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Autor: Fayans, Stefan
In: Moderne Bauformen 8 (Monatshefte für Architektur) (1909); S. 457 - 458
 
Baukunst und Volk
 
VON ARCHITEKT DR. TECH. STEFAN FAYANS-WIEN
(Fortsetzung)

Die grosse Künstlerwelt irrte immer weiter. Eine eklektische Periode löste die andere ab; der Geist der vergangenen Kunstepochen fehlte ihnen jedoch völlig. Wie sollte denn eine solche Baukunst vom Volke, von dessen Alltagsleben sie sich immer mehr entfernte, verstanden werden?! Draussen in der neuen Welt keimte ein neues Leben mit neuen Auffassungen und neuen Bedürfnissen. Die Baukunst aber, die einst die Verschönerung und Veredelung des menschlichen Daseins bedeutete, schlüpfte mit ihrem Zentimetermass in die dunklen Winkel der Vergangenheit. Es ging immer mehr stromabwärts. Die spekulative Tendenz, die in den 70er Jahren immer mehr Oberhand zu gewinnen vermochte, bemächtigte sich auch der Baukunst, die nunmehr ihren herrlichen Einzug in das allgemeine Industriegebiet feierte. Aus der einst so hehren Baukunst ist ein simples Bauhandwerk geworden! Da ist schon ein Persönlichkeitsgefühl bei dem schaffenden Künstler überflüssig gewesen. Den Formenschatz einer einzigen Stilart zu entnehmen, galt dann für ungebührlich. Man wollte den Beweis erbringen, dass man in der Schule, auf der Akademie, die an die Stelle der früheren geheiligten Kunstwerkstätten trat, auch andere Stilarten zu kopieren gelernt hatte. Eine klassische Säule, einen mittelalterlichen Bogen, einen Renaissanceschnörkel in einer Konzeption zu vereinigen, jedes für sich möglichst stilecht dabei, — hiess die wahre Kunst predigen! Die Reicheren, die sich für berufen hielten, ihre Kritik auf dem Gebiete der Kunst auszuüben, wussten den grösseren Teil der Architektenwelt für ihre Prunksucht zu gewinnen. Die weniger Bemittelten wollten ebenfalls als Auftraggeber einen falschen Schein des Reichtums erwecken. Nun sind die Städte und ihre Vororte mit architektonischen Karikaturen überflutet worden. Ein Schema, ein Gedanke, ein und derselbe Irrweg! Das Stadthaus ist zum chronologischen Register der vergangenen Stilarten geworden. Das Landhaus, die Privatvilla, sollten in uns nur nicht den Gedanken aufkommen lassen; dass sie zum Wohnsitz einfach und zeitgemäss denkender Leute bestimmt seien. So prunkte der in unechte, klägliche Palastformen gekleidete Profanbau zum Hohn der vergangenen Kunstepochen! Des Guten wurde nun zu viel. Der Untergang der Baukunst wurde in den 90er Jahren klar erkannt und nun erschollen Hilferufe, — ein Zeichen des wiedererwachenden Kunstsinns. Die sozialen Aufgaben, die seit einem Jahrhunderte aufgetaucht, ihr Daseinsrecht sich bereits erkämpft haben, erheischten auch in der Baukunst ihre Berücksichtigung. Nun hiess es an die grosse Sanierungsarbeit herantreten. Die Geister, die man gerufen, die wollte man wieder loswerden. Die Aufgabe war sicher eine nicht zu leichte. Dennoch sind die Resultate, die man bis jetzt bei deren Lösung erzielt hat, entschieden als sehr erfreulich zu erachten. Wie zu allen Blütezeiten der Kunst, wandte man sich zu allererst der Gewerbekunst und zwar dem arg vernachlässigten Kunsthandwerke zu. Die auf sozialer Grundlage sich basierende Einfachheit und Sachlichkeit der modernen Zeit gab sich nach dem englischen Vorbilde auch bald im deutschen Kunstgewerbe kund. Das moderne, nur auf Bequemlichkeit und Sachlichkeit hinzielende Möbelstück verdrängte alsbald den früheren überladenen und nichtssagenden Typus. In den textilen Künsten, in der Keramik, kurz, in der gesamten angewandten Kunst, feierte die Moderne ihren siegreichen Einzug. Freilich, es fehlte nicht an Auswüchsen krankhafter Phantasie, an Erzeugnissen kunstloser Renommiersucht, die den Anlass zur Bildung des verderblichen Jugend- oder Sezessionsstils gaben. Zu welchen Zeiten des Emporschwingens der Kunst aber gab es nicht derartige Stadien der Unreife? Man muss darüber ruhig hinweggehen und sie als blosse symptomatische Erscheinungen bei jeder Gärung betrachten. Die modernen Prinzipien, die den grossen Umschwung in der angewandten Kunst verursacht haben, bemächtigten sich alsbald auch der höheren bildenden Künste. Die Malerei und die Plastik wetteiferten mit einander in dem Erreichen möglichst zeitgemässer, naturalistischer Ausdrucksweise. Am schwersten fiel dies der dritten der Schwesterkünste, der auf abstrakter Basis sich gründenden Baukunst. Dies aber hauptsächlich in bezug auf die der Vergangenheit angehörigen Bautypen, die sowohl in ihrer Gestaltung, als auch in der architektonischen Formensprache der Gegenwart angepasst werden mussten, ohne die durch die Tradition geheiligten Grundsätze zu verletzen. Da erinnerte man sich an die abseits des weltlichen Treibens, ruhig, einfach und sachgemäss sich entwickelnde bäuerliche Volkskunst und entdeckte wieder — und nicht zum ersten Male — ihren Formenschatz, dem man seine Motive als Anregung zum weiteren Schaffen für die städtische Wohn- und Landhausbaukunst zu entlehnen begann. Nur aber zu Anregungszwecken, — es soll dies, auch für die Zukunft, ganz ausdrücklich hervorgehoben werden. Der seit langem durch das Gestrüpp doktrinärer Verständnislosigkeit ungangbar gewordene Weg zwischen Kunst und Volk, ist somit wieder geebnet worden. Die Einheitlichkeit in der Verteilung der Massen, die sachgemässe, rein zweckliche Behandlung der Flächen, das Diskrete und Unüberladene, das Einfache und Ernstgemeinte, charakterisiert diese modernen Offenbarungen der profanen Baukunst. Die letzten Kunstgewerbeausstellungen, die Bauten der Künstlerkolonien, die Einzelwerke der Auserlesensten unter den Baukünstlern, die ein gewisses Opfer an Individualismus für das Allgemeingut der Menschheit zu bringen verstanden hatten, legen das beste Zeugnis von der nicht zu unterschätzenden Bedeutung der neuen Kunstbewegung ab. Bedeutend leichter fiel den modernen Baukünstlern die Lösung der erst neu mit der Entwicklung der wirtschaftlich-sozialen Probleme der letzten Jahrzehnte entstandenen bautechnischen Aufgaben. Man brauchte sich nicht in dieser Hinsicht in die Vergangenheit zurückzuversetzen, um die Geschichte der Entwicklung der längst bestehenden Bautypen zu ergründen und dieselben der Gegenwart anzupassen. Die Aufgabe war modern, keine Vorbilder sind vorhanden gewesen, nun hiess es aus sich selbst heraus zu schaffen. Und da zeigten die Baukünstler in den völlig neugeschaffenen Typen des Arbeiterhauses, des Waren- und Geschäftshauses, des Bahnhofgebäudes und vieler anderer durch die neuzeitlichen Errungenschaften der Technik und Hygiene hervorgerufenen Bautypen, was sie zustande zu bringen vermochten. Es galt für die Baukunst der letzten Jahre zu allererst diejenigen Probleme zu lösen, die mit den Bedürfnissen der breiten Volksmassen eng verknüpft sind. Dieser Berücksichtigung der Volksinteressen verdankt auch die Baukunst die ihr zuteil gewordene Volksgunst, — ein wichtiger Beitrag zu einem Kompromisse zwischen den noch bis vor kurzem sich fremd gegenüberstehenden Künstler- und Laienwelten. Ein endgültiges Kompromiss herbeizuführen, liegt in den Händen dieser beiden Parteien. Das Einfache, Sachliche, Einheimische soll in der Sprache der modernen Bauwerke verkörpert werden, um dieselbe dem Volke verständlich zu machen. Das Einheimische ist nur auf Grund der Kultivierung, Verarbeitung und des Anpassens an die Verhältnisse der Gegenwart des in jedem Lande vorherrschenden und der Volksseele am nächsten stehenden Baustils zu erreichen. In Oesterreich ist es die wunderbare alte Barockkunst, die mit ihren Motiven das moderne Schaffen anregen soll. Das Einfache und Sachliche, das die Gegenwart von uns gefordert, ist wiederum aus den Offenbarungen der ländlichen, bäuerlichen Kunst zu erlernen. Was andererseits die Volksaufgaben gegenüber der Kunst betrifft, so ist auch in dieser Hinsicht noch vieles zu erwünschen. Die Erziehung zur Kunst und insbesondere zu der seit jeher stiefmütterlich, im Vergleich zu den anderen höheren Künsten behandelten Baukunst, fehlt unseren breiten Volksklassen in hohem Masse. Dieser Mangel an gewissem kritischen Verständnis für die jeweiligen Architekturprobleme könnte teilweise durch die Aufnahme der enzyklopädischen Architekturlehre in den Studienplan der Mittelschulen behoben werden. Werden sich somit die Kunst und das Volk ihrer gegenseitigen Verpflichtungen bewusst werden und die Erfüllung derselben mit vollem Ernste erstreben, so ist das erwähnte, endgültige Kompromiss zwischen Kunst und Volk vollzogen. Damit wird auch eines der grössten, Kulturwerke im Schalten und Walten der Menschheit zustande gekommen sein.