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Autor: Endell, August
In: Deutsche Kunst und Dekoration - 1 (1897 - 98); S. 141 - 152
 
Möglichkeiten und Ziele einer neuen Architektur
 
Es ist lächerlich - sagen die Weisen im Lande - einen neuen Stil schaffen zu wollen, ein solcher kann sich nur historisch entwickeln durch Umbildung der gegebenen Formen. Aber diese Weisheit hat das Bedürfniss nach einem Neuen nicht zu ersticken vermocht, und heftiger denn je erhebt sich das Verlangen nach einer neuen unabhängigen Kunstweise im Ornament und noch mehr in der Architektur. Es ist kindlich, der Frage nach ihrer Möglichkeit aus dem Wege gehen zu wollen; und in der That liegen schon verschiedene Antworten vor, aller philiströsen Weisheit zum Trotz.

Endell_Möglichkeit und Ziele01.gif (31111 Byte) Grossherzogin Luise von Baden. Professor RUDOLPH MAYER-KARLSRUHE

»Zweckmässigkeit« ist das grosse Wort, das ein neues Land vor den erstaunten Blicken heraufbeschwören soll. Baut praktisch, schliesst euch eng den täglichen Bedürfnissen an, und der ersehnte Stil ist gefunden. Das ist aber nicht entfernt der Fall. Dass der Architekt in erster Linie die praktischen Erfordernisse befriedige, ist selbstverständlich; auch ist ohne weiteres klar, dass diese Erfordernisse im Verein mit Situation, Umgebung, baupolizeilichen Bestimmungen etc. von vornherein einen Bau innerhalb gewisser Grenzen festlegen; aber doch eben nur innerhalb gewisser Grenzen. Die Forderung der Zweckmässigkeit gibt immer nur das Gerippe des Baues, wie man das aber ausfüllen will, hängt von anderen ästhetischen Faktoren ab. Aber Aesthetik ist unbeliebt, und wie Kinder, die ein Messer fortwarfen, weil sie sich damit verletzt, so hat man das Wort Schönheit in die Verbannung gejagt, weil man nichts damit anzufangen wusste und seine wahre Bedeutung verkannte. Und so musste denn ein anderes Schlagwort her, die Lücke zu decken.

Endell_Möglichkeit und Ziele02.gif (45264 Byte) Eitelberger-Medaille. ST. SCHWARTZ-WIEN

Konstruktiv! Lasst die Konstruktion sehen, bringt sie zum Ausdruck und alle eure Noth ist zu Ende. Nun, es ist kein Zweifel, dass die Betonung der Konstruktion unter Umständen prachtvoll wirkt, aber dass das immer der Fall sei, muss energisch bestritten werden. Es hat auch noch niemand gewagt, jede Konstruktion in einem Gebäude frei zu zeigen, gewisse Dinge versteckt man immer. Es gibt eben Konstruktionen, die ästhetisch wirksam sind, und solche, die es nicht sind; jene hebt man heraus, diese nicht. Wir kommen also nicht darüber hinweg: wer Architektur machen will, muss wissen, was schön ist. Schön ist Alles, was uns in eine starke lustvolle Erregung versetzt, ob das nun ein Geruch, eine Speise, eine Gedankenfolge, ein Thun oder ein Kunstwerk ist, macht dabei zunächst wenig aus. Der Architekt arbeitet mit Form und Farbe; von der Farbe will ich hier absehen, der Umfang dieses Aufsatzes ist zu knapp bemessen, auch ist die formale Seite die wichtigere in unserem Fall.

Endell_Möglichkeit und Ziele03.gif (49880 Byte) Heinz Heim. † LUDWIG HABICH-MÜNCHEN

Mit Freude können uns unendlich verschiedene Formen erfüllen, es ist lächerlich, von »der« Schönheit zu reden, es gibt unabsehbar viele: das Heitere, das Erhabene, das Ernste, das Ruhige, das Energische, das Geschmeidige, das Leichte, das Feine, das Wilde, das Prächtige, alles hat seine Schönheit, die von den andern unzähligen scharf geschieden ist. Aufsteigende Formen erwecken andere Gefühle als absteigende oder horizontal sich ausbreitende. Den ersten ist Kraft und Energie eigen, jenen eine gewisse lebendige Leichtigkeit, diesen Ruhe und Ernst. Der Krümmung wohnt verhaltene Kraft inne, die gerade Linie hat Schärfe und Raschheit u. s. f. Doch das nur als Beispiel, eine genauere Besprechung der Formkaraktere ist in dieser Kürze unmöglich. Jede Form, und es gibt unendlich viele, erweckt ein anderes Gefühl. Und es kommt nur darauf an, die verschiedenen Formen, die ein architektonisches Ganze bilden, so zu gruppiren, dass sie sich gegenseitig in ihrer Gefühlswirkung steigern. Zu viel gleichartige Formen ermüden, also Abwechselung; aber allzu starke Kontraste verletzen. Ein schweres Haus, auf ein kleines Säulchen gestützt, wirkt komisch. Ein aufgeregt wildes Treppengeländer in einem einfachen ernsten Treppenhause ist beleidigend. Grosse Wirkung erzielt nur der, welcher den Gesamt-Karakter (durch die Hauptlinien bestimmt) in den Details durch viele Nüancen zu führen weiss, die sich untereinander steigern und immer wieder harmonisch in die Grundstimmung ausklingen. Die Zahl der Lösungen ist unendlich, unendlich viele Grundtöne sind möglich, unendlich viele Nüancenfolgen jedes Mal denkbar. Jeder menschliche Karakter, jedes Zeitalter kann sich architektonisch aussprechen. Es ist ausgeschlossen, dass jemals eine Zeit käme, wo die Möglichkeiten erschöpft wären.

Endell_Möglichkeit und Ziele04.gif (57465 Byte) Portrait-Relief HEIN. HAHN-MÜNCHEN

Um diese Behauptung, die den meisten chimärisch klingen wird, voll zu begreifen, muss man allerdings eine Vorstellung haben von dem unendlichen Reichthum an Form-Möglichkeiten und man muss die Macht der Form über unser Gemüth wirklich an sich selbst verspürt haben. Wer niemals die Raserei des Formgenusses gekostet, wer nie vor einer Form, etwa einer Baumwurzel oder der Biegung eines Blüthenblattes sich selbst und Alles vergass, der weiss nichts von Formenschönheit und hat kein Recht über unsere Fragen zu reden.

Endell_Möglichkeit und Ziele05.gif (45037 Byte) Bruckner-Plakette TAUTENHÄYN jr.

Ein ausgebildetes verfeinertes Formgefühl ist die Grundvoraussetzung alles architektonischen Schaffens, und das kann man nicht intellektuell erlernen; das eifrigste Studium vergangener Kunstschöpfungen und der Natur führt zu nichts, ausser man gewöhnt sich daran, jeder Form gegenüber sich klar zu werden, was einem an ihr gefällt und was nicht.

Endell_Möglichkeit und Ziele06.gif (35800 Byte) Plakette. RUD. BOSSELT-PARIS

Fort mit dem Sehen in Bausch und Bogen. Seht das Einzelne, Linie für Linie, Fläche für Fläche, geht den Formen mit dem Auge nach, tastet sie ab, erlebt sie, geniesst sie, erst dann werdet ihr begreifen was sie uns sein können. Und seid ehrlich, wagt es zu sagen: »dies gefällt mir und jenes nicht«, macht niemals Halt vor einem grossen Namen oder gar vor dem kläglichen Dogma, dass die Natur nur Schönes bietet. Das ist eine Lüge.

Endell_Möglichkeit und Ziele07.gif (48804 Byte) Plakette. RUD. BOSSELT-PARIS

Unendliche Schönheiten birgt sie, aber nur im einzelnen, fast immer vernichtet durch nicht dazu Gehöriges. Und wollt ihr Schönheit erfassen lernen, so müssen eure Augen so fein werden, dass ihr ohne weiteres das Schöne auch im kleinsten Detail herausfühlt, und das Störende ausscheidet. Urtheilt, sagt eure Meinung, es ist besser ihr irrt in Ehrlichkeit, als dass ihr feige Anderen grosse Worte nachbetet, von denen euer Herz nichts weiss. Lasst euch ruhig anmassend und arrogant schelten, wenn ihr alte Berühmtheiten tadelt. Ihr sollt tadeln, sollt hassen, denn nur so lernt ihr lieben, lernt ihr mit ganzer Seele fühlen. Dann kommt ihr auch eines Tages dazu, die Qualitäten eines Vergangenen zu schätzen, der euch erst abstiess. Aber euer Urtheil wird dann gerechter sein, als das der Feiglinge, der Jünglingsgreise, die schon in früher Jugend klug das Richtige zu sagen wissen - aus Büchern, aber denen das Schöne niemals ein Lebendiges wird. Seht, seht mit der ganzen Kraft eurer Seele, lügt euch nie etwas vor, lauscht euren Gefühlen , unterdrückt sie nicht, sie sind euer köstliches Gut. Pflegt sie, bildet sie aus und ihr habt die Welt gewonnen, die Formen sprechen zu euch und die Kunst ist euer!

Endell_Möglichkeit und Ziele08.gif (38911 Byte) Plakette. RUD. BOSSELT-PARIS
Endell_Möglichkeit und Ziele09.gif (31091 Byte) Plakette. RUD. BOSSELT-PARIS

Formgefühl ist die Grundvoraussetzung für den Geniessenden und den Schaffenden, aber der Schaffende braucht mehr. Seine Phantasie muss so voll von Formen sein, dass sie ihm mühelos für einen bestimmten Zweck in Fülle zuströmen, aus denen er wählt, aus denen er formale Gebilde gestaltet. Denn formale Gebilde sind das Ziel aller dekorativen Kunst, nicht aber stilisirte Pflanzen und Thiere. Entwickelt frei aus den Formen, setzt Linie an Linie, Fläche an Fläche, je nach dem Karakter, den ihr erzielen wollt. Freilich das Produkt wird dabei immer, falls es von einem Punkte aus sich entwickelt, einen pflanzlichen, falls es kompakt in sich geschlossen ist, einen thierischen Karakter zu haben scheinen, denn unsere Vorstellungen »Pflanze«, »Thier« enthält formal genommen eben weiter keine Bestimmungen. Und so kommt es, dass Gebilde, die zoologisch in gar keiner Beziehung thierisch, ja direkt unmöglich sind, ohne weiteres als Thiere angesehen werden, die man nur nicht kennt.

Endell_Möglichkeit und Ziele10.gif (25038 Byte) Plakette. RUD. BOSSELT-PARIS

Anders steht es mit Formen, die sich aus mehreren Punkten zugleich entwickeln: etwa ein Kapitäl, das 4 Symmetrieaxen hat, oder eine Thür-Umrahmung, die aus zwei Punkten ansteigt und dann in eins verschmilzt. Hier hört der pflanzliche oder thierische Karakter des Gebildes auf u. hier zeigt sich, ob man wirklich Formkünstler ist, oder nur Naturformen auf einfachere Linien reduziren kann. Daher kommt es auch, dass der Naturalist und der nur Stilisirende im Kunstgewerbe ganz hübsche Sachen zustande bringt, an architektonischen Aufgaben aber unbedingt scheitert. Der Architekt muss Formkünstler sein, nur durch die reine Formkunst führt der Weg zu einer neuen Architektur. Wir haben nun noch sehr wenige Werke reiner Formkunst, d. h. formale Gebilde, die nichts sind und nichts bedeuten, die direkt ohne jede intellektuelle Vermittelung auf uns wirken, wie die Töne der Musik. Diese Wirkungsweise, diese neue Kunst ist fast unbekannt und das wenige, das existirt, wird meist mit einem Achselzucken abgethan und darum kann uns der heutige Zustand unserer Baukunst nicht gerade wundernehmen. - Also Formkünstler soll der Architekt in erster Linie sein; aber nicht beliebige Formen sind sein Ziel, sondern Formen, die zugleich einem bestimmten Zwecke dienen. Es handelt sich um die Schaffung von Wohnräumen, oder Innenräumen überhaupt. Und damit ist durch technische und pekuniäre Gründe die Bevorzugung der graden Linie und der Ebene, sowie der senkrechten und horizontalen Richtung gegeben. Aber auch ästhetisch ist diese Bevorzugung bedingt, denn man könnte Gebilde beliebiger Gestalt in reich bewegten unregelmässigen Formen bei der geforderten Grösse nur aus weiter Ferne und auch da nur unvollkommen geniessen. Den Linien einer lebensgrossen Statue kann man leicht folgen, dieselbe Figur von der Höhe eines Hauses würde für uns zum grössten Theil völlig unbekannt bleiben. Das eigentlich Plastische wirkt überhaupt nur in der nächsten Nähe, schon auf 20 Meter Entfernung sind komplizirtere räumliche Formen nicht mehr wirksam, weil der Ueberschneidungen zu viele werden und auch nicht mehr jede Bewegung des Kopfes uns eine neue Ansicht liefert wie es beim Nahesehen der Fall ist. Man sieht, auch ästhetisch ist im allgemeinen bei so grossen Gebilden ein Bevorzugen der Ebene und zwar der unserer Netzhaut parallelen Ebene erfordert, und ein Abweichen derselben nur gestattet, sofern sich die Formen auf einer Ebene abbilden lassen, ohne das ästhetisch wirksame Theile verloren gehen.

Endell_Möglichkeit und Ziele11.gif (40954 Byte) »IN LABORE HONOS«. RUD. BOSSELT-PARIS
Endell_Möglichkeit und Ziele12.gif (94587 Byte) Getriebenes Relief. RUD. BOSSELT-PARIS

Nun ist aber diese Beschränkung kein Hinderniss für die Wirkung, denn aus geraden Linien lassen sich unzählige ebene Gebilde zusammensetzen. Einfache Rechtecke weisen alle möglichen Karaktere auf, je nach dem Verhältniss ihrer Seiten und ob die längere Seite horizontal oder vertikal liegt. Und ebenso können einfach rechteckige Räume zahllos verschiedene Karaktere haben je nach dem Verhältniss von Länge, Breite und Höhe. An Wirkungsmöglichkeiten fehlt es also nicht, nur muss man sich klar sein über das zu erreichende Ziel. - In erster Linie will man in einem Hause wohnen; wir lieben die Abwechselung und sehen es nicht gern, wenn alle Räume gleichartig sind: das Schlafzimmer soll anders aussehen als das Esszimmer, dieses anders als das Wohnzimmer u. s. f. Das kann natürlich auch durch die Einrichtung erreicht werden, aber es ist gut, wenn der Architekt vorarbeitet, man erzielt reichere Wirkung mit einfacheren Mitteln. Das ist der Ausgangspunkt: es gilt diesen Karakter der einzelnen Zimmer zum Ausdruck zu bringen, einmal durch die Raum-Verhältnisse und dann durch die Beleuchtung, die Anordnung der Fenster. Es verändert den Eindruck eines Raumes vollständig, wenn ich die Fenster-Oeffnungen niedrig und breit, oder hoch und schmal mache, wenn ich sie zu einer grossen Lichtquelle vereine, oder viele kleine neben einander anordne, ob ich die Fenster nahe bis an die Decke stossen lasse, oder tief mit ihnen heruntergehe. Jedesmal bekomme ich anders geartetes Licht und damit einen anderen Karakter: Ein weiteres Wirkungsmittel liegt in der Theilung der Fenster, Lage der Fensterkreuze, dann in der Anordnung der Thüren, ihr Verhältniss zur Wand, ihre Höhe, ihre Breite, die Breite der Umrahmung, die Anordnung der Füllungen. Eine geringfügige Verschiebung macht hier unendlich viel, und es ist möglich, bei den einfachsten Mitteln wenn auch nicht prächtige so doch bestimmte karakteristische Wirkungen zu erzielen, freilich gehört dazu ein absolut sicheres Formgefühl, dem die geringsten Nüancen nicht entgehen.

Endell_Möglichkeit und Ziele13.gif (73733 Byte) Mozart-Medaille. A. SCHARFF-WIEN
Endell_Möglichkeit und Ziele14.gif (60029 Byte) Szilacyi-Medaille. A. SCHARFF-WIEN

Es kommt nun weiter darauf an die verschiedenartigen Räume gut mit einander in Verbindung zu setzen, auf die Folge der Karaktere Bedacht zu nehmen und erst, wenn das alles durchdacht ist - ich übergehe hier alle technischen Fragen, die natürlich dabei überall eine Rolle spielen - erst dann kann an die Gestaltung der Fassade gedacht werden. Die Fenster und sonstigen Oeffnungen sind gegeben. Es kann sich jetzt nur darum handeln dieselben zu verschieben, ohne den Karakter der Innenräume zu verschlechtern, bis man auch aussen eine karakteristische Gesammtwirkung hat. Ich sehe hier von aller Dekoration vorläufig ab. Es ist möglich bei ganz einfachen Mauern allein durch die nackten Fenster mit ihren Theilungen, durch die Linien des Daches, der Schornsteine, von jeder malerischen Anordnung abgesehen, kurz nur durch die Linien des absolut Nothwendigen eine ästhetisch werthvolle Wirkung zu erzielen, und zwar ohne Aermlichkeit. Verschiedenartige Verhältnisse der Fenster erlauben eine gewisse Abwechselung in der Wirkung, und es kommt darauf an, diese Wirkung zu steigern, einen Mittelpunkt zu schaffen, in dem der Gesammteindruck seinen Höhepunkt findet. Eine solche ganz nackte Fassade wirksam zu gestalten, sie majestätisch oder heiter, kraftvoll oder zart, reich oder streng zu formen, das ist der wahre Prüfstein des Architekten; wer das nicht kann, mag die Unreifen durch Verzierungen über die Hohlheit seiner Empfindungen wegtäuschen, die stark Empfindenden wird er nicht überzeugen.

Endell_Möglichkeit und Ziele15.gif (30883 Byte) Pavery-Medaille. A. SCHARFF-WIEN
Endell_Möglichkeit und Ziele16.gif (15640 Byte) Grossherzog Friedrich von Baden. Professor RUDOLPH MAYER-KARLSRUHE
Endell_Möglichkeit und Ziele17.gif (21722 Byte) »St. Barbara«. Prof. RUD. MAYER-KARLSRUHE

Das Ornament gibt dem Architekten die Möglichkeit grösseren Reichthums, die Möglichkeit den Grundkarakter durch eine Reihe von Nüancen zu beleben, aber es setzt ihn auch in den Stand, Härten zu beseitigen und auf kleineren Flächen Wirkungen zu erzielen, die ohne Ornament nur mit grosser Raumverschwendung möglich sind. Ein Beispiel. Ein schmaler Pfeiler, der eine breite Oeffnung theilt, darüber ein Fenster ohne Theilung. Arbeite ich ohne Ornament, so fordert die energische Heftigkeit des Pfeilers ein breites Stück Mauer darüber, um die stürmische Bewegung zu dämpfen und die Ruhe der oberen Fensterbrüstung nicht zu verderben, das Fenster muss also ziemlich hoch zu liegen kommen. Ein Kapitäl, das den heftigen Karakter des Pfeilers mildert, ein paar Linien, die das Mauerstück beleben, die rasche Bewegung des Pfeilers seitlich weiter führen, und ich kann ohne Bedenken die Brüstung des Fensters viel tiefer legen, ja vielleicht einen Balkon anlegen.

Endell_Möglichkeit und Ziele18.gif (140807 Byte) Lustre-Tapete. FRANZ FISCHER & SOHN-MÜNCHEN

Unter allen Umständen aber hat sich das Ornament der Grundwirkung anzuschliessen. Es soll dieselbe bereichern und erhöhen, aber immer bleibt es der Theil eines Ganzen und darf nicht als Einzelnes wirken. Darum ist es sinnlos, einen Pilaster mit so kleinem Ornament zu bedecken, das erst aus nächster Nähe erkennbar ist. Mag es noch so schön sein, architektonisch ist es verfehlt. Eine Säule, die nur für sich betrachtet wirkt, ist allemal ein Unding. Das Ornament muss zu gleicher Zeit mit der ganzen Fläche wirken, zu der es gehört, und desshalb soll es dieser Fläche entsprechen, ihren Karakter verschönt und bereichert zur Geltung bringen. Ein Pilaster - ein Ornament, eine Decke - eine Verzierung, eine Wand - ein Fries. Nicht aber erst Zerlegung der gegebenen Flächen in kleine Stücke und dann gemüthvolles Einzelverzieren. Damit ist die ursprüngliche Fläche zerstört. Die Kunst ist eben, mit jeder Art Fläche fertig zu werden und die Formkunst bietet dazu reichliche Möglichkeit. Menschliche Figuren sind allerdings ungeeignet, denn die haben feste Proportionen und passen in den wenigsten Fällen. Freie Formen brauchen wir. Eine aufsteigende Fläche - eine aufsteigende Form u. s. f. Und wenn irgend möglich an jeder Stelle ein Neues. Wiederholung sollte man eigentlich nur gelten lassen an symmetrischen Stellen, und wenn es irgend angeht, sie auch dort vermeiden; sonst ist es immer ein Armuthszeugniss. Leider erlaubt die Rücksicht auf die Kosten kein freies Arbeiten, und so muss man namentlich bei fortlaufenden Verzierungen unter Simsen und unter der Decke zu Wiederholungen greifen. Jedenfalls sollte man auch dann die bevorzugten Punkte, Ecken, Treppen-Biegungen etc. für sich behandeln. Immerhin ist die Wiederholung in der Horizontalen erträglich, weil der Karakter des Horizontalen gleichmässige Ruhe ist, eine Wiederholung in der Senkrechten, der Richtung intensivster sich steigernder Kraftanspannung ist unter allen Umständen verwerflich, denn man erwartet hier ein Geschehen, ein Crescendo oder Decrescendo. Darum ist die übliche Tapete ein Gräuel, der um jeden Preis vernichtet werden muss, leider wird er durch praktische Rücksichten stark gestützt. Unter gar keinen Umständen aber darf ein Ornament als blosse Tonwirkung verwendet werden; will man eine Fläche beleben ohne Hervorhebung bestimmter Punkte, so muss man ihr Struktur geben, durch Flecken, Körnigkeit oder dergl. Auch hier endlose Möglichkeiten der reizvollsten Effekte.

Endell_Möglichkeit und Ziele19.gif (131298 Byte) Ingrain-Tapete. FRANZ FISCHER & SOHN-MÜNCHEN

Was ist mit all dem gewonnen? Was ist das Neue? Sind das nicht alles altbekannte Sachen? Gewiss, man kennt das meiste seit langer Zeit, und es ist nicht schwierig vielleicht das Ganze auf alte Formeln zu bringen. Aber damit wäre sein Sinn nicht erschöpft. Wird die neue Architektur sich von der alten wesentlich und prinzipiell unterscheiden? Unbedingt. Wir haben unter den alten Meistern, zumal unter den Barockkünstlern Leute von unerhörtem Raumgefühl, wir besitzen köstliche Kapitäle aus romanischer Zeit und haben auch sonst Beispiele genug stupender Formenschönheit. Eines aber geht durch die ganze alte Baukunst hindurch: das intellektuelle Lernen vom Vorgänger, das gläubige Herübernehmen bestimmter Formen und Verhältnisse, das Gebundensein durch die Schule, man erfindet nicht frei, weil sich niemand von den Dogmen losmachen kann. Man denke an Michelangelo, der erklärte, sich um niemanden zu kümmern und der doch in seinem architektonischen Schaffen nicht in Wirklichkeit unabhängig wurde. Die Hauptformen sind bei ihm immer aus dem Ueberlieferten entwickelt. Nur seine Profile sind wirklich sein eigen. Und wer diese Profile kennt und sie betastet hat, kann ermessen, was entstanden wäre, wenn dieser Geist frei hätte schaffen können. Das Dogma von den Säulen-Ordnungen hat lange genug auf uns gelastet. Die übertriebene angelernte Verehrung vor der Vergangenheit hindert noch immer das selbständige Urtheil. Wann werden wir anfangen diese berühmten Kapitäle zu hassen und begreifen, dass sie kalt, nüchtern und langweilig sind. Gewiss, wir haben jonische Kapitäle von entzückender Ausführung im Einzelnen, aber die Wirkung des Ganzen ist immer dieselbe, ohne Stärke, Wärme sei, sagen uns nichts und vermögen uns nicht zu begeistern. Das wird vielen eine frevelhafte Behauptung scheinen, eine freche Verhöhnung der einzig wahren Schönheit. Und man wird uns das alte Wort entgegenrufen: »Macht es doch besser!« mit dem liebenswürdigem Hintergedanken: »natürlich könnt ihr das nicht, jedenfalls nicht vor unserm Richterstuhl!« Nun hat aber das Besser-Machen-Können mit ästhetischem Urtheil nicht das mindeste zu thun; eine schlechte Arbeit wird nicht gut, dadurch, dass keine bessere existirt und wir bedürfen rücksichtsloser Klarheit über die Leistungen der Vergangenheit, um die neuen Ziele und Aufgaben scharf und bestimmt formuliren zu können.

Endell_Möglichkeit und Ziele20.gif (121420 Byte) Ingrain-Tapete. FRANZ FISCHER & SOHN-MÜNCHEN
Endell_Möglichkeit und Ziele21.gif (106416 Byte) Ingrain -Tapete. Ausgeführt von FRANZ FISCHER & SOHN-MÜNCHEN

Möglich, vielleicht wahrscheinlich, dass dieser Generation die glückliche Verwirklichung unserer Ideen nicht beschieden ist. Das kann aber nicht abhalten, für diese Ideen Propaganda zu machen, sie zu verbreiten, so dass jedes Talent, das irgendwo heranwächst, sich wenigstens prinzipielle Klarheit verschaffen kann, und nicht erst mit theoretischen Grübeleien unnütze Zeit verliert. Wir sind ja nun einmal so intellektuell und bewusst geworden, dass wir wissen müssen, worauf es ankommt. Naives Schaffen ist heute garnicht mehr denkbar. Und es ist noch sehr zweifelhaft, ob es das überhaupt jemals gegeben hat. Natürlich entsteht Kunst niemals intellektuell, sondern rein durch die Phantasie, aber die ästhetische Schulung ist nöthig, damit nicht thörichte Einwände, kunsthistorische Dogmen und Vorurtheile den beginnenden Künstler irre machen. Wir brauchen den Intellekt, um die Phantasie frei sich entwickeln zu lassen. Darauf geht ja all unser Bestreben: der Phantasie freie Bahn, das Ziel klar zeigen und zu gleicher Zeit Beseitigung aller Dogmen, freie Formen ohne jede Tradition, Formen, die aus der Seele des Einzelnen aufsteigen und darum seine Formen, seine Geschöpfe sind.

Endell_Möglichkeit und Ziele23.gif (156271 Byte)






 Wettbewerb I: Tapetenentwurf. - I. Preis Lösung A
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 Lösung B. Frau MARG.VON BRAUCHITSCH-HALLE A. S.
Endell_Möglichkeit und Ziele24.gif (116840 Byte) Wettbewerb I.: Tapeten-Entwurf. II. Preis.  AUG. SIEDLE-BERLIN
Endell_Möglichkeit und Ziele25.gif (46488 Byte) Lobende Erwähnung. Motto: »Berlin«

Endell_Möglichkeit und Ziele26.gif (71270 Byte) III. Preis. H. R. HENTSCHEL-CÖLLN A. D. ELBE

Natürlich wird es an Missglücktem und Thörichtem nicht fehlen. Aber individuelle Thorheit ist immer besser, als nachgeahmte Banalität. Wir brauchen Zeit, uns zu entwickeln; die neue Bewegung muss breiter werden, damit der Ansporn für den Einzelnen grösser ist und die Basis der Erfahrung sich verbreitert. Denn man braucht Erfahrung, man muss die Wirkung neuer Formen erst kennen lernen, erst am Fertigen sieht man den Gesammt-Eindruck, erst an dem vollendeten Gebäude kann man das wirklich Werthvolle erkennen. Darum darf man auch von der nächsten Zeit keine grossen und kollossalen Dinge erwarten. Mit Kleinem muss angefangen werden, dort muss die Sicherheit in der Beherrschung der neuen Mittel gewonnen werden. Ausserdem darf man nicht vergessen, dass natürlich die Zahl der Auftraggeber, die es mit dem Neuen probiren, noch sehr gering ist, und gerade diese zumeist nur über beschränkte Mittel verfügen. Schon desshalb ist es zunächst unmöglich, Prunkvolles und Reiches zu geben. Aber das schadet nichts. Wenn man uns nur überhaupt Aufgaben stellt. Es lassen sich eben auch mit geringen Mitteln schöne und eigenartige Sachen machen, wenn man auf hohle Prahlerei verzichtet und sich an den intimen Wirkungen einfacher Formen genügen lässt.

AUGUST ENDELL; MÜNCHEN