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Autor: Rosenthal, Carl Albert
In: Allgemeine Bauzeitung - 9 (1844); S. 268 - 274
 
Was will die Baukunst eigentlich?
 
Vortrag des Herrn Regierungs- und Bauraths R o s e n t h a l aus Magdeburg in der Versammlung der deutschen Architekten und Ingenieure in Prag.

Unter den Fragen, welche der Herr Prof.  S t i e r   in seinem vorjährigen Vortrage über die Richtungen der Baukunst in der neuesten Zeit unserem Nachdenken empfohlen hat, war die wichtigste: »W a s  w i l l  d e n n  d i e  B a u k u n s t  e i g e n t l i c h ?« - Man sollte denken, diese·Frage müsse längst entschieden sein, wie sich ein Wanderer zuvor genau nach dem Ziele erkundigt, das er erreichen will. Zwar haben gerade diejenigen Völker, welche es am weitesten in der Kunst gebracht, vielleicht am wenigsten über unsere Frage nachgedacht; allein es ist ein Anderes mit Völkern, die sich in Uebereinstimmung mit sich und ihren Umgebungen aus der Kindheit heraus allmählig entwickelten, und ein Anderes mit einem, in Absicht des Wissens bereits ausgebildeten, ja überbildeten Volke, wie wir es sind. Während jene nichts weiter zu thun hatten, als sich dem innern Drange des Gefühls hinzugeben, müssen wir erst die Phantasie von den mancherlei Fesseln befreien, die sie einengen und behindern; - während dort schon die ersten unbewußten Schritte des Kindes unwillkürlich auf die richtige Bahn führten, so gilt es hier, zwischen alle die verschiedenartigen uns bekannten Wege einer frühern Kunstbildung hindurch die gerade Richtung aufzusuchen und zu verfolgen! Da ist es denn sicher unerläßlich das Ziel fest und unverrückt im Auge zu behalten. Für  u n s   ist also die Beantwortung unserer Frage dringend nothwendig.

»W a s  w i l l  d i e  B a u k u n s t   e i g e n t l i c h ?«

Sie will, wie jede andere Kunst, das Schöne hervorbringen. Das Schöne aber ist: V o l l k o m m e n h e i t  d e r  ä u ß e r n  E r s c h e i n u n g . - Worin das  U n e n d l i c h - S c h ö n e   eigentlich bestehe, und wie es sich verhalte zu dem  U n e n d l i c h - W a h r e n  und U n e n d l i c h - G u t e n , das zu erörtern würde hier zu weit führen; genug, d a s j e n i g e   Schöne, womit wir es hier zu thun haben, ist immer an einem sinnlichwahrnehmbaren Gegenstand geknüpft, und da muß denn die Vollkommenheit der äußern Erscheinung zunächst in der Uebereinstimmung mit dem innern Sein und Zweck des Gegenstandes bestehen; diese sollen sich in der äußern Erscheinung, und zwar dem Gefühle offenbaren, denn das Gefühl ist unser Organ für die Empfindung des Schönen.

Die Baukunst will also das innere Sein und den Zweck eines Gebäudes durch seine äußere Gestaltung dem Gefühle offenbaren. Auf den ersten Blick möchte die Aufgabe weder besonders erhaben, noch schwierig erscheinen, eine nähere Beleuchtung wird indeß das Gegentheil zeigen.

Unter Sein und Zweck eines Gebäudes können wir zunächst nur seine Bestimmung verstehen; diese ist allemal eine Idee, mit welcher sich oft die erhabensten Beziehungen verbinden. Selbst einem gewöhnlichen Wohngebäude läßt sich ein erhöhetes Interesse abgewinnen, indem man nicht allein bequem und sicher darin wohnen, sondern sich auch angenehm und behaglich darin fühlen will; das Gebäude soll den Ausdruck des Zierlichen, Freundlichen, Einladenden haben. Dieses Interesse steigert sich bei öffentlichen Gebäuden mehr und mehr, und nimmt, je nach der Bestimmung des Gebäudes, den verschiedenartigsten Charakter an. Kirchen z. B., deren höhere Bestimmung (würdige Abhaltung des Gottesdienstes) das gemeine Bedürfniß (Versammlungsraum) so ganz und gar überwiegt, bieten der Baukunst einen eben so erhabenen Stoff, als die Kirchenlieder der Poesie und Musik. Aehnlich, jedoch mit sehr ab weichendem Charakter, ist es mit den Theatern, Museen u. s. w. Selbst ihre rein lyrischen Momente findet die Baukunst in den Denk- und Grabmälern, wo das gemeine Bedürfniß ganz fehlt. Hier lautet die Aufgabe eigentlich: einen Dom zu bauen, der uns überwältigend zwingt, aus dem Staube empor Blick und Geist in heißer Andacht zu erheben, der gewissermaßen den Eintretenden zum Christen macht! Hier lautet die Aufgabe: dem eingeweiheten Beschauer ohne Bild und Inschrift zu verkünden, welchem Helden oder welcher That das Denkmal gewidmet ist!

Da ferner die baulichen Bedürfnisse unmittelbar aus dem Klima, und den Sitten und Gebräuchen, dem ganzen Leben und Sein des Volkes hervorgehen, so folgt auch, daß die Baukunst den Charakter des Landes und seiner Bewohner aussprechen muß, und zwar deutlicher als irgend eine andere Kunst, wo häufig fremdartige, d. h. nicht nazionale Gegenstände zur Darstellung gewählt werden. Dieser Umstand, wenngleich er einerseits den Baumeister beschränkt, sichert doch andererseits der Baukunst einen wesentlichen Vorzug vor allen übrigen Künsten; zugleich zeigt er uns eines der Mittel, durch die auch den untergeordnetsten Gebäuden ein nicht unbedeutender Kunstwerth gegeben werden kann. Man erinnere sich nur, welchen Reiz in dieser Hinsicht die einfachsten Schweizer und Tiroler Bauernhütten gewähren.

Endlich soll Alles dies dem Gefühle offenbart werden, oder mit andern Worten, es soll sich die Darstellung auf eine dem Schönen eigenthümliche Weise gestalten.

Das Gefühl erschließt sich nur dem raschen Totaleindrucke eines Ganzen; daher muß ein jedes Kunstwerk vor allem  H a r m o n i e  zeigen, als dem eigenthümlichsten, aus dem Wesen der Schönheit selbst gefolgerten Elemente des Schönen. Die Harmonie ist Einheit in der Mannigfaltigkeit, oder Ordnung der einzelnen Theile zum Ganzen.

Die Bestimmung des Gebäudes ist der Gegenstand der Darstellung, ist die dem Kunstwerke zum Grunde liegende Idee; sie gibt zunächst dem Gebäude seinen bestimmten Charakter. Auf einen richtigen Charakter kann nicht genug gedrungen werden! Es kann  n i e  die Frage sein, in welchem Stil wir bauen wollen; wir  m ü s s e n  einem jeden Gebäude den Charakter geben, den sein Zweck erfordert; wir   m ü s s e n   zugleich in  d e m j e n i g e n  Stile bauen, welcher im Stande ist den Volkscharakter auszusprechen; es darf auch namentlich keinem untergeordneten Gebäude eine Gestaltung und Verzierung gegeben werden, die ihm nicht zukommen. Zwar soll der Künstler das innere Sein seines Gegenstandes in der höchsten Potenz erfassen und darstellen, er darf ihm aber keine Vorzüge andichten, die er seiner Natur nach nicht haben kann, sonst wird die Darstellung unwahr, mithin auch unschön; er soll idealisiren, aber nur innerhalb jener Grenzen; geht er darüber hinaus, so wird sein Werk Karikatur. - Auch auf alle andern Eigenschaften dehnt sich die Einwirkung des Gegenstandes aus; selbst die Harmonie, obwohl das selbstständigste Element des Schönen, wird durch ihn näher bedingt. Die Harmonie nemlich kann sich unendlich verschieden gestalten von der einfachsten Art an, wo das wenige Mannigfaltige gleichartig ist und sich Alles unmittelbar auf die Einheit bezieht, bis hinauf zur reichen Harmonie, in der sich das Mannigfaltige in verschiedenen Abstufungen zunächst zu kleinen Einheiten, und dann erst zur Haupteinheit ordnet. Jene einfachere Art könnte man die Harmonie der Ruhe, die andere die der Bewegung nennen; jene entspricht der mehr sinnlichen, diese der mehr geistigen Schönheit; jene treffen wir in äußerster Vollkommenheit in der griechischen, diese in der germanischen Baukunst an.

Nichts Erschaffenes kann seinen göttlichen Ursprung verleugnen, jeder Naturgegenstand hat neben seiner gemeinen irdischen Bestimmung noch einen höheren Zweck, eine Beziehung zum Ewigen; von Kunstgegenständen gilt dies in einem noch höheren Grade. Diese Beziehung zum Unendlichen in ihren Darstellungen, so weit die Natur des jedesmaligen Gegenstandes es gestattet, zur Anschauung zu bringen, ist die erhabenste Aufgabe der Kunst; denn das Schöne, also auch das Kunstschöne, soll das Ewige, das Unendliche und Göttliche uns zuführen, es soll ihm so viel, aber auch  n u r  so viel vom Sinnlichen beimischen, als eben nöthig ist, um auf uns zu wirken; es soll die Sonne der unendlichen Schönheit so weit verschleiern, daß unser blödes Auge nicht geblendet wird, dann aber mehr und mehr den Schleier lüften, bis sie zuletzt im strahlenden Glanze dasteht, belebend, erwärmend, beseligend! - Das Unendliche im Schönen und die Harmonie beschränken sich gewissermaßen gegenseitig; keines von beiden darf dem Kunstwerke ganz fehlen, je mehr aber das eine Element hervortritt, desto mehr tritt das andere zurück; je vollkommener der Gegenstand, je geistiger die Schönheit: desto deutlicher tritt das Unendliche hervor; je unvollkommener dagegen der erstere, je sinnlicher die Schönheit: desto überwiegender ist die Harmonie, d. h. desto mehr ist sie von der einfachsten Art, desto vorherrschender ist die Einheit in der Mannigfaltigkeit, desto mehr beschränkt sich das Unendliche auf allgemeine Andeutungen. (Man vergleiche einen mittelalterlichen Dom mit einem griechischen Tempel.)

Von den bisherigen, der Kunst im Allgemeinen angehörigen Elementen gehen wir zu den besonderen, der Baukunst eigenthümlichen über.

Die Hauptbedingung für das Bestehen eines jeden Bauwerks ist  G l e i c h g e w i c h t ; die Baukunst muß also auch die Darstellung des Gleichgewichts mit zu ihren Hautaufgaben machen; dadurch besonders erzielt sie den  a r c h i t e k t o n i s c h e n  Charakter, welcher wieder auf  a l l e , selbst die untergeordnetsten Gebäudearten volle Anwendung findet.

Das statische Gleichgewicht kann auf sehr verschiedene Weise erreicht werden: die einfachste Art ist die, wo die Last unmittelbar lothrecht unterstützt wird; andererseits kann ein mannigfaches Gegeneinanderstreben von Kräften, welche sich gegenseitig aufheben, wo mithin die einzelnen Stützen nicht selbstständig sind, das Gleichgewicht hervorbringen. Die richtige Wahl und Darstellung dieser verschiedenen Arten des Gleichgewichts ist von großer Wichtigkeit in Bezug auf den geistigen Ausdruck, welchen jede annimmt. Die erste, einfachste Art, welche so deutlich hervortritt, daß das körperliche Gleichgewicht gewissermaßen in ein geistiges übergeht, gewährt den Ausdruck der Ruhe, die zweite den des Strebens; der Ausdruck der Ruhe gehört mehr der sinnlichen, der des Strebens mehr der geistigen Schönheit an.

Auch der jedesmalige Zweck der  e i n z e l n e n  K o n s t r u k z i o n e n   soll ausgesprochen werden. Die Konstrukzion ist eine Zusammensetzung der Materialien nach statischen Regeln zu baulichen Zwecken. Sie nimmt lediglich den Verstand in Anspruch und ist an sich weder schön, noch häßlich; zwar hat sie nothwendig eine körperliche Form, diese interessirt aber das Gefühl nicht oder doch nur zufällig. Die Kunst soll nun diese Form schön machen, d. h. nicht etwa sie willkürlich verzieren, sondern sie näher und so bestimmen, daß sie den Zweck der Konstrukzion dem Gefühle offenbart.

Unsere Frage: »was will denn die Baukunst eigentlich?« ist, so weit es die Kürze der Zeit gestattete, beantwortet; es bleibt noch die schwierigere Frage übrig: »w i e   e r r e i c h t  d e n n  d i e  B a u k u n s t  d a s ,  w a s  s i e  w i l l ?« - Hier aber befinden wir uns ziemlich an den Grenzen wissenschaftlicher Untersuchung. Der echte Künstler muß geboren werden; er bedarf der Regel nicht, er schafft sie unbewußt in seinen Werken. Uns Andern bleibt nur übrig, seinem Genius nachzuspüren, die seinen Schöpfungen zum Grunde liegenden Regeln zu entwickeln, sie in uns aufzunehmen und zu befolgen, ohne jedoch blos nachzuahmen. Einige allgemeine Andeutungen lassen sich jedoch geben, die uns mindestens auf den richtigen Weg leiten und vor groben Fehlern bewahren können.

Die architektonische Harmonie spricht sich vorzugsweise (ohne sich jedoch auf bloße Eurythmie zu beschränken) in den Verhältnissen aus. Welche Art der Harmonie nach der obigen Andeutung zu wählen, und wie das Verhältniß der Theile zum Ganzen im Allgemeinen zu bestimmen sein möchte, das vermögen wir allenfalls noch durch Nachdenken zu finden, obwohl auch hier das Gefühl, ohne sich Rechenschaft geben zu können, ungleich sicherer leitet. So z. B. verträgt sich ein ernster Charakter (abgesehen von der mehr sinnlichen und mehr geistigen Art der Schönheit) nicht mit zu großer Mannigfaltigkeit; geht der Ernst ins Strenge und Finstere über, so muß die Harmonie nahezu an Einförmigkeit grenzen; ein heiterer Charakter dagegen liebt eine reichere Mannigfaltigkeit u. s w. Kommt es nun aber zur nähern Feststellung der Verhältnisse, so läßt sich im Voraus gar nichts bestimmen, wie dies namentlich der verunglückte Versuch der Römer, die Maßenverhältnisse ein für allemal nach Modeln festzusetzen, beweist. Es läßt sich hier nur etwa die Regel geben, nicht eher zum Aufzeichnen zu schreiten, bis der Entwurf deutlich und bestimmt vor dem inneren Auge steht, dann aber zunächst aus freier Hand ihn perspektivisch zu zeichnen und so lange zu ändern; bis das Bild uns selber gefällt. Eine Zeichnung, gleich nach dem Maßstabe in geometrischer Ansicht aus dem Kopfe aufgezeichnet, möchte schwerlich, selbst von Meisterhand, in der wirklichen Ausführung ein gelungenes Werk liefern.

Von der Harmonie gehen wir zum Ausdruck, oder zum Element des Wahren in der Baukunst über. Es lassen sich darüber, wie man einem Bauwerke seinen richtigen Charakter geben müßte, schon eher einige allgemeine Anweisungen finden. Die verschiedenen Gebäudearten bedingen jede eigenthümliche Anordnungen der Anlage und inneren Einrichtung; hat man diese der Bestimmung des Gebäudes und der Lokalität gemäß zweckmäßig getroffen, so hüte man sich sehr, einer regelmäßigen Faßade zu Liebe, daran zu zirkeln, zwängen und zu ändern; man packe nicht absichtlich und ohne Noth jedes Gebäude in einen parallelepipedischen Kasten, man lasse vielmehr, unbekümmert um zu strenge Regelmäßigkeit und Symmetrie, die innere Anordnung frei und ungezwungen in der äußern Ansicht hervortreten; man gewinnt dadurch nicht allein eine malerische Gruppirung der Massen, es spricht sich dadurch die Bestimmung des Gebäudes sehr deutlich aus. Ist dieses Mittel auch nicht ein rein künstlerisches, so ist es um so eher von jedem Baumeister anzuwenden. Daß man nicht zu dem andern Extrem übergehen und das Gebäude zu einer unregelmäßigen zerstückelten Masse machen darf, versteht sich von selbst; es dürfte jedoch diese Warnung kaum nöthig sein, da der menschliche Geist, und zumal der des Baumeisters, bei seinen Schöpfungen ganz von selbst nach Regelmäßigkeit strebt. Ist, wie vorausgesetzt wurde, die Anordnung zweckmäßig, so kann man sie unbesorgt sichtbar machen; denn wenn auch das Zweckmäßige noch lange nicht schön ist, so kann doch streng genommen nur das Zweckmäßige und nie das Unzweckmäßige schön werden. - Man versäume ferner nie, solche einzelne Anlagen, welche die Bestimmung des Gebäudes nöthig oder auch nur wünschenswerth macht, geflissentlich aufzusuchen und hervorzuheben; dahin gehören: geräumige Eingänge bei öffentlichen Gebäuden, zahlreiche, regelmäßig vertheilte Ausgänge neben dem ausgezeichneten Eingang bei Theatern, ein weiter und hoher Eingang bei Kirchen, dagegen eine enge Thür bei einem Gefängnisse; Vorhallen und Galerien, wo sie gebraucht werden können, je nach dem Klima und ihrer vorzugsweisen Benutzung im Sommer oder Winter, mehr offen oder mehr geschlossen; hohe und breite Freitreppen und geräumige freie Altane bei fürstlichen Schlössern, Regierungsgebäuden, Rathhäusern u. s. w., für den Hof, das Regierungskollegium, den Magistrat bei zahlreichen unten stehenden Volksversammlungen; Lauben, Balkone, vortretende Erker u. s. w. bei Landhäusern; Eckthürmchen und Zinnen bei Bauwerken, welche zum Schutze dienen; stark hervortretend bei Festungsthoren, Wachen u. s. w.; schwächer hervorgehoben und vielleicht mehr in Verzierungen übergehend da, wo ein geistiger Schutz angedeutet werden soll, wie bei Rathhäusern, Gerichtsgebäuden  u. s. w.; nicht aber bei Land- und Jagdschlössern, welche ihren Zweck als Burgen längst verloren haben, u. s. w.

Damit ist es nun freilich noch lange nicht gethan; es muß nun auch der ganzen Architektur ein der Bestimmung des Gebäudes entsprechender Charakter gegeben werden. Den letztere selbst zu bestimmen ist nicht schwer; im hohem Grade schwierig ist es aber zu sagen, wie nun die architektonischen Formen gewählt werden müssen, um ihn auszusprechen. Vor allen Dingen muß hier der von tüchtigen Aesthetikern vielfach ausgesprochenen Ansicht entgegengetreten werden, es wohne den geometrischen Figuren als solchen ein bestimmter, dem Gefühle eindringlicher Ausdruck bei. Eine geometrische Figur hat an sich gar kein ästhetisches Interesse; stellen wir verschiedene derselben zusammen, so mögen die regelmäßigern unter ihnen dem Verstande gefallen, das Gefühl aber wird unter ihnen erst dann einen Unterschied machen, wenn man sich einen bestimmten Gegenstand darunter vorstellt, und da wird man denn finden, daß dieselbe Figur uns bald schön, bald häßlich erscheint, je nachdem man dabei an diesen oder jenen Gegenstand denkt. (Z. B. ein Dreieck erst als Giebelform, dann als Thür oder Fenster, ein Kreis erst als Rosette, dann als Vorderansicht einer Säule u. s. w.) Also erst durch die Anwendung auf einen bestimmten Gegenstand, oder indem sie zu architektonischen Formen werden, gewinnen die geometrischen Figuren und Körper Ausdruck. Ueberhaupt aber sind nicht blos die mathematischen, es sind auch alle plastischen Formen Darstellungsmittel für die Baukunst, und zwar stehen beide in dem natürlichen Verhältnisse, daß da, wo die Bauwissenschaft einwirkt, also bei der Hauptform des Ganzen wie der Theile, namentlich der Konstrukzionen, die regelmäßigen mathematischen Formen, hingegen bei den Details, den Verzierungen, Gliederungen, Ornamenten, kurz überall da, wo der Kunst ein freierer Spielraum gestattet ist, die aus freier Hand gezeichneten plastischen Formen zu wählen sind; die mit dem Zirkel gezogenen Profilirungen der Römer haben längst allgemeine Mißbilligung gefunden. Von den plastischen Formen gilt nun keineswegs dasselbe wie von den mathematischen; jene haben allerdings, so gut wie die Farben und Töne, einen eigenthümlichen Ausdruck, womit sie eine bestimmte Wirkung auf unser Gemüth hervorbringen. Nach welchen Gesetzen dies geschehe? darüber müssen wir den Aufschluß in der Natur suchen; allein die Sprache der Natur können wir nicht verstehen, nur fühlen, und somit sehen wir uns hier wieder von der Wissenschaft verlassen. Es wäre vielleicht möglich durch Vergleichung der innern Eigenschaften der Naturgegenstände mit ihrer äußern Form nach und nach zu einigen Resultaten zu gelangen, sehr weit würden wir aber sicher nicht kommen, und dann möchte die Anwendung der gewonnenen allgemeinen Regeln auf die Baukunst noch eine neue nicht geringe Schwierigkeit finden. Wir werden daher das Auffassen des Formenausdrucks in der Natur und die Anwendung in der Baukunst vor der Hand wenigstens dem Gefühle überlassen und hier wie überall, wo es sich um das eigenthümliche Wesen der Schönheit handelt, einerseits die Natur, andererseits die Werke anerkannter Meister studiren oder richtiger mit dem Gefühle zu erfassen suchen müssen.

Zur Darstellung des Unendlichen im Schönen, dieser höchsten und schwierigsten Aufgabe der Kunst, haben uns zum Glück unsere Voreltern in ihrem innigen und kindlichen Streben nach der der christlichen Religion entsprechenden geistigen Schönheit zwei Mittel kennen gelehrt (das eine freilich von den poetischen Arabern entlehnt). 1) Die Form ist geistiger wie die Masse, darum wird das Vorherrschen der Form vor der Masse ein deutliches Bild vom Vorherrschen des Geistigen vor dem Sinnlichen - 2) aller Wachsthum, alles Leben, alle höhere Sehnsucht strebt nach  o b e n .  So wird denn auch in der Baukunst durch das Emporstreben Gefühl und Geist unmittelbar nach oben, zu Gott und Ewigkeit gewiesen, und das Unendliche im Schönen auf die kräftigste, auf eine das Gemüth überwältigende Weise ausgedrückt, wie keine andere Kunst es vermag! - Dadurch; daß uns zwei von einander unabhängige Darstellungsmittel des Unendlichen, und beide, obwohl an sich schon sehr verschieden, in mannigfacher Steigerungsfähigkeit zu Gebot stehen, haben wir es vollkommen in unserer Gewalt, daßelbe allemal in der dem Gegenstande angemessenen Art darzustellen. Ein lebhaftes Emporstreben kann natürlich nur im Kirchenbaustil Anwendung finden; aber selbst bei den untergeordnetsten Gebäuden können wir durch ein geringes Vorherrschen der Form vor der Masse eine schwache Andeutung an das Höhere geben, wie die Beziehung auf den Volkscharakter als ein geistiges Element sie auch hier erfordert.

Ueber die Darstellung des Gleichgewichts, als des statischen Grundgesetzes für die Baukunst, ist das, was dem bereits Gesagten noch hinzuzufügen sein möchte, in der statischen Formbedeutung mit eingeschlossen. Wie diese zu erreichen sei, das können uns am besten die Griechen lehren, welche vorzugsweise hierin Meister waren. Betrachten wir beispielsweise die dorische Säule: sie ist die freistehende, selbstständige, steinerne Stütze einer wagerecht aufgelegten Last. In der Wirklichkeit war zur vollkommenen Erreichung dieses Zweckes nichts weiter erforderlich, als genügende Stärke und Grundfläche und ein ungefähr lothrechter Stand; wie viel mehr nun aber that die Kunst, um den Zweck dem Gefühle zu offenbaren?! Der Stamm erhielt zunächst eine kreisförmige Grundform, nicht etwa blos, um sich beim Durchgehen nicht zu stoßen, - denn dann hätten auch die Anten nicht viereckig und scharfkantig sein dürfen, - sondern weil der Kreis den größten Inhalt mit dem kleinsten Umfange umschließt, und durch das Ueberwiegen der Masse vor der Form die größte Kraftfülle und Tragfähigkeit ausgedrückt wird. Der Stamm ist verjüngt, um den festen Stand, die Selbstständigkeit zu versinnlichen. Die Kanneluren geben dem Säulenschafte eine so einfache, ansprechende und unnachahmlich schöne Verzierung, daß man sich versucht fühlt, glattrunden oder anders verzierten Säulen der ältern Zeit den eigentlichen Charakter der Säule abzusprechen. Der Reiz liegt nicht blos in dem angenehmen Wechsel von Licht und Schatten, nicht blos in dem Umstande, daß durch die scheinbare Annäherung der Stege an beiden Seiten die, beim Mangel einer scharfen Beleuchtung wenig bemerkbare runde Form deutlicher bezeichnet wird. Es liegt in dieser Gestaltung noch ein eigener Zauber, der sich freilich mehr fühlen, als beschreiben läßt. Die scharfen Kanten und die gleichsam dazwischen gespannten flachen Bögen sprechen die Idee einer Gürtung, eines Zusammenstrebens nach der Mitte eben so zart als kräftig aus, so wie umgekehrt vortretende Rundstäbe ein Entfalten von Innen nach Außen andeuten würden. Daß diese Idee, so subtil sie scheinen möchte, wirklich zum Grunde lag, scheint die elliptische Form der Kanneluren an den bessern Monumenten im Vergleich zu den frühern Segmentbögen zu beweisen, wobei indeß natürlich nicht daran gedacht werden kann, daß die Griechen durch Nachdenken den Vorzug des elliptischen Bogens gefunden hätten; es war bei ihnen reine Gefühlssache, wodurch das Befremdende, welches diese Erscheinung bei der Unbekanntschaft der Griechen mit der Wölbkonstrukzion haben würde, fortfällt. - Zum sichern Auflager des viereckigen Architravs mußte die Säule oben einen niedrigen Würfel oder eine etwas vorstehende Platte darbieten; diese Platte mußte in ihrem vortretenden Theile unterstützt und zugleich in die runde Form des Stammes harmonisch übergeführt werden. Beides geschah durch den  E c h i n u s ; in ihm charakterisirt sich die sich nach oben entfaltende Kraft auf eine so deutlich fühlbare Weise, daß es scheint, als ob die Masse im Kampfe zwischen Last und Stütze sich selbst diese Form gegeben habe; bevor sie zu Stein erstarrte. Möglicherweise könnte eine solche Darstellung, als aus den Grenzen der Architektur hinausführend, getadelt werden; allein es wußte darum auch an den Monumenten der Blütenzeit die Hand der Grazie bei der Profilirung des Echinus die zum Grunde liegende Idee so zart anzudeuten, daß ein solches Bedenken schwinden muß. Auch die Ringe und die Einschnitte des Halses haben ihre statische Bedeutung. Um nicht zu weitläufig zu werden, wollen wir indeß abbrechen und dagegen lieber noch einen vergleichenden Blick auf die Bauwerke unserer Voreltern werfen. Auch sie ließen die statische Formenbedeutung nicht außer Acht, wie dies namentlich die Anordnung der Kreuzgewölbe mit ihren Strebepfeilern und Strebebögen bis zur Profilirung der Gurte herab zeigt; freilich aber fehlt viel an der griechischen Vollkommenheit. Ohne den höheren Werth der griechischen Kunst in dieser Hinsicht leugnen zu wollen, ohne zu behaupten, daß die germanische Architektur durch eine sorgfältigere Berücksichtigung der statischen Formenbedeutung nicht noch gewonnen haben sollte, mögen wir doch die Entschuldigungsgründe nicht übersehen. Die mehr sinnliche Schönheit der griechischen Kunst verlangte eine vorzugsweise Berücksichtigung, gestattete eine vollendetere Ausbildung aller mehr sinnlichen Elemente im Schönen: daher die vollendete, aber auch die einfachste Art der Harmonie, daher das vollkommen unmittelbare Gleichgewicht; daher denn auch die eben so deutliche als zarte Ausbildung der statischen Formbedeutung. Die christlichen Germanen rangen mit aller Kraft eines innigen Gemüthes nach der höhern geistigen Schönheit: daher die reiche Mannigfaltigkeit, das lebendige Streben im germanischen Baustil; daher aber auch, wenn nicht Vernachlässigung, doch mindere Berücksichtigung der statischen Formenbedeutung. -

Das angeführte Beispiel aus der griechischen Architektur zeigt uns, welche Vollkommenheit der statische Formenausdruck erreichen, freilich aber nicht,  w i e  er erreicht werden kann. Hier sehen wir uns wiederum an das Gefühl gewiesen, das von seinen Ausssprüchen und Schöpfungen keine Rechenschaft zu geben vermag; aber auch hier wieder vermögen wir durch Nachdenken Regeln zu finden, welche uns vor groben Fehlern bewahren und zu dem Wege leiten, auf dem wir das Schöne finden werden; und damit ist schon viel gewonnen. Wenn die Baukunst einen Gegenstand schön darstellen soll, so müssen wir damit anfangen nur erst  d a r z u s t e l l e n , bevor wir  s c h ö n  darzustellen versuchen; wenn nur das Zweckmäßige schön sein kann, so müssen wir erst  z w e c k m ä ß i g   bauen, ehe wir  s c h ö n  bauen wollen. Im zweckmäßigen Bauen stehen wir keinem früheren Volke nach; das was hieraus für die Kunst gewonnen werden kann, ist mithin - wenn wir es nicht absichtlich bei Seite werfen - im hohen Grade vorhanden, und damit haben wir eine sichere Grundlage für die Entwickelung der Kunst. Das Schöne läßt sich nun einmal nicht durch Fleiß und Eifer erringen; es ist eine Blume, die im Treibhause und unter ängstlicher Pflege erstickt, die aber sich selbst überlassen gedeihet, und ihre herrliche, weithinduftende Blüte entfaltet, wenn nur ihre Wurzel tief im innersten Gemüthe den geeigneten Boden findet.

Lasset uns also, Ihr lieben Genossen, nur erst jene Grundlage finden! Lasset uns der Verlockung widerstehen mit leichter Mühe auf vorhandenen Zeichnungen unsere Werke aufzustutzen, um den Beifall der Menge zu gewinnen; lasset uns nicht mehr fragen und wählen, ob wir in diesem oder jenem Stile bauen sollen; lasset uns aufhören Material und Konstrukzion wegen vermeintlicher Rohheit, oder weil sie zu dem gewählten Stil nicht passen, hinter Putz und Vertäfelungen zu verstecken, aufhören ein reicheres Material als das verbrauchte, andere Konstrukzionen als die wirklich angewendeten zu lügen, lasset vielmehr·beide einfach und wahr hervortreten und für sich selber sprechen; lasset uns auch nicht mehr, weil sie zu dem angewendeten Baustil nicht passen möchten, andere Einrichtungen treffen, andere Konstrukzionen wählen, als die jedesmalig zweckmäßigsten; es muß sich jener aus diesen entwickeln, nicht umgekehrt sich die Einrichtung und Konstrukzion nach dem Baustil richten. Lasset uns bei der nähern Bestimmung der schönen Formen vor der Hand im äußersten Grade mäßig sein und und wo möglich bei dem geringsten Detail Rechenschaft geben, warum wir es so und nicht anders gestalten; lasset uns nicht mehr die Zeichnung der Details bis zu der entfernten Zeit der Ausführung verschieben; nur solange die Phantasie erfüllt ist von dem selbstgeschaffenen Bilde des darzustellenden Gegenstandes mag es gelingen den Charakter richtig zu bestimmen und festzuhalten; lasset uns beim Entwerfen Maßstab und Zirkel bei Seite werfen, und die freie Schöpfung der Phantasie aus freier Hand auf dem Papier fixiren; lasset uns endlich sparsam sein mit den mehr willkürlichen plastischen und sonstigen Verzierungen, und sie nie an unschicklichen Stellen, namentlich nie da anbringen, wo die Architektur vorzugsweise Haltung haben muß! -

Und nun am Schlusse zu Euch, Ihr hervorstrahlenden Lichter, Ihr Meister der Kunst, erlaubt mir, auch Euch eine ernste Mahnung zuzurufen! Folgt frei und kühn Euerm innern Genius; aber zuvor entfesselt ihn, befreit Euch von dem Einflusse all und jeder fremden Autorität. Ihr braucht Euch von Euren Schöpfungen keine Rechenschaft zu geben, prüfet aber genau, was davon frisch und lebendig aus der eignen Phantasie entsprang und was etwa dem von außen Erlernten angehören möchte; wenn es möglich ist, so werft das Letztere fort und ersetzt es durch eigene Schöpfung. Bedenkt, daß Eure Werke als Muster dastehen, und daß jeder Fehlgriff sich durch Nachahmung ins Unendliche vervielfältigt. Habt nicht blos im Auge Gebäude zu errichten, die Euren Namen verherrlichen, richtet viel mehr Eure Blicke nach dem er-habenen Ziele, welches die Baukunst erreichen soll, und strebt mit aller Kraft Eures Geistes nach dem größeren Ruhme, die Baukunst im Allgemeinen gefördert zu haben! - Dann dürfen wir hoffen, das zu erreichen, was uns vor Allem Noth thut, einen eigenthümlichen Baustil!