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Autor: Muthesius, Hermann
In: Die Durchgeistigung der deutschen Arbeit: Wege und Ziele in Zusammenhang von Industrie, Handwerk und Kunst - 1. - 10. Tsd. - Jena: Diederichs (1912); - Ill., 116, 109 S. : zahlr. Ill. (Deutscher Werkbund: Jahrbuch des Deutschen Werkbundes; 1912)
 
Wechselrede über ästhetische Fragen der Gegenwart
 
AUF DER JAHRESVERSAMMLUNG 1911

HERMANN MUTHESIUS, NIKOLASSEE:
ICH halte die heutigen Erklärungen über den Heimatschutz für außerordentlich nützlich. Wir sind wohl berechtigt, festzustellen, daß der Zankapfel, der zwischen den Werkbund und die Heimatschutzverbände geworfen worden ist, hiermit begraben wird. Auch ich halte es für unerläßlich, daß für die mittelmäßig begabten Bauausführenden eine gewisse Norm gegeben werden muß, und daß es höchst gefährlich ist, in diesen Köpfen die Idee sich festsetzen zu lassen, daß sie dem Individualismus huldigen könnten. Denn können uns nichts Schlimmeres wünschen, als den Individualismus der Nichtindividuellen. Es ist auch in der Architektur immer eine herrschende Mode vorhanden gewesen, nach der sich die große Menge der Bauenden richten konnte.
Der Unterschied zwischen der baulichen Produktion und der Produktion in der Malerei und Bildhauerei liegt darin, daß die bauliche Produktion in enormem Umfange nötig ist, gleichgültig, ob geschulte Kräfte dafür vorhanden sind oder nicht. Wir brauchen nur daran zu denken, daß sich in Deutschland die Bevölkerung jedes Jahr um 900000 Menschen vermehrt, die behaust werden müssen. Schon daraus folgt die Unentbehrlichkeit der Betätigung der baulich Beschäftigten im Gegensatz zur Betätigung der in der Malerei und Bildhauerei Beschäftigten, die ein reales Bedürfnis nicht erfüllt.
Wenn wir heute eine neue Auffassung in der Architektur des Tages feststellen können, so ist es die, daß wir im Begriffe sind vom Individuellen zum Typischen zurückzukehren. Wir bemühen uns, ganze Siedelungen in einer einheitlichen Ausdrucksweise zu bilden. Diese Hervorhebung des Typischen in der Architektur halte ich für außerordentlich wichtig für die Zukunft unserer Baukunst. Eine Parallele mit England gibt uns darüber Belehrung. Die englische Entwicklung ist uns um einige Jahrzehnte voraus gewesen, in England haben sich dieselben Bestrebungen, der heimatlichen Bauweise wieder ihr Recht zu geben, in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts gemeldet. Man könnte aus jener Zeit englische Vorträge und Aufsätze hervorholen, die genau dieselben Gedankengänge entwickeln, die unser heutiger Heimatschutz vertritt. Man hat sich auch in der Architektur nach diesem Rezept gerichtet. Es ist dann aber trotzdem eine - ich möchte fast sagen - neue Tradition entstanden, die ein vollständig modernes Gepräge trägt. Wenn Sie heute das englische Einzelhaus betrachten, so tritt Ihnen eine ganz einheitliche neue Ausdrucksweise entgegen, eine nationale Tradition, die wir für einen Idealzustand halten müssen. Da ist nichts mehr von der Nachahmung der alten Stilrichtungen, die damals, wenigstens in populärer Auffassung, zum Ausgangspunkt der Bewegung gemacht wurden. Es ist ein modernes Ausdrucksmittel aus den Bestrebungen der heimatlichen Bauweise entstanden. Und das, meine Herren, stärkt in mir die Hoffnung für eine gedeihliche Zukunft auch der Bestrebungen, die uns im Deutschen Werkbund beseelen, und die von den deutschen Heimatschutzverbänden geteilt werden.
Weiter ist die Erziehung des Architekten auf den technischen Hochschulen behandelt worden. Ob der Deutsche Werkbund gerade die richtige Instanz ist, diese Angelegenheit zu betreiben, diese Frage scheint mir zweifelhaft. Immerhin ist die Frage selbst von solcher Dringlichkeit, daß wir sehr wohl Stellung dazu nehmen können und müssen. Herr Geheimrat Gurlitt hat darauf hingewiesen, was eigentlich der Kernpunkt der ganzen Frage ist: die Zwiespältigkeit, gleichzeitig Beamte und Künstler zu bilden. Wir sprechen aber hier von der Architektur als Kunst. Und da auch mein Vortrag die Architektur als Kunst behandelte, so hatte ich es selbstverständlich nur mit der Annahme zu tun, daß die technischen Hochschulen unsere höchste Instanz für die Ausbildung des Architekten sind, was sie ja auch für sich in Anspruch nehmen. Da muß ich allerdings Herrn Schmid vollständig recht geben, daß es hauptsächlich die Vielgestaltigkeit des Lehrstoffes ist, die der Ausbildung der Architekten hindernd im Wege steht. Es ist der alte Irrtum (er liegt fast bei allen unseren Schulen vor) daß man alles berücksichtigen müsse, was etwa im späteren Leben gebraucht werden könnte. Es ist ein großer Fehler der Pädagogik, daß man die Erziehung auffaßt als eine Anhäufung allen möglichen Wissens während sie im Grunde eine Charakterausbildung und eine Ausbildung zum selbständigen Denken sein soll. Setzen wir unsere Zöglinge in den Stand, sich später selbst zu helfen, dann haben wir das Ziel der Erziehung erreicht. Und solange es sich um die Erziehung des Architekten handelt, ist die erste Aufgabe die, ihn in den Stand zu setzen, im späteren Leben zu bauen.
Ich glaube aus dem Verlauf der Disputation schließen zu dürfen, daß der Leitgedanke meines Vortrages im allgemeinen gebilligt wird, der darauf hinauslief: Wir haben bisher in unserer modernen Bewegung den Hauptakzent auf die Qualität, auf die Materialmäßigkeit, auf die Konstruktionsmäßigkeit gelegt. Wir haben sozusagen die Grundlage geschaffen. Aber auf dieser Grundlage erst fängt unsere eigentliche Arbeit an. Sie besteht darin, das Verständnis für die Form wieder zu wecken. Denn allein die Form ist das Höhere. Sie ist das Geistige im Gegensatz zu dem Materiellen; die nicht zu entbehrende Vergeistigung und Vollendung der Zweckmäßigkeit und Konstruktionsgerechtigkeit.

siehe auch:
Gurlitt, Cornelius
Osthaus, K. E.
Fuchs, C. J.
Schäfer, Karl
Schmid, Max
Fischer, Theodor
Avenarius, Ferdinand