Ein Klick auf das Druckersymbol startet den Druckvorgang des Dokuments Drucken
 
Autor: Gurlitt, Cornelius
In: Deutsche Bauzeitung - 21 (1887); S. 602 - 606
 
Göllers ästhetische Lehre
 
Unsere Zeit ist dem aesthetischen Denken nicht eben sehr hold. Es ist unverkennbar, dass zwischen dem künstlerischen Empfinden und der prüfenden Erwägung eine Lücke klafft, welche nicht nur dem Kunstgelehrten, sondern auch dem Künstler völlig bewusst ist. Dieselbe bestand nicht immer. Schinkel und Bötticher waren völlig einig im Schaffen und Denken. Der Berliner Hellenismus baute sich auf einer festen, wohldurchdachten Lehre auf. Als man ihn verließ, als die Baukunst in anderen Stilen neue Anregung zu Gestaltungen suchte, welche in ihrer Vielseitigkeit durch die Antike nicht genügenden Ausdruck finden wollten, hatte die ältere, strengere Schule in gewissem Sinne Recht, dass sie von einem Verfall der Kunst, von einem Abfall von Grundsätzen zu wandelnden Stimmungen sprach. Inzwischen wiederholte sich aber, was schon oft vorher geschehen. Es ergab sich, dass eine neue Zeit neue Kenntnisse über das Wesen der Antike sammelte und dass sie die alten Anschauungen und die aus ihnen gezogenen Folgerungen verdrängte. Bötticher hatte mit großem Geist und vielleicht zu viel Scharfsinn die Formen des griechischen Tempels an ihren vollendetsten Beispielen zu erklären versucht. Er war zu dem Schlusse gekommen, dass die Hellenen die Einzelglieder zum Zwecke symbolischer Darstellung des Wesens der Konstruktionstheile frei erfunden hätten. Er fand überall sein System so außerordentlich klar ausgesprochen, dass er nicht daran zweifelte, dieses sei nicht nur richtig, sondern es sei auch den Hellenen selbst bewusst gewesen. Infolge dessen forderte er von der modernen Kunst, dass sie dieselbe, Formen aus der Erwägung schaffende Geistesthätigkeit bei dem Entwurf neuer Architekturen anwende; er erklärte  n u r  die völlig logisch durchdachte Antike könne die Grundlage zur Fortentwickelung einer wahrhaftigen Kunst geben. Die neuesten Ausgrabungen aber haben inzwischen nicht ihm, sondern den Architekten Recht gegeben, welche sich in schwerem Ringen von Böttichers Lehre los sagten. Es ist nachgewiesen, dass die griechischen Stile  n i c h t  auf dem Wege der Spekulation entstanden, sondern dass sie von Asien und aus dem Holzbau auf Hellas und die Steinformen übertragen wurden. Die Lehre Böttichers hat sich ebenso sehr nur als das Ergebniss des jeweiligen Standes der Durchforschung alten Kunstwesens erwiesen, wie jene Systeme, welche vor ihm Vignola, Blondel, Laugier und andere aufgestellt hatten. Sempers Stil löste Böttichers Tektonik ab. Er lehrte uns das Entstehen der Formen geschichtlich zu betrachten, zu erkennen, wie dieselben sich von Stoff zu Stoff, von Land zu Land übertragen, wie in allen Kunststilen gewisse tektonische Gedanken zum Ausdruck gebracht sind, welche aber nun nicht mehr die symbolische Darstellung der Einzelzwecke zur Aufgabe haben, sondern dem Beschauer geläufig geworden sind, vom Künstler wie die Phrasen in der Sprache, "bildlich" verwendet werden. Beide Lehren aber bauen sich auf dem als zuverlässig angenommenem Grunde der Schelling-Hegel'schen Aesthetik auf, welche lehrt, die Schönheit eines Kunstwerkes beruhe wesentlich in seinem geistigen Gehalt, sie sei das verwirklichte Ideal. Schön sei das harmonische Gleichgewicht und die innige Durchdringung des Geistigen und Sinnlichen. Ueberwiege in einem Kunstwerk das Geistige über das Sinnliche, so sei es erhaben, überwiege das Sinnliche, so sei es komisch, fehle das Geistige ganz, so sei es hässlich. Es stand mithin bei den Aesthetikern bisher fest, dass eine unabwendbare Bedingung jeder Form, wenn sie als schön gelten wolle, diejenige sei, dass sie einen geistigen Inhalt haben müsse. Das heisst, in die Architektur übertragen, dass sie eine Funktion im Bau ausdrücken müsse. Jeder Architekt weiss, wie viel Mühe ihm diese Forderung schon bereitet hat, wie oft er sich künstlich Funktionen schaffen musste, weil er ihren "Ausdruck" nicht missen wollte, wie oft er einfach darauf verzichten musste, die Forderung der Aesthetik zu erfüllen, weil ihn hundert technische und rein schönheitliche Gründe davon abhielten. Die Vielheit des Zwecke, welche das Merkmal des modernen Baues ist, gestattete selbst dem streng denkenden Meister nicht immer "wahr" zu sein. Mit Ingrimm sah er auf die Aesthetik, welche ihm seine Fehler an den Fingern herunter zählte, ihm nachwies: Diese Gesimslinie drückt keinen Zweck aus - sie ist hässlich! Dieser Thurm hat hier nichts zu bedeuten - er ist ein verwerflicher Nothbehelf! Diese Kuppel überdeckt nicht den wichtigsten Raum des Hasses - sie ist eine künstlerische Lüge! -

Das wusste er ja Alles auch, aber konnte doch nicht anders schaffen, wollte er einen guten, schönen Bau liefern. Stillschweigend machte er sich von dem Grundsatze, dass nur das künstlerisch Zweckmäßige schön sein könnte, frei, und schuf nach rein formalem Empfinden, zufrieden, wenn die mangelnde Begründung seiner Formen nicht allzu augenfällig wurde. Damit begab er sich aber in das Schaffensgebiet, welches seine Lehrer noch mit Verachtung als "Zopf" bezeichnet hatten, er wurde "willkürlich". Nach und nach setzte sich auch bei den Architekten jene Missachtung der allzu strengen, als unpraktisch erkannten Aesthetik fest, von der die Maler schon längst durchdrungen sind. Es kommt nichts 'raus dabei! Nun ist aber doch etwas heraus gekommen, was die Architekten gewiss befriedigen wird. Vor mir liegen zwei merkwürdige Bücher des Stuttgarter Fachgenossen und Professors am Polytechnikum  A d o l f  G ö l l e r*  von denen dass erstere schon in diesem Frühjahr erschien, ohne dass ich bisher bemerkt hatte, dass seitens der Kritik auf dessen Eigenthümlichkeiten genügend hingewiesen worden sei.

*) Zur Aesthetik der Architektur, Stuttgart, K. Wittwer 1887


DIE ENTSTEHUNG DER ARCHITEKTONISCHEN STILFORMEN, EBENDAS. 1888

Göller weist nämlich nach, dass es auch eine  S c h ö n h e i t  d e r  r e i n e n  F o r m  gebe, er stellt sich also in vollen Gegensatz zur Aesthetik Hegels. Er sagt, es gebe gewisse Zusammenstellungen von Linien, von Licht und Schatten, welche zwar völlig bedeutungslos, aber doch unserem Auge und Geist wohlgefällig seien. So führt er das "rein dekorative" Ornament an, ferner das Spiel der Linien und Lichter etwa auf einem Gesimse, welches  n i c h t  zweckentsprechend verwendet sei, bei dem also die Funktionen nicht mitreden, sondern nur die formale Erscheinung von uns als schön empfunden wird. Woher käme es denn, dass eine Säule schön, die andere hässlich sein kann, obgleich beide ihre Funktionen ganz gut ausdrücken? Kann man denn die Maaße des Details aus ihrem Zweck ableiten, jene Verhältnisse, welche in uns Wohlgefallen erwecken? Die jonische Säule, deren Voluten zu erklären noch niemand recht verstanden hat, deren geistiger Inhalt vielleicht schon den Griechen unverständlich war, sicher aber für uns gleich Null ist, ist doch schön durch die Form. Es ist also nicht wahr, dass, wie Hegel will, das Kunstwerk hässlich sein müsse, wenn es keinen geistigen Inhalt habe, dass dieser die Schönheit bestimme. Wie könnte sonst das ganz sinnlose Ornament etwa eines persischen Teppichs, wie arabisches Linienspiel schön sein? Göller findet die Schönheit der reinen Form nur in der Architektur. In der Malerei und Bildnerei decken sich nach ihm Inhalt und Form so sehr, dass sie sich nicht trennen lassen. Dies halte ich für einen Fehler. Man kann sehr wohl in jedem Kunstwerke beide Arten der Schönheit von einander halten. Man kann zwischen dem Inhalt und jener Schönheit unterscheiden, welche der Aufbau der Linien und Farben (die Komposition), ferner die Zusammenstellung der Farben (das Kolorit), endlich die bewussten und unbewussten Abweichungen von der Naturwahrheit (der Stil) geben. Doch bleiben wir bei den Ausführungen unserer Bücher. In diesen wird zunächst Aufklärung darüber gesucht, wie in uns die Empfindung des Schönen entsteht. Es ist die Geistesfreude, welche das bewusste Vorstellen der Form in uns erweckt. Jede Form, welche wir unwillkürlich durch das Auge in das Gehirn aufnehmen, hinterlässt einen der Wiedererweckung fähigen Rückstand, "verdunkelte Vorstellungen." Jede Wiederholung derselben Form vor unserem Auge weckt diesen Rückstand und schafft daran mit, dass eine mehr und mehr sich klärende Vorstellung, ein "Gedächtnissbild" sich entwickle. Die geistige Arbeit, die wir im Gestalten eines solchen Gedächtnissbildes leisten, ist die unbewusste, seelische Ursache der Freude an dieser Form - falls dieselbe  s c h ö n  ist. Was aber erscheint uns als schön? Dasjenige Mittelmaaß der Formen, welches wir an verwandten Dingen zu beobachten gewöhnt sind. Das Schaffen von Gedächtnissbildern wird also nur dann eine Geistesfreude bereiten, wenn das Bild von der bekannten und zum Bewusstsein gelangten Formenwelt nicht allzu sehr abweicht.

D e r  Mensch ist schön, der dem Mittelmaaße, welches wir uns von der Gesammtheit der Menschen bildeten, am meisten entspricht. Hätten wir doppelt so lange Arme, so würde der Kurzarmige uns als hässlich erscheinen. Dem Einen gilt die Wespentaille als schön, dem anderen nicht, je nach dem Stande seiner Angewöhnung. Die Schönheit etwa einer Säule beruht, abgesehen von der Befriedigung des statischen Gefühles, nämlich der störungslosen, unbewussten Erinnerung an Stützen und Lasten, auf einem reinen Maaßgefühl, d. h. auf der störungslosen, unbewussten oder bewussten Erinnerung an früher gesehene Maaßverhältnisse. Je genauer man diese letzteren kennt, je sicherer man die Einzelmaaße im Gedächtnisse hat, desto störender wird eine Abweichung von den gewohnten Verhältnissen wirken. Der Laie hat meist gar nichts gegen eine Säule zu bemerken, die dem Kundigen wegen kleiner "Fehler" als hässlich dünkt. Der geistige Inhalt der Säule wird durch solche Abweichungen nicht berührt. Er ist also ohne entscheidenden Einfluss auf die Schönheit derselben. Derjenige, welcher viele Formen als Gedächtniss-Inhalt in seinem Geiste besitzt, wird nicht nur leichter sich die Freude des Schaffens von Gedächtnissbildern bereiten können, sondern er wird sie auch schneller mit dem gewohnten Mittelmaaße vergleichen, sie als schön oder hässlich erkennen. Ob sie ihm aber als schön oder hässlich erscheinen, hängt nicht von den erschauten Formen ab, sondern von den Geistes-Vorstellungen, welche sich aus der Summe des früher Gesehenen als Maaß für das Neue gebildet haben. Wer bisher nur dorische Säulen sah, wird die jonische als zu schlank, als formal hässlich empfinden, bis er sich an ihre Gestaltung gewöhnt hat. Eine heute als hässlich empfundene Form kann morgen, wenn wir sie gewöhnt sind, als schön erscheinen. Wir wissen ja, dass z. B. die deutsche Renaissance uns vor 20 Jahren als hässlich erschien, während sie heute das Schönheits-Empfinden beherrscht. Wenn nun die Angewöhnung eine so bedeutungsvolle Rolle in unseren Vorstellungen bildet, so muss es auffallen, das trotzdem der Wechsel in den Stilen, im Schönheitsbegriff ein so stätiger sei. Denn wenn erst eine Form durch die Gewohnheit uns als vollendet bewusst geworden ist, wie sollten wir uns vermessen, sie freventlich zu verlassen? Woher der stete Umschwung, die immer wieder erneute Abweichung von den Formen, denen wir uns einmal anbequemt haben? Göller erklärt diesen Wechsel in geistvoller Weise etwa so: Sobald der Geist das Gedächtnissbild einer bedeutungslosen Form soweit vollendet habe, dass das  S c h a f f e n,  als die Quelle der geistigen Freude, abgeschlossen sei, lasse das Wohlgefallen an dieser Form nach, trete das ein, was er die  "E r m ü d u n g  d e s  F o r m g e f ü h l e s"  nenne. Nicht die Form erfreut uns, sondern das geistige Neugebären derselben. Ist dies abgeschlossen, so ermattet der Antheil an der Form selbst, erscheint uns als gleichgiltig, ja als widrig, was uns einst erfreute. Welcher Künstler kennt dies Gefühl der Formenmüdigkeit nicht? "Hätte man dauernd", sagt Göller, "schön gefunden, was einmal als das Schönste galt, so wäre kein neuer Baustil mehr entstanden, so wäre die Architektur längst keine Kunst mehr, sondern ein handwerksmäßiges Anheften der Formen irgend einer Blüthezeit nach Rezept und Schablone!"

In den vorstehenden Zeilen ist kurz der Grund dargestellt, auf welchem Göller's Betrachtungen sich aufbauen. Für sein Werk "Ueber die Entstehung der architektonischen Stilformen" giebt er bereits in dem ersten Kapitel seiner früheren Veröffentlichung eine völlige Inhaltsangabe in folgendem, dort geschichtlich durchgeführten Satze: "Eine Formengruppe um die andere wird (durch das architektonische Schaffen) heraus gegriffen und nach allen möglichen Richtungen ausgesteigert, dann schematisirt und noch eine Zeit lang - oft auch noch sehr lange - gleichgiltig als Schablone fest verwendet oder auf immer ärmlichere Form herunter gebracht, endlich aber wie ein entleidetes Spielzeug verlassen; das ist das Ende der Geschichte der reinen Form; das ist der Charakterzug im Stilverfall!" Jedes Volk bringt neue Formgedanken in die Kunst mit hinein, "Stammformen", und diese bilden dann mit den Resten der alten die Grundlage einer neuen Entwickelung. Diese Gedanken führt Göller in eingehender Schilderung der Stile mit Strenge durch. Aber von noch höherer Bedeutung als die historische Betrachtung im zweiten Buche scheint mir die ästhetische Nutzanwendung seiner Lehrsätze im ersten. Göller stellt sich Fragen, welche er eingehend beantwortet. Schon streiften wir den Inhalt der ersten: "Wie entsteht die Schönheit der Maßverhältnisse und das Stilgefühl?" Es ist bei uns Gewohnheit geworden, auf den "Geschmack" als ein unvollkommenes Mittel die Schönheit zu erkennen, verächtlich herab zu sehen; den die Aesthetik strebt danach, statt der Willkür persönlicher Anschauungen Gesetze aufzustellen. Die Künstler freilich haben schon längst erkannt, dass diese Gesetze keineswegs vor großen Schwankungen im Urtheil bewahren. Sie rechnen der Kritik von Zeit zu Zeit nach, wie sie ebenso wenig eine geistige Einheit darstelle, als die Künstler, dass das ästhetische Urtheil trotz seiner "Gesetze" ebenso weit auseinander gehe als die künstlerischen Bestrebungen es thun. Göller erklärt nun ganz entschieden, dass es keinen Richter über die Schönheit der reinen Form gebe, als die individuelle Kunstanschauung, weil ja nicht die Dinge an sich schön sind, sondern sie es erst durch die Annäherung an die in uns ausgereiften Gedächtnissbilder werden. Um 1680 spaltete sich die junge Pariser Bauakademie in die Schulen des Perrault und Blondel. Ersterer lehrte, dass es möglich sei, an Stelle der antiken Verhältnisse in den Ordnungen neue zu setzen, welche durch Angewöhnung uns als schön erscheinen würden. Blondel aber sagte, an Vitruv sich anlehnend, die antiken Verhältnisse seien die einzig richtigen und möglichen und durch Angewöhnung könne Hässliches nicht schön werden. Er siegte. Der Spanier Vilalpanda und der Engländer John Wood, letzteres noch 1741, wiesen nach, dass die Verhältnisse der Alten von Gott selbst am Tempel zu Jerusalem fest gesetzt worden seien, dass von ihnen sich zu entfernen daher eine Lästerung des Höchsten wäre. Also einem so alten Uebel, welches in freierem Sinne noch den Hellenismus dieses Jahrhunderts beherrschte, tritt Göller gegenüber, indem er die Schönheit der Maaßverhältnisse als auf einer  "f e i n e r e n  A r t  v o n  G e w o h n h e i t"  beruhend ganz im Sinne Perrault's und der Barockmeister erklärt und sagt: Die Vorliebe des Einzelnen auch für bestimmte Baustile beruht lediglich auf seinem Gedächtniss-Inhalt. Ein Urtheil darüber, ob der Stil "gut" oder "schlecht" sei, ist unmöglich zu fällen. Denn es kommt darauf an, dass das Kunstwerk mit den Gedächtnissbildern der Einzelnen verwandt sei, dann gefalle es. Bildet es dazu noch die bestehenden Formen weiter, beschäftigt es demnach die Geister indem es neue Gedächtnissbilder anregt, dann erweckt es geistige Freude, doch nur auf die, welche es zu erfassen in der Lage sind, deren Gedächtnissinhalt den des Künstlers erreicht hat. Zugleich ein Trost für nicht anerkannte Meister! Weiter fragt Göller: Was ist Wahrheit in der Architektur?

Die ältere Aesthetik lehrt: Des Körpers Form sei seines Wesens Spiegel. Wie selten es bei einigermaaßen verwickeltem Bauwerke durchführbar ist, dieser Forderung allseitig gerecht zu werden, ist dem Architekten nur allzusehr bekannt. Aber welche Bautheile sind denn ästhetisch nothwendig, welche sind berechtigt, welche nicht? Ist ein Thurm zur Spiegelung des Wesens einer Kirche denn wirklich nöthig? Oder sind deren sieben, wie an romanischen Domen nicht Verbrechen gegen die einfache Wahrheit? Schinkel baute vor das alte Museum und vor die Hauptwache in Berlin jonische oder dorische Säulenhallen. Ist das Wahrheit? Mehrstöckige, modernen Zwecken dienende Gebäude hinter einer Tempelfront! Und doch empfanden wir selbst noch vor 20 Jahren in diesen Bauten das Walten eines nach schweren Kämpfen endlich erreichten wahrheitlichen Stiles! Mit wirklicher Wahrheit, d. h. mit der Beschränkung auf die  n ö t h i g e n  Formen kommen wir zur trostlosesten Kahlheit. Der geistige Inhalt macht also nicht allein das Wesen der Kunstgestaltung aus, sondern der "ästhetische Ueberfluss", die formale Schönheit bildet einen sehr wesentlichen Theil derselben. "lnteressirt uns, und dann macht mit den kleinen Regeln, was ihr wollt!" sagt Lessing - und Göller stimmt ihm zu. Es würde weit über den Rahmen der "D. Bztg." hinaus gehen, wollte ich die Einzelfragen sämmtlich besprechen, Mögen die Bücher Göllers recht eifrig studirt werden. Denn von ihnen ist zu erhoffen, was der berühmte Aesthetiker Fr. v.  V i s c h e r  über sie sagt: dass sie geeignet seien, den betrübenden Zwiespalt zwischen Kunst und Kunstwissenschaft auszugleichen, ein friedliches Zusammengehen der beiden Lager, welche auf fruchtbare Wechselwirkung angewiesen sind, zu ermöglichen. Freilich wird Göllers Lehre nicht unangefochten bleiben, wenn man nicht vorziehen wird, sie todtzuschweigen, wie dies seiner Zeit mit Semper's Stil versucht wurde. Aber hier wie dort werden die Künstler die Aesthetiker  z w i n g e n,  ihnen auf den neu gebahnten Wegen nachzufolgen. Aber nicht nur was in Göllers Büchern zu lesen ist, hat Bedeutung; ungleich reichere Beute wird dem zufallen, welcher die Lehre von der Schönheit der reinen Form auf Malerei und Bildnerei anwendet und nachweist, in wie hohem Grade die des geistigen Inhalts entbehrende Formenwelt auch in diesen Künsten auf unser Schönheitsgefühl wirkt, wie recht die deutsche Kunst that, dass sie von der inhaltreichen Art des Cornelius zum Realismus überging, von der Welt der Gedanken zu dem der sinnlich empfundenen Form.

Cornelius Gurlitt