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Autor: Paulsen, Friedrich
In: Berliner Architekturwelt 19 (1917); S. 2 - 4
 
Wir Heutigen und die Gotik
 
Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
das ist im Grund der Herren eigner Geist,
in dem die Zeiten sich nur spiegeln.

Der große Umschwung in der Stellung zur bildenden Kunst hat auch das Verhältnis des heutigen Menschen zur gotischen Baukunst völlig umgeworfen. Mangels schriftlicher Aufzeichnungen ist es urgemein schwer, herauszufühlen, wie schon die Schöpfer gewisser alter Werke ihrem Werk gegenüberstanden. Der Handwerker braucht die Form, die Grundrißanordnungen, die Raumverhältnisse, wie sie ihm seine Zeit gibt. Er arbeitet in dem Stil, der seiner Zeit eigen ist. Das kann der wiederaufgenommene Stil einer längst vergangenen Zeit sein, und die Äußerlichkeiten des Stils können mit vollkommener Meisterschaft gegeben sein. Niemand, auf den dies Urteil zutrifft, braucht sich darum zu betrüben.

Tut nicht ein braver Mann genug,
die Kunst, die man ihm übertrug,
gewissenhaft und pünktlich auszuüben?

Man soll ihn sogar darum loben. Es wäre nicht gut, wenn er ohne faustischen Drang nun eben doch erscheinen wollte, als habe er ihn. Wer diesen Drang nicht hat und nicht heuchelt, der wird sogar seine volle Kraft darauf verwenden können, die künstlerischen Errungenschaften seiner Zeit aufzunehmen und anzuwenden, sie in Einzelheiten weiterzubilden und die höchsten Kunstaufgaben seiner Zeit zu lösen. Vielleicht kann Raffael als ein solcher Vollender ohne faustischen Trieb gelten. Der Ruhm, der ihn umstrahlt, und den ihm in der Schätzung der Jahrhunderte wohl dauernd keine Kunsturteile nehmen werden, mag zu einem großen Teil seiner Zeit gelten. Er ist nun einmal deren glücklicher Vollender. Aber bald nach seinem Tode wandte sich die Kunst anderen Aufgaben zu; die Schönheit rettete seinen Ruhm; der geistige Inhalt, nicht die künstlerische Aufgabe, machen seine Bilder heute noch kostbar; aber als Maler steht er uns weltenfern. Der Zeit nach steht uns die gotische Baukunst noch ferner, aber die Beziehungen sind lange ähnlich gewesen. Der gewaltige Stimmungswert gotischer Bauten ist in Deutschland in weitesten Kreisen immer empfunden. Freilich hat die Kunstschriftstellerei in Zeiten, als sie sich besonders dem Auseinanderklauben der Stile widmete, unersetzliche Schäden angerichtet. Außer den Raubkriegen unserer Nachbarn hat Deutschland nur den (damals!) auf Stilreinheit erpichten Kunstschriftstellern große Verluste an gotischen Denkmälern zu danken; denn das „Restaurieren" war fast immer nur der Ausfluß literarischer Arbeit an der Kunst. Es könnte unbegründet erscheinen, das besonders anzuführen, ist es aber doch wohl nicht. Sollte es ein Zufall sein, daß mit dem Durchdringen der südfranzösischen Rassen in Frankreich und der Verdrängung des germanischen Einschlages in Nordostfrankreich, der vorzugsweise adligen Oberschicht, zuletzt mit dem riesigen Abschlachten dieses Volksteils in der Französischen Revolution ein unerhörter Bildersturm gegen die den neuen Schichten wesensfremden mittelalterlichen Bauten entfesselt wurde? Zwar wurden in den Stürmen gegen die Kunstwerke auch andere als gotische vernichtet. Von den Denkmälern hat man aber doch den Eindruck, als ob die gotischen besonderen Zorn erregt hätten. Das gewissermaßen unbewußte Gefühl für den künstlerischen Wert der mittelalterlichen Bauten hat aber auch in Deutschland einem starker Schwanken in ihrer Bewertung nicht entgegengestanden. In einem, ja allerdings langen Leben hat Goethe die entgegengesetztesten Stellungen zur gotischen Kunst eingenommen. Die von einem Deutschen gefundene neue Stellung zur antiken Kunst, wenn man es scharf ausdrücken will, die Entdeckung, daß ein Unterschied sei zwischen griechischer Kunst und der französischen des 18. Jahrhunderts, warf in Goethes Jugend alle überlieferte Kunstanschauung über den Haufen.

Vielleicht sind wir in einer ebenso großen Umwälzung unserer Stellung zu einer alten Kunst, der gotischen. Seit einer Reihe von Jahren, zeitlich und vielleicht auch dem Grunde nach, fällt die stärkere Beachtung der gotischen Baukunst mit der Abwendung von den Königsstilen und der Antike zusammen. In Messels Warenhaus wurde schon sehr früh ein gotischer Zug gefunden. An der Seite nach der Voßstraße klingen mancherlei gotische Formen an. Im Sinne der heute üblichen Betrachtung baukünstlerischer Fragen wäre das nicht so wichtig, wie es um 1900 erscheinen mochte; denn nicht die Form der Bauteile, sondern der Raum wird betrachtet. Der hat aber im Wertheimischen Warenhause mit irgendeinem gotischen Raum nichts zu tun. 1899 nahm, wohl zuerst so ausgesprochen, Haenel die spätgotischen Bauten in weitem Umfang für den in der Renaissance vollendeten Raumgedanken in Anspruch. Er setzt den Renaissanceraum dem gotischen entgegen und stellt die Form, die ja vorerst noch gotisch bleibt, in ihrer Bedeutung stark zurück. Ob er damit den ausübenden Baukünstlern irgend etwas gesagt hat, was auf ihre Schöpfungen Einfluß haben könnte, ist sehr zu bezweifeln. Formen zu handhaben, kann man lernen. Die Räume werden bei den meisten Aufgaben aus unkünstlerischen Erwägungen bestimmt und lassen sich dann nur wenig nach künstlerischen Absichten umgestalten. Wo aber dazu Gelegenheit ist, da werden nur selten die Ergebnisse kunstgeschichtlicher Forschung den Ausschlag geben, sondern ein „gewisses Gefühl", eben die persönliche künstlerische Empfindung oder der „Stil der Zeit" (der ja, wie noch einmal betont sei, einer früheren Zeit entlehnt sein kann). Beides ist aber von Erkenntnissen, mögen sie selbst den Erkennenden noch so wichtig dünken, außerordentlich wenig abhängig. Man sieht das am klarsten, wo ein Künstler, weil er mußte oder aus äußeren Gründen wollte, sich eines beliebigen Stils bedient. Die künstlerisch bedeutenden Räume sind unter jeder Verkleidung ein Ausdruck der künstlerischen Eigenart ihres Schöpfers. Passen zu ihm die gewählten Formen nicht, so kann etwas sehr Geistvolles, aber ebenso Unerfreuliches herauskommen. Als Beispiel sei der neue Justizpalast in München genannt, dessen Erbauer daneben zeigt, welche Formen ihm liegen. Auch bei diesem Werk sind gotische Formen verwendet. Die Zeit steht seinen Formen ziemlich gleichgültig gegenüber, die räumlichen Aufgaben treten völlig zurück, und die Erkenntnisse auf dem kunstwissenschaftlichen Felde werden kaum mitgewirkt haben.

So läßt wohl überhaupt die Arbeit am „Problem" der Gotik die schaffenden Künstler recht kühl. Desto mehr beschäftigt es die Forscher. Räume und Formen, ihre Abhängigkeit voneinander bleiben Dinge der Sinnlichkeit, sind wahrnehmbar und lassen sich empfinden. Die von ihnen abgeleiteten Begriffe mögen das Sinnliche, das Wahrgenommene noch so gut abbilden, ihre Gesetze haben sie in sich, und die sind den Sachen, den Bauten fremd. So sehr nun das Erkennen der Begriffe und ihrer Beziehungen das Verstehen der Gegenstände fördert: es ist doch immer der Geist unserer Zeit, den wir in die Werke legen, und niemand kann sagen, ob dieser Geist und wie sehr er dem der Schöpfer alter Werke entspricht. Es ist also sehr die Frage, ob wir dem Verständnis heutiger Bauten in gotischen Formen durch noch so tiefgründiges Eindringen in den Geist der alten Bauten näherkommen. Wir können wohl von alten Bauten vieles ablesen, z. B. daß es den Baumeistern der klassischen Gotik auf Räume ankam, die, vom westlichen Ende des Mittelschiffs betrachtet, zu größter Wirkung kamen, während in der Spätgotik der Blick schräg durch die Säulenreihen reich und bunt sein sollte. Auch bekommt die Decke in der Spätgotik eine größere Bedeutung gegenüber der Wand, als sie es in der klassischen Gotik hatte. All diese Fragen beschäftigen aber den Gotiker von heute wohl nur sehr wenig. Seine Räume, soweit nicht die Notdurft zwingt, gestaltet er nicht aus solchen Erwägungen, sondern nach seinem inneren, in den Wurzeln unbewußten Wollen, so daß wir also in dieser Beziehung noch immer die Form als das Wesentlichste hätten. Kommen nun die Formen der Gotik den Bedingungen unserer Zeit entgegen? Es wären schwer Räume aufzuweisen, die nicht, zumal in den Formen der späteren und profanen Gotik, durchaus zweckentsprechend gebildet werden könnten. Das Überwiegen der senkrechten Formen über die wagerechten, das bezeichnendste Streben der Gotik, steht zwar zur Mehrzahl der heutigen Bauten im Gegensatz; aber gerade wo dem Baukünstler die Freiheit gegeben ist, Räume nach künstlerischen Gesichtspunkten zu bilden, nicht nur auszustatten, da können die Senkrechten oft stark betont werden. Die Mehrzahl der Räume ist das heute nicht, war es aber auch früher nicht. In der Verteidigung der Gotiker des 19. Jahrhunderts kommen sittliche Gedanken immer wieder vor. Die zornmütigen Reden Ungewitters voll sittlicher Leidenschaft gegen die grundschlechte Renaissance, ihre Geistlosigkeit, Verlogenheit und ähnliches lesen sich wie die ganz großen Fluchreden der Weltliteratur, fast wie der Prophet Amos oder Schopenhauers Sprüche gegen Hegel. Ruskin, halb Prophet, halb Hanswurst, zeigt, daß Venedig mit dem Verlassen der gotischen Kunst als Weltmacht, in seinen Sitten, auch künstlerisch zugrunde ging. Und doch ist das alles nicht reines Gerede. Von den Urformen, die mit dem Gefüge im engsten Zusammenhang standen und unmittelbar empfunden waren, ist ein unendlich weiterer Weg zu so späten Formen, wie denen der Renaissance, als von dem neuen Gefüge der Bauten unserer Tage zu den Kunstformen der Gotik. Diese hat sogar in bemerkenswertem Grade die Fähigkeit, Formen aufzugeben, wenn neue Bedingungen ihnen den Grund entzogen. So hat die germanische Kunst den Hufeisenbogen nur gerade noch in den Steinbau mit herübergenommen, ihn dann aber fallen lassen, während die Mittelmeervölker uralte Holzformen durch mehr als 2000 Jahre des reinen Steinbaues hindurchschleppen. Die Wahrheit, diesen schwer zu verstehenden Begriff einmal anzuwenden, ist also doch wohl eher in der germanischen Stellung zu der Frage Stoff (und Gefüge) und Form, als in der antiken und ihren Ausläufern.

Da wir nun einmal, wahrscheinlich nicht ohne Zusammenhang mit der sittlichen Fortbildung, auf die Wahrheit, auch in künstlerischen Dingen, mehr Gewicht legen, als manches vorhergehende Geschlecht, so dürfte der Anschluß an gotische Auffassungen wohl fruchtbarer sein als der an antike oder ihm verwandte. So völlig Neues wie der Eisenbau oder der Eisenbetonbau scheidet sich durchaus vom Antiken, kann jeglichen Ausdruck der Antike nur als Maske brauchen; zur Gotik zieht sich mancher Faden. Ja, die Zerlegung in stützende Stäbe und füllende Fläche, die die Antike fast vergessen hat, ist einer der Grundsätze aller neueren Bauweisen. Zum Schluß wäre neben Formen und Räumen noch die Farbe zu berücksichtigen. Die kümmerlichen Reste antiker Malerei kommen kaum in Betracht, da alle Beziehung zwischen antiker Mal- und Baukunst in unserem Empfinden erloschen ist. Von der gotischen Malerei ist zwar auch das meiste verloren; aber so manches, was die Maler des Mittelalters bewegte, ist heute wieder zur Aufgabe geworden, das Wühlende, das Unausgeglichene, der stärkste Ausdruck des seelisch Bewegenden, auch auf Kosten abgeklärter Schönheit. Die Baukunst, die wir meinen, wenn wir von antiker sprechen, oder von irgendeiner, die ihre Formen übernahm, geht auf Abklärung, auf wohlgemessene Schönheit aus. Das ist so allgemein, daß auch da, wo etwa einmal Michelangelo oder Bernini als Vorbilder dienen, man ihre „Ausschweifungen", also ihr Eigenstes, vermeidet; oder, wo man das nicht tut, wo man etwa einen Juvara nachahmt, wie bei einer großen künstlerischen Kinderei (Turin 1911), da kommen Zerrbilder heraus. Freilich bezieht sich das alles nur auf künstlerisch ernstes Arbeiten, auf faustische Anlagen. Die Handwerker, auch die geschickten, die sich für höchste Aufgaben eignen, weil sie ohne viel innere Hemmungen, also rasch und sicher arbeiten, und die darum höchste Stellungen im Staat einnehmen, die werden der Gotik kühl bis ans Herz gegenüberstehen, sie aber auf Wunsch ebenso gern brauchen, wie jeden anderen von ihnen gelernten Stil. Vielleicht ist es für die Entwicklung unserer Kunst gut, daß die den Germanen eigenste Kunst, die gotische, noch lange ein Gebiet Weniger bleibt, ein Gebiet, auf dem in Ruhe Sämlinge kommender Kunst herangezogen werden können.

Friedrich Paulsen