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Autor: Henrici, Karl
In: Deutsche Bauzeitung 31 (1897); S. 14 - 15; S. 18 - 20
 
Moderne Architektur
 
Unter den Gaben, welche der Büchermarkt den deutschen Architekten auf den diesjährigen Weihnachtstisch gelegt hat, beansprucht die Schrift von  O t t o  W a g n e r - Wien  "M o d e r n e  A r c h i t e k t u r" *) eine besondere Beachtung und Würdigung. Sie ist zunächst den Schülern des Verfassers gewidmet, verräth jedoch ihrem Inhalte und ihrer Fassung nach nicht nur das Bewusstsein des Verfassers, der berufene Vertreter und Apostel einer neuen Lehre zu sein, sondern auch die Absicht, für diese in weitesten Kreisen über die Grenzen seines engeren Vaterlandes hinaus Propaganda zu machen.
*) M o d e r n e  A r c h i  t e k t u r.  Seinen Schülern ein Führer auf diesem Kunstgebiete von Otto Wagner, Architekt (C. M.), k. k. Oberbaurath, Professor an der k. k. Akademie der bildenden Künste usw. Wien 1896, Verlag von Anton Schroll & Co. - Die bedeutsame Schrift - das Glaubensbekenntniss eines an führender Stelle stehenden Künstlers und ein Markstein in der Entwicklungsgeschichte einer nach neuen Idealen ringenden Zeit - dürfte sicher noch zu zahlreichen Erörterungen in den Kreisen der einem gleichen Ziele zustrebenden, jedoch auf verschiedenen Wegen wandelnden Fachgenossenschaft Veranlassung geben. Wir glauben einem akademischen Lehrer das erste Wort nicht verweigern zu dürfen. Die Redaktion.
Wenn von so hervorragender und einflussreicher Stelle aus, wie sie Otto Wagner einnimmt, solcher Weckruf ertönt, dann geziemt es sich für jeden Fachgenossen, ihn sehr ernsthaft anzuhören. Nicht minder erwachsen dem Fachmann und besonders dem fachmännischen Lehrer das Recht und die Pflicht, der neuen Glaubenslehre gegenüber Stellung zu nehmen und weder mit Zustimmung noch mit Ablehnung hinter dem Berge zu halten.
Das Ziel, welches O. W. verfolgt, ist eine aus dem Zeitgeist zu gebärende moderne Baukunst, für deren Art und Wesen er in seiner Schrift ein ziemlich fertiges abgerundetes Programm entwirft, so dass er im Schlusswort (S. 100) auszusprechen vermag:
"Die Baukünstler aber, welche dem in dieser Schrift angedeuteten Ziele zustreben, sind dann, was  d i e  A r c h i t e k t e n  a l l e r  E p o c h e n  w a r e n,  K i n d e r  i h r e r  Z e i t;  i h r e  W e r k e  w e r d e n  d e n  e i g e n e n  S t e m p e l  t r a g e n,  s i e  w e r d e n  i h r e  A u f g a b e  a l s  F o r t b i l d n e r  e r f ü l l e n  u n d  w a h r h a f t  s c h ö p f e r i s c h  w i r k e n.  I h r e  S p r a c h e  w i r d  d e r  M e n s c h h e i t  v e r s t ä n d l i c h  s e i n,  i n  i h r e n  W e r k e n  w i r d  d i e  W e l t  d a s  e i g n e  S p i e g e l b i l d  e r b l i c k e n  u n d  S e l b s t b e w u s s t s e i n,  I n d i v i d u a l i t ä t  u n d  U e b e r z e u g u n g,  d i e  a l l e n  K ü n s t l e r n  a l l e r  E p o c h e n  e i g e n  w a r e n,  w e r d e n  i h r e  B r u s t  e r f ü l l e n."
Der Brustton der Ueberzeugung, mit dem dieser Satz gesprochen ist, wird unzweifelhaft bei den Schülern des Verfassers einen begeisterten Wiederhall erwecken; für die gereiften Fachgenossen enthält er jedoch zugleich eine Herausforderung, sofern das Positive des Ausspruches eine absolute Unfehlbarkeit in Anspruch nimmt und Ziele und Wege, die von den in der Schrift dargelegten abweichen, von der Seligmachung ausschliesst.
Hr. O. W. darf aber schwerlich für sich in Anspruch nehmen, dass er allein als Baukünstler und Lehrer ein moderner Mensch sei, der den Geist der Zeit richtig erkannt habe und der allein danach strebe, diesen Zeitgeist mit Schönheits-Idealen zu erfüllen und ihn in der Kunst sich spiegeln zu lassen. Er darf sich überzeugt halten, dass auch Andere sich diese Aufgabe gestellt haben, aber zu anderen Schönheits-Idealen gelangen, weil sie dem Zeitgeiste noch andere Seiten abgewinnen zu dürfen glauben, die sie für die Kunst ebenso richtig halten, als die, welche O. W. für die maassgebenden hält.
Es will mir scheinen, als ob die Lehre O. W.'s unter einer gewissen Einseitigkeit litte, sofern sie sich fast ausschliesslich an die technischen Errungenschaften der Neuzeit, an die modernen, noch immer grösserer Vervollkommnung gewärtiger Verkehrsmittel und an das Grosstadtleben knüpft. Aber der Himmel bewahre uns davor, dass dieser Theil des Zeitgeistes, mit seiner uniformirenden Tendenz, alle Poren des Volkslebens derart durchdringe, dass nicht noch Sinn für manches Andere übrig bliebe, was ausserhalb des Weltverkehrs und Erwerbslebens liegt und was ich mit dem Worte Volksgemüth bezeichnen möchte.
Mir scheint es, als ob die Aufgabe, welche O. W. der modernen Baukunst stellt, in praktischem Sinne in Amerika bereits gelöst sei, und dass es nur der Befolgung seiner unzweifelhaft grossen und schönen Gedanken über die formale Behandlung bedürfe, um seine zeitgeistigen architektonischen Schönheitsideale verwirklicht zu sehen. Ich will nicht bestreiten, dass damit der Theil des Zeitgeistes, der dem modernen Großstadtleben entströmt, einen treffenden künstlerischen Ausdruck finden würde, kann aber nicht zugeben, dass eine Nothwendigkeit vorläge, nur ihm zu fröhnen. Ein Anderes ist es, was den Künstlern aller Länder vor allem am Herzen liegen sollte,  n ä m l i c h  d i e  P f l e g e  e i n e r  a u s g e p r ä g t  n a t i o n a l e n  K u n s t.
Viele von O. W. aufgestellten Grund- und Leitsätze stehen gewiss nicht im Widerspruch mit dieser Aufgabe; auf S. 47 und 65 ist sogar dem genius loci verschiedener Gegenden ausdrücklich ein gebührender Einfluss auf Materialverwendung, Konstruktion und Formengebung eingeräumt. Aber der Gedanke an das Nationalbewusstsein, welches den Künstler dazu führen muss, die Anknüpfung an das Erbe der Väter zu suchen, ist nirgend ausgesprochen. Soll aber die Kunst gedeihen als gemüthsveredelnde Kraft,so muss sie von warmer Begeisterung getragen sein, die sich, bei dem Deutschen wenigstens, weder an rein materiellen Dingen, noch an absoluter formaler Schönheit allein zu entzünden vermag. Dass die Kirche in absehbarer Zeit wieder zu der Alles erwärmenden Kraft werden könnte, ist nicht anzunehmen; sie hat ihre Kunstmission im Mittelalter erfüllt. Eines leuchtenden Leitsternes, eines über der Materie schwebenden Ideales bedarf aber die Kunst, und ich vermeine, dass die Vaterlandsliebe es wahrlich werth sei, zu solchem erhoben zu werden.
Der Kunst, die O. W. predigt, wird es gewiss nicht an Vornehmheit und Grösse, an Herrlichkeit und, wo es sein muss, an Weihe gebrechen, aber mir wird nicht warm dabei, und es wird, bei dem in ihr ausgesprochenen Utilitätsprinzip - welches auch O. W. nicht lobt, aber doch als zwingend hinnimmt - an den Stellen, die ausserhalb der Domäne der  a u s e r w ä h l t e n  b e r u f e n e n  Künstler liegen, vieles zutage treten, was gar zu sehr den Stempel der vernachlässigten Kehrseite an sich trägt. -
Indem ich nun dem Inhalte der Schrift näher trete, sei es mir gestattet den Faden an dem hinteren Ende anzugreifen, ihn rückwärts schreitend abzuwickeln und dabei besonders die Punkte herauszuheben, die mir nicht einwandfrei erscheinen.
O. W. sagt S. 99: "Unser Gefühl muss uns heute schon sagen, dass die antikisirende Horizontallinie, die tafelförmige Durchbildung, die grösste Einfachheit und ein energisches Vortreten von Konstruktion und Material bei der künftigen fortgebildeten und neu erstehenden Kunstform stark dominiren werden; es ist dies durch die moderne Technik und durch die uns zugebote stehenden Mittel bedingt".
Mit der Einfachheit, obgleich ich sie nicht als hervorstechende Eigenschaft des Zeitgeistes erkennen kann, und mit dem energischen Vortreten von Konstruktion und Material in dem Sinne, wie es die Schrift ausführt, kann ich mich wohl einverstanden erklären; dass aber, ganz allgemein gefasst, "die antikisirende Horizontallinie stark dominiren werde", dagegen möchte ich Einsprache erheben und möchte die Rechte des Vertikalismus in keiner Weise geschmälert sehen.
Nach dem Idealbild einer modernen Stadt, wie es O. W, im letzten Kapitel entwirft und wie es  "m i t  d e m  s o g e n.  g r o s s e n  Z u g e " schon leider als das Städtebild des XIX. Jahrh. in die Erscheinung getreten ist, kommt allerdings der Horizontalismus zu zwingender Herrschaft und mag da walten. Dieses Bild baut sich auf der Ansicht auf:  d a s s  "d i e  g e r a d e  L i n i e,  s c h o n  w e i l  d e r  M e n s c h  i m m e r  i n  g e r a d e r  L i n i e  g e h t,  u n d  d e r  E i l e n d e  s i c h e r  ü b e r  d e n  k l e i n s t e n  z e i t r a u b e n d e n  U m w e g  u n g e h a l t e n  i s t,  m i t  R ü c k s i c h t  a u f  d i e  S t r a s s e n f ü h r u n g  z u r  b e r e c h t i g t e n  B e d i n g u n g  w i r d".
Gegenüber solcher grundsätzlichen Bevorzugung der geraden Linie im Städteregulirungswesen darf ich aussprechen, dass wir in Deutschland (ausgenommen in Berlin) anfangen aufzuathmen unter dem rüstig fortschreitenden Erlösungswerke aus dem Joche der Reisschiene.
Der Mensch wählt, wenn es lediglich in seiner Absicht liegt, thunlichst rasch von einem zum anderen Punkte zu gelangen, (was übrigens durchaus nicht immer der Fall zu sein braucht) den kürzesten Weg, und diesen stellt, wenn da nichts vorhanden ist, was umgangen werden muss, die gerade Linie dar. Zwischen den Strassen pflegen sich nun aber undurchsichtige und undurchdringliche Baublöcke zu erheben, und deshalb passt W.'s Hinweis auf die durchquerten Rasenflächen und abgetretenen Rasenecken nicht in Anwendung auf den Strassenpassanten. In vielen, ja vielleicht den meisten Fällen, wird man mit geeigneten Biegungen der Strassenlinien kürzere Wege erzeugen können und bequemer um die Ecken kommen, als mit den nur geraden Strassenstrecken, die in Summa Wege in gebrochener Linie ausmachen. Grundsätzlich will O. W. (S. 85 Abs. 2)  B r ü c h e  d e r  S t r a s s e n f l u c h t l i n i e n  n i e  i n  d i e  B a u b l ö c k e  s e l b s t  v e r l e g t  w i s s e n.
Ich bin der entgegengesetzten Ansicht und vermeide es thunlichst, Brechungen eines Strassenzuges an die Kreuzungsstelle mit einer anderen Strasse zu verlegen, wobei ich zugleich im Auge habe, mit Hilfe entsprechender Biegungen innerhalb der Baublöcke schiefwinklige Einmündungen und Kreuzungen
(Fortsetzung auf S. 18)
zu vermeiden. Die Verkehrslinien werden dadurch flüssiger, spitzwinkelig verschnittene Baugrundstücke an den Ecken der Baublöcke und damit die unliebsame Bewegung um spitze Ecken herum kommen in Fortfall, und da durch die Biegungen und Brechungen der Strassenlinien schon von selbst geschlossene Bilder und wechselnde Perspektiven erzeugt werden, können Rezepte (vergl. S. 75-76) bezüglich des Verhältnisses zwischen Länge und Breite der Strassen entbehrt werden. Dürfte es doch häufig bei grossen Haupt-Verkehrsadern ein Vorzug sein, wenn sie in ihrem Laufe - mag er noch so lang sein - keine Unterbrechung erfahren. Ich will nicht unerwähnt lassen, dass gerade diese zu den allerwichtigsten Gesichtspunkten im Städtebauwesen und in der jeweiligen Entscheidung darüber, ob die Herrschaft des Vertikalismus oder des Horizontalismus am Platze ist, gehören, und dass nichts anderes die architektonische Physiognomie einer Stadt so zu beeinflussen vermag, als die Befolgung des einen oder des anderen Grundsatzes. Für den meinigen nehme ich in Anspruch, dass er, da man mit den Strassenkrümmungen an keine bestimmten Radien gebunden ist, den Zauber der Abwechslung in sich trägt und den Planleger dazu anregt, bei jedem Meter Wegelänge künstlerische Erwägungen mitsprechen zu lassen, während ich dem W.'schen Grundsatze zum Vorwurf mache, dass er der Uniformirung und dadurch den Auswüchsen der Bauspekulation, der jede Gelegenheit zu schablonenhafter Ausbeutung der Baugelände willkommen ist, allen Vorschub leistet, was doch nicht in der Aufgabe der Städtebaukunst liegen kann.
Ungetheilte und freudige Zustimmung zolle ich dem, was O. W. S. 76-78 über die gärtnerischen Anlagen in den Städten, auf S. 88-89 über Villenquartiere und auf S. 48-49 über Sehdistanzen und die Freilegung gothischer Dome sagt. Ich theile auch die übrigen künstlerischen Gesichtspunkte, nur dass ich für die zu erstrebenden Effekte beweglichere Mittel anwende und sie auf natürlicherem, ungezwungenerem Wege zu erreichen suche, als durch eine gewaltsam herbeigeführte geometrische Strenge und Regelmässigkeit im Grundriss der Strassen und Plätze.
In dem vorletzten Kapitel, betitelt  "D i e  K o n s t r u k t i o n"  ist eine Fülle bedeutungsvoller Gedanken niedergelegt, deren Fruchtbarkeit schon heute an manchen ausgeführten Bauwerken zutage tritt, deren Schöpfer sich von ähnlichen oder gleichen Absichten, wie sie O. W. befolgt wissen will, leiten liessen. Dies sei willig anerkannt, obwohl  "a n  d e r  L e i c h t i g k e i t  d e s  N a c h w e i s e s,  u n d  a n  d e r  U n e r s c h ü t t e r l i c h k e i t  d e s  S a t z e s:  "J e d e  B a u f o r m  i s t  a u s  d e r  K o n s t r u k t i o n  e n t s t a n d e n  u n d  s u c c e s s i v e  z u r  K u n s t f o r m  g e w o r d e n"  billig zu bezweifeln sein dürfte.
Im Besitze der Fähigkeit, jede beliebige, rein der Phantasie oder auch rein künstlerischer Logik entsprungene Form auch standfest und materialgerecht zu konstruiren, darf sich der Baukünstler auch Sprünge erlauben und Gestaltungen in die Architektur einführen, die nur formal-ästhetische Bedeutung haben, die der Natur oder irgend einer anderen der technischen Künste entnommen sein mögen und bei denen die Konstruktion nur Mittel zum Zweck wird. Wenn die "als konstruktiver Stil" so sehr gerühmte Gothik z. B. der Fiale, die in der Konstruktion als Belastungskörper dient, Form und Verzierung giebt, die durch den Ausdruck des Emporschiessens die statische Bedeutung des Baukörpers völlig vergessen macht, so kann man doch da nicht von einem successiven Entstehen der Kunstform aus der Konstruktion reden und noch kühner würde es sein, der Gothik aus den scheinbaren Widersprüchen zwischen Formengebung und Funktionen ihrer Bauglieder einen Vorwurf machen zu wollen.
Als anderes Beispiel führe ich die in der Barockzeit so sehr beliebte und namentlich in Süddeutschland häufig auftretende Kuppelhauben-Bekrönung von Kirchthürmen an. Ich glaube, dass der Künstler, der sie einführte, eher an den Punkt über dem "i" als daran gedacht hat, aus irgend einem Baumaterial oder einer nothwendigen Konstruktion eine Kunstform zu entwickeln. Die Freiheit, die ich dem genialen Baukünstler in der sprunghaften Konzeption auch solcher Bauformen gewahrt wissen möchte, die an sich mit Konstruktion und Material nichts zu thun haben, steht im Widerspruch mit dem sehr beherzigenswerthen Ausspruche O. W. (S. 41):
"Ein glücklicher Grundgedanke und seine reife geistige Durchbildung fallen heutzutage schwer ins Gewicht und tragen weit mehr zur Werthschätzung eines Werkes bei, als die üppigsten Blüthen, welche das natürliche unbewusste Können des Künstlers erspriessen lässt."
Auch zu dem Satze (S. 41) bekenne ich mich,  "d a s s  i n  d e r  B a u k u n s t  e t w a s  U n p r a k t i s c h e s  n i e  s c h ö n  s e i n  k a n n" und glaube, dass eine Verständigung über alle diese Fragen nicht schwer fallen würde, wenn man eine scharfe Grenze zwischen  B a u f o r m e n  und  Z i e r f o r m e n  ziehen könnte. -
Das dritte Kapitel, dem schon die vorstehenden Sätze entnommen sind, handelt von der Komposition und lässt erkennen, dass O. W.s Bestrebungen mit einer gewissen Einseitigkeit - und zwar ausdrücklich - auf einen sogen.  a k a d e m i s c h e n  Architekturkultus gerichtet sind.
Er sagt (S. 41): "Nach dem Erfassen des Grundgedankens sind die verlangten, dem Bauprogramme entsprechenden Bedürfnisse einfach und klar aneinander zu reihen und dieser Art das Gerippe des Werkes herzustellen. Dieser Aneinanderreihung muss sich die Durchbildung des Grundrisses, da es sich ja in erster Linie um ein Bauwerk handeln wird, anschliessen und zwar mit dem Zwecke, durch Verschiebung der Räume und Raumformen auf empirischem Wege eine möglichst klare, axeale und einfache Lösung zu schaffen, bis ein sogen. akademischer Grundriss, eine Bautype entsteht."
Ferner S. 46: "Das Einfache, Praktische, beinahe möchte man sagen Militärische unserer Anschauungsweise muss, wenn das entstehende Werk ein getreues Spiegelbild unserer Zeit sein soll, voll und ganz zum Ausdrucke gelangen."
Sofern unter "dem Grundgedanken" die körperliche und räumliche Gesammt-Erscheinung des Bauobjektes und nicht nur die Grundrissfigur in ihren grossen Umrissen verstanden sein soll und und wenn ich dem Worte "axeal" einen nicht zu grossen Werth beizumessen brauche, kann ich den ersten Satz wörtlich unterschreiben. Der im zweiten Satze zum Ausdruck gebrachten Auffassung kann ich mich jedoch nur in sehr bedingter Weise anschliessen. Jene militärische Strenge lasse ich gelten für öffentliche Gebäude, die dem Verwaltungs- und Schulwesen dienen, für Kasernen und Repräsentationsgebäude mancher Art, mit dem übrigen Theile der Werke der Baukunst möchte ich aber lieber an die Mannichfaltigkeit der menschlichen Interessen und an die bewegliche Poesie des Lebens, die der Freiheit der Gedanken und Gefühle entkeimt und die keinem Kommando folgt, erinnert werden, als an militärische Parade.
O. W.'s Architektur schliesst, wenn ich sie recht verstehe, die Romantik - in dem Sinne, wie sie uns in den aus dem Mittelalter und der Zeit der Renaissance stammenden Städtebildern überliefert ist, völlig aus, und er hat wohl Recht, wenn er bei den modernen Grosstädtern und Industriellen wenig Sinn und Verständniss für diese Romantik, für diese Art des Malerischen in der Baukunst, voraussetzt.
Von einer Kunst, die dem deutschen Volksgemüth entspriessen oder diesem eingehen soll, halte ich sie aber unzertrennlich und ich glaube als beweiskräftiges Zeichen dafür anführen zu dürfen, dass gerade jetzt, wo der Deutsche sich auf sich selbst zu besinnen angefangen hat und das bewusste Deutschthum eine Macht zu werden beginnt, bei den besten unserer Baukünstler eine Abneigung gegen das sogen. akademische Wesen und eine besondere Neigung für das "Romantische oder Malerische" in der Baukunst augenscheinlich hervortritt. Dieser herrschende Zug macht sich auch bereits im Stadtregulirungswesen geltend, und ohne Vernachlässigung des Praktischen werden daraus zeitgeistige Architektur-Kompositionen entstehen, die an Grossartigkeit und Harmonie "jenen mit dem grossen Zuge" nicht nachstehen, die aber zugleich noch etwas anderes in sich tragen, was dem Gemüthe, der Heimathliebe und der Poesie Nahrung giebt und was jene nicht bieten können.
Die häufigeren Erfolge der "akademischen Komposition", welche O. W. zu Gunsten seiner Auffassung anführt, liefern für mich keinen Gegenbeweis, da ich kühn behaupten darf, dass nur vereinzelte der betreffenden Entscheidungen und Beurtheilungen eine überzeugende und belehrende Wirkung auf die deutsche Fachgenossenschaft ausgeübt haben. Es ist eine nicht weniger einflussreiche, aber doch etwas bescheidenere Stellung, die ich der Architektur im allgemeinen, oder besser gesagt, im grossen Durchschnitt einräume, als es O. W. thut, sofern ich es als eine utopische Forderung ansehe, dass der baukünstlerische Beruf nur von Leuten, die zu künstlerischer Souveränetät berufen sind, ergriffen werden dürfe und sofern ich den dem Umfange nach grösseren Theil der sogen. bürgerlichen Baukunst, für den mir der ausgeprägt akademische Charakter widersinnig erscheint, in seiner Bedeutung für das Gesammt-Volksleben gegen den Monumentalbau nicht zurückgesetzt sehen möchte.
Die Architektur, welche fast ausschliesslich Zwecke zu erfüllen hat, die ausser ihr selbst liegen, und bei der es nur in verhältnissmässig seltenen Fällen dem Künstler vergönnt ist, die Ausgestaltung der ganzen Umgebung in die besondere Aufgabe mit einzubeziehen, ist wie keine andere Kunst darauf hingewiesen, sich mit der Erzielung relativer Schönheiten zu begnügen. Als emanzipirte, absolute Schönheitsideale verwirklichende Kunst mag sie im Monumentalbau grossen Stiles sich bethätigen, im übrigen aber bleibe sie anschmiegsam, gesellig und gemüthlich. Bei dem Grundsatz der Anschmiegung an die gegebenen Verhältnisse verlegt sich aber das  E n d z i e l  der Komposition nicht auf einen axeal und symmetrisch, kurz "akademisch" ausgeklügelten Grundriss, der doch nur eine Abstraktion des Räumlichen oder Körperlichen ausmacht, sondern auf ein räumlich und körperlich in die Umgebung hineingedichtetes, individuellen Bedürfnissen aussen und innen angepasstes Gebilde, welches, nach den jeweiligen Umständen, das eine Mal in sich abgeschlossen, das andere Mal auf Anschluss oder Erweiterung berechnet in die Erscheinung treten wird. -
Bei den ersten Kapiteln der Schrift auf dem Wege meiner Erörterungen angelangt, habe ich wenig mehr hinzuzufügen, da im Vorstehenden die wichtigeren Punkte dieser ersten Kapitel schon berührt wurden.
Eine besondere Würdigung fordern jedoch noch die Auslassungen O. W.'s über den Werdegang des Architekten. Es entspricht der Begeisterung für den Beruf und dem heissen Drange, der Baukunst und ihren Jüngern eine souveräne Stellung zu erringen, dass O. W. an die Ausbildung des Architekten die allerhöchsten Anforderungen stellt. Dem autoritativen Urtheil des akademischen Lehrers, für das er eine gewisse Unfehlbarkeit in Anspruch nimmt, räumt er jedoch nach meinem Ermessen einen zu weit gehenden Einfluss ein und belastet, mit dem Rechte "darüber zu entscheiden, ob der Kandidat mit Erfolg die künstlerische Laufbahn betreten kann oder nicht" den Lehrer mit einer allzuschweren Verantwortlichkeit. Es giebt auch noch andere Wege ausser dem akademischen Studium, die zur Künstlerschaft führen können und es lässt sich darüber streiten, ob es gut ist, das Monopol der Schule auf die Erziehung in Wissenschaft und Kunst noch immer mehr zu steigern und zu befestigen, oder ob es nicht besser wäre, wenn man dahin strebte, hier eher eine Einschränkung eintreten zu lassen und dadurch für die Tradition, die in der Kunst doch auch ihre Rechte und Verdienste hat, wieder mehr Raum zu schaffen. -
Mit den Anschauungen, die ich im Vorstehenden darzulegen versucht habe und die in mancher Beziehung von denen O. W.'s abweichen, glaube auch ich nicht allein zu stehen. Sie zeigen, dass verschiedene  "m o d e r n e  M e n s c h e n"  verschiedenartig den herrschenden Zeitgeist ansehen und Verschiedenes aus ihm herauslesen können und dass demgemäss bei der gleichen Absicht, fortbildend dem Zeitgeiste gerecht zu bleiben, die Zukunftsbilder der Architektur verschiedenartig ausfallen müssen.
Wer Recht hat, oder wer Recht behalten wird, muss die Zukunft lehren. Jedem Fachgenossen und besonders fachgenössischem Lehrer sei jedoch anempfohlen, O. W.'s Beispiele zu folgen, nur aufgrund sicher gefühlter Erkenntniss und fest errungener Ueberzeugung vordringend und fördernd dem Berufe zu leben und die Schrift O. W.'s sich dazu als Anregung dienen zu lassen.
Aachen, im Dezember 1896.

K. Henrici.