von Dr. Heinrich Pudor
*) Als zusammenfassende Übersicht der heutigen Baubewegung in
Deutschland.
Die königlich dänische Porzellanmanufactur
führt als
Warenzeichen d r e i p a r a l l e l g e
s e t z t e S c h l a n g
e n l i n i e n.**)
**) Als Sinnbild des Sundes, des großen und kleinen Beltes.
Man könnte kaum etwas finden, was für unsere gesammte
moderne bildende Kunst, nicht bloß für das
Kunstgewerbe in gleicher Weise bezeichnend
wäre, ebenso wie für die moderne Kunst die
Erzeugnisse dieser dänischen
Porzellanmanufactur, als sie im Jahre 1880 auf der Pariser
Weltausstellung zum ersten Mal
allgemeiner bekannt wurden, wie eine Offenbarung wirkten. Dass unser
modernes Kunstgewerbe
wesentlich auf diesem Princip parallel gesetzter Schlangenlinien und
Halbmondsilhouetten
beruht, wurde in dem Artikel des Verfassers "Gedanken über das
moderne Kunstgewerbe"***) gezeigt.
***) Siehe "Kölnische Zeitung" vom 5. Mai 1901.
Dass es nicht unmöglich ist, dieses Princip auch in die
Malerei einzuführen, haben der
Münchener Maler Habermann und der Pariser Maler Anglada
bewiesen. Schon für die
Frauentypen der präraffaelitischen Maler ist die
übertrieben geschweifte Mundlinie
charakteristisch. Auf der diesjährigen großen
Berliner Kunstausstellung war in den
Räumen für Reform der Innendecoration versucht,
dasselbe Princip auf die Rahmen der
Gemälde zu übertragen, und man wird fürchten
müssen, auf den nächstjährigen
Kunstausstellungen Gemälde zu geben, die nicht rechtwinkelig
abschließen, sondern
schiefwinkelig oder in einer geschwungenen Linie. Ganz gewiss wird man
alsdann auch die
Bilder nicht mehr gerade aufhängen, sondern schief. Der
Volksmund schiebt diese
Bevorzugung des schiefen Elementes England in die
Schuhe und in jenem anderen Artikel haben wir gezeigt, dass in der That
jene ganze Stil-
und Empfindungsweise in England ihre Wiege hat. Und mit der Architektur verhält es sich nicht anders. Was
Leonhard Christoph Sturm im
Jahre 1696 von den Architekten seiner Zeit schrieb, gilt auch von den
unseren: "die
heutigen kommenden Herren Baumeister sind ja diejenigen, welche am
meisten die einfältige
gerade Disposition der Gebäude verachten und in ihren
Inventionen tausend krumme Züge,
tausend runde Ausbiegungen und Einbiegungen formieren und sich wunder
wie geschickt dabei
zu sein bedünken". Sturm zielte damit auf den Barockstil und
Rococcostil seiner
Zeit. Barock kommt bekanntlich von "perrucca" (Perücke) her
und Rococco hängt
sprachlich mit "rocaille" (Grotte) zusammen - für die
Perücke sowohl wie für
die Grotte ist diese geschwungene Linie charakteristisch. Und sie ist
das, was den Barock-
und Rococcostil charakterisiert. Wir haben in Berlin ein Gebäude aus jener Zeit, bei dem sogar
der Grundriss eine
geschweifte Linie zeigt, das Gebäude der königlichen
Bibliothek. Im übrigen bieten die
Valuten und Cartouchen, die Fensterumrahmungen und Giebellinien genug
Gelegenheit, der
Vorliebe für krumme Züge, wie Sturm es nennt,
nachzugehen. Es ist bekannt, dass dieser
Stil wesentlich decorativ ist, dass er nicht eigentlich ein
architektonischer, sondern ein
kunstgewerblicher Stil ist. Die Façade des Gebäudes
wird als ein Brett, als eine
Coulisse behandelt, auf der man in Kleinkunst arbeitet. Das
Hauptprincip der Architektur,
Raumgliederung, und die Hauptforderung, die Raumgliederung nach
Stockwerken an der Façade
zum Ausdruck zu bringen, ist bewusst übergangen; die
Façade wird weniger construiert,
als decoriert. Und soweit sie construiert wird, wird dies mit
Vernachlässigung der
Raumgliederung des Gebäudeinneren vorgenommen. In Deutschland
bereitete sich diese
Entwickelung infolge des unglückseligen
dreißigjährigen Krieges vor, der die
naturgemäße Fortentwickelung der deutschen
Renaissance hemmte, eine Stagnation der
künstlerischen Production zur Folge hatte, bis wir
schließlich zufrieden waren, dass wir
in den romanischen Ländern einen neuen Stil vorfanden, der
zwar für das deutsche
Empfinden einen sehr wenig adäquaten Ausdruck bot, der aber
die gähnende Leere der
deutschen Kunst wirkungsvoll ausfüllte. Und seit dieser Zeit,
seit diesem unglückseligen
vorzeitigen Abbruch der Entwickelung des deutschen Renaissancestiles,
ist eigentlich bis
zum heutigen Tage in der deutschen Architektur n i c h t
s p a s s i e r
t. Nicht zwei Jahrzehnte, sondern zwei Jahrhunderte haben wir
im Barockstil
gearbeitet und sogar noch den neuen Bau des deutschen Reichstages
"mussten" wir
im Barock- und Rococcostil bauen. Leistungen, wie die Dresdener
Frauenkirche, sind nur
vereinzelte Lichtpunkte. Im allgemeinen begnügten wir uns
damit, die B a u g e c h
i c h t e zu befragen. Das Technische und Mathematische
lernten wir auf den
technischen Hochschulen und das Künstlerische entnahmen wir
den Stilen vergangener
Kunstperioden. Immerhin lassen sich in der modernen deutschen Architektur deutlich
vier verschiedene
Richtungen unterscheiden. Auf der einen Seite sehen wir die Pflege des
Barockstiles, des
Rococcostiles und des Stiles der italienischen Renaissance. Diese
Richtung finden wir in
den Staats- und Regierungsgebäuden, in den
Theatergebäuden, sowie in den Bankpalästen.
Zweitens finden wir die Profan-Backsteingothik, und zwar vorzugsweise
in den städtischen
Bauten, in den Postgebäuden, Krankenhäusern und in
einigen Fabriksgebäuden und
Privathäusern. Drittens müssen wir einen modernen
Warenhausstil (von welcher Qualität,
darauf kommen wir noch zurück), unterscheiden, welcher den
Anforderungen des
großstädtischen Geschäftshauses entspricht.
Und endlich gibt es noch einen modernen
Familienhaus-, Landhaus- und Villenstil. Am Pretentiösesten trat bis vor kurzem der erstgenannte Stil
auf. Wir finden denselben im
neuen deutschen Reichstagsgebäude, im neuen Berliner Dom, im
Leipziger
Reichsgerichtsgebäude, im neuen Berliner
Landtagsgebäude, im Neubau des Berliner
königlichen Amts- und Landgerichtes I., und wir finden
denselben in den neuen
Bankpalästen, wie z. B. Berliner Bank, Dresdener Bank,
Berliner Handelsgesellschaft -
sämmtlich Berliner Neubauten. Und doch hat dieser Stil am
wenigsten Aussicht auf ein
Weiterleben und doch steht gerade er dem deutschen Volksempfinden fremd
gegenüber. Von
ihm gilt noch heute, was Cornelius Gurlitt vom katholischen Barockstil
in Deutschland
sagt: "Die Jesuiten stützten sich im religiösen wie
im künstlerischen Empfinden
nicht auf das Volk, sondern auf ihre von diesem getrennte Gemeinschaft.
Die Lehre von
Rom, n i c h t d a s E m p f i n d e
n d e r N a t i o n e
n, war ihnen maßgebend."
Weit mehr nimmt auf dieses "Empfinden der Nation" der Stil der
norddeutschen
Backsteingothik Rücksicht, welcher heute beinahe so etwas wie
Modesache ist. Die meisten
Neubauten der städtischen Verwaltung Berlins, vor allem das
märkische Museum, sind in
diesem Stile errichtet; von anderen nennen wir als besonders
charakteristische Beispiele
das Stiftshaus der Rother-Stiftung in Groß-Lichterfelde,
sowie die Neubauten der Berliner
Charité.
Aber auch hier, wo man in norddeutscher Backsteingothik baut, ist es
doch, wie Montaigne
sagen würde, ein Borgen und Betteln. An der Hand der
Veröffentlichungen der Architekturdenkmäler
Deutschlands
(wie z. B. mittelalterliche Backsteinbauwerke des preußischen
Staates von F. Adler, Berlin 1862, Kunst- und
Geschichtsdenkmäler
Mecklenburg-Schwerins, 1900, Denkmäler der Baukunst des
Mittelalters in Sachsen von L. Puttrich, Leipzig 1836-1850. Die Kunst
des Mittelalters in
Schwaben von C. Heideloff, Stuttgart 1855) entnimmt man
aus dem Bauschatz vergangener Jahrhunderte die Ideen
und sogar die Detailformen. Außerdem sollte man sich
darüber klar werden, dass die deutsche Profangothik
selbst vom architektonischen Gesichtspunkte aus große
Schwächen hat. Denn der beliebte, in mehreren Staffeln
aufsteigende Giebel beruht nicht auf einem
architektonischen, sondern wiederum auf einem decorativen
Princip. Er ist eine Art Ausstattungsstück. Mit der
Raumgliederung
und mit dem Constructiven hat er nichts zu thun. Er
stellt mithin streng genommen ein barocces Princip dar. Constructiv
berechtigt ist er nur da, wo er Dachetagen trägt; aber
gerade da an den bezeichnendsten Beispielen ist er
lediglich decorativer Schmuck. Dazu kommt, dass dieser norddeutsche
Backsteinstil in der Profangothik auch durch die starke
Betonung der Verticalen vermittelst der durch mehrere Stockwerken
gehenden Blendbogen, Lisenen und Pilastern barocke Principien verfolgt.
Denn auch hier ist
die Voraussetzung die Vernachlässigung des constructiven
Elementes, des Raumprincipes;
statt dessen wird das Außere decoriert, indem man von dem
Kirchenstil die Formen
entlehnte. Hier bei dem Kirchenstil aber ist die Betonung der
Verticalen nicht nur
berechtigt und organisch begründet, da die Höhe des
Kirchenschiffes außen zum Ausdruck
gebracht werden muss - sondern auch psychologisch beabsichtigt, indem
das Emporstreben zum
Göttlichen auch äußerlich zum Ausdruck
gebracht werden soll. In diesem Sinne ist der
gothische Dom nichts anderes als eine durchbrochene Pyramide, bei der
der Thurm die Spitze
ist und bildlich ist dieser gothische Dom der architektonische Ausdruck
für den
senkrechten Strich zwischen Himmel und Erde. Bei der Profangothik
fällt all dies fort;
hier kam es darauf an, eher in die Breite, der Horizontalen nach zu
wirken und zum
mindesten die Horizontale und Verticale zu gegenseitiger
Ergänzung zu entwickeln. Denn
hier haben wir nicht einen einzigen, hohen Raum, das Kirchenschiff,
sondern so und so
viele Stockwerke. Indem man die Gliederung des
Kirchenäußeren auf das Wohnhaus
übertrug, leistete man barocken Principien Vorschub. Denn die
aufstrebenden Blenden,
Lisenen und Pilaster werden von den Stockwerken durchschnitten. Wir
haben es hier also mit
demselben Princip zu thun, wie bei dem eigentlichen Barockstil, bei dem
man die Pilaster
und Säulen durch mehrere Stockwerke laufen lässt und
sich ebenfalls um die
Raumgliederung des Gebäudeinneren nicht kümmert. Hier
wie dort aber läuft diese Entwickelung im Grunde wieder auf
die Bevorzugung des
Decorativen und des Linearen hinaus. Nicht als ein von Mauern
umschlossener Raum, nicht
als Masse denkt man sich das Gebäude, sondern das
Gebäudeäußere wird als Coulisse, als
ein Mittel zur Flächendecoration behandelt. Eben dahin zielt endlich auch der moderne Warenhausstil. Auch hier
finden wir die
einseitige Betonung der Verticalen, auch hier laufen die in diesem
Falle eisernen, mit
Stein verkleideten Streben durch mehrere Stockwerke hindurch und werden
mithin von den
Dielen und Decken derselben durchschnitten. Auch hier also wird die
Façade decorativ
behandelt, nicht aber als organisches Glied der Gebäudemasse;
auch hier nicht versucht
man, die Raumgliederung des Äußeren derjenigen des
Inneren entsprechend zu gestalten.
Dazu kommt, dass man beim modernen Warenhaus der Vorliebe für
decorative Kleinkunst auch
im übrigen, z. B. bei dem Giebelausbau, bei der
Schmückung der Pilaster und
Halbsäulencapitäle, nachgab. Es bleibt endlich noch der moderne Villenstil. Dieser lehnt sich am
engsten an den
präraffaelitischen und secessionistischen Geist unserer Zeit
an. Zugleich wird aber
gerade hier viel Erfreuliches geleistet. Vor allem ist zu betonen, dass
man auf diesem
Gebiete endlich wieder dazu kommt, das
Gebäudeäußere aus dem Inneren heraus, aus
den
Räumen, aus den Bedürfnissen heraus logisch und
organisch zu entwickeln, also nicht zu
decorieren, sondern aufzubauen. Und da man, entsprechend dem
Zeitgeschmack, kleiner Räume
mit stimmungsvollen Ecken, Buchten und Erkern bedurfte, gestaltet sich
das Außenbild des
Hauses entsprechend bewegt, intim wirkend und dabei in den meisten
Fällen individuell und
original. Allerdings beutete man auch hier Baugeschichte aus, indem man
namentlich vom
deutschen Fachwerkbau sich manche Anregungen holte, und allerdings
tritt auch hier stellenweise eine Vorliebe für
secessionistische geschwungene
Linienführung hervor, aber doch bleibt des Guten und
Vortrefflichen genug.
Noch müssen wir aber zweier bedeutungsvollen
charakteristischem Eigenthümlichkeiten der
jüngsten deutschen Architektur und modernen Architektur
überhaupt gedenken. Die eine ist
die Wiederentdeckung des Daches. Vordem hatte man sich bemüht,
das Dach zu cachieren und
es keinesfalls als wesentliches constructives Glied zu betonen. Seit
einiger Zeit kann man
geradezu von einer Wiederentdeckung des Daches sprechen. Entweder
lässt man den Dachstuhl
steil ansteigen, oder man lässt das Dach an einigen Stellen
tiefer hinuntergehen, hier
lässt man es weit vorspringen, dort baut man einen Thurm
hinein, an einer anderen Stelle
bringt man in den Etagen Vordächer an; selbst die Portale
werden mit Dächern geschmückt
und dem Bedachungsmaterial wird erneute Aufmerksamkeit geschenkt. Das
zweite Moment ist wesentlich malerisch. Wir denken an den Ausbau
des Hofes. Vordem war
der Hof ein quadratischer Raum und die Hofseiten der Häuser
waren ebenso nüchtern als
möglich behandelt. Ganz neuerdings versucht sich die Phantasie
gerade im Hofausbau zu
bethätigen. Als Hauptmittel dient dazu natürlich der
Thurm. Die historischen Höfe, wie
die des Klosters zu Paulinzelle, des Schlosses Ranis, des Schlosses zu
Altenburg, der
Wartburg und des Heidelberger Schlosses müssen Ideen liefern,
während für die
Dachbauten die norddeutschen Thorbauten, wie die zu Neubrandenburg,
Königsberg in
Neumark, Jüterbogk, Lübeck, Stargard, Stendal,
Pyritz, Prenzlau etc., befruchtend
wirken. Als günstiges Zeichen darf auch gelten, dass man der Farbe
wieder größere Bedeutung
beimisst, sowohl im gebrannten Ziegel und in Holz, als in der
natürlichen Farbe des
Sandsteines, Kalksteines und Granits, während die vordem
üblichen eintönigen
ölgestrichenen Putzfaçaden mehr und mehr
verschwinden. Im allgemeinen freilich, wie wir nochmals betonen
müssen,
überwiegen leider noch die
Barockprincipien. Das eigentliche architektonische Empfinden, das aus
dem Raume
herausgestalten, steht immer noch im Hintergrund, und damit in
Übereinstimmung, wird auf das Decorative der Nachdruck gelegt,
und die Linie
spielt auch in der modernen Architektur eine bedeutende Rolle. Nicht
erwähnt haben wir die eigentliche Eisenarchitektur. Sie
wird möglicherweise
wesentlich den architektonischen Stil der Zukunft bestimmen.
Vorläufig aber steht sie
selbst erst noch im Anfang der Entwickelung. Was sie uns einst geben
wird, das kann man
ahnen, wenn man die neuen, eisernen Brückenbauten,
Bahnhofshallen, Maschinenhallen
ansieht. Sie wird uns etwas Neues bringen: durchsichtige Mauern mit
Perspectiven in das Netzwerk schier unendlich sich weitender,
maschenartig gegliederter eiserner Dome. Der eiserne Dom, das ist die
große Sehnsucht der
Ingenieure. |