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Autor: Prestel, Jacob
In: Der Architekt - 6 (1900); S. 31 - 32
 
Realismus und Architektur *)
 
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*) Wir bringen den nachstehenden Artikel, der sich wie alle übrigen des Verfassers durch tiefe Problemauffassung auszeichnet, ohne der darin ausgesprochenen Meinung in allen Einzelheiten beizupflichten.

D. R.


Die heutige Zeit kann sich einer fast unerschöpflichen Erfindungsgabe rühmen, welche insbesondere in mechanisch-technischer Richtung ein Übergewicht über die Vorwelt besitzt. In diesem Sinne sind die Erfindungen der Chemie und Mechanik, gleichwie die Lösung physikalisch-mathematischer Probleme hervorzuheben, welche die bedeutenden Fortschritte in der positiven Wissenschaft, vornehmlich Medicin, Chirurgie, Naturkunde, Elektrotechnik und Maschinenwesen, ins Leben riefen. Wenn diese theoretisch-praktischen Errungenschaften des Menschengeistes gleich bahnbrechend für den erweiterten Gesichts- und Schaffenskreis der Nationen bezeichnet werden müssen, so darf nicht minder geleugnet werden, dass durch die wachsende Überhandnahme technischer Hilfsmittel, gleichwie der Surrogate, an Stelle der Naturgebilde eine gedankenlose Oberflächlichkeit in unseren Tagen umsichzugreifen droht, welche die Symptome des schlimmsten Verfalles, doch in keiner Richtung das Grundelement, sowie die Thatkraft einer künftigen, höher gearteten Culturwelt in sich schließt.

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Gerade für das Reich der Künste bleibt dieses düstere, pessimistische Zukunftsbild verheißungsvoll, indem in jenem, das reine, natürliche Fühlen voraussetzenden Gebiete menschlichen Schaffens jede Ablenkung von der idealen Tendenz unheilbringend bleibt, also die heutige Vorliebe für die Wiedergabe der Unnatur und ästhetischen Dissonanz zu dem trostlosesten Verfalle der Artistik leiten muss. Mag immerhin Zeit und Geschmacksrichtung einen berechtigten Wechsel in der Sphäre der Kunst verlangen, so darf das neu Geschaffene doch niemals die der Menschheit angeborenen, in den Kunstäußerungen der Jahrtausende bewährten Gesetze und Grenzen der Schönheit überschreiten, ohne den Verfall in das Absurde zu erzeugen. Der bewährte Satz der Ästhetik, dass »schön die Idee der Erscheinung sei«, schließt in sich die Wahrheit, dass erst das idealisierte und harmonisierte Bild den Wert eines Kunstwerkes erfülle, wie bekanntlich die classische Antike in diesem Sinne so streng urtheilte, dass ihre Kritiker selbst der Genremalerei das Recht der wahren Kunst absprachen. Das Wirken des jüngsten Naturalismus in der bildenden Kunst begann vielfältig jede Grenze zu überschreiten, welche Natur und Schönheitsgefühl unabänderlich den Menschen gesetzt hat, indem dessen Bekenner, neben einer überaus nüchternen Form- und Phantasielosigkeit, in wirren, unverständlichen Zerrbildern, sowie der Wiedergabe der Natur in ihrem Schmutze neue Probleme zu erdenken und zu lösen glauben. Unterstützt von einer Übermenge technischer Hilfsmittel, welche, indem sie das Erlernen einer schrankenlosen Reproduction erleichtern, den Lernenden von dem mühsamen Wege des gründlichen Studiums der natürlichen und künstlerischen Vorbilder entrücken, wurde unter anderem die jüngste deutsche Malerei in eine Wiedergabe unnatürlicher Farbentöne nebst Verzerrung der Lebensbilder und geistloser Leere der vorstellenden Handlung geleitet, während die Plastik, bei wachsendem Unverständnis der ästhetischen Anatomie, in einer gesuchten Übertreibung des Formenspieles, gleichwie in Wiedergabe des rohen Sinnesausdruckes und der wahnwitzigen Caricatur ihre originellen Effecte erstrebt.

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Was die Monumentalkunst anbelangt, so ist daselbst die sogenannte materielle Richtung keineswegs etwas Neues, vielmehr reicht eine solche in die erste Hälfte unserer Zeitrechnung zurück, daselbst deren Jünger die Idee vertraten, dass die bauliche Formenwelt aus den stofflich constructiven Bedingungen allein hervorgegangen sei, und dass eine neue Architektur einzig auf Grundlage der letzteren auferbaut werden könne. Welche Resultate diese Tendenz, die neben dem angeblich natürlichen Stile des Ornamentierens einen künftigen Eisen-Steinstil erträumte, erreichte, ist allbekannt, und hat dieselbe nach ihren nichtigen Erfolgen heute ihre letzten Verehrer eingebüßt. Die neuesten Realisten und Veristen huldigen, zum Trotze all der schön gedrechselten Worte, der alten, unfruchtbaren Sentenz, »aus den todten constructiven Systemen frische Kunstmotive und Formen gestalten zu wollen«, während dieselben in ihrer Theorie über das »wie« ebenso unklar sind, als alle bis jetzt in besagter Richtung erstandenen Productionen ein unverkennbares Anlehnen an das ehedem Geschaffene zeigen oder sich als Caricatur des letzteren darstellen. Gleichwie der Natur, so liegen auch der Baukunst nur verhältnismäßig wenige Normalformen und Typen zugrunde, welche dem angeborenen ästhetischen Begriffsvermögen der Menschheit entstammen und neben aller Variabilität der stilistischen Kundgebungen in der weiten Geschichte der Monumentalkunst stets als leitende Factoren ihres ästhetisch formalen Wesens, sowie der Grundmotive ihrer Raumesgedanken zutage treten.

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Indem der Baumeister diese psychischen Grundsentenzen seiner Kunst, so die Regeln der Proportionalität, Richtung und Symmetrie, die der Natur abgelauschten Principien der Schönheitslinien in seinen Werken zur reinen Geltung bringt, ist derselbe Verist im besten Sinne des Wortes, wie anderseits derselbe mit keiner vollendeten älteren Stilweise in Controverse treten wird. Im gleichen Sinne besteht das ästhetische Gesetz, dass die Form dem Stoffe nicht widersprechen soll, mit der unabänderlichen Vorbedingung, dass in jeder wahren Architektur die künstlerische Idee die Materie beherrsche, die Kunstform die Emancipation von dem realen Stoffe und der Structur erreicht habe.

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Was den künftigen »Raumstil« betrifft, so sei seinen Verehrern in Erinnerung gerufen, dass auch die Raumesmotive der Baukunst, wenn nicht in ihrer Combination, so doch in ihren Grundelementen auf eine bestimmte Zahl zugeordneter Motive beschränkt seien, welche nach den sacralen und profanen Erfordernissen der Völker ihre zeitliche Durchbildung fanden und deren bahnbrechende Neugestaltung auch in der Zukunft niemals nach Laune und Phantasie des Einzelnen, als vielmehr auf Grundlage eines  a n d e r s  geschaffenen Cult und einer anderen Culturart der Nationen sich neu zu erbilden vermöge. Wie die zukünftige Welt sich gestalten wird, ob die heute allenthalben zutage tretenden Symptome eines phantasielosen Egoismus und nüchternen Materialismus dem großen Culturschaffen der letzten Jahrhunderte ein jähes Ende bereiten werden, oder ob diese trüben Erscheinungen den Anlass zu einer Reaction gegen erstere und den Anstoß zum verjüngten Anlehnen an Natur und Aufblühen einer verjüngten Kunst bilden werden, vermag ebensowenig ein Sterblicher zu entscheiden, als kein ernst Denkender in der absurden Disharmonie der neuesten Kunstrichtungen einen Hoffnungsstrahl für die Artistik der Zukunft zu erkennen vermag.

Dr. J. Prestel