erbaut durch Hannes Meyer, Basel
ANSICHT AUS DER VOGELSCHAU
Phot. Ad
Astra Aéro A.G.
Seit 1920 bietet im Osten von Basel die Siedelung Freidorf dem Flieger
wie dem Volksfreund ein gleicherweise rosig schimmerndes Peilziel. Dem
Erdkundigen ein neuer Ort auf der Siegfriedkarte, dem Bourgeois rotes
Nest, dem Sovjetstern nicht rot genug, dem Aestheten Kaserne, dem
Gläubigen Stätte der Religionslosigkeit, dem
Eigenbrödler Zwangserziehungsanstalt, dem
Privathändler Todschlagsversuch an seiner Wirtschaftsform, und
dem Genossenschafter die erste schweizerische Vollgenossenschaft und
eine cooperative Rarität Europas: Das ist die
Siedelungsgenossenschaft Freidorf. Deren Gründer Bernhard
Jäggi. Deren Stifter der Verband Schweiz. Konsumvereine. Alle
drei unter sich durch Personalunion verbunden. Solcherart steuerten
mittelbar 360 000 konsumierende Schweizerfamilien unverzinsliche 7 500
000 Schweizerfranken zum Befreiungsversuch eines Volkstrupps, Vortrupp
neuer Gesinnung, aus Formen heutiger Wirtschaft und Stadt. Man denke:
150 Familien ergreifen gleichzeitig die Stadtflucht. 620 Menschen
geschieden in Geld, Geschlecht, Glauben, Güte, Gaben, Geist
und Gottheit, geeint im Willen zur Lebensgemeinschaft. 620
Menschen beschliessen hinfort ein gemeinsames Leben in
gemeinsamem Hause auf gemeinsamer Erde.
So begann der Auszug »aufs Land». Halbwegs zwischen
Basel und Muttenz, im Angesicht von Wartenberg und Rütihardt,
die Stadtsilhouette tröstlich im Rücken, schloss man
den Kaufpakt. Ein Geländedreieck, haltend 8,5 Hektaren;
wirtschaftlich zu Fr. 2.60 das Quadratmeter; geologisch auf
postglazialem Rheinbettkies; topographisch auf rechtem Birsufer in 278
m Höhe über Meer und relativ auf 20 m hohem Talbord;
patriotisch über dem Schlachtfeld St. Jakobs;
siedelungstechnisch schutzloswindig; elektrotechnisch im Bereich der
Elektra Birseck, kommunal in Muttenz, kantonal in Basel-Land;
verkehrstechnisch an der Ausfallstrasse Basel-Hauenstein, an der
Trambahn Basel-Pratteln, an der S. B. B. Basel-Olten, an der Luftlinie
Sternenfeld-Brüssel . . . Grund genug zur Weltverbundenheit.
Maifreudig woben Durlips und Ackersenf am Ankaufstage einen
grünen Plan über das Siedelungsgebiet zwischen
autostausbiger Landstrasse und wiesenstillem Feldweg.
DAS
GENOSSENSCHAFTSHAUS P h o t. H o f f m a n n
HAUPTEINGANG P h o t. H o f f m a n n
GRUNDRISSE
DAS
GENOSSENSCHAFTSHAUS P h o t. H o f f m a
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DORFPLATZ
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BRUNNEN P h o t. H o f f m a n n
Man zählte 1919. Nachkriegszeit, Wilson, Kompromisse, bei
denen Weltgeschichte sich und Zeitgeist gleicherweise kompromittierten.
Da ward auch Freidorf zur Gartenstadt.
Hier ist alles Co-op. Co-op heisst Cooperation. Cooperation heisst
Genossenschaft. Co-op die Menschen und alle Nahrung und Satzung und
Kleidung und Zeitung. Co-op aller Bedarf und Herbstobst und Kraftfutter
und Brennstoff und Volksschuh. Co-op alle Behausung und Schenke und
Schule und Tanzsaal und Kaufladen. Co-op alle Einrichtung und
Versicherung und Volkschor und Scheidemünze und Bankscheck.
Co-op die Bücherstube, die Bücher darin, deren
Inhalt, dessen Geist . . . und so ist diese Siedelung ein Stein und
Raum gewordenes Prinzip, allseitig und allerorts unendlich angewendet,
mathematische Formel, etwa (CO-OP)³ ~ . 620 Menschen bewohnen
gemeinsam ein gemeinsames Haus auf
WOHNZEILEN
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WOHNZEILE
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gemeinsamer Erde: Sichern Freiland und vor des kleinen Hausbesitzes
Unbestand und Verführung durch Kollektiveigentum an Boden und
Bau. Sichern Heimstätte und vor der Großstadt
Nomadentum durch lebenlanges, einmal vererbbares Mietrecht an
Hauszelle. Sichern Selbstverwaltung sich und Entlastung verschuldetem
Staate durch jedes Siedlers weitgehende Verpflichtung zur unbezahlten
Mitarbeit am Gemeinwerk. Sichern Selbstbestimmung durch
Siedlerversammlung mit Stimmwahl und Mitbestimmung durch Einteilung
aller Erwachsenen in sieben Arbeitsgruppen für Erziehung,
Betrieb, Sicherheit, Finanzen, Gesundheit, Unterhalt und Unterhaltung.
Sichern Volksbildung in eigener achtstufiger Volksschule nach
staatlichem Schulprogramm und dem cooperativen der Genossenschafter
Pestalozzi, Zschokke, V. A. Huber. Sichern Fortbildung in
genossenschaftlichem Seminar zur Ertüchtigung für die
Konsumvereinspraxis. Sichern Sozialvermögen durch freiwillige
Batzen-Sparkasse, welche, ausschliesslich von Schulkindern betreut, bei
10 Rappen täglichem Mitgliedsbeitrag in vierjährigem
Bestehen 38 000 Franken Sparkapital äufnet.
GÄRTEN
UND LAUBEN P h o t. H o f f m a n n
Sichern Beamtenabbau durch eigenen Siedlerdienst für Wache,
Sanität, Feuerwehr und Strassenreinigung. Sichern Verbilligung
des Lebens durch gemeinsamen Einkauf aller Gattung Waren und deren
Absatz durch Kaufzwang jedes Mitgliedes im eigenen Laden und
für jegliches Ding täglichen Lebensbedarfs. Sichern
Bezugskontrolle durch Ausgabe eigenen Aluminium-Geldes und 6 - 7
prozentige Rückvergütung durch weitgehende
unentgeltliche Mithilfe bei der Gütervermittlung, deren
Unkosten von herkömmlich 12-14 % des Umsatzes auf
6½ % erniedrigend.
TRANSFORMATORENHAUS P h o t. H o
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GÄRTEN
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TURNHALLE
IM GENOSSENSCHAFTSHAUS P h o t. H o f f m
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Sichern Wirtschaftlichkeit eigener Gastwirtschaft durch gemischten
Regiebetrieb von Wirt und Siedelung und Sparsamkeit des
Liegenschaftsunterhaltes durch eigene Wartung mit Gärtner,
Schreiner, Bau- und Elektrowart. Sichern Volksfürsorge und die
Unsicherheit von Leben und Tod durch Abschluss einer
Kollektivversicherung aller Siedler mit 500 Fr. Sterbegeld in eines
jeden Todesfall und die Heimtücke sengenden Feuers durch
Obligatorium der Mobiliarversicherung. 620 Menschen bewohnen ein
gemeinsames Haus auf gemeinsamer Erde, und weil der Stifter sich
Zinsgenuss seines Stiftungsvermögens verbat -
Freigeld, nicht? überweisen sie nach Abzug von
Steuern und Spesen den Jahresüberschuss von beiläufig
50 000 Fr. einer «Stiftung zur Förderung von
Siedelungsgenossenschaften», allwo Guttat neue Wohltat zeugen
soll und künftige Freidörfer.
HALLE IM
GENOSSENSCHAFTSHAUS P h o t. H o f f m a n n
Wie unruhige Vielgestalt heutiger Stadtbilder nur Niederschlag ist
durcheinanderstrebender Einzelabsichten der Bewohner, so ist Freidorfs
Bauanlage nur Offenbarung seines innern Geistes und
Verkörperung dieses Versuches einer Lebensgemeinschaft von 150
Familien im bienenwabenähnlichen Zellenbau einer Siedelung.
Derart entspricht strenger Satzung innern Aufbaues straffe Gliederung
des Aeussern, Einhelligkeit der Siedler die Einheitsform der
Häuser, die Gleichartigkeit und Gleichfarbigkeit der
Hausblöcke und der Gleichklang der Hausteile. Denn die
Stützen der Gemeinschaft wurden zu Säulen des
Bauwerkes: Einfachheit, Gleichheit, Wahrhaftigkeit.
Ein Zellenbau im Zeilenbausystem. Im Schachbrett Land- und Wohnstrasse,
Verbindungs- und Düngerweg. Verkehrs- und Leitungsbasis blieb
alte St. Jakobstrasse. Querverlaufend dazu die Hauszeilen, 150
Einfamilien-Hauszellen, numeriert von 1-150. 110 Vier-, 30
Fünf-, 10 Sechszimmerhäuser mit 850, 1100-1200, 1600
Franken Jahresmiete. Alle im Spiegelbild gepaart und blockweise
vereinigt zu zweit, zu viert, zu acht, zu vierzehnt. Die
Blöcke geordnet zum Zeilenhof oder Platzgeviert. Und jede
Bauzeile ist Sippe ohne Blutsverwandtschaft und Helferkreis treuer
Nachbarschaft. Und allen Bauwerkes Gruppenbilder sind nur bauliche
Variationen über ein genossenschaftliches Thema.
Ein Zellenbau. Typisiert, normalisiert, standardisiert, elektrifiziert.
Mit viererlei Fenstern und viererlei Türen. Mit einziger
Scheibennorm aller 1742 Fenster und mit einziger Füllungsnorm
aller 1350 Zimmertüren. Mit Normaltyp der 150 Badewannen, 150
Zentralöfen, 150 Elektroherde, 150 Waschherde, 150
Elektroboiler. Mit Normalzimmerlänge,
Normalzimmerhöhe, Normaltreppentritt, Normalglaslaube und
Normalgartenhaus. Mit genormter Dachneigung, genormtem Dachgesims,
genormtem Abfallrohr, genormter Abortgrube. Mit der Norm von
Glockentaster, Ladenbeschlag, Haustürschloss, Fensterolive . .
. und wo des Siedlers Sonderwunsch genormte Ausführung
durchbrach, ging von ihm bezahltes Ding unentschädigt ins
Eigentum Aller; Vergesellschaftung des Luxus!
Ein Zellenbau mit einem grossen Garten. Roter Reiz in grüner
Ruhe. Steinernes Freundschaftsband läuft seine Mauer ringsum
von Kopfbau zu Kopfbau. Grünes Schutzband folgen ihr
windwärts die Kirschbäume. Wo längs der
Autostrasse Freidorfs Kleinwelt das Getriebe grosser Welt
berührt, legt sich als Grüngürtel die
Promenade zwischen Strassenstaub und Wohnbezirk. Mit Ligusterhecke,
Grasnarbe und Nussbaumallee erkämpft sie dem Staudenreich
ihrer 2000 winterharten Blumen, vegetative Vertreter aller Erdteile,
eine blühwillige Existenz. Der Genossenschaft Vorbehalt gilt
alle Kultur von Hochstamm-Nutzbäumen, hingegen bleibt Anlage
des Kleingartens dem Siedler völlig anheimgestellt. Unschwer
erkennt der Menschenkundige an dessen Einteilung Siedlers Gartenkunde
und Charakter, und linkisch und praktisch, und kraus und klar. Schwerer
erkennbar sind Charaktergrenzen, städtisch und
ländlich, in solcher Art Landbesiedelung: Ziege und Schwein
sind verbannt; Schwemmkanalisation besteht! Was dem Garten nicht
bekömmlich, wandert in eines Sekundenliters Menge und in
ewigem Stoffwechsel durch einer Dohle Zementdarm der Birs, dem Rhein,
dem Weltmeer zu.
Ein Zellenbau in stumpfem Rot. Zwar vor Anstrich schon verblasst im
demokratischen Scheine protestierender Siedlerversammlung. Immerhin ein
Rot. Launisch wie Föhnwetter. Abhängig von
Nebelnässe, Winterschnee, Regenguss und Sonnenglast.
Abhängig von des Betrachters wechselndem Standpunkt:
rötlich aus Siedlergartens Froschperspektive, röter
aus der Strassenräume kleinbürgerlich-achtbarem
Abstand, am rötesten aus Ferne blauer Berge oder aus 1000 m
hochgeschraubter Libelle Handley-Page's.. Abhängig hinwiederum
von des Beschauers Stimmung und Einstellung: bald schreckhaft-brutal,
bald wohligwarm, und je nachdem bleibt Missfall oder Beifall, bleibt
Ungunst oder Gunst.
Ein Zellenbau. Darin allerlei Getier, Gestank und Gelärm der
Schoss- und Schutzhunde, Bienenvölker, Enten, Kater und
Katzen, Hähne und Hühner, Schildkröten,
Karnickel, Goldfische, Motorvelos, Harmoniums, Webstühle,
Klaviere, Nähmaschinen, Handorgeln, Phonographen,
Teppichklopfer, Trommeln und Kanarienvögel. Darin allerlei
Weltglauben der Dissidenten, Abstinenten, Anthroposophen, Athleten,
Altruisten, Footballisten, Egoisten, Kommunisten, Methodisten,
Konservative,Mazdaznananhänger, Gruthaner, Vegetarier,
Nichtraucher und die Renegaten all dieser Richtungen. Darin allerlei
Volk der Zeitungsschreiber, Schuhfabrikler, Lagerhäusler,
Buchstabensetzer, Bureaukraten aller Höhengrade,
Schreibmaschinistinnen, Theoretiker, Erzieher, Erzogene,
Zöglinge, Kaufleute, Verkäuferinnen und das Gros der
Verkauften: Kinder, Weiber, Frauen, Damen.
Heimatschutz? - lst ländliche Ansiedlung von 150 Familien
nicht Grosstat an unserm Volkstum? Ist deren Obstbau,
Gemüsekultur, Blumenzucht und Kleintierhaltung nicht aktive
Heimatpflege? Soll solcher Art Siedelung Bewahranstalt werden
altväterischer Bauform? Floh nicht mit sattsam vermiedener
Stilform fernab Befremdung vor fremdartigem Tun? Steht nicht,
hochgereckt und hochgeachtet, in bejahender Freileitungspolitik, jeder
Leitungsmast als willkommener hölzerner Zeitgenosse im
baulichen Rhythmus? lst gänzliche Elektrifikation von jedes
Freidörflers Einzelhaushalt nicht pflichtgetreuer Schutz
heimatlicher Unabhängigkeit? Ward Weg und Platz nicht, sorgsam
unbezeichnet, träfen Volksmund zur Taufe ausgeliefert? Stehen
nicht die Brunnen auf Freidorfs Plätzen und raunen, jurassisch
in Stock und Trog, als steinerne Träger des
Heimatgefühls?
Am 1. Dezember 1919 ward mit K. von Meyenburgs Motorfräse
erster Spatenstich in des Geländes Humus modern interpretiert.
Durch die Werkleute von 330 Unternehmungen und gehemmt von Streik und
Baustoffmangel, Alltäglichkeiten dazumaliger Baupraxis, ward
sechzehn Monate später das 150. Haus wohnbereit. Am 24. August
1921 umstanden 500 Genossenschafter, Angehörige von 24
Nationen, Spielwiese und Denkstein zur Weihe. Musiktusch, Lobrede des
Bundespräsidenten, Freiwein und Freibrot, und des Volkschors
Landsgemeindelied: «Alles Leben strömt aus Dir . .
.» Dann verstummte Lärm der Baustelle bis anno 1922
einbrechender Frühling auf das Rechteck eines
Baugerüstes stiess. Binnen wenig Monaten türmte einer
Sozialen Bauhütte Arbeiterschaft den Hochbau des
Genossenschaftshauses. Wenn anderswo Kirche und Schule, Kaufhaus und
Gasthaus zerstreut sind, so vereint hier der Zentralbau sie alle unter
sein Dach. Aussen und innen bleibt er ein fügsam Bauwesen dem
Einheitsgesetze der Siedelung, und nur das verdoppelte Mass aller Dinge
kennzeichnet den öffentlichen Bau. Der Mensch wird klein,
betritt er den Tempel der Gemeinschaft. ln seiner Sicht schwant auch
dem Laien das alles beherrschende Modul seines Spiels von Raum,
Fläche, Oeffnung und Profil. lm lnnern ist
Schönheitsgesetz die Folge von Grundformen des Raumes; sie
geht von wagrecht zu senkrecht, von breit zu hoch, von eng zu weit, und
ihr antwortet der Wandfarben Dreiklang mit Weiss - Kobalt -
Zinnober. - Ueber alledem reitet himmelhochjauchzend des Glockenspiels
Turm, und kündet aus kupfernem Bauche mit c - es - f - g - a -
c die ereilte Stunde und den eiligen Tod. Noch ein Gang im Zellenbau
durch die Flucht seiner offenen und öffentlichen
Binnenräume. Angesichts seiner
«Innenarchitektur» mit Hauswand, Strassenboden und
Himmelsecke und angesichts seiner
«Möblierung» durch Blume, Busch und Baum
formen sich dem Quergänger diese vier Raumbilder:
Die Promenade: Vorhalle eigentlich, daher die Eile. Alles
läuft zur Tiefe; perspektivisch zu verstehen: Holzmaste,
Telephondrähte, Wallnussbäume, Gartenmauern,
Ligusterhecken, torfbraunes Zickzack der Beete, Spazierweg und darauf
Leute, Kinderwagen, Zweiräder. Dazwischen rhythmischer Kampf
der Wagrechten mit den Senkrechten, der Mauern und Hecken mit den
Stangen und Pappeln, der Nussbaumkette und Staudenreihe mit den
Kopfbauten und Gartentoren. Ach diese Gartenportale! Vertraulich und
vertraut, halb Bärenzwinger, halb Klosterpforte. Mit zwei
Schwarzpappeln daneben, Populus italicus, Italiener, bei jedem Luftzuge
fröstelnd und wispernd.
Die Spielwiese: ein Rasenrechteck, grün und braun, Natur und
Unart. Darauf eine Denksteinpyramide. Sonst alles Spiel: Kinderspiel,
Linienspiel, Farbenspiel. Beidseitig eine Reihe Silberlinden in
strammer Parade. Eine Steinpfostenschranke ringsum. Ein
quarzsplittriger Streifen Makadam ringsum. Zur Rechten zinnenhafte
Doppelhäuser und Laubenzwischenbauten, mit Glyzinengerank. Zur
Linken eine »Fabrik« mit 112 Fenstern, genau
gleiche Fenster, puh! Sonst gutbürgerliches
Freiluftspielzimmer, mit anständigen Allüren -
gewissermassen: die langen Steinbänke zur trägen
Weile. Das Mal mit Wappen und Inschrift. Im Blickfeld der Brunnentrog
mit «1921» und dem Buffetaufsatz eines
wasserspeienden Obelisken. Dahinter grüne Gardinen einer
Doppelallee von Gellerts Butterbirne. Im Strassenrahmen eine
allerechteste Hans -Thoma - Schwarzwald - Landschaft.
Der Wohnhof und der andre Wohnhof: ein langer Saal mit vierzig
Türen. Saalverhältnis 1 : 4, in Metern 25 ´
100. Vierzig Haustüren mit mausgrauen Kragsteinen
darüber. Im Glasfeld über jeder Türe, als
Zeichen menschlicher Berechnung, die Nummer der Einzelzelle. Zwei
Rosaketten Pfirsichblüten über
privatgärtnerischem Durcheinander. Darunter Bordstein mit
grasgrüner Franse und lavendelblaue Wicken am Drahthag. Zwei
rosafarbene Langhauswände und darauf, moderne
Fassadenkletterer, Rosa excelsa und Dorothee Perkins in krauser Ranke.
Radio spinnt Drahtfäden von First zu First. Zwei Kandemlampen
baumeln am Querdraht von einer naturhimmelblauen Decke.
Der stille Platz: Hier ist alles Ruhe. Vier Platanen, persische
Flüchtlinge, lauschen im Viereck dem
Plätscherbrunnen. Drei Doppelhäuser, im Geviert
gelagert. Davor drei erdbraune Teppiche mit eigensinnigem Dekor von
dreissigerlei Schwertlilienblättern. Die Kammer der
Irisköniginnen. Im Juni erscheinen sie allem Volke: zuerst
Iris missouriensis, lanzettblättrig, spitz und spitzig,
gewählt, gequält und unnahbar, ganz Amerikanerin.
Hernach Maory King, gedrungen, braun und gelb, naturwüchsig
und exotisch, wie eine Tahitanerin von Gaugin. Zuletzt Madame Chereau,
kobaltblau gerändert, kultiviert, parfümiert,
Französin von Rasse und von Auftreten. So ist Freidorf, Kind
ungeklärter Zeit und vielverschränkter
Verhältnisse, durchaus Kompromiss; sozial zwischen
Einzelmensch und Gemeinschaft, formal zwischen Stadt und Land. Reinere
Individualform verkörpert, nackt und wahr und daher unleugbar
schön, jeder städtische Vorort. Reinere
Gemeinschaftsbindung ruft reinerer Siedelungsform. Etwa fiele Schranke
von Familie zu Familie, jetzt herkömmlich -
respektvoll verehrt, - so fiele mit dieser alle Einrichtung
der Trennung, es fielen Gartenzäune und Scheidemauern. Es
entstünden gemeinsam bewirtschaftete Gartenfelder,
Fernheizwerk, Zentralboileranlage, Zentralküche. Etwa fiele
geistige Bindung zum Krimskrams soeben durchlebter Stadtkultur, fiele
anmassender Maßstab von Haus und Hausteil des Kleinhauses,
fiele Begriff der «Strasse», der
«Symmetrie», des «Details». Es
entstünde in unsymmetrisch - gebrochener Haltung eine mit
einzig berechtigtem Respekt vor Hygiene und Rendite aufgebaute
Siedelungsform, als garten - und bautechnische Wohnmaschinerie ein
Sonnenanfang, und zugleich ein Träger unmenschlicher
Schönheit und Reinheit.
Hannes Meyer |