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Autor: Schatteburg, Heinrich
In: Allgemeine Bauzeitung - 53 (1888); S. 77 - 79
 
Gedanken über Stylbildung
 
Angeregt durch das interessante und zum Denken einladende Schriftchen: »Sinngemässes Schaffen und Modethorheit in der Architektur« von A.  N o t h n a g e l,  drängt es mich, einige Gedanken über Stylbildung, die mir bei meiner Lehrthätigkeit seit Jahren nach und nach aufgetaucht sind, niederzuschreiben. Dieselben sind noch mehr oder weniger in lockerem Zusammenhange, sind noch nicht völlig reif und sollen deshalb auch durchaus kein vollständig abgeschlossenes, festes Ganze bilden. Dass ich trotzdem einige derselben mittheile, dazu gibt mir theils obiges Schriftchen Veranlassung, theils möchte ich damit Fachgenossen veranlassen, sich ihrerseits über diese Punkte zu äussern, um dadurch Anregung zur Hebung unserer Kunst zu geben, die ja zum Theil sehr im Argen liegt und dort, wo es der Fall, wahrlich nicht zur Förderung des Geschmackes, des Schönheitsgefühls der Menge beiträgt. Der Verfasser obigen Schriftchens erwähnt in seinem Vorworte der Ausartungen der Tagesmode, die er mit demselben bekämpfen will. Und wahrlich, die Mode fängt auch hier an, über uns zu herrschen, sie sucht auch in der Kunst ihr Machtwort zu sprechen, und zwar leider nur zu oft mit Erfolg. Wenn hierzu freilich auch das Gefallen, welches das Publikum an derartigen Schöpfungen findet, nicht wenig beiträgt, so soll doch der wahre Architekt diesem entgegen zu treten bemüht sein und sein besseres ästhetisches Gefühl beim Publikum zur Geltung zu bringen suchen. Wenn der Architekt, der Künstler, voll seine Aufgabe lösen will, so kann er sich nie ganz von den Fesseln losmachen, die ihm dadurch angelegt sind, dass er  a u s  der Zeit  f ü r  die Zeit  d u r c h  die Zeit schaffen muss und als wahrer Künstler auch nur schaffen kann, aber er soll dabei zugleich zum Bessern der Zeit - in gewissem Sinne - schaden. Schafft er in anderer Weise, so schafft er eigentlich nur subjektiv für sich, um seiner selbst willen, nicht als ein Kind seiner Zeit, und mithin nicht für seine Mitmenschen, nicht so, dass diese seine Werke verstehen. Er macht sich freilich dadurch von vorerwähnten Fesseln los, aber zum Nachtheil seines Werkes, das unnatürlich in gewissem Sinne wird, weil er es nicht aus seinem Inneren heraus, beeinflusst von dem Leben und Treiben um ihn her, objektiv schafft, sondern entweder als verständnissloser Nachahmer oder als zügelloser Phantast. Der wahre Architekt schafft als ein Kind seiner Zeit nicht in einem Gewande, das ganz seiner Zeit fremden Völkern entlehnt ist ohne jedwede zeitgemässe, zweckentsprechende Umformung, sondern er schafft stets Werke, die seine individuellen Leistungen, Anschauungen und Auffassungen bekunden, beeinflusst von den Anschauungen der Geschichtsperiode, in welcher er lebt, geleitet von seinem ästhetischen Gefühl.

Nach den Forschungen der Physiologen und Psychologen entstehen bekanntlich die ästhetischen Gefühle, die Erzeuger der architektonischen Style in derselben Weise wie die übrigen Gefühle, das heisst durch die Einwirkung der Vorstellungsorgane auf die Gefühlsorgane, und zwar dann, wenn wir zweckmässig Geordnetes, Ebenmässiges und Harmonisches wahrnehmen. Geschieht nun dieses, empfinden unsere Gefühlsorgane Harmonie, Ebenmass, Rhythmus, Symmetrie, so erkennen darin unsere Vorstellungsorgane das Gesetz der Ebenmässigkeit, dass die Theile dem Ganzen entsprechen. Dieses Gefühl aber, welches uns erkennen lässt, dass dieses arithmetische Gesetz wahrnehmbar hervortritt, empfunden und verstanden wird, dieses bewusste Gefühl nennen wir »ästhetisches Gefühl«. Die Gefühle wechseln aber ebenso wie die Vorstellungen nach Nationen und Zeitverhältnissen, wie die Kunstgeschichte lehrt. Der Vermittler für solche Gefühle ist das Auge, das demnach das Organ des ästhetischen Gefühls ist. Die Färbung, Schattirung erhält aber das ästhetische Gefühl durch den sympathischen Nerv und die Unterleibsganglien. Von der zeitweiligen Beschaffenheit der letzteren hängt wesentlich der Grad der Empfänglichkeit für ästhetische Gefühle ab. Wenn schon darnach die Stimmung, in welche der sympathische Nerv und die Unterleibsganglien den Menschen versetzen, auf sein ästhetisches Schaffen von Einfluss ist, so sind es noch mehr gemachte Wahrnehmungen, an anderen Gegenständen gesehene Motive, die, seinem Gedächtniss eingeprägt, sich mehr oder weniger während des ästhetischen Schaffens hervordrängen und dasselbe beeinflussen; es sind ferner ihm innewohnende, sich bemerkbar machende Gefühle konstruktiven Aufbaues, die dem ästhetischen Schaffen eine gewisse Richtung vorschreiben, aber auch die Idee von der nothwendigen Erscheinungsform eines gewissen Charakters, den man einem zu schaffenden Gegenstande in seinen Einzelheiten und im Ganzen aufzuprägen beabsichtigt, bedingen die ganze Art der Darstellung derselben. Und so lässt sich noch Manches anführen, das unser ästhetisches Schaffen zu keinem nach bestimmten Regeln zu ordnenden kommen lässt, wie es leider öfter geglaubt wird, sondern verursacht, dass es, hier diesen dort jenen Einflüssen ausgesetzt, jeweilig verschiedene Endresultate liefert.

Das wahre ästhetische Schaffen ist aber die Folge inneren Gemüthsdranges, der darin gipfelt, sich seine Gedanken in sinnlicher Form zu vergegenwärtigen. Das abstrakte Denken hilft dabei mit, Mittel und Formen ausfindig zu machen zur Versinnlichung der Gemüthswelt, damit das Kunstwerk demnächst in dem Beschauer möglichst dieselben Gefühle erwecke, als sie der denkende und fühlende Verfertiger in sich trug. »La style c'est l'homme«, sagt der Franzose, und er hat recht. An jedem künstlerisch durchgebildeten Gegenstande erkennt man den geistigen Verfertiger; seine besondere Ausdrucksweise lässt uns ihn erkennen, sobald sie von ihm scharf ausgeprägt ist, was bei vorgeschrittenen Künstlern sich immer mehr an ihren Kunstwerken bemerkbar macht. Man sagt dann vom Künstler, er habe Styl, womit freilich durchaus nicht ohne weiteres bekundet sein soll, dass der Styl gut oder dass er schlecht sei. Hierzu muss aber der Beschauer in der richtigen Stimmung sein, um sich ganz ungestört objektiv der Einwirkung des Kunstwerkes auf seine Gefühlsnerven hingeben zu können. So erhält die Kunst Kulturwerth, da auf diese Weise das Gefühl des Einzelnen in gewissem Grade Gefühl der Gesammtheit wird; und wiederum ist sie gewissermassen ein Spiegelbild des Kulturlebens, da sie aus demselben herauswächst.

Diese allgemeinen Bemerkungen über die Entstehung ästhetischer Gefühle und über ästhetisches Schaffen können als Fingerzeig dienen hinsichtlich der Stylbildung. Auf Grund eingehender Forschungen wird behauptet, dass die Griechen ihre Formen nicht selbst geschaffen, sondern von anderen Völkern übernommen haben. Nach  S e m p e r  stammen dieselben aus einem anderen Material her, als worin sie später von den Griechen verwendet wurden. Mag dem so sein oder nicht sein, sicherlich haben die Griechen es verstanden, die etwa übernommenen Formen umzumodeln, dass sie dem neuen Material, Marmor, entsprachen, und in dieser Anpassung an's Material haben sie Grosses geleistet. Wenn nun die Griechen es verstanden, das Material als solches in seiner Eigenart, seiner inneren Struktur, seiner Erscheinung gemäss zu bearbeiten, zu formen, so verstanden sie es anerkanntermassen nicht weniger, jedem einzelnen Theile ihrer Kunstwerke, sowie diesen selbst das Gepräge ihres jeweiligenen Zweckes aufzudrücken, es sinngemäss, verständlich für jeden objektiven, denkenden Beschauer zu durchgeistigen. Diese beiden, Material und Zweck, sind es, die jeden Styl in allen guten Kunst-Epochen mitbedungen haben und ferner mitbedingen sollten; der Zweck bestimmt, »was« geschaffen,  w a s  dargestellt werden soll, das Material »wie« geschaffen,  w i e  ausgeführt werden soll (in technischer Hinsicht). Wenn auch momentan Zeitströmungen, Anschauungen die Form und die Farbe, in welcher etwas dem Beschauer versinnlicht werden soll, die Art der Charakterisirung bestimmen werden, das »Was« und das »Wie« (in technischer Hinsicht) werden stets durch den Zweck und das Material mitbedingt sein.

Der Styl eines Gegenstandes soll also das Charakteristische des Wesens eines Gegenstandes zur Erscheinung bringen, soll zeigen, dass Harmonie zwischen Stoff und Form, Wesen und Erscheinung herrscht; wo letzteres nicht der Fall ist, da ist Styllosigkeit vorhanden. In welcher Weise ersteres aber zum Ausdrucke zu bringen ist, das ist, wie schon vorher angedeutet, bedungen durch den schaffenden Künstler, der als Kind seiner Zeit, als Kind seines Volkes, zu dem er durch sein Kunstwerk sprechen will, schafft. In Folge dessen haben sich bei den Völkern verschiedene Style gebildet, bilden sich noch und werden sich stets bilden. Aber ein bestimmter, sich deutlich in seiner Eigenart ausprägender, als solcher erkennbarer Styl bildet sich stets nur dort, wo ein Volk auf feststehenden, geordneten Grundsätzen fusst, wo des Volkes Dichten und Trachten, seine Anschauungen, sein Streben mit Ruhe bestimmte Richtungen, bestimmte Ziele verfolgen, wo ein Volk weiss,  w a s  es will und  w a r u m  es etwas will, mit einem Worte, wo es völlig  s e l b s t s t ä n d i g  dasteht, unbeirrt durch das, was um dasselbe herum vorgeht. Denn alle diese Aeusserungen eines Volkes prägen sich ungewollt in seinen Werken aus, und eben nur dadurch und nur dann, wenn diese letzterer Art sind, können seine Kunstwerke eine bestimmte, ihrem Wesen und Zweck entsprechende Charakterisirung erhalten. So lange ein Volk selbst sich noch nicht geklärt, gefestigt hat - die Gründe dafür mögen  i m  Volke oder  a u s s e r h a l b  desselben liegen - so lange kommt kein ihm eigener, sein Dichten und Trachten bekundender Styl zum Durchbruch, zur festen, bestimmten, erkennbaren Ausprägung, sondern man sieht an seinen Werken entweder nur mehr oder minder sklavische Nachahmungen der Style anderer, gleichzeitig lebender oder ihm vorangegangener Völker; oder man sieht noch mehr oder weniger in den Anfängen liegende Versuche zur Bildung eines neuen Styles, die einem inneren Drange entsprungen, und zwar nicht, weil man wollte, sondern weil man musste.

Bei diesem Müssen kann der einzelne Künstler gar wohl seinen Werken ein ihm selbst eigenthümliches, ihn selbst und seine Sonderanschauungen erkennenlassendes Gepräge verleihen, aber von den Fesseln der jeweiligen Anschauung, dem Kultus u. s. w. seines Volkes kann er sich nicht losmachen, da sie fortwährend auf ihn, auf sein Empfinden und Denken einwirken.
Und wie sieht es nun bei uns aus? In unserer Zeit, in unserem Vaterlande, wo die Beziehungen der einzelnen Länder zu einander, der durch die gewaltigen Verkehrsmittel bewirkte Gedankenaustausch unter denselben, die fortwährenden neuen Erfindungen auf dem Gebiete der Industrie und Wissenschaft, die Raschlebigkeit und Anderes mehr die Menschen selten zum ruhigen Empfinden, zum ruhigen Denken kommen lässt, da ist vorläufig an die Ausbildung eines sogenannten National-Styles im engeren Sinne nicht zu denken, das beweisen viele Schöpfungen der letzten Jahrzehnte. Im weitesten Sinne ist freilich ein bei einem Volke mehr oder weniger vorherrschender Styl, wenn auch entlehnt, stets national insofern, als er das Volk charakterisirt, auch wenn dem letzteren eine bestimmte Richtung, bestimmte Tendenz und Selbstständigkeit fehlt. Zeigen dieselben doch zum grossen Theile nichts Neues in der Stylisirung, sondern entweder immer mehr oder weniger sklavische Nachahmung anderer Style oder gar eine verständnisslose Anwendung derselben, eine Unklarheit des Gewollten in Form und Farbe. Theils fühlt man sich befriedigt, wenn man nur nachahmt, und sei es der blühendste Unsinn, theils sucht man gewaltsam nach Neuem, Ungeheuerlichem, das mit der wahren Kunst nichts gemein hat. Hier stehen Ueberladenheit und Nüchternheit in grösster Harmonielosigkeit zusammen, dort zeigt eine Phantasie, zu welch' haltlosen Gebilden sie sich hinaufzuschwingen vermochte. Anstatt sich objektiv seinen Gefühlen hinzugeben, von diesen sich beim Schaffen eines Kunstwerkes leiten zu lassen, wenn auch das Endresultat ein einfaches, mit wenig Mitteln hergestelltes Kunstwerk sein sollte, suchen Manche subjektiv ihre Gestalten zu bilden, zu formen, wie sie wollen, nicht wie sie müssen. Die zur echten Künstlerschaft nothwendige Phantasie, die mit den Formen und Farben des Lebens, den Naturkräften eine Welt ausser dem Leben aus dem eigenen Geiste frei zu schaffen vermag, diese Phantasie fehlt in unserer Zeit mit ihren realistischen Tendenzen leider Manchem, da die Zeit eben keine Anregung zum Phantasiren gibt.

Haben die Griechen, deren Styl in gewissem Sinne für uns unerreicht dasteht, sich ihren National-Styl dadurch geschaffen, dass sie die auf sie gekommenen Formen zu den ihrigen machten, das heisst, denselben den Stempel ihres überlegenen Geistes aufdrückten, so geschah dieses, indem sie sich objektiv der Wirkung der ihnen überkommenen Formen hingaben, indem das in ihnen lebende Schönheitsgefühl ihnen den Weg zeigte, den ihre Phantasie bei der Umformung einzuschlagen hatte. Nicht wenig trug ihre auf der Höhe der Zeit stehende staatliche Einrichtung, ihre diesbezügliche ruhige Entwickelung dazu bei, dass sie zum völligen Fühlen des aus ihrem Inneren aufkeimenden Triebes, zur richtigen Gestaltung ihrer Empfindungen kamen. Die von den Griechen nun wieder auf uns überkommenen Formen waren und sind aber nicht blos für die Griechen geschaffen, sondern auch für andere Völker, für die ganze Menschheit; aber sie wollen in ihrer Eigenart, in ihrer Verwendungsweise verstanden sein. Wie die Griechen, die ihnen überkommenen Formen studirten und umwandelten, so sollen auch wir bei Verwendung der griechischen Formen sie studiren und passend umbilden. Sehen wir doch in allen Kunst-Epochen, dass dort, wo Style sich auf andere stützen, zeitgemässe Umbildungen stattgefunden haben, ja nach Obigem stattfinden mussten, und zwar um so vollendeter, je tieferes Wissen und höhere Technik die Völker besassen, je ruhiger und bestimmter die Phase ihrer staatlichen Entwickelung war. Um aber die griechischen, sowie die später folgenden Style wahrhaft kennen und verstehen zu lernen und auf der Basis derselben im heutigen Geiste selbstständig schaffen zu können, um fortzuschreiten in der Kunst, nicht knechtisch nachzuahmen, da genügt nicht blos ein Betrachten der Kunstwerke, sondern es ist ein Studiren derselben nothwendig. Das Studiren muss aber bestehen in einem Betrachten und Vergleichen der Formen, der Vertheilung der Massen und der Ornamente, in einem genauen Beachten der Technik und der Mittel, die dem ausführenden Künstler zu Gebote standen; ferner in einem Eindringen in den Geist des Künstlers, in einem Verfolgen des Gedankenganges, der dem Künstler beim Schaffen seines Kunstwerkes zu Grunde lag, in einem Nachfühlen seines Werkes.

Dieses vermögen wir aber nur, wenn wir berücksichtigen, dass früher wie heute das Reale im Leben die Baukunst beeinflusste, so ideal auch die Ziele der Baukunst waren und sind. Das Reale ist einmal von der Baukunst im Gegensatze zu den anderen Künsten, die nur des ästhetischen Genusses wegen da sind, nicht zu trennen, da die Baukunst stets auch praktischen Bedürfnissen zu genügen hat. Wir haben deshalb auch den Ursachen der Entstehung der Kunstwerke und den Bedingungen derselben, wir haben in kulturgeschichtlicher Beziehung den Bedürfnissen, denen die Kunstwerke entsprungen sind, den Hülfsmitteln, die den Verfertigern zu Gebote standen, nachzuforschen, um voll und ganz ein Kunstwerk verstehen zu lernen. Und nicht allein die  g e i s t i g e n  Lebensbedürfnisse, sondern auch die  m a t e r i e l l e n,  welche durch Handel und Industrie, Landwirthschaft und Verkehrswesen u. s. w. befriedigt werden, kommen in Frage, da beide zusammen erst die Wechselbeziehungen zwischen Kunst und Leben zu klären vermögen. Wo kein materieller Wohlstand ist, wo die äusseren Lebensbedingungen für ein Volk schwierig sind, da ist kein Aufblühen der Kunst möglich. Nach diesen skizzenhaften Bemerkungen über die bisherige Stylbildung, über das Studium und über die Anwendung derselben will ich einige Bemerkungen über die Ausbildung des architektonischen Gefühles des Kunstjüngers der Jetztzeit und somit über die Heranbildung eines Styles für denselben anknüpfen. Wie schon erwähnt, entstehen  ä s t h e t i s c h e  G e f ü h l e  in uns dann, wenn wir in objektiver Weise Ebenmässiges, Harmonisches, zweckmässig Geordnetes wahrnehmen, weil dieses unseren Sinnen wohl thut, von unserem Organe der Gemüthserregung als angenehm empfunden wird. Das  ä s t h e t i s c h e  S c h a f f e n  hingegen ist die Folge eines Gemüthsdranges, der uns zum abstrakten Denken treibt behufs Auffindung von Mitteln und Formen, um Empfundenes zu versinnlichen und so zu verkörpern, dass der Beschauer des Verkörperten dieselben Gefühle bekomme, die den Verfertiger des Kunstwerkes bei dessen Herstellung beseelten.

Das ästhetische Fühlen müssen wir demnach als etwas Angeborenes bezeichnen, das sich je nach Umständen, je nach geeigneten Einflüssen von Aussen weiter vervollkommnen kann.
Die Fähigkeit, ästhetisch zu schaffen unter Beihülfe, ja unter dem Impuls ästhetischen Fühlens, ist hingegen etwas, das von Grund auf gelehrt und ausgebildet werden muss, und mit Hülfe dessen Style gebildet werden, das heisst subjektive, bestimmt ausgeprägte Behandlungsweisen, die den Anforderungen der Aesthetik genügen. Dass derartige subjektive Behandlungsweisen sich beim Kunstjünger erst mit der Zeit auszubilden pflegen, ist bekannt. Anfangs prägt sich in den Arbeiten der Geist der Schule, in welcher der Jünger ausgebildet wurde, der Geist des Lehrers, der ihn unterrichtete, aus, was keineswegs schadet, wenn der Kunstjünger nur seine Arbeiten verstanden, gefühlt hat. Ist der Schaffenstrieb bei ihm vorhanden, angespornt und in rege Thätigkeit versetzt, so wird schon mit der Zeit, angeregt durch Denken, durch Studien an anderen Werken, an literarischen Erzeugnissen u. s. w., seine Individualität immer mehr sich bemerkbar machen und, auf den Schwingen der Phantasie gehoben, sich frei machen von dem, was seinem erkannten eigenen Fühlen und Denken widerspricht, er wird sich eine eigene Formen- und Farbenwelt schaffen, eine neue Welt des Aufbaues und des Ausbaues. Wie muss aber der Kunstjünger sein Studium betreiben, um zu diesem Höhepunkt des ästhetischen Schaffens, zu dem höchsten künstlerischen Genusse zu gelangen? Zunächst soll er sich eine feste Grundlage schaffen, die in dem vollen Verständniss überlieferter Kunstformen hinsichtlich ihrer Formenbedeutung, Formencharakterisirung, hinsichtlich ihres Zweckes bei der Anwendung besteht. Dieses Verständniss kann aber nur erlangt werden durch geeignete Einwirkung auf das ästhetische Gefühl des Schülers während der Vorführung dieser Formen, durch ein Aufbauen und Ausbauen, Formen und Umformen an verschiedenen, miteinander in Parallele gestellten Beispielen, zu denen theils der Schüler selbst die Formung bestimmt hat. Dabei sind die mannigfachsten Vorkommnisse, die mannigfachsten Bedingungen, wie sie die Praxis zeigt, heranzuziehen und zu beleuchten. Ein einfaches Vorführen der Formen an der Hand der Geschichte und lediglich ein späteres Anwenden derselben bei gestellten Aufgaben - die beim Unterricht oft gleich zu gross gewählt werden - genügt hier nicht.

Hat der Kunstjünger sich ein hinreichendes Verständniss für die Formenwelt angeeignet, ist ihm diese gleichsam in Fleisch und Blut übergegangen, so soll er mit dem Lehrer die Zusammensetzung geeigneter Kunstwerke studiren, die Schönheit die in ihren Verhältnissen liegt, hervorsuchen und sich zu eigen machen mit Hülfe analoger, theils selbst gewählter, theils selbst gemachter Beispiele. Letztere sollen zum besseren Erkennen der Schönheit dienen, theils dadurch, dass sie weniger schön sind als das zu studirende Kunstwerk, theils dadurch, dass sie in einfacher Weise dem Kunstjünger die Schönheit vor Augen führen und zum Gefühls-Bewusstsein bringen; etwas, was am eigentlichen Kunstwerk weniger leicht möglich war. Die Schönheit der Verhältnisse eines Werkes in seinen Einzeltheilen und im Ganzen muss gerade vom Kunstjünger studirt und erkannt werden, und zwar sowohl bei einfachen als bei reich gegliederten und geschmückten Kunstwerken. Aber auch die Unschönheit anderer soll als Gegenüberstellung vorgeführt und erkannt werden zur weiteren Klärung der wahren Schönheit. Denn das Seinsollende erklärt sich auch mit Hülfe des Nichtseinsollenden. Dabei darf aber nicht sklavisch zu Werke gegangen werden in dem Sinne, dass alle Werke, welche die Kunstgeschichtschreiber uns als Muster vorführen, oder die von sonst tüchtigen Meistern oder Völkern herrühren, eben deshalb als Muster anerkannt und in diesem Sinne beim Unterricht vorgeführt werden, sondern nur nach ihrem wahren künstlerischen Werthe sollen die anzuführenden Beispiele geschätzt und beurtheilt werden.

Leider lassen sich, so wünschenswerth es auch wäre, und so sehr es zum Verständniss beitragen würde, die Kunstwerke für die meisten Kunstjünger nicht im Original, nicht in ihrem natürlichen Formen- und Farbengewande, nicht in der ihnen zugehörigen Umgebung, nicht mit dem sie umgebenden oder umgeben habenden Leben und Treiben des Volkes, das sie schuf, studiren, sondern der Kunstjünger muss sich fast ausschliesslich mit mehr oder minderwerthigen Surrogaten behelfen, mit Handzeichnungen, Photographieen und dergleichen, die allenfalls die Form versinnlichen können, aber nie die wahre Gesammtwirkung, wie sie Farbe, Material, Licht und Schatten in Wirklichkeit uns vorführt. Manches Werk hat auch nur dort, wo es steht oder stand, unter den Kulturverhältnissen, unter denen es geschaffen wurde, seinen künstlerischen Werth, dagegen jetzt fast nur mehr kunstgeschichtlichen, obgleich es beim Unterrichte als mustergültig hingestellt wird. Man - und besonders der Lehrer - sollte auch einen Unterschied machen zwischen dem  p l a s t i s c h e n  und dem  a r c h i t e k t o n i s c h e n  Werth eines Musterwerkes, sowie zwischen guten Formen und guter Technik, was jedes einzelne gar wohl getrennt vorhanden sein kann, jedoch nicht immer gleichzeitig vorhanden ist.

Das aber, worauf der Lehrer den Schüler vornehmlich aufmerksam zu machen, was er bei ihm zum klaren Verständniss zu bringen hat, wenn er Bauwerke aus alter oder neuer Zeit vorführt, das ist die Harmonie im Ganzen und im Einzelnen, als oberstes Gesetz. Er muss darauf hinweisen, dass überall im Ganzen  e i n  Prinzip, ein  Z u s a m m e n h a n g  fühlbar (unbewusst) hervorleuchten muss, überall Gesetz, keine Willkühr, überall Ordnung, keine Unordnung; hier ein fühlbares Ueber- und Unterordnen, ein Anpassen, nirgends ein chaotisches Durcheinander; überall eine den Fundamentalsätzen konstruktiven Aufbaues fühlbar angepasste Massenvertheilung, eine ornamentale Belebung der Flächen, dem Ueber- und Unterordnen der Einzeltheile angepasst, ja sie gleichsam erst bestimmend. Freilich ist die wahre Kunst nicht blos Sache des Verstandes oder des Gefühls, sondern vornehmlich der künstlerischen Auffassung, aber diese soll immer vom Verstande und vom Gefühl geleitet werden, um nicht phantastisch zu werden. Der Künstler soll in seinen Werken allüberall Konsequenz, Klarheit der Gedanken, sowie vollen, wahren Ausdruck derselben zeigen, der Jedem, der sich tief in denselben hineindenkt, verständlich ist.