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Autor: Pudor, Heinrich
In: Der Architekt - 8 (1902); S. 13 - 15
 
Gedanken über die moderne Architektur *)
 
von Dr. Heinrich Pudor
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*) Als zusammenfassende Übersicht der heutigen Baubewegung in Deutschland.

Die königlich dänische Porzellanmanufactur führt als Warenzeichen  d r e i  p a r a l l e l  g e s e t z t e  S c h l a n g e n l i n i e n.**)

**) Als Sinnbild des Sundes, des großen und kleinen Beltes.


Man könnte kaum etwas finden, was für unsere gesammte moderne bildende Kunst, nicht bloß für das Kunstgewerbe in gleicher Weise bezeichnend wäre, ebenso wie für die moderne Kunst die Erzeugnisse dieser dänischen Porzellanmanufactur, als sie im Jahre 1880 auf der Pariser Weltausstellung zum ersten Mal allgemeiner bekannt wurden, wie eine Offenbarung wirkten. Dass unser modernes Kunstgewerbe wesentlich auf diesem Princip parallel gesetzter Schlangenlinien und Halbmondsilhouetten beruht, wurde in dem Artikel des Verfassers "Gedanken über das moderne Kunstgewerbe"***) gezeigt.

***) Siehe "Kölnische Zeitung" vom 5. Mai 1901.


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Dass es nicht unmöglich ist, dieses Princip auch in die Malerei einzuführen, haben der Münchener Maler Habermann und der Pariser Maler Anglada bewiesen. Schon für die Frauentypen der präraffaelitischen Maler ist die übertrieben geschweifte Mundlinie charakteristisch. Auf der diesjährigen großen Berliner Kunstausstellung war in den Räumen für Reform der Innendecoration versucht, dasselbe Princip auf die Rahmen der Gemälde zu übertragen, und man wird fürchten müssen, auf den nächstjährigen Kunstausstellungen Gemälde zu geben, die nicht rechtwinkelig abschließen, sondern schiefwinkelig oder in einer geschwungenen Linie. Ganz gewiss wird man alsdann auch die Bilder nicht mehr gerade aufhängen, sondern schief. Der Volksmund schiebt diese Bevorzugung des schiefen Elementes England in die Schuhe und in jenem anderen Artikel haben wir gezeigt, dass in der That jene ganze Stil- und Empfindungsweise in England ihre Wiege hat. Und mit der Architektur verhält es sich nicht anders. Was Leonhard Christoph Sturm im Jahre 1696 von den Architekten seiner Zeit schrieb, gilt auch von den unseren: "die heutigen kommenden Herren Baumeister sind ja diejenigen, welche am meisten die einfältige gerade Disposition der Gebäude verachten und in ihren Inventionen tausend krumme Züge, tausend runde Ausbiegungen und Einbiegungen formieren und sich wunder wie geschickt dabei zu sein bedünken". Sturm zielte damit auf den Barockstil und Rococcostil seiner Zeit. Barock kommt bekanntlich von "perrucca" (Perücke) her und Rococco hängt sprachlich mit "rocaille" (Grotte) zusammen - für die Perücke sowohl wie für die Grotte ist diese geschwungene Linie charakteristisch. Und sie ist das, was den Barock- und Rococcostil charakterisiert. Wir haben in Berlin ein Gebäude aus jener Zeit, bei dem sogar der Grundriss eine geschweifte Linie zeigt, das Gebäude der königlichen Bibliothek. Im übrigen bieten die Valuten und Cartouchen, die Fensterumrahmungen und Giebellinien genug Gelegenheit, der Vorliebe für krumme Züge, wie Sturm es nennt, nachzugehen. Es ist bekannt, dass dieser Stil wesentlich decorativ ist, dass er nicht eigentlich ein architektonischer, sondern ein kunstgewerblicher Stil ist. Die Façade des Gebäudes wird als ein Brett, als eine Coulisse behandelt, auf der man in Kleinkunst arbeitet. Das Hauptprincip der Architektur, Raumgliederung, und die Hauptforderung, die Raumgliederung nach Stockwerken an der Façade zum Ausdruck zu bringen, ist bewusst übergangen; die Façade wird weniger construiert, als decoriert. Und soweit sie construiert wird, wird dies mit Vernachlässigung der Raumgliederung des Gebäudeinneren vorgenommen. In Deutschland bereitete sich diese Entwickelung infolge des unglückseligen dreißigjährigen Krieges vor, der die naturgemäße Fortentwickelung der deutschen Renaissance hemmte, eine Stagnation der künstlerischen Production zur Folge hatte, bis wir schließlich zufrieden waren, dass wir in den romanischen Ländern einen neuen Stil vorfanden, der zwar für das deutsche Empfinden einen sehr wenig adäquaten Ausdruck bot, der aber die gähnende Leere der deutschen Kunst wirkungsvoll ausfüllte. Und seit dieser Zeit, seit diesem unglückseligen vorzeitigen Abbruch der Entwickelung des deutschen Renaissancestiles, ist eigentlich bis zum heutigen Tage in der deutschen Architektur  n i c h t s  p a s s i e r t.  Nicht zwei Jahrzehnte, sondern zwei Jahrhunderte haben wir im Barockstil gearbeitet und sogar noch den neuen Bau des deutschen Reichstages "mussten" wir im Barock- und Rococcostil bauen. Leistungen, wie die Dresdener Frauenkirche, sind nur vereinzelte Lichtpunkte. Im allgemeinen begnügten wir uns damit, die  B a u g e c h i c h t e  zu befragen. Das Technische und Mathematische lernten wir auf den technischen Hochschulen und das Künstlerische entnahmen wir den Stilen vergangener Kunstperioden. Immerhin lassen sich in der modernen deutschen Architektur deutlich vier verschiedene Richtungen unterscheiden. Auf der einen Seite sehen wir die Pflege des Barockstiles, des Rococcostiles und des Stiles der italienischen Renaissance. Diese Richtung finden wir in den Staats- und Regierungsgebäuden, in den Theatergebäuden, sowie in den Bankpalästen. Zweitens finden wir die Profan-Backsteingothik, und zwar vorzugsweise in den städtischen Bauten, in den Postgebäuden, Krankenhäusern und in einigen Fabriksgebäuden und Privathäusern. Drittens müssen wir einen modernen Warenhausstil (von welcher Qualität, darauf kommen wir noch zurück), unterscheiden, welcher den Anforderungen des großstädtischen Geschäftshauses entspricht. Und endlich gibt es noch einen modernen Familienhaus-, Landhaus- und Villenstil. Am Pretentiösesten trat bis vor kurzem der erstgenannte Stil auf. Wir finden denselben im neuen deutschen Reichstagsgebäude, im neuen Berliner Dom, im Leipziger Reichsgerichtsgebäude, im neuen Berliner Landtagsgebäude, im Neubau des Berliner königlichen Amts- und Landgerichtes I., und wir finden denselben in den neuen Bankpalästen, wie z. B. Berliner Bank, Dresdener Bank, Berliner Handelsgesellschaft - sämmtlich Berliner Neubauten. Und doch hat dieser Stil am wenigsten Aussicht auf ein Weiterleben und doch steht gerade er dem deutschen Volksempfinden fremd gegenüber. Von ihm gilt noch heute, was Cornelius Gurlitt vom katholischen Barockstil in Deutschland sagt: "Die Jesuiten stützten sich im religiösen wie im künstlerischen Empfinden nicht auf das Volk, sondern auf ihre von diesem getrennte Gemeinschaft. Die Lehre von Rom,  n i c h t  d a s  E m p f i n d e n  d e r  N a t i o n e n,  war ihnen maßgebend."

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Weit mehr nimmt auf dieses "Empfinden der Nation" der Stil der norddeutschen Backsteingothik Rücksicht, welcher heute beinahe so etwas wie Modesache ist. Die meisten Neubauten der städtischen Verwaltung Berlins, vor allem das märkische Museum, sind in diesem Stile errichtet; von anderen nennen wir als besonders charakteristische Beispiele das Stiftshaus der Rother-Stiftung in Groß-Lichterfelde, sowie die Neubauten der Berliner Charité.

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Aber auch hier, wo man in norddeutscher Backsteingothik baut, ist es doch, wie Montaigne sagen würde, ein Borgen und Betteln. An der Hand der Veröffentlichungen der Architekturdenkmäler Deutschlands (wie z. B. mittelalterliche Backsteinbauwerke des preußischen Staates von F. Adler, Berlin 1862, Kunst- und Geschichtsdenkmäler Mecklenburg-Schwerins, 1900, Denkmäler der Baukunst des Mittelalters in Sachsen von L. Puttrich, Leipzig 1836-1850. Die Kunst des Mittelalters in Schwaben von C. Heideloff, Stuttgart 1855) entnimmt man aus dem Bauschatz vergangener Jahrhunderte die Ideen und sogar die Detailformen. Außerdem sollte man sich darüber klar werden, dass die deutsche Profangothik selbst vom architektonischen Gesichtspunkte aus große Schwächen hat. Denn der beliebte, in mehreren Staffeln aufsteigende Giebel beruht nicht auf einem architektonischen, sondern wiederum auf einem decorativen Princip. Er ist eine Art Ausstattungsstück. Mit der Raumgliederung und mit dem Constructiven hat er nichts zu thun. Er stellt mithin streng genommen ein barocces Princip dar. Constructiv berechtigt ist er nur da, wo er Dachetagen trägt; aber gerade da an den bezeichnendsten Beispielen ist er lediglich decorativer Schmuck. Dazu kommt, dass dieser norddeutsche Backsteinstil in der Profangothik auch durch die starke Betonung der Verticalen vermittelst der durch mehrere Stockwerken gehenden Blendbogen, Lisenen und Pilastern barocke Principien verfolgt. Denn auch hier ist die Voraussetzung die Vernachlässigung des constructiven Elementes, des Raumprincipes; statt dessen wird das Außere decoriert, indem man von dem Kirchenstil die Formen entlehnte. Hier bei dem Kirchenstil aber ist die Betonung der Verticalen nicht nur berechtigt und organisch begründet, da die Höhe des Kirchenschiffes außen zum Ausdruck gebracht werden muss - sondern auch psychologisch beabsichtigt, indem das Emporstreben zum Göttlichen auch äußerlich zum Ausdruck gebracht werden soll. In diesem Sinne ist der gothische Dom nichts anderes als eine durchbrochene Pyramide, bei der der Thurm die Spitze ist und bildlich ist dieser gothische Dom der architektonische Ausdruck für den senkrechten Strich zwischen Himmel und Erde. Bei der Profangothik fällt all dies fort; hier kam es darauf an, eher in die Breite, der Horizontalen nach zu wirken und zum mindesten die Horizontale und Verticale zu gegenseitiger Ergänzung zu entwickeln. Denn hier haben wir nicht einen einzigen, hohen Raum, das Kirchenschiff, sondern so und so viele Stockwerke. Indem man die Gliederung des Kirchenäußeren auf das Wohnhaus übertrug, leistete man barocken Principien Vorschub. Denn die aufstrebenden Blenden, Lisenen und Pilaster werden von den Stockwerken durchschnitten. Wir haben es hier also mit demselben Princip zu thun, wie bei dem eigentlichen Barockstil, bei dem man die Pilaster und Säulen durch mehrere Stockwerke laufen lässt und sich ebenfalls um die Raumgliederung des Gebäudeinneren nicht kümmert. Hier wie dort aber läuft diese Entwickelung im Grunde wieder auf die Bevorzugung des Decorativen und des Linearen hinaus. Nicht als ein von Mauern umschlossener Raum, nicht als Masse denkt man sich das Gebäude, sondern das Gebäudeäußere wird als Coulisse, als ein Mittel zur Flächendecoration behandelt. Eben dahin zielt endlich auch der moderne Warenhausstil. Auch hier finden wir die einseitige Betonung der Verticalen, auch hier laufen die in diesem Falle eisernen, mit Stein verkleideten Streben durch mehrere Stockwerke hindurch und werden mithin von den Dielen und Decken derselben durchschnitten. Auch hier also wird die Façade decorativ behandelt, nicht aber als organisches Glied der Gebäudemasse; auch hier nicht versucht man, die Raumgliederung des Äußeren derjenigen des Inneren entsprechend zu gestalten. Dazu kommt, dass man beim modernen Warenhaus der Vorliebe für decorative Kleinkunst auch im übrigen, z. B. bei dem Giebelausbau, bei der Schmückung der Pilaster und Halbsäulencapitäle, nachgab. Es bleibt endlich noch der moderne Villenstil. Dieser lehnt sich am engsten an den präraffaelitischen und secessionistischen Geist unserer Zeit an. Zugleich wird aber gerade hier viel Erfreuliches geleistet. Vor allem ist zu betonen, dass man auf diesem Gebiete endlich wieder dazu kommt, das Gebäudeäußere aus dem Inneren heraus, aus den Räumen, aus den Bedürfnissen heraus logisch und organisch zu entwickeln, also nicht zu decorieren, sondern aufzubauen. Und da man, entsprechend dem Zeitgeschmack, kleiner Räume mit stimmungsvollen Ecken, Buchten und Erkern bedurfte, gestaltet sich das Außenbild des Hauses entsprechend bewegt, intim wirkend und dabei in den meisten Fällen individuell und original. Allerdings beutete man auch hier Baugeschichte aus, indem man namentlich vom deutschen Fachwerkbau sich manche Anregungen holte, und allerdings tritt auch hier stellenweise eine Vorliebe für secessionistische geschwungene Linienführung hervor, aber doch bleibt des Guten und Vortrefflichen genug.

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Noch müssen wir aber zweier bedeutungsvollen charakteristischem Eigenthümlichkeiten der jüngsten deutschen Architektur und modernen Architektur überhaupt gedenken. Die eine ist die Wiederentdeckung des Daches. Vordem hatte man sich bemüht, das Dach zu cachieren und es keinesfalls als wesentliches constructives Glied zu betonen. Seit einiger Zeit kann man geradezu von einer Wiederentdeckung des Daches sprechen. Entweder lässt man den Dachstuhl steil ansteigen, oder man lässt das Dach an einigen Stellen tiefer hinuntergehen, hier lässt man es weit vorspringen, dort baut man einen Thurm hinein, an einer anderen Stelle bringt man in den Etagen Vordächer an; selbst die Portale werden mit Dächern geschmückt und dem Bedachungsmaterial wird erneute Aufmerksamkeit geschenkt. Das zweite Moment ist wesentlich malerisch. Wir denken an den Ausbau des Hofes. Vordem war der Hof ein quadratischer Raum und die Hofseiten der Häuser waren ebenso nüchtern als möglich behandelt. Ganz neuerdings versucht sich die Phantasie gerade im Hofausbau zu bethätigen. Als Hauptmittel dient dazu natürlich der Thurm. Die historischen Höfe, wie die des Klosters zu Paulinzelle, des Schlosses Ranis, des Schlosses zu Altenburg, der Wartburg und des Heidelberger Schlosses müssen Ideen liefern, während für die Dachbauten die norddeutschen Thorbauten, wie die zu Neubrandenburg, Königsberg in Neumark, Jüterbogk, Lübeck, Stargard, Stendal, Pyritz, Prenzlau etc., befruchtend wirken. Als günstiges Zeichen darf auch gelten, dass man der Farbe wieder größere Bedeutung beimisst, sowohl im gebrannten Ziegel und in Holz, als in der natürlichen Farbe des Sandsteines, Kalksteines und Granits, während die vordem üblichen eintönigen ölgestrichenen Putzfaçaden mehr und mehr verschwinden. Im allgemeinen freilich, wie wir nochmals betonen müssen, überwiegen leider noch die Barockprincipien. Das eigentliche architektonische Empfinden, das aus dem Raume herausgestalten, steht immer noch im Hintergrund, und damit in Übereinstimmung, wird auf das Decorative der Nachdruck gelegt, und die Linie spielt auch in der modernen Architektur eine bedeutende Rolle. Nicht erwähnt haben wir die eigentliche Eisenarchitektur. Sie wird möglicherweise wesentlich den architektonischen Stil der Zukunft bestimmen. Vorläufig aber steht sie selbst erst noch im Anfang der Entwickelung. Was sie uns einst geben wird, das kann man ahnen, wenn man die neuen, eisernen Brückenbauten, Bahnhofshallen, Maschinenhallen ansieht. Sie wird uns etwas Neues bringen: durchsichtige Mauern mit Perspectiven in das Netzwerk schier unendlich sich weitender, maschenartig gegliederter eiserner Dome. Der eiserne Dom, das ist die große Sehnsucht der Ingenieure.