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Autor: Muthesius, Hermann
In: Dekorative Kunst - (1905); 8. - S. 181 - 190 ; S. 230 - 238
 
Der Weg und das Endziel des Kunstgewerbes
 
Als Endwert des eigentümlichen Entwicklungsganges, den die Kunst nach dem Eintreten der Renaissance bei uns verfolgt hat, ergab sich bei den Menschen des 19. Jahrhunderts der merkwürdige Zustand, daß sie unter Kunst nur noch die Oelmalerei verstanden. Kunstausstellungen waren Bilderausstellungen, Kunstvereine beschäftigten sich mit Gemälden, Kunstmuseen sammelten ganz vorzugsweise Gemälde. Ueber Gemälde erscheinen noch fast täglich dicke Bücher, über Gemälde liest man, schreibt man, streitet man. Es ist, als ob die Menschheit sich gegenseitig suggerierte, daß ihr künstlerisches Heil in der Bilderkunst seine Erfüllung fände und mit ihr erschöpft sei.
Vielleicht wird einmal eine Zeit kommen, wo man diesen Zustand rätselhaft finden wird, rätselhaft vor allem angesichts des Umstandes, daß gerade in dieser Zeit unsere persönliche und häusliche Umgebung von Unkultur und Geschmacklosigkeit strotzte, daß wir hier unter aufgetürmten Häßlichkeiten seufzten, wie sie die Geschichte noch nicht gesehen hatte. Möglich, daß man den einen Zustand durch den andern zu erklären versuchen wird, derart, daß die riesige Angeschwollenheit der Malerei die Vertrockentheit der übrigen Künste mit sich brachte. Bezeichnend für diese Vertrockentheit ist vor allem das gänzliche Versinken der Architektur aus dem Kunstbewußtsein des Volkes.

(142240 Byte) HENRY VAN DE VELDE  LANDHAUS DR. LEURING : HALLE

Das Wort Architektur wurde ein hohler Begriff, bei dem sich niemand etwas denken konnte, das Spezialgebiet einer Berufsklasse, wie es das Sanskrit des Sprachforschers ist. Der Klang des Wortes selbst hat heute fast etwas Abschreckendes an sich, eine frostige Kälte strömt von ihm aus. Dagegen wärmt das Wort Malerei alle Herzen an. Die Malerei wurde das Schoßkind der Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts, sie bildete den unbestrittenen Tummelplatz aller Kunstbedürftigen.
Erst ganz in neuerer Zeit hat sich neben ihr noch ein anderes Kunstgebiet die Gunst des Publikums zu erringen vermocht: das Kunstgewerbe.
Kunstgewerbe ist ein neuer Begriff, ein Sondergebiet unserer Zeit, sowohl in der Wortbildung als in der Sache etwas Neues. Der Begriff ist erst in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden, es wäre interessant, einmal festzustellen, wer das Wort zuerst gebraucht hat. Jedenfalls wußte man früher (man kann sagen in der alten Kultur) nichts von Kunstgewerbe, man kannte nur den Begriff Handwerk. Das Handwerk rechnete man selbstverständlich nicht zu den Künsten, obgleich es damals nach dem Maßstabe unsrer heutigen Beurteilung durchaus Kunsthandwerk war. Vielleicht erschien die besondere Betonung des Künstlerischen in ihm darum gerade überflüssig, weil die Verbindung von Kunst und Handwerk natürlich gewachsen war und darum als organisch unzerlegbar empfunden wurde.
Es war um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, als den Einsichtigen plötzlich die Augen darüber aufgingen, daß das Gewerbe kunstlos geworden war, daß diese Abtrennung des Künstlerischen vom Handwerklichen trotz allem eingetreten war. Die Weltausstellung in London 1851 hatte diese Erfahrung gebracht.
Macht man sich heute klar, was das heißt, so sollte man meinen, daß die Entdeckung fürchterlich gewesen sein müßte, so fürchterlich wie die Entdeckung des Bankrotts in einem altfundierten Hause oder die ärztliche Diagnose auf eine lebensgefährliche Krankheit. Denn damit war ein Zustand des Handwerks entdeckt, in dem es sich seit den Zeiten seines Bestehens noch nicht befunden hatte. Es war aus dem Paradies seiner kindlich-künstlerischen Existenz herausgetrieben. Es hatte seinen Lebenshauch verloren und war zur toten mechanischen Herstellung herabgesunken.
So schroff treten Entdeckungen von schleichenden Uebeln indessen nicht auf. Selbst wenn sie von einzelnen in ihrer ganzen Ausdehnung erkannt werden, täuscht sich die Menge weiter über sie hinweg. Und so machte die Entdeckung damals auch durchaus keinen umwälzenden Eindruck. Es geschah nur eins: man gründete in beträchtlichem Umfange Schulen mit dem Zwecke, dem Handwerke wieder künstlerischen Charakter zu verleihen. Die Gründung erfolgte in England planmäßig schon in den fünfziger und sechziger Jahren, in Deutschland in größerer Zahl erst von 1870 an.
Diese Schulen nannte man "Kunstgewerbeschulen", nach dem Muster der neugegründeten "Kunstgewerbe-Museen". Was darin getrieben wurde, entsprach genau der Bildung des inzwischen zum Bürgerrecht gelangten Wortes "Kunstgewerbe": man behaftete das Gewerbe mit Kunst, d. h. mit dem, was man damals für Kunst hielt.
Und das waren die äußeren Erscheinungsformen der alten Handwerkserzeugnisse. Diese Formenwelt studierte man eifrigst. Die Kunstgewerbemuseen schleppten Massen von altem Studienmaterial zusammen, das man nun aufmaß und skizzierte, um es als "Kunst" den kunstlos gewordenen Handwerkserzeugnissen zuzutragen. Die Uebertragung geschah von einem besondern, durch die Kunstgewerbeschulen herangebildeten Stande, dem Kunstgewerbezeichner, einer Nebenform des Architekten, der denselben Studienweg für die Architektur schon früher beschritten hatte. Der Kunstgewerbezeichner zeichnete auf Papier die anzubringende "Kunst", d. h. die alten Kunstformen vor, und der Handwerker bildete sie mechanisch nach. Keiner wußte dabei sehr viel von dem andern.
Aus der früheren Einheit des Gewerbes war so eine Zweiheit geworden, und diese Zweiheit prägte sich auch nur allzu deutlich in den Erzeugnissen aus, die aus der Doppelarbeit entsprangen. Sie bestanden zum allergrößten Teil aus dem durch das Bedürfnis und die Tradition diktierten Nutzkörper und den diesem aufgehefteten, der historischen Kunst entnommenen Schmuckformen. Die Begeisterung, mit der man inzwischen diese alten Schmuckformen zu betrachten gelernt hatte, überdeckte den Zwiespalt. "Unsrer Väter Werke" war das Kosewort, mit dem man alte, als vorbildlich betrachtete Handwerkserzeugnisse benannte und als über jeden Zweifel erhaben empfahl. Ihre äußern Erscheinungsformen wurden für so heilig gehalten, daß eine Uebertragung auf die Produkte unserer Zeit nur begrüßenswert erschien.

Muth_der Weg und das Endziel02.gif (249871 Byte) HENRY VAN DE VELDE  LANDHAUS DR. LEURING : DIE HALLE

Diese erste Periode des deutschen Kunstgewerbes spielte sich im wesentlichen im Formenkreis der deutschen Renaissance mit geringem Einschlag der gotischen Kunst ab. Wir erinnern uns alle jener cuivre-poli-Schreibzeuge mit altdeutschen Ornamenten, der Gashängelampen mit eckiggotischem Schmiedewerk, der altdeutschen Stickereien, der Lederpunzarbeit. Das Mobiliar schwenkte in seiner Gesamtheit in diese Bahnen ein. In der niedersten gewerblichen Tagesproduktion lebt es als "Muschelgarnitur" auf der damals geschaffenen Grundlage noch heute weiter. Im übrigen aber trat bald eine Aenderung ein: das durch die Mode geleitete Abwechslungsbedürfnis lenkte auf die Nachahmung andrer, vorwiegend späterer Stile, des Barock, der französischen Stile der Ludwige, des Empire. Dem Grundsatz, auf die Nutzform historische Stilformen aufzuheften, blieb das Kunstgewerbe aber durch alle Stilwandlungen treu.
Es war um die Mitte der neunziger Jahre, als einigen Künstlern plötzlich die Augen darüber aufgingen, daß das so nicht weiter gehen könne. War das ewige Wiederkauen vergangener Formen schon an sich eine zweifelhafte Betätigung, so wurde sie schließlich geradezu entehrend, nachdem die Mode die Künstler von einem Stil zum andern zu hetzen begonnen hatte. Das erregte einen Widerwillen gegen die historischen Stile überhaupt. Dazu kam, daß eben von England her Erzeugnisse bekannt wurden, an denen man zu seiner Ueberraschung eine völlige Emanzipation von den historischen Stilen erblickte. Das Beispiel Englands wirkte zündend. Man sah dort statt der historischen Formen "neue Formen" und zwar vorwiegend solche, die aus dem Studium der Pflanzenwelt gewonnen waren. Ein Jauchzen begrüßte in Deutschland diese Entdeckung. Man warf sich sofort mit aller Energie auf das Studium der Pflanze und entwickelte formale Gebilde aus ihr. "Neue Formen" und "Pflanzenstilisierung" wurden die Schlagworte des Tages. Es ist erstaunlich, mit welch elementarer Gewalt das Studium der Pflanzenform (und in der Folge das Naturstudium überhaupt) die historischen Stile vertrieb. Niemand konnte etwas dafür oder dagegen tun. Binnen wenigen Jahren waren sie an fast allen Kunstgewerbeschulen hinweggefegt, und an ihre Stelle waren stilisierte Naturformen getreten. Der neue Glaube an die Natur hielt seinen Siegeseinzug.
Es tat dabei nichts, daß auch an der Pflanzenstilisierung von gewisser Seite sogleich wieder gerüttelt wurde. Man fand das "Blümchenornament" zu kindisch und setzte den individualistischen Schnörkel an seine Stelle. "Gegenstandsloses Ornament" wurde von einer Partei als Gegenparole ausgegeben. Wie weit nun der Schnörkel wirklich gegenstandslos oder gegenständlich sein mochte, die Tatsache blieb bestehen, daß der Schmuckkünstler die gedankenlose Reproduktion der historischen Formen verlassen hatte. Er war zur Quelle aller künstlerischen Anregung, der Natur, hinabgestiegen. Und das bedeutete eine künstlerische Revolution sondergleichen.
Eins war bei dieser Revolution bezeichnend, daß - mit wenigen Ausnahmen - Maler es waren, die von diesem Augenblicke an als Führer auftraten. Der Umstand, daß die Malerei die herrschende Kunst unserer Zeit war, die Kunst, in der noch tätiges Leben herrschte, und die, wenngleich auf das kleine Spezialgebiet des Tafelbildes beschränkt, noch in kräftiger Blüte stand, machte sich hier insofern vorteilhaft bemerkbar, als er das Einschlagen neuer Wege ermöglichte, die zu beschreiten dem engeren Fache nicht mehr möglich war.
Zweifellos ist nun durch die Entwicklung eines neuen Ornaments und neuer Gestaltungsformen an Stelle der wiedergekauten historischen eine große Tat geleistet worden, eine Tat, die die Geschichte unserer Zeit einst hoch anrechnen wird. Neues Leben blühte plötzlich überall aus den Ruinen der alten Kunst empor. Und damit war überhaupt eine neue Zeit für das Kunstgewerbe heraufgekommen. Alles gährte und drängte hier nach Gestaltung, eine neue sprudelnde Tätigkeit begann, die Maler traten in Scharen zum Kunstgewerbe über, das Publikum faßte Interesse am Kunstgewerbe, kunstgewerbliche Zeitschriften schossen überall aus dem Boden hervor. Das Unerhörte trat ein: das Kunstgewerbe errang sich in der Vorstellung des Volkes einen Platz neben der bisherigen privilegierten Monopolkunst, der Malerei. Es trat beinahe vollwertig neben sie.
In dem regen, rasch pulsierenden Leben machte auch die innere Entwicklung des Kunstgewerbes ungeahnt rasche Fortschritte. Nachdem man jahrzehntelang mit den historischen Formen äußerlich dekoriert hatte, nachdem man auch mit den "neuen Formen" sich anfangs weidlich an der Oberfläche der Dinge gehalten hatte, stieg jetzt die Erkenntnis auf, daß in dieser Dekorierung mit Ornament nicht die Vollendung aller Dinge erblickt werden könne, ebensowenig, wie das Kunstgewerbe mit der Erfindung neuer ornamentaler Formen seine Aufgabe als gelöst zu betrachten habe. Man wurde sich darüber klar, daß die eigentlichen Zeitprobleme tiefer liegen mußten, als auf dem Flachland der Dekorierung mit neuem Ornament, auf das diese erste Entwicklungsphase des neuen Kunstgewerbes geführt hatte. Man erkannte, daß der Schmuck, sei er neu oder alt, erzählend oder nichtssagend, pflanzlich oder gegenstandslos, echt oder unecht, nicht das Wesen der Sache ausmachen könne, daß man vielmehr in der kunstgewerblichen Gestaltung nicht die Außenseite, sondern den Körper ins Auge fassen müsse. Statt zu dekorieren, fing man daher jetzt an zu bilden.

Muth_der Weg und das Endziel03.gif (228617 Byte) JOHAN THORN-PRIKKER WANDGEMÄLDE IN DER HALLE DES LANDHAUSES DR. LEURING IN WITTEBRUG

Muth_der Weg und das Endziel04.gif (174659 Byte) JOHAN THORN-PRIKKER  LANDHAUS DR. LEURING : WOHNZIMMER

Und das bedeutete eine unendliche Erweiterung des Horizontes, eine Bereicherung des kunstgewerblichen Programms, die ihm völlig neue Ziele gab. Der Kunstgewerbler war aus dem Ornamentkünstler ein Tektoniker geworden. Das Ornament war ihm von jetzt an nicht mehr Selbstzweck, sondern er betrachtete es als gelegentliches Hilfsmittel, so etwa wie der Regimentschef seine Militärkapelle betrachtet. Er hatte sich dem Kern der Sache, der Gesamtform des Dinges, das er bearbeiten wollte, zugewandt.
Im Zusammenhange damit tauchten sogleich eine Menge neuer Probleme auf. Nachdem man einmal auf die Gestaltung der Gesamtform gekommen war, war nichts natürlicher, als daß man auch daran dachte, diese Gesamtform aufs innigste dem Zweck anzupassen, für den sie bestimmt war. Die Frage der Gestaltung nach dem Charakter des Materials - denn jedes Material legt andere Bedingungen auf - mußte sich sofort daneben einfinden. Die beiden Schlagworte Zweckform und materialmäßiges Bilden, die sich jetzt einstellten, bezeichnen dieses neue Streben der Zeit. Es ist gleich zu bemerken, daß sie nicht eigentlich Neues forderten; die beiden Prinzipien sind uralt, sie sind aber immer von Zeit zu Zeit einmal wieder als neu aufgestellt worden, wenn Vernunft und Natur durch den Formalismus der Zeit überrannt worden waren. Und infolge dieser Sachlage erschienen sie auch jetzt wieder auf der Bildfläche.

Neben der Richtung auf material- und zweckmäßiges Bilden lief aber noch eine andere her, die eigentlich zu ihr im Gegensatz zustehen schien. Es war die alte, phantastisch-künstlerische Richtung, die sich allerdings aus der früheren äußerlich schmückenden Kunst zu tiefer ausgreifenden Gestaltungsgrundsätzen durchgerungen und veredelt hatte. Aus dem Schnörkel, der in der Schmuckkunst vielfach an die Stelle der stilisierten Pflanze getreten war, war bald ein Kultus der Linie geworden. Aus diesem ergab sich eine Vergeistigung der Linie und des Umrisses zu einem gewollten und bewußten, stark accentuierten Empfindungsausdruck. Man suchte z. B. jetzt im Ornament die bezeichnenden Formen für das Zögernde, das Hastende, das Ungeduldige, das Geschmeidige, das Entschlossene, das Stürmende. Man drückte durch die Form das Gewichtige, das Gemütliche, das Lastende aus, man lenkte durch den Umriß auf eine Bewegungsrichtung hin. Die Bewegung wurde das große Prinzip, das in die tektonische Gestaltung eindrang, in der vordem bestenfalls nur die rhythmische Ruhe geherrscht hatte.
Nicht als ob nicht auch früher schon ein Empfindungsausdruck durch die Form stattgefunden hätte; er wurde aber vom Gestalter nicht mit dem gleichen grübelnden Bewußtsein angestrebt und war nicht in demselben Maße vermenschlichend als in den, sich schon zur destillierten Gehirnkunst steigernden, sehr interessanten Versuchen einiger unserer heutigen kunstgewerblichen Führer. Jedenfalls stehen wir hier vor einem Neuland, das noch weiter aufzuschließen einer der interessantesten Vorwürfe sein wird, die die Kunst je beschäftigt haben.

Muth_der Weg und das Endziel05.gif (110577 Byte) JOHAN THORN-PRIKKER UND JOHAN C. ALTDORF  WANDSCHIRM UND GESCHNITZTES KINDERBETT MIT ELFENBEINFIGUREN (Details)

War die Entdeckung und Entwicklung dieses Gebietes das Vorrecht weniger genialer Köpfe, so lagen die andern beiden Punkte, das Zweckliche und Materialgemäße der Gestaltung, dem allgemeinen Verständnis weit näher. In der Tat waren hier Prinzipien berührt, die mehr auf die Verbreiterung als die Erhöhung der Ziele des Kunstgewerbes hinwiesen. Aber diese Prinzipien waren darum keineswegs von geringerer Wichtigkeit. Im Gegenteil, sie halfen eine Erkenntnis anbahnen, die bei der bisherigen kunstgewerblichen Produktion noch nicht recht hatte durchdringen können, aber für das fernere Schicksal des Gewerbes geradezu eine Lebensfrage war. Es war die Erkenntnis, daß das Kunstgewerbe sich nicht auf Einzelleistungen von lediglich künstlerischem Interesse beschränken dürfe, sondern auf breiterer, volkswirtschaftlicher Basis wirken müsse. Offenbar hatte hier das bisherige Kunstgewerbe ziemlich in der Luft geschwebt. Es produzierte Dinge, die, von Hand hergestellt und als Einzelleistung entstanden, unter den Bedingungen und mit der Prätension des Kunstwerkes auf den Markt traten und sich daher nur an wenige Begüterte wenden konnten. Forderte man aber nun von den kunstgewerblichen Erzeugnissen in erster Linie Zweckmäßigkeit und material- und werkmäßig richtige Herstellung, so stand auch der Herstellung mit modernen Mitteln, das heißt heute der maschinenmäßigen, nichts mehr im Wege. Das lenkte den Sinn des Kunstgewerblers auf die Maschinenarbeit.

Muth_der Weg und das Endziel06.gif (106945 Byte) HENRY VAN DE VELDE  KAMIN

In einem eigentümlichen Kreislaufe näherte man sich so wieder dem Punkte, an welchem vor fünfzig Jahren der Ausgang des sogenannten Kunstgewerbes, die Trennung von der gewerblichen Tagesproduktion, stattgefunden hatte. Damals wetterte man gegen die Verbildung des Gewerbes, die man vorzugsweise dem unheilvollen Einflusse der Maschine zuschrieb. Heute kehrt der Kunstgewerbler zur Maschine zurück. Man fängt an, einzusehen, daß jenes Unheil nicht im Wesen der Maschine liegt, sondern in derem falschen Gebrauche, daß es nur gilt, der Maschine die richtigen, ihrer Arbeitsweise entsprechenden Formen zuzumuten, um einwandfreie Erzeugnisse von ihr zu erlangen.
Und mit dieser neuen Erkenntnis ist dem Kunstgewerbe ein neues Arbeitsfeld von ungeheurer Weite und ungeheurer Bedeutung erschlossen. Noch ist kaum die Hand angelegt, aber die Bewegung drängt dazu, hier einzugreifen. Dem Kunstgewerbler, der jetzt Tektoniker geworden ist, liegt es ob, die richtigen, maschinenmäßigen Formen zu erfinden und zu pflegen. Dadurch wird er die Maschinenarbeit auf eine Höhe heben, die sie auch für das künstlerische Auge einwandfrei, ja anziehend und interessant macht, er wird das ganze Gebiet der fabrizierenden Industrie der Kunst zuführen.
Auch hier übrigens handelt es sich mehr oder weniger nur darum, etwas bewußt zu tun, was bisher in den Leistungen des Maschineningenieurs schon unbewußt geschehen ist. Ein Zweirad, eine Arbeitsmaschine, ein Dampfschiff sind künstlerisch einwandfreie Gebilde. Nur in dem Versuche der Maschine, die bisherige Handarbeit zu imitieren, hatte das Gefährliche ihres Einflusses und die verheerende Wirkung, die sie auf die gewerbliche Lage der Zeit ausübte, gelegen.
Die beiden Probleme, die künstlerische Gestaltung auf der einen Seite (Empfindungskunst) und die rationelle Gestaltung auf der andern (Sachkunst) bewegen jetzt das Kunstgewerbe. Auf den ersten Blick mögen sie unvereinbar erscheinen, wie Oel und Wasser. Die Ansichten sind hier sehr verschieden. Der eine verlangt das über den Zweck Hinausgehende - das "Ueberflüssige" - als Merkmal der Kunst, der andere will alles Ueberflüssige als nichtsachlich entfernt sehen. In Wahrheit haben beide Standpunkte ihre Berechtigung. Bei der Verschiedenheit der Veranlagung der einzelnen Künstler kann die Verschiedenheit der Gestaltungsziele nicht weiter überraschen. Es ist sogar gut, daß beide Richtungen vorhanden und anerkannt sind und im Wollen unserer Zeit ihre Rolle spielen. Die Richtungen werden sich gegenseitig ergänzen, unterstützen und in ihrer Generalsumme schließlich zu einer Einheit verschmelzen. Denn es ist ebenso unmöglich, reine "Sachkunst" (das Wort selbst ist eine logische Unmöglichkeit) hervorbringen, als sich in der angewandten Kunst allein von der Phantasie leiten lassen zu wollen. Solange unsere bildende Hand von unserm menschlichen Geiste dirigiert wird, werden alle ihre Bildungen menschliches Gefühl verkörpern, und solange ein Zweck erfüllt werden soll, wird der menschliche Intellekt darauf ausgehen, zweckmäßig zu gestalten. Es ist nur eine Frage des proportionalen Anteils beider Elemente, die hier vorliegt.

Muth_der Weg und das Endziel07.gif (47176 Byte) JOHAN THORN-PRIKKER  WANDUHR

Muth_der Weg und das Endziel08.gif (53817 Byte) JOHAN C. ALTDORF  GESCHNITZTE FÜLLUNG VOM KINDERBETT

Wie sehr im übrigen, trotz aller Neigungen zum Phantastischen, doch das Praktische, Sachliche, Rationelle unser modernes Denken und Fühlen beeinflußt, das zeigen einige wichtige Begleiterscheinungen der kunstgewerblichen Bewegung. Eine solche ist z. B. das mit ihr eingetretene Verständnis für die Schönheit der Maschine und für die Werke des Ingenieurs. Man kann den Zeitpunkt, an welchem in Deutschland das Erkennen der Schönheit der Maschine allgemein wurde, ziemlich genau angeben, es war auf der Düsseldorfer Ausstellung von 1902. Alle kunstsinnigen Ausstellungsbesucher kehrten von dort mit der Versicherung zurück, daß die Maschinenhalle nicht nur vom technischen Standpunkte, sondern auch vom künstlerischen Standpunkte aus Werke ersten Ranges geborgen habe. Man sah plötzlich in der mathematischen Sachform einer Kurbelstange, in dem eigentümlichen Aufbau einer Dynamomaschine Schönheitsformen, wie man sie früher nur an Architekturwerken gesehen hatte. Es war nur ein weiterer Schritt, die Werke des Ingenieurs in ihrer Allgemeinheit in die Kunst einzureihen. Man sprach von der Aesthetik des Ingenieurbaues und sah in der eisenüberspannten Bahnhofshalle architektonische Schönheiten.
Man bedenke, was das heißt, nachdem fast ein Jahrhundert lang das Dogma geherrscht hatte, daß die Gebilde des Ingenieurs ihrer Natur nach häßlich seien und man nur dann das Eisen als "künstlerisch behandelt" betrachtete, wenn daran irgendwo Akanthusblätter angeheftet waren. Ist darin nicht das Anbrechen einer neuen Zeit zu erblicken?
Eine andere Begleiterscheinung machte sich in der kunstgewerblichen Erziehung bemerkbar. Hatte diese früher lediglich ihr Ziel in der Uebermittlung der Kenntnis der verschiedenen alten Ornamentstile erblickt und war sie auch in den ersten Jahren der neuen Bewegung noch hauptsächlich auf das Ornament als solches ausgegangen, so nötigten ihr die neu aufsteigenden Anschauungen über Zweckform und materialmäßiges Bilden bald ein verändertes Programm auf. Das Ziel wurde die Ausbildung in der Werkstätte an Stelle der früheren Ausbildung am Zeichenbrett. Hier sollte der Schüler die Bedingungen der tektonischen Gestaltung am Material selbst kennen lernen, dem gegebenen Werkstoffe durch Behandlung mit eigener Hand die ihm natürlich zukommende Form gleichsam abschmeicheln. War früher das Ergebnis der Kunstgewerbeschulen "der alle Stile beherrschende Musterzeichner" gewesen, der an seinem Zeichentische mit dem formalen Rüstzeug, das ihm die Schule mitgegeben hatte, irgend welche Gegenstände "entwarf", das heißt mit Ornamentformen umkleidete, ohne von der Technik, in der sie ausgeführt wurden, mehr als die oberflächlichste Kenntnis zu haben, so fingen die Schulen jetzt an, ein neues Geschlecht zu erziehen, das nicht mehr mit äußerlichen Formen arbeitete. Der Einfluß dieser Erziehung auf die breitere gewerbliche Produktion kann heute noch nicht mit Tatsachen belegt werden, da das neue Programm, in England entwickelt, erst seit einigen Jahren in Deutschland eingeführt und lange noch nicht in genügendem Umfange zur Durchführung gelangt ist. Es steht aber zu hoffen, daß in dem Werkstättengedanken wirklich ein heilsames Korrektiv gegen den kunstgewerblichen Aeußerlichkeitskram von früher gefunden ist.
Das alte "Kunstgewerbe" fing mit einer Abschwenkung von der ausübenden Gewerbetechnik an, man eilte zum Zeichentisch, um "Kunst" zu pflegen und dem Gewerbe aufzupfropfen. Das heutige Kunstgewerbe kehrt zur ausübenden Technik zurück. Der Kreislauf der Entwicklung schließt sich somit. Das sogenannte Kunstgewerbe, eine gewollte Sonderart des Allgemeingewerbes, verliert damit an seiner Bedeutung. Die Hoffnung wird möglich, daß wir wieder ein Allgemeingewerbe haben werden, das ebensowenig und ebensosehr künstlerisch ist, als es das Gewerbe der alten Zeit war. Entwerfer und Ausführer, Künstler und Handwerker verschmelzen wieder in eine Person: dem Gewerbe ist die verloren gewesene Kunst zurückgegeben.
So lange an der Lösung dieser Aufgabe zu arbeiten war, bezeichnete das Wort Kunstgewerbe die Arbeit, die getan wurde, treffend genug. Wird aber erst der genannte Idealzustand erreicht sein, so liegt keine Veranlassung mehr vor, von Kunstgewerbe zu reden. Wir werden wieder ein Gewerbe haben, das mit derselben Selbstverständlichkeit künstlerischen Geist in sich fassen wird, wie der menschliche Körper die menschliche Seele in sich faßt. Das "Kunstgewerbe" wird ein Ding der Vergangenheit sein. (Schluß folgt)

Muth_derWeg und das Endziel19.gif (64751 Byte) ERNST STIEBLER      KARIKATUR


DER WEG UND DAS ENDZIEL DES KUNSTGEWERBES

Von HERMANN MUTHESIUS

(Schluß)

Wie sich im Laufe der Entwicklung der letzten zehn Jahre der geistige Inhalt des Kunstgewerbes mehr und mehr veredelte, so erfuhr auch dessen praktisches Ziel, d. h. das Gebiet, auf das sich seine Arbeit erstreckt, eine grundsätzliche Erweiterung. Bis vor Beginn der neuen Bewegung hatte sich das Kunstgewerbe kaum auf etwas anderes als auf den einzelnen kunstgewerblichen Gegenstand erstreckt, auf das Möbel, die Schmiedearbeit, das Stoffmuster, die Ornamentfüllung. Die neue Bewegung ging in instinktivem Drange auf ein zusammenfassendes Ganzes los: das Zimmer. Es ist höchst interessant zu beobachten, wie sofort, nachdem der Kontinent in die Bewegung eingetreten war, der Gedanke der Zimmerausstattung als Ganzes Platz griff und das Ziel des Kunstgewerbes wurde. Ein Stuhl als solcher war jetzt nichts mehr, er gehöre denn zu einer Zimmereinrichtung, eine Füllung an sich kein Gegenstand nennenswerten Interesses, eine Deckenmalerei nur insofern berechtigt, als sie als Teil eines Innenraumes auftrat, der im einheitlichen Sinne entworfen war.

Muth_der Weg und das Endziel09.gif (116200 Byte) BRUNO PAUL WASCHTISCH AUS AHORNHOLZ  AUSGEFÜHRT  VON DEN VEREINIGTEN WERKSTÄTTEN, MÜNCHEN (Ges. Gesch.)

Dieser Schritt wurde von ungeheurer Wichtigkeit. Wie größere Zwecke größere Gesichtspunkte schaffen, so trat jetzt das ganze Kunstgewerbe auf einen neuen Höhenstand, von dem aus die Bedeutung des kunstgewerblichen Einzelgegenstandes zu verschwinden begann. Das Ziel des objet d'art wich dem Ziel der Raumausstattung. Hatte der Kunstgewerbler bisher aus dem Ornamentisten bereits die Wandlung zum Tektoniker durchgemacht, so ging er nun noch einen Schritt weiter: er wurde der Innenkünstler.
Nun ist aber die Raumausstattung und Raumbehandlung von der Raumbil¬dung nicht zu trennen. Werden beide getrennt, so wie es heute noch der Fall ist, indem der Architekt den Hohlraum liefert und der Innenkünstler ihn ausstattet, so liegt ein Widerspruch vor, dessen Beseitigungsnotwendigkeit sich von selbst ergibt. Der Bau des Raumes, den der Innenkünstler ausstatten und künstlerisch behandeln soll, ist der nächste unabwendbare Schritt, der getan werden muß und tatsächlich schon von vielen Seiten getan worden ist.
Dann ist der Innenkünstler aber Architekt. Und ist er das, so ist der letzte Schluß des merkwürdigen Kreislaufes erfolgt, auf den die kunstgewerbliche Entwicklung hinarbeitet. Das Kunstgewerbe ist kein abgespaltenes tektonisches Teilgebiet mehr, sondern es ist das große tektonische Allgemeingebiet; es ist Architektur, die Haupt- und Universalgestalterin unter den bildenden Künsten.

Muth_der Weg und das Endziel10.gif (61601 Byte) BRUNO PAUL

Muth_der Weg und das Endziel11.gif (56171 Byte) BÜFETTE UND GARDEROBENSCHRANK

AUSGEFÜHRT VON DEN VEREINIGTEN WERKSTÄTTEN FÜR KUNST IM HANDWERK, MÜNCHEN (Ges. Gesch.)

Muth_der Weg und das Endziel12.gif (49442 Byte)

Es ist schon heute nicht mehr die Frage, ob das Kunstgewerbe den Schritt in die Architektur tun solle, könne oder dürfe, der Schritt ist mit dem Uebergange zur Raumbehandlung getan, und es ist nur nötig, sich bewußt zu werden, daß er getan ist. Und nicht nur das Gebiet der inneren, auch das der äußeren Architektur ist bereits beschritten. Alle unsere führenden Kunstgewerbler bauen Häuser, und die beiden Ausstellungen in Darmstadt waren Häuserausstellungen, nicht Ausstellungen von Stühlen, Büfetts und Sofakissen, wie es frühere kunstgewerbliche Ausstellungen waren. Allerdings handelte es sich bisher nur um solche Architektur, die dem menschlichen Wohnbedürfnis dient. Hierin aber gerade dürfte die wichtigste Aufgabe gegeben sein, an der sich das zur Architektur werdende Kunstgewerbe versuchen kann.

Hat man diesen Gedanken gefaßt, so ergeben sich goldene Hoffnungen für die Zukunft. Das Reformbedürfnis ist heute auf keinem künstlerischen Gebiete so dringend, wie auf dem der häuslichen Baukunst. Hier sind Aufgaben von drückendster Schwere aufgetürmt. Jahrzehnte-, fast ein Jahrhundert lang hat sich die häusliche Architektur in einem spielerischen Schematismus ergangen, in einer rein äußerlichen Verkleidung von baulichen Gebilden, die mit dem Begriff Kunst nichts zu tun hat. Schließlich sind wir auf den heutigen Zustand gekommen, der sich dem, der überhaupt Augen hat, zu sehen, auf einem Gange durch unsere norddeutschen "Villenvororte" drastischer enthüllt, als Worte ihn schildern können. Wir sind in der häuslichen Baukunst auf dem Zustande des absoluten Bankrottes angelangt. Mißverstandene Formenanhäufungen an den kleinsten Aufgaben, bei völliger künstlerischer Leere, ja organischer Mißbildung, ein Prunken mit angelernten Stilkenntnissen beim Mangel auch des kleinsten Anteils an künstlerischer Empfindung, das ist das Charakteristische für sie.

Muth_der Weg und das Endziel13.gif (146672 Byte) BRUNO PAUL ENTWURF FÜR EIN SPEISEZIMMER (Ges. Gesch.)

Was hilft es da, wenn die Mitarbeit des Kunstgewerblers in der Gestaltung unserer häuslichen Umgehung nicht weiter geht als bis zur bloßen Ausschmückung des Gehäuses, das eine fremde Hand hergerichtet hat, an der noch alle Unkultur einer verbildeten und heruntergekommenen Zeit haftet; wenn aus den Hohlformen an Räumen, die der Geschäftsarchitekt hat entstehen lassen, klägliche Kompromisse gemacht werden müssen, wenn außen tiefster Kulturstand und innen künstlerische Weihe herrscht?
Freilich ist das Publikum noch lange nicht dazu erzogen, die Unkultur des heutigen Hausbaues zu merken. Ihm ist das, was ihm der Bauunternehmer bietet, gerade recht und gut. Die wenigen Bauherren aber, die den Jammer erkennen, sind ratlos, wer sie bedienen soll. Sie wollen einen Künstler. Aber keiner von den Malern und Bildhauern, auf die dieser Name bisher angewandt wurde, besaß die technischen Kenntnisse, um ein Haus bauen zu können. Unternahmen sie es trotzdem, so kam nicht selten eine Mißbildung heraus, die den Bauherrn noch empfindlicher berühren mußte, als die künstlerische Mißbildung des üblichen Häusererbauers. Es war die Mißbildung in der technischen und praktischen Anlage. Es erscheint ausgeschlossen, daß ein anderer das Haus baut, als der auf technischer Grundlage erzogene Künstler. Die technische Ausbildung darf nicht fehlen.

Muth_der Weg und das Endziel14.gif (250786 Byte) BRUNO PAUL REDAKTIONSZIMMER DES  "SIMPLICISSIMUS" AUSGEFÜHRT VON DEN VEREINIGTEN  WERKSTÄTTEN FÜR KUNST IM HANDWERK, MÜNCHEN (Ges. Gesch.)

Muth_der Weg und das Endziel15.gif (110959 Byte)

BRUNO PAUL  ENTWÜRFE FÜR EINE SCHLAFZIMMEREINRICHTUNG (Ges. Gesch.)
(EIGENTUM DER VEREINIGTEN WERKSTÄTTEN FÜR KUNST IM HANDWERK, MÜNCHEN)

Muth_der Weg und das Endziel16.gif (166144 Byte)

Aber wie wenig sie allein zum Bau eines Hauses berechtigt, das zeigen eben aufs klarste unsere heutigen Villenvororte. Die Häuser, die man dort sieht, mögen technisch genügen, aber sie sind jedes künstlerischen Hauches bar, ihre Verfertiger haben keinen Kontakt mit der Kunst. Was sich an ihnen breit macht, ist Afterkunst. Uebermittelt wird diese Afterkunst durch unsere heutige Architektenerziehung, in der eine künstlerische Allgemeinbildung, die allein zum Künstler erziehen kann, fehlt. Das Technische in der Architektur ist gewiß nicht zu unterschätzen. Gegenüber der alleinigen Betonung des Technisch-Wissenschaftlichen in unserer Architektenausbildung aber muß doch daran erinnert werden, daß unsere Vorfahren mit einem Minimum von Wissenschaft ganz gute Häuser bauten, während die aus den heutigen Bauschulen hervorgegangenen Architekten mit einem Maximum davon sehr schlechte zu bauen pflegen.

Muth_der Weg und das Endziel17.gif (154174 Byte) BRUNO PAUL  ENTWURF FÜR EIN KINDERSCHLAFZIMMER (Ges. Gesch.) (EIGENTUM DER VEREINIGTEN WERKSTÄTTEN FÜR KUNST IM HANDWERK, MÜNCHEN)

Die Schwierigkeiten, an die Architektenschulen eine reformierende Hand anzulegen, sind nicht gering anzuschlagen. Die Wurzel des Uebels liegt darin, daß an den Stellen, denen die Verantwortung für den architektonischen Nachwuchs zufällt, und das sind die technischen Hochschulen, die sachlichen Gesichtspunkte völlig von anderen, in den Vorurteilen unsrer Zeit liegenden Rücksichten in den Hintergrund gedrängt werden. Man hat dort nicht das Ziel, Baukünstler zu erziehen, sondern Beamte, die den Standesanforderungen bestimmter Beamtenrangklassen genügen: Daher zunächst die Forderung des Abituriums einer neunklassigen höheren Schule. Der zukünftige Baukünstler wird durch die fast ausschließlich philologische Schulung, die ihm dort zufällt, gewiß auf die verkehrteste Weise für seinen Beruf vorgebildet, die sich denken läßt. Sein Gehirn wird in einer Richtung entwickelt, die direkt kunstfeindlich ist, seine Gestaltungslust wird unterbunden, sein Auge geblendet, sein Kunstorgan ertötet. So tritt er, nicht vorgebildet, sondern verbildet, in eine Bildungsstätte ein, die sich "Hochschule" nennt, obgleich der zwanzigjährige Schüler damit beginnen muß, die allerelementarsten Strichübungen mit der Ziehfeder zu machen, eine Tätigkeit, die eher den Namen Klippschule rechtfertigte. Zu einer künstlerischen Ausbildung, selbst der bescheidensten Art, ist jetzt keine Zeit mehr vorhanden, denn es stehen bereits wieder Examina vor der Türe, die einen gewaltigen Wust an Wissenschaft und technischen Kenntnissen erfordern. Man wird also Architekt, ohne Künstler zu werden, d. h. man eignet sich, so rasch das geht, den äußeren Apparat dessen, was man gemeinhin Architektur nennt, an und hantiert damit: Säulenordnungen, romanische und gotische Formen, griechische und Deutsch-Renaissance-Ornamente. So tritt der Architektur-Schüler ins Lebens hinaus, in den meisten Fällen als genau derselbe künstlerische Barbar, als der er aus der Philologenschule auf die sogenannte Hochschule gekommen ist. Er hat überhaupt nichts von Kunst gemerkt, er ist nie von ihrem Hauch berührt worden. Dafür erfüllt er aber die Anforderungen, die in Deutschland an die sogenannten gebildeten Stände gestellt werden, er hat "akademisches Studium", ist satisfaktionsfähig und kann Rat vierter Klasse werden. Die Erfüllung der Standesanforderungen überdeckt völlig die Kluft, die zwischen dem gähnt, was er als Architekt sein sollte und was er wirklich ist.
Macht man sich diese Verhältnisse klar, so wird das Bild, das unsere heutige deutsche Architektur bietet, völlig verständlich. Es könnte kaum anders ausfallen. Die Architektur eines Volkes, das die Ausbildung seiner Architekten so gestaltet, muß zum klapperdürren Schema werden, an dem man vergeblich nach Geist und Seele sucht.
Neuerdings, da einem Teile unserer Gebildeten die Augen über die Mißstände aufgehen, macht man vielfach die Baugewerkschulen zu Prügelknaben der technischen Hochschulen. Bedächte man aber, daß diese nur den Geist der Architekturabteilungen der technischen Hochschulen widerspiegeln können, da sie ja ihren gesamten Lehrerbestand aus jener Stätte beziehen, so würde sich die Anklage an eine andere Adresse richten.
Die Kenntnis des äußeren Apparates einer Kunst genügt nicht, um Kunstwerke zu schaffen, man muß dazu Künstler sein, d. h. man muß künstlerisch empfinden, künstlerisch denken, künstlerisch aufbauen und künstlerisch gestalten können. Das Mittel, Künstler zu erziehen, ist also nicht, in Eile den äußeren Kunstapparat zu übermitteln, sondern es ist in der inneren künstlerischen Erziehung zu suchen, bestehend in Bildung des Geschmackes und in der Entwicklung des allgemeinen künstlerischen Gestaltungsvermögens, vor allem aber in der Bildung des künstlerischen Charakters. Darin hatte auch die Erziehung zum Architekten ihr Schwergewicht zu erblicken.
Die Geschichte des neueren Kunstgewerbes, das aus einer Ornamentkunst allmählich eine Kunst des Raumes geworden ist, sowie die sich daran knüpfende völlige Umgestaltung der kunstgewerblichen Unterrichtsmethoden müssen hier die Fingerzeige geben, in welcher Weise auch die architektonische Erziehung lebenskräftig umzugestalten ist. Das was den heute an der Schwelle der Architektur stehenden Kunstgewerbler von vorn herein vom Architekten unterscheidet, ist der Weg, auf dem sich beide dem architektonischen Problem nähern. Der Architekt wird durch die heutige Erziehung von außen herabgeführt, von der Verkleidung mit Formen her, der Kunstgewerbler kommt von innen, vom Raumgedanken her. Es ist kaum ein Zweifel darüber möglich, welcher Weg der richtigere ist. Ist es wahr, daß die Architektur Raumbildnerin ist (wie fremd klingt das freilich in Anbetracht des heutigen Tuns der Bauausübenden), so ist das Kunstgewerbe auf dem richtigen Wege zur wahren Architektur, nicht die heutige Architektenschulung.
Wie nun die Entwicklung des Lehrprogramms der Kunstgewerbeschule von den Einkleidungsformen der alten Kunst hinweg zunächst zum Naturstudium als der Quelle aller künstlerischen Anregung geführt hat, wie eine ernste und gründliche allgemeine Kunsterziehung an Stelle der Uebermittlung von Aeußerlichkeiten der alten Stile getreten ist, so werden sich auch die Architektenschulen wieder vom allgemein künstlerischen Wege her ihrem Lehrziele nähern müssen, wenn wir irgend welchen Ausweg aus dem heutigen architektonischen Bankrott erhoffen wollen. Man wird sich wieder des einfachen Satzes erinnern müssen, daß Architektur Kunst ist. Die Architektenerziehung muß daher Kunsterziehung sein, andernfalls wird sie fortfahren, Leute auf den Schauplatz des Lebens zu senden, die die Kunst des Bauens handhaben wie BECKMESSER die Kunst des Gesanges.
Im übrigen hat der immer mehr in die Breite wachsende Entwicklungsstrom der kunstgewerblichen Bewegung noch eine allgemeine, auch für die Auffassung der Architektur wichtige Lehre gegeben. Mit immer größerer Entschiedenheit ist dort aus kleinen Anfängen heraus das Ziel einer großen tektonischen Gesamtkunst verfolgt worden und hat die

Muth_der Weg und das Endziel18.gif (256359 Byte) BRUNO PAUL   EINFACHES WOHNZIMMER AUSGEFÜHRT VON DEN WERKSTÄTTEN FÜR KUNST IM HANDWERK, MÜNCHEN (Ges. Gesch.)

früheren Ziele verdrängt. Man hat erkannt, daß alle Kunst aus einer einzigen Quelle fließt, daß es keine künstlerischen Sonderfächer, sondern nur eine große Allgemeinkunst gibt. Der Inbegriff dieser großen Allgemeinkunst aber kann nur das sein, was wir nach dem Beispiel der Griechen und in des Wortes umfassendster, edelster und heiligster Bedeutung Architektur nennen. Zu dieser Architektur führt nur ein Weg der Erziehung, und alle Sonderschulen der bildenden Kunst sollten ebenso unmöglich sein, wie wir in der Musik Spezialschulen für Trompeter und Violinisten einrichten. Eine Allgemeinschule für das Gesamtgebiet der angewandten Kunst muß das Ziel der Zukunft sein, eine Schule, in der Architekten, Gewerbekünstler, Wandmaler und Plastiker auf einheitlicher Grundlage ausgebildet werden. Die Grundlage muß aber notwendigerweise die einer allgemeinen Kunsterziehung sein, derjenigen Erziehung, zu der sich bisher allein die sogenannte kunstgewerbliche Erziehung mit einiger Klarheit durchgerungen hat. Das Programm, das sich dafür in den letzten zehn Jahren in fast instinktivem Drange durchgesetzt hat und heute an den besten deutschen und österreichischen Schulen gültig ist, ist das einzige künstlerische Erziehungsprogramm, das als Unterlage für den Aufbau einer solchen Allgemeinschule in Betracht kommen kann. Auf einer Unterstufe der Schule hätte im wesentlichen diejenige Erziehung zu erfolgen, die heute diese besten Kunstgewerbeschulen pflegen. Auf einer Oberstufe fände die Spaltung der Ziele in Architektur, Plastik, Wandmalerei und Innenkunst statt, entsprechend dem besonderen Talente, das der Schüler auf der Unterstufe zu zeigen Gelegenheit gehabt hat. Bei einer solchen Vorbildung würden der Architektur wieder künstlerische Elemente zugeführt werden. Sie würde, wie es im Lebensgang der großen Architekten der vergangenen Jahrhunderte der Fall gewesen ist, wieder das Ende einer künstlerischen Entwicklung des Individuums werden, nicht den Anfang bilden wollen. Die Architekturjünger würden, mit allgemein künstlerischen Vorstellungen ausgerüstet, sich nicht mehr mit der äußerlichen Gruppierung von Motiven des alten Formenschatzes begnügen. Sie würden mit künstlerischem Enthusiasmus die Pforten der Architektur betreten und auf künstlerischem Wege in ihre gewaltige Welt hineinwachsen. Sie würden mit Ehrfurcht und Scheu vor einer Kunst stehen, die, richtig gehandhabt, das intensivste Gestaltungsvermögen und das kondensierteste Denken erfordert und die schwerwiegendsten Probleme in sich birgt. Sie würden wieder wissen, daß Architektur Kunst ist.
Aus den einem Trümmerfelde gleichenden, verworrenen Zuständen, in denen die tektonischen Künste an der Wende des letzten Jahrhunderts angetroffen wurden, hat sich die neue kunstgewerbliche Bewegung als klarer, silberheller Quell abgehoben, in der Einöde neues Leben sprudelnd und in der Zeit künstlerischen Stillstandes neue Entwicklungsmöglichkeiten versprechend. Schon hat der wachsende Fluß seine Nachbargebiete zu befruchten begonnen, schon ist er an dem Hauptgebiete, das der Befruchtung bedürftig ist, angelangt. Die kühnste aller Hoffnungen erscheint jetzt am Horizont der Möglichkeit: daß aus jener merkwürdigen Bewegung, die unter der Flagge des "Kunstgewerbes" begann, die Lösung des großen künstlerischen Problems unsrer Zeit hervorgehe: die Schaffung einer neuen und echten Architektur. Würde die kunstgewerbliche Bewegung in einer solchen aufgehen und enden, so hätte sie die größte künstlerische Aufgabe erfüllt, die heute vorliegt und der Lösung harrt.