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Autor: Meyer, Hannes
In: Bauhaus - 2 (1928); 2. - S. 12 - 13
 
Bauen
 
alle dinge dieser welt sind ein produkt der formel (funktion mal ökonomie)

alle diese dinge sind daher keine kunstwerke:
alle kunst ist komposition und mithin zweckwidrig.
alles leben ist funktion und daher unkünstlerisch.
die idee der "komposition eines seehafens" scheint zwerchfellerschütternd!
jedoch wie ersteht der entwurf eines stadtplanes? oder eines wohnplanes? komposition oder funktion?
kunst oder leben? ? ? ? ?
bauen ist ein biologischer vorgang. bauen ist kein aesthetischer prozeß. elementar gestaltet wird das neue wohnhaus nicht nur eine wohnmaschinerie, sondern ein biologischer apparat für seelische und körperliche bedürfnisse. — die neue zeit stellt dem neuen hausbau ihre neuen baustoffe zur verfügung:

stahlbeton        drahtglas         aluminium         si-stahl          ripolin         asbest
   kunstgummi       preßkork        euböolith          kaltleim         viscose        azeton
      kunstleder         kunstharz        sperrholz         gasbeton      eternit           casein
         zell-beton           kunsthorn        kautschuk       rollglas          goudron        trolit
             woodmetall        kunstholz         torfoleum        xelotekt          kanevas       tombak


diese bauelemente organisieren wir nach ökonomischen grundsätzen zu einer konstruktiven einheit. so erstehen selbsttätig und vom leben bedingt die einzelform, der gebäudekörper, die materialfarbe und die oberflächenstruktur. (gemütlichkeit und repräsentation sind keine leitmotive des wohnungsbaues.)
(die erste hängt am menschenherzen und nicht an der zimmerwand. . . .)
(die zweite prägt die haltung des gastgebers und nicht sein perserteppich!)
architektur als "affektleistung des künstlers" ist ohne daseinsberechtigung.
architektur als "fortführung der bautradition" ist baugeschichtlich treiben.
diese funktionell-biologische auffassung des bauens als einer gestaltung des lebensprozesses führt mit folgerichtigkeit zur reinen konstruktion: diese konstruktive formenwelt kennt kein vaterland. sie ist der ausdruck internationaler baugesinnung. internationalität ist ein vorzug der epoche. die reine konstruktion ist grundlage und kennzeichen der neuen formenwelt. 

01. geschlechtsleben
02. schlafgewohnheit
03. kleintierhaltung
04. gartenkultur
05. körperpflege
06. wetterschutz
07. wohnhygiene
08. autowartung
09. kochbetrieb
10. erwärmung
11. besonnung
12. bedienung

solche forderungen sind die ausschließlichen motive des wohnungsbaues. wir untersuchen den ablauf des tageslebens jedes hausbewohners, und dieses ergibt das funktionsdiagramm für vater, mutter, kind, kleinkind und mitmenschen. wir erforschen die beziehungen des hauses und seiner insassen zum fremden: postbote, passant, besucher, nachbar, einbrecher, kaminfeger, wäscherin, polizist, arzt, aufwartefrau, spielkamerad, gaseinzüger, handwerker, krankenpfleger, bote. wir erforschen die menschlichen und die tierischen beziehungen zum garten, und die wechselwirkungen zwischen menschen, haustieren und hausinsekten. wir ermitteln die jahresschwankungen der bodentemperatur, und wir berechnen danach den wärmeverlust der fußböden und die tiefe der fundamentsohlen. —


MH_bauen1_1.gif (35742 Byte) links: TI 200b stuhl mit polstersitz foto binnemann, dessau MH_bauen1_2.gif (39187 Byte) peer bücking rechts: TI 200 a stuhl mit stoffsitz




der geologische befund des hausgartenuntergrundes bestimmt die kapillarfähigkeit und entscheidet, ob untergrundberieselung oder schwemmkanalisation. wir errechnen die sonneneinfallswinkel im jahreslauf und bezogen auf den breitengrad des baugeländes, und wir konsfruieren danach den schattenfächer des hauses im garten und den sonnenlichtfächer des fensters im schlafzimmer. wir errechnen die tagesbeleuchtung der arbeitsfläche im innenraum, und wir vergleichen die wärmeleitfähigkeit der außenwände mit dem feuchtigkeitsgehalt der außenluft. die luftbewegung im erwärmten raum ist uns nicht mehr fremd. die optischen und die akustischen beziehungen zum nachbarhaus werden sorgfältigst gestaltet. wir kennen die atavistischen neigungen der künftigen bewohner zu unsern bauhölzern und wählen je nachdem als innenverkleidung des genormten montagehauses die flammige kiefer, die straffe pappel, das fremde okumé oder den seidigen ahorn.·- die farbe ist uns nur mittel der bewußten seelischen einwirkung oder ein orientierungsmittel. die farbe ist niemals mimikri für allerlei baustoffe. buntheit ist uns ein greuel. anstrich ist uns ein schutzmittel. wo uns farbe psychisch unentbehrlich erscheint, mitberechnen wir deren lichtreflexionswert. wir vermeiden reinweißen hausanstrich: der hauskörper ist bei uns ein akkumulator der sonnenwärme. . . .

das neue haus ist als trockenmontagebau ein industrieprodukt, und als solches ist es ein werk der spezialisten: volkswirte, statistiker, hygieniker, klimatologen, betriebswissenschafter, normengelehrte, wärmetechniker. . . . der architekt? . . . war künstler und wird ein spezialist der organisation!
das neue haus ist ein soziales werk. es erlöst das baugewerbe von der partiellen arbeitslosigkeit eines saisonberufes, und es bewahrt vor dem odium der notstandsarbeit. durch eine rationelle hauswirtschaft schützt es die hausfrau vor versklavung im haushalt, und durch eine rationelle gartenwirtschaft schützt es den siedler vor dem dilettantismus des kleingärtners. es ist vornehmlich ein soziales werk, weil es (wie jede DINnorm) das industrie-normen-produkt einer ungenannten erfindergemeinschaft ist.
die neue siedlung vollends ist als ein endziel der volkswohlfahrt ein bewußt organisiertes gemeinkräftiges werk, in welchem auf einer integral-genossenschaftlichen grundlage die kooperativkräfte und individualkräfte zum gemeinkräftigen ausgleich kommen. die modernität dieser siedlung besteht nicht aus flachdach und vertika1-horizontaler fassadenaufteilung, — sondern in ihrer direkten beziehung zum menschlichen dasein. in ihr sind die spannungen des individuums, der geschlechter, der nachbarschaft und der gemeinschaft und die geopsychischen beziehungen überlegen gestaltet.

bauen - heißt die überlegte organisation von lebensvorgängen.
bauen - als technischer vorgang ist daher nur ein teilprozeß. das funktionelle diagramm und das ökonomische programm sind die ausschlaggebenden richtlinien des bauvorhabens.
bauen - ist keine einzelaufgabe des architekten-ehrgeizes mehr.
bauen - ist gemeinschaftsarbeit von werktätigen mit erfindern. nur wer als meister in der arbeitsgemeinschaft  anderer den lebensprozeß selbst meistert, . . . ist baumeister.
bauen - wird so aus einer einzelangelegenheit von einzelnen (gefördert durch arbeitslosigkeit und wohnungsnot), zu einer kollektiven angelegenheit der volksgenossen.


bauen ist nur organisation: soziale, technische, ökonomische, psychische organisation.

hannes meyer

MH_bauen2_1.gif (41881 Byte) TI 202 links: g. hassenpflug polsterstuhl MH_bauen2_2.gif (40764 Byte) TI 202 rechts: p. bücking stuhl mit sperrholzsitz