AUF DER JAHRESVERSAMMLUNG 1911
K. E. OSTHAUS, HAGEN i. W.:
VON Geheimrat Gurlitt wurde die Frage angeführt: Typ oder
Individualität. Welche
Stellung kann man vom Standpunkte einer geklärten
Ästhetik zu dieser Frage einnehmen?
Ich glaube das so beantworten zu können: Ein Typ kann
überall entstehen, wo ganz
gleichmäßige Bedürfnisse da sind. Der Typus
hat überhaupt nur mit der Pflege des
Bedürfnisses etwas zu tun, und nicht mit der Pflege der Kunst.
Da, wo gleiche
Bevölkerungsmengen gleiche Bedürfnisse haben, ist es
möglich und selbstverständlich,
daß Typen sich herausbilden. Ich komme gerade aus Frankreich.
Dort habe ich zu meiner
größten Überraschung eine Reihe von
Städten gefunden, die fast ganz aus einem
künstlerischen Plan hervorgegangen sind. Ich möchte
besonders Rennes nennen. Diese Stadt
ist um die Mitte des 18. Jahrhunderts vollständig abgebrannt
und dann nach einem
einheitlichen architektonischen Plan wieder aufgebaut worden. Es gibt
dort eigentlich nur
Typen. Es ist fast unmöglich, ein Haus vom anderen zu
unterscheiden. Und trotzdem gibt
diese Stadt ein so eindrucksvolles Bild, wie vielleicht wenige
Städte in der Welt es
geben. Man gewinnt aus dem Stadtbild den Eindruck des
stärksten künstlerischen Lebens,
trotz der vollständigen Gleichheit des
Äußeren. Der Typ, wie er dort in Erscheinung
tritt, hat sich eben durch die Ausgleichung und Abschleifung der
persönlichen
Bedürfnisse herausgebildet. So braucht also der Typ nicht
notwendig ein Hinderungsgrund
für künstlerische Gestaltung zu sein. Es handelt sich
nur darum, daß der Typ
künstlerisch bewältigt wird.
Dann die Frage: Heimatkunst oder moderne Kunst. Ich möchte
betonen, daß das eigentlich
Künstlerische in der Architektur dem Wandel der Zeit in
gewisser Beziehung unterworfen
ist. Es ist klar, daß, wenn die Konstruktion sich
ändert, dann sich auch der Stil und
die Bauweise der Zeit ändern muß. Nicht in dem
Sinne, daß die Kunst eine andere wird,
sondern in dem Sinne, daß die Kunst sich mit anderen
Konstruktionen beschäftigt. Es kann
ja sein, daß auch da, wo neue
Konstruktionsmöglichkeiten gefunden werden, gewisse
heimische Traditionen ihr Recht behalten. Aber unter allen
Umständen würde es verkehrt
sein, wenn man die Heimatkunde und den Heimatschutz zum Hemmnis des
konstruktiven
Fortschrittes und damit des Stilfortschritts einer Zeit machen wollte.
siehe auch:
Gurlitt,
Cornelius
Fuchs,
C. J.
Schäfer,
Karl
Schmid, Max
Fischer,
Theodor
Avenarius,
Ferdinand
Muthesius,
Hermann
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