im Einzelnen zahllose Varianten zuliess. So lassen sich beispielsweise die griechischen Tempel in wenigen Klassen unterbringen, wenn es auch nicht zwei Tempel giebt, die genau übereinstimmen. Wie gesagt, muss das Festhalten an der einmal festgestellten Idealform als besonderes Kennzeichen der klassisch vollendeten Epochen gelten. Die Freiheit des Schaffens wurde deswegen dem Künstler der älteren Zeiten, der für denselben Baugedanken nur einen maassgebenden Typus vorfand, keineswegs genommen, da er in der Fortbildung des Gegebenen nach neuen Bedingungen keineswegs beschränkt war. Diese innere Nöthigung zum Fortschreiten auf einfacher Grundlage fehlt nun der Neuzeit gänzlich. Es giebt heute für jede Aufgabe eine Anzahl stilistisch verschiedener Lösungen, unter denen der Architekt wählen kann, und zwar wird die Entscheidung für diesen oder jenen Stil meist durch äussere, zuweilen sehr zufällige Umstände bedingt. Es kommt die Schule inbetracht, aus welcher der Architekt hervorgegangen ist, oder die Umgebung des zu errichtenden Bauwerkes, oder endlich bei Kirchenbauten gewisse konfessionelle Rücksichten usw.

In Wahrheit spielen wir Neueren etwas theaterhaft mit den Bauformen. Es sollen hier gar nicht die schon erwähnten zahlreichen Bauschöpfungen als Beispiele herangezogen werden, welche sich nur aus Nothdurft mit dem Mantel irgend welcher herkömmlichen Stilformen drapiren, sie dienen dem gemeinen Tagesverbrauch; aber selbst die einen höheren Rang beanspruchenden Werke erscheinen noch allzu oft als gutgemeinte Wiederholungen historischer Modelle. Dieser auf äusserlichen Effekt ausgehenden, dekorativen Manier könnte nur durch ernsten „Verismus" abgeholfen werden. Wie uns in den Dichtwerken der Gegenwart das Spielen mit unwirklichen und chargirten Charakteren und das Aneinanderreihen unwahrscheinlicher, nur die Ueberraschung bezweckender Ereignisse zuwider geworden ist, und wie dieser Mummenschanz der einfachen, schlichten, aus der Natur geschöpften, realistischen und dennoch echte Poesie athmenden Darstellungsweise hat weichen müssen, so bedürfen wir auf dem Gebiete der Kunst einer dasselbe Ziel verfolgenden Wandlung. Die Armseligkeit der nur so zusammen gestoppelten Motive, welche einer gewaltsam gesuchten malerischen Wirkung zu Liebe dem Werke angeheftet werden, muss verschwinden, um einer gesunden, mit Bedacht aus dem Reichthum des historischen Erbes schöpfenden und durch eigene, den Bedingungen der Neuzeit entsprechende Gedanken befruchteten Richtung Platz zu machen. Diese neuen Gedanken versprach schon die konstruktive Schule, der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu liefern; auch hat sie thatsächlich manches Beachtenswerthe hervorgebracht, namentlich in der Deckenbildung mit Hilfe der Eisenkonstruktionen. Jedoch blieb die Bewegung in den Anfängen stecken und wurde schliesslich von der „nationalen" Richtung überflügelt. Immerhin bedingen neue Konstruktionen noch nicht das Eintreten eines neuen Stiles, sie sind nur eine der Vorbedingungen für einen solchen. Wollte man die Formenwelt allein aus der Konstruktion ableiten, so gäbe man damit den Kunstgedanken völlig auf, denn man liesse die ordnende Idee unberücksichtigt, welche sich des Stoffes zum Ausdrucke einer seelischen Stimmung bemächtigt.

Das Vorhergesagte mag genügen, um den unvermindert fortdauernden Werth des historischen Erbes in der Architektur für das Schaffen der Gegenwart nachzuweisen. Allerdings ist uns heute der hergebrachte stilistische Apparat der Einzelgliederungen das weniger Wichtige, obgleich derselbe nicht entbehrt werden kann, da kein einzelnes noch so hoch begabtes Individuum im Stande sein würde, die unendliche Formenwelt, welche die Bestandtheile eines architektonischen Ganzen hergiebt, aus sich zu erfinden und für die Allgemeinheit verständlich zu charakterisiren. Der Hauptnachdruck für die auch heute noch unerlässliche Anknüpfung an die Ueberlieferung liegt auf dem Gebiete der Raumkombinationen, die zumtheil, wie beispielsweise die grossen, in geistreicher Folge angeordneten Säle der römischen Bäder, der überwältigende Kuppelbau des Pantheon, die weiträumigen altchristlichen Basiliken, der wunderbare Gewölbebau der Agia Sophia, die gegliederten Chorräume unserer mittelalterlichen Dome und die kühnen Hallenkirchen der gothischen Spätzeit, endlich die Säle und Treppenhäuser der Barockpaläste, sowie manches Andere bis heute noch unübertroffen sind, und der Phantasie des schaffenden Künstlers unendliche Anregungen bieten, ohne nothwendigerweise seine Freiheit zu fesseln. In der Nachfolge dieser alten Typen werden ja auch bestenfalls keine todten Kopien entstehen, sondern die Keime des Neuen werden sich, wie es früher geschah, mit dem Alten mischen, bis jenes überwiegt und dieses nur als Erinnerung bestehen bleibt. So hat sich in Wirklichkeit von jeher die Entwicklung der Bautypen vollzogen, welche in einer Folge von einem Volke zum anderen fortläuft und auch wohl in der Zukunft nicht abbricht. Die sogenannten „Modernen" in ihrem Stolze auf die neuerfunde, in Wahrheit den Japanern abgelernte „Linie", welche mit Bewusstsein dem reizenden Spiel des antiken Rankenwerkes entgegengestellt wird, bewegen sich doch meist noch in den Schranken des Kunstgewerbes und in der Anwendung desselben auf die Innendekoration der Räume. Einzelne Versuche, neue Systeme für Fassaden und neue Ueberdeckungen aufzustellen, welche sich ganz von der Ueberlieferung lossagen, sind nicht besonders geglückt und weisen eindringlich genug auf die Nothwendigkeit hin, diese für das architektonische Erfinden im Grossen nicht unbeachtet zu lassen. -

G. Ebe