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Autor: Hofmann, Friedrich H.
In: "Spemanns Goldenes Buch vom Eignen Heim" (1905)
 
Das 19. Jahrhundert
 
Man hat das 19. Jahrhundert geradezu das „unkünstlerische“ genannt, insofern vielleicht mit Recht, als im Verlauf desselben die Kunst es niemals versucht hat, Gemeingut des ganzen Volkes, ein wesentlicher Teil der geistigen Eigenschaften der Zeit zu werden. Wie überall während des 19. Jahrhunderts die Verstandesarbeit den Ausschlag gegeben hat, so auch größtenteils in der Kunst. Nach der kurzen schillernden Herrlichkeit des Rokoko war eine ernste Zeit gekommen. Die Kunst, die kurz zuvor noch in dem intimsten Anschluss an das menschliche Leben ihre vornehmste Aufgabe gesucht hatte, fand diese Bestrebungen plötzlich trivial und erniedrigend, und warf sie rasch über Bord. Als Ersatz dafür griff sie zum klassischen Kothurn. Die Auffindung der durch den Ausbruch des Vesuv verschütteten Städte Herkulaneum und Pompeji, das rege Interesse aller Gebildeten an den Ausgrabungen und die daraus folgende Beschäftigung mit der klassischen Altertumswissenschaft leiteten unbewusst eine Reaktion ein, die erstmals mit der Veröffentlichung des Prachtwerks der englischen Architekten Stuart und Revett über die Altertümer Athens (1761) ihre gewichtige Stimme erschallen ließ. Die Folge davon war bald eine allgemeine Aufnahme antiker Bauformen in die Architektur, schließlich ein direktes Kopieren klassischer Bauwerke. Aus dem Geiste des Griechentums heraus zu schaffen, war das Ideal der Architekten, mochte hundertmal dabei der Zweck und die Bestimmung des Gebäudes jämmerlich geknechtet werden.

Je weniger Berührungspunkte dieser griechische Idealismus mit dem Alltagsleben hatte, desto rascher und energischer musste sich auch gegen ihn eine Reaktion geltend machen. Das nationale Element, lange hinter griechischer Maske versteckt, kam übermächtig wieder zum Durchbruch. Es begannen die Tage der „Romantiker“. Die mittelalterlichen Baustile, in denen man nationale Eigentümlichkeiten verkörpert sah, die romanische und auch die gotische Kunst, durften eine fröhliche Auferstehung feiern. Man träumte sich mit Behagen in die „gute alte Zeit“ des goldenen Mittelalters zurück. Aber es war doch auch viel Selbsttäuschung, viel gekünstelte Phrase und nüchterne Verstandestätigkeit, kein volles Aufgehen in den neuen Idealen.

War man aber mit der Wiederaufnahme der mittelalterlichen Kunst einmal in das retrospektive Fahrwasser hineingeraten, so war von da nur noch ein Schritt zur Wiedererweckung auch der anderen historischen Stile. Nacheinander und durcheinander wurden Renaissance, Barock, Rokoko wieder aufgenommen. Es begann ein „Stiltreiben“ sondergleichen.

Auch gegen dieses Repetieren längst abgelegter Kunstformen in unserem modernen Leben trat allmählich eine Reaktion ein. Was man jetzt wollte, war vor allem das Anpassen der architektonischen Ausdrucksformen an die Bestimmung des Gebäudes. Von innen heraus sollte gebaut werden. Diese Anschauungen kamen zwei neue konstruktive Prinzipien zu Hilfe: Glas und Eisen. Hier ging das praktische England voran (Glaspalast aus der Weltausstellung 1851 in London), verschiedene große Bahnhofhallen auf dem Kontinent folgten; der Eiffelturm auf der Pariser Ausstellung 1889 schloss vorerst die Reihe. Überall tritt das mehr Technische in den Vordergrund, wie auch die Schmuckformen wieder den rein konstruktiven Formen den ersten Platz einräumen müssen. Feste, allgemein gültige Normen eines neuen Architekturstils allerdings sind bis heute noch nicht gefunden; noch leben wir mitten in einer Periode des Suchens und Tastens. Ob dieser dann nun gerade „aus der Idee des Eisenmaterials heraus geboren werden“ wird, wie man gemeint hat, muss die Zeit lehren; bis jetzt lassen sich höchsten Ansätze verfolgen.

Lieber fast möchte man William Morris beipflichten, der die Hoffnung ausspricht, dass „gerade von den notwendigen und anspruchslosen Bauten die neue und echte Architektur, die wir erwarten, ausgehen wird, viel eher jedenfalls, als aus dem Experimentieren mit den mehr oder weniger anspruchsvollen Architekturstilen“.

Deutschland. In Deutschland wurde der Archäologe Johann Joachim Winckelmann (gest. 1768) der Apostel der neoklassischen Kunstanschauung; das Erscheinen seines Buches „Geschichte der Kunst des Altertums“ im Jahre 1764 kann geradezu als ein Markstein in der Kunst zweier Epochen bezeichnet werden. So brach gegen das Ende des 18. Jahrhunderts auch eine künstlerische Revolution aus. Bis sich allerdings die theoretischen Neuerungen in die Praxis umzusetzen vermochten, dauerte es noch geraume Zeit. Dabei wurde auch der Einfluss Frankreichs, der politischen Lage entsprechend, von ziemlicher Bedeutung.

Das Ideal „der reinen Antike“ griff in Deutschland in voller Konsequenz erst eigentlich Karl Friedrich Schinkel (gest. 1841) auf; sein entscheidendes Talent verhalf der Berliner Schule zum Vorrang in ganz Deutschland. Schinkels Hauptwerke, die Berliner Hauptwache, das Schauspielhaus und das Neue Museum sind tatsächlich noch am ehesten „aus dem Geiste des Griechentums heraus“ geschaffen. Soweit es überhaupt möglich war, den an so ganz andere Lebensbedingungen geknüpften griechischen Stil anderen Aufgaben aufzupfropfen, hat Schinkel seine Absichten noch am geschicktesten und einwandfreiesten durchgeführt. Nach seinem Tode hielten seine Schüler Persius, August Stüler (gest. 1865), Johann Heinrich Strack (gest. 1880) an den Überlieferungen des glänzenden Lehrers fest. Neben Berlin ging München, wo der Mäzen Ludwig I. seine griechischen Architekturträume durch Leo von Klenze (gest. 1864) verwirklicht sah; hier entstanden in rascher Folge die Glyptothek, die Propyläen, das jetzt der Sezession zugewiesene Ausstellungsgebäude, weiter im Bayernlande die Walhalla bei Regensburg und die Kehlheimer Befreiungshalle, das Pompeianum bei Aschaffenburg. Den wechselnden Neigungen seines Königs musste Klenze jedoch auch manche Zugeständnisse machen; für die ältere Pinakothek wurden bramanteske Formen, für die Allerheiligen-Hofkirche normannische Gotik, für den Neubau der Residenz der florentinische Palazzo (Pitti) als Vorbild beliebt. In Wien huldigte dem Hellenismus, allerdings in einer selbständigeren Weise als die Berliner Schule, vor allem Theophil Hansen (gest. 1891); sein Reichsratsgebäude ist bedeutend, wenn auch nicht eben sehr anziehend.

Gegen dieses klassische Kunstideal, dem die Hauptmasse des Volkes immer fremd und kalt gegenüber stehen musste, trat allmählich eine durchgreifende Reaktion ein. Unter dem Nachwirken der Befreiungskriege entstand in Deutschland eine lebhafte nationale Begeisterung, die sich zur sogen. Romantischen Bewegung gestaltete. Mittelalterliche Kunstideale wurden jetzt wieder neu belebt; die Gotik, der „altdeutsche Stil“, wird das verzärtelte Pflegekind der Architekten. Die Wiederherstellung und Vollendung der im Bau liegen gebliebenen mittelalterlichen Dome wird national Aufgabe. Sulpiz Boisserées Anregung zum Ausbau des Kölner Domes, den erst Richard Voigtel 1880 zu Ende führen sollte, hatte allenthalben in Deutschland begeisterte Aufnahme gefunden. Allerdings ging man bei diesem Wiederbelebungsversuch etwas sehr radikal zuwege; niemals und nirgends hat der „vandalisme restaurateur“ ärger gehaust als in den Tagen der Romantiker. Die größten deutschen Dome wurden des Schmucks beraubt, den das farben- und formenfrohe Zeitalter des Barock dort angehäuft hatte (Dom zu Bamberg, Frauenkirche in München, Dom zu Speyer, Regensburg etc.).

Ihren Ausgang nahm die Bewegung hauptsächlich von München, wo Friedrich von Gärtner (gest. 1847) besonders auch den romantischen Stil wieder belebt und zu einer Anzahl von Kult- und Profangebäuden angewandt hatte (Ludwigskirche). In manchen Städten Deutschlands entstehen nun unter einem bedeutenden Lehrer und Meister Bauhütten im Sinne der mittelalterlichen Steinmetzengenossenschaften, besonders in Hannover unter Konrad Wilhelm Hase (gest. 1902). In Kassel wirkte Ungewitter, vor allem auch theoretisch (Lehrbuch der gotischen Konstruktion), in Nürnberg Karl Heideloff (gest. 1865), in Wien Heinrich von Ferstel (gest. 1883, Votivkirche) und vor allem der deutsche Steinmetz Friedrich von Schmidt (gest. 1894, Rathaus, Wiederherstellung des Stephansdomes). Bald aber erhärtete auch diese neuerweckte „altdeutsche“ Baukunst in starrem Formalismus oder aber sie versuchte sich an gewagten Experimenten, wie in München, wo man auf Veranlassung des Königs Maximilian II. einen neuen Baustil in die Welt setzen wollte, indem man eine „Veredelung des gotischen Konstruktionsprinzips mit der Formenschönheit der italienischen Renaissance“ erzielen wollte (Preisausschreiben der Akademie 1851). Ein solcher Bastard konnte kein langes Leben haben!

Teilweise für sich stand in dem allgemeinen Taumel der geniale Gottfried Semper, seit 1834 in Dresden, wo er das Hoftheater in den Formen der italienischen Renaissance errichtete. Sein Buch „Der Stil“ traf zündend in den Kampf der Klassiker mit den Romantikern. Nicht zuletzt Semper ist indirekt schuld an der in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts rasch um sich greifenden Vorliebe für die „deutsche Renaissance“, durch die das gotische Bauideal abgesetzt wurde. Befestigt und gefördert wurde diese Bewegung auch sozial-politisch durch die im deutsch-französischen Kriege glücklich wieder erkämpfte Einheit des deutschen Volkes. Damit aber schon wieder nicht zufrieden, griff man bald in einer merkwürdigen historischen Begeisterung auch auf die übrigen Stilarten zurück. Vor allem der deutsche und italienische Barock feierte nun neue Triumphe.

So hatte man in wenigen Jahren fast den ganzen Entwicklungsgang der Baukunst von neuem wieder durchjagt. Besonders in der nach den Kriegen von 1866 und 1870 mächtig und rasch aufstrebenden Reichshauptstadt fanden sich in den Neubauten alle Stile ein, von der venezianischen Hochrenaissance (Pringsheimsches Haus in der Wilhelmstraße) bis zu arabisch-maurischen Motiven (Neue Synagoge). Als bedeutendster Meister auf dem Gebiete kirchlicher Baukunst gilt Johannes Otzen. Bei seinem Dom arbeitet Julius Raschdorff ebenfalls noch mit historischen Stilen.

Neues hat teilweise Paul Wallot versucht in seinem Reichstagsgebäude und kürzlich vor allem Alfred Messel bei dem Warenhaus von Wertheim.

In Bayern hat König Ludwig II. weniger für seine Hauptstadt getan, als für seine im Gebirge versteckten Schlösser: Herrenchiemsee, eine Nachahmung von Versailles, Linderhof, in ähnlichen Stilprinzipien, Neuschwanstein, als mittelalterliche Burg gedacht. München selbst hat lange Zeit – besonders im Kirchenbau – an der retrospektiven Richtung festgehalten. (St. Annakirche, Paulskirche, Bennokirche, Gedons Schackgalerie, Justizpalast von Friedrich v. Thiersch); noch jetzt errichtet Hauberriesser den Neubau des Rathauses in gotischen Bauformen.

An der Grenze zweier Architekturauffassungen stehen Gabriel v. Seidels Neues Nationalmuseum in München, an dem vor allem die moderne Forderung, „von innen heraus“ zu bauen, beachtet wurde. Als erster „Schlager“ moderner Baukunst darf das Münchner Schauspielhaus bezeichnet werden. Mit mehr oder weniger Geschick versuchen viele Privatbauten (auch Schulhäuser) ähnliche Probleme zu lösen.