Ein Klick auf das Druckersymbol startet den Druckvorgang des Dokuments Drucken
 
Autor: Schumacher, Fritz
In: Leipzig: Diederichs (1901); 31 S.
 
Das Bauschaffen der Jetztzeit und historische Überlieferung
 
Die nachfolgende Abhandlung bildet den Inhalt der Antrittsrede, die der Verfasser bei der Übernahme einer Professur an der Kgl. Technischen Hochschule zu Dresden am 10. Mai 1901 hielt. Sie ist dem jungen Nachwuchs der Baukunst gewidmet.
Dresden, Mai 1901

Wenn man Gelegenheit hat, das Bild des deutschen Kulturlebens im Spiegel des Urteils fremder Völker zu beobachten, so wird man meistens finden, daß der Deutsche vorwiegend gefeiert wird als Theoretiker und als Historiker. Wir selbst sind stolz auf diese Seite unseres Geisteslebens, wir sehen uns hier mit berechtigtem Selbstgefühl als Führende. Bei der wachsenden Macht aber von drängenden Forderungen in Praxis und That können wir zugleich bei den beurteilenden Nachbarn, besonders jenseits des Wassers, ein Gefühl von Überlegenheit in diese platonische Bewunderung einfließen sehen, ein Gefühl, das da etwa sagen will: Ihr Gründlichen, ja, ihr schlagt euch immer brav herum mit dem Grundsätzlichen einer Sache; wir Mutigen, wir greifen zu, wir schaffen frisch.
In der That können wir in jüngster Zeit deutlich beobachten, wie sich, wohl unter dem Einfluß dieser Reflexe vom Auslande, ein gewisses Mißtrauen geltend macht gegenüber dem Wert des Betonens der historischen Seite einer Disziplin. Das zeigt sich auf manchen Gebieten; mit besonderer Schärfe hat es sich der Baukunst gegenüber geäußert, da die Macht des Historischen hier einerseits ungewöhnlich deutlich zur Geltung kommt, und andrerseits jeder Archaismus, der praktisch als solcher empfunden wird, sich besonders fühlbar macht.
Ein Wort Goethe's, der es zum "gepriesenen Glück der Griechen" rechnet, "daß sie durch keine Vorbilder irre gemacht wurden", ist heutzutage vielfach citiert worden. Man hat versucht es als Trumpf auszuspielen im Kampfe gegen historische Überlieferung. Es geht mit solchen Worten Goethe's ähnlich, wie mit Citaten der Bibel: man kann ihnen aus anderen Zusammen hängen herausgenommen meist Aussprüche gar verschiedener Färbung gegenüberstellen. Aber das wollen wir gar nicht versuchen, denn es ist keine Frage, daß der Kern dieses Wortes eine wirkliche Gefahr andeutet, nur muß man sich von vornherein klar darüber sein, daß das Wort nicht etwa sagt: "Vorbilder", und damit sind natürlich gute Vorbilder gemeint,  "m ü s s e n  irre machen", sondern daß er lediglich sagt; "Vorbilder  k ö n n e n  irre machen". Und wer wollte das leugnen? Wer kann leugnen, daß es erschlaffend auf die Schaffensfreudigkeit wirkt, wenn man unaufhörlich daran gemahnt wird, wie reife Meisterschaft so zu sagen vorwegnahm, was man tastend versuchen möchte; wer will leugnen, daß es zu verwirren vermag, wenn man die tausend Gestaltungsmöglichkeiten früherer Stile ängstlich um sich heraufbeschwört, wo es gilt, ein Werk mutig anzupacken; wer hat es nicht erfahren, daß man der Macht historischer Formen gegenüberstand mit jener heiligen Scheu, wo man nicht weiß, wie man sich in den festen Kreisen sanktionierter Gesetze anders mit Anstand benehmen kann, als indem man streng den ceremoniellen Vorschriften folgt, und wo man nicht wagt, sich ungezwungen zu geben, weil man nicht beurteilen kann, was man sich einerseits erlauben darf und womit man andererseits berechtigten Anstoß erregen würde.
Es wird immer Leute geben, die an dieser Gefahr zu Grunde gehen, die aus der mechanischen Nachahmung der Ritus-Gebräuche so zu sagen niemals zu einer eigenen Religionsauffassung gelangen; aber es ist sehr die Frage, ob diesen Leuten geholfen worden wäre, wenn man sie sofort freigeistig erzogen und die Lehren des historischen Dogmas von ihnen ferngehalten hätte. Es pflegen sich bei solchen Naturen nur zu leicht aus Mangel an Positivem rein destruktive Tendenzen zu entwickeln, die dann nicht mehr gleichgültig lassen, sondern die gefährlich werden.
Wir kommen damit auf einen Gesichtspunkt in unserer Frage, der nicht eigentlich den künstlerischen Kern der Sache berührt, der aber doch vom so zu sagen  t a k t i s c h e n  Standpunkte aus im Hinblick auf das Gesammtniveau der Kunst von großer Wichtigkeit ist, und den wir deshalb vorweg nehmen wollen.

Wenn wir heutzutage ganz allgemein und nicht für den persönlichen Privatgebrauch eines Einzelnen von architektonischen Erziehungs-Prinzipien sprechen, müssen wir stets im Auge behalten, daß es unter den Schaffenden nicht nur schöpferische Geister giebt, die wirklich etwas Eigenes hinstellen kennen, sondern daß daneben die große Menge derer geht, die gar nicht berufen ist, individuelle Werte zu zeugen, die aber trotzdem berufen sein kann, und das ist das Wichtige,  k ü n s t l e r i s c h  z u  a r b e i t e n.  Denn es ist nicht wahr, daß in der Kunst nur die Erscheinungen Lebensberechtigung haben, die wie große Entdecker uns ein eigenes Stück Land erschließen; im großen Reiche der Kunst giebt es auch Raum für jene bescheidneren Existenzen, die zwar nie Neuland entdecken, die aber doch, bildlich gesprochen, vermöge liebevoll eingehender Beschäftigung die Reize einer Gegend, an der wir sonst vielleicht achtlos vorbeigehen, in ungewöhnlicher Weise aufzuspüren und Anderen mitzuteilen vermögen. Und wenn solche Erscheinungen liebenswürdig spürender Nachempfinder sogar in der "hohen" Kunst ihr Plätzchen behaupten können, so ist das in weit ausgedehnterem Maße in der angewandten Kunst der Fall, in der Kunst, die mit dem täglichen Bedürfnis verwächst und dies bescheidene tägliche Bedürfnis veredeln soll.
Gerade heute gibt es viele Beurteiler architektonischer Arbeit, die in begreiflicher, aber etwas nervöser Freude an individuellen Erscheinungen diese stillere Seite unseres Schaffens völlig übersehen. Und doch ist es vielleicht vom Kulturstandpunkte aus eine besonders wichtige Arbeit, für eine ersprießliche Bethätigung derjenigen zu sorgen, die nur durch fremde Hilfe der Kunst gewonnen werden können, denn naturgemäß wird gerade ihr Wirken stets für eine besonders breite, weite Schicht des Geschmacksniveaus bestimmend sein.
Ich sage mit Absicht: eine  k u l t u r e l l e  Arbeit, denn mit dem, was man später die kunstgeschichtliche Entwickelung einer Zeit nennt, hat das natürlich direkt nichts zu thun; die Kunstgeschichte geht achtlos über die breiten Massen guter Arbeit hinweg und zieht ihren Faden nur von  b e s t e r  zu  b e s t e r  Arbeit. Und deshalb könnte man denken, daß vom sog. "höheren" Gesichtspunkt aus die Sorge für diese sekundäre Garnitur künstlerischer Entwickelung ziemlich gleichgültig wäre.
in der That ist es für die Beurteilung unsrer Litteratur ziemlich gleichgültig, ob neben den ernsten Meisterwerken unsrer Zeit viele oder wenige Schundromane oder Radaupossen geschrieben werden; ebenso ist es in der That für die Bewertung der modernen Malerei verhältnismäßig gleichgültig, ob mehr oder weniger süßliche Modemaler existieren; in der Architektur aber ist das etwas Anderes! Ein Buch braucht man nicht zu lesen, ein Bild kann man gegen die Wand kehren, wenn aber die Afterkunst eines Bauwerks an unsrer Lebensstraße steht, dann  m ü s s e n  wir sie mitgenießen, mögen wir wollen, oder nicht, und unerbittlich klingt solches Werk in das Leben von Tausenden hinein, wie eine böse Melodie, der man auch rettungslos ausgeliefert ist. Mag man sich deshalb angesichts eines höheren Standpunkts über Blödsinn, Stumpfsinn oder Niedertracht in Litteratur und Malerei nicht viel aufregen, in der Architektur wird das, was dort achtlos und sich selbst regulierend in den Papierkorb der Zeit wandert, zum Frevel, zum stündlichen Frevel an der Schönheit von Gottes Natur. Wie eine giftige Pflanze, wie ein widerwärtiges Tier, das plötzlich eine böse Macht in einen Fleck reiner Erde setzt, vermag es zu wirken, alle Reize zerstörend auf Generationen hinaus.
Jeder, der sich das einmal klar gemacht hat, wird begreifen, wieviel strengere, entsagendere Selbstzucht der Architekt zu üben hat gegenüber dem ungestraft fröhlich experimentierenden Maler oder Dichter oder Kunstgewerbler, denn er hat nicht allein sich selbst und seinem Auftraggeber gegenüber die Verantwortung zu tragen, sondern ist einem Stück Welt verantwortlich. Und deshalb ist die kulturelle Aufgabe, von der wir sprachen, so wichtig, denn auch derjenige, der sich nicht selber Gesetze zu geben vermag, wird später diese Verantwortung gegenüber einem Stück Welt auf sich zu nehmen haben.
In diesem Gedankenzusammenhang erhellt es ganz von selber, daß selbst, wenn historische Einflüsse auf den Bahnbrecher retardierend wirken  s o l l t e n,  die geschichtliche Stilkenntnis ein niemals entbehrbares Element unsrer lebenden Architekturbethätigung bilden muß. Denn für den anempfindenden Künstler bleibt keine andre Wahl, als anzuknüpfen an die Art irgend einer markanten zeitgenössischen Künstlerpersönlichkeit, oder anzuknüpfen an die Fäden, die aus der Art einer historischen Zeitepoche herüberführen in unsre Tage. Der erstere Weg führt nur zu leicht zu Moden, wie wir sie heute im Gefolge unsrer typischen Bahnbrecher überall entstehen sehen, der zweite führt zu Gestaltungen, die vielleicht bescheidener, manche mögen sagen: langweiliger, sind, die aber jedenfalls gesunder sein können, weit ihre Entstehung organischer und freier vor sich geht, als das beim Festhalten an einem Einzelnen und seinen Zufälligkeiten wahrscheinlich ist. Ich sage, es giebt keine andre Wahl, denn wir müssen uns klar machen, daß in dieser Beziehung die Architektur anders dasteht, als die übrigen Künste.
Wir schätzen in der "freien" Kunst, beispielsweise in der Malerei, den Wert des anempfindenden Künstlers je nach dem Grade ein, wie er mit der  N a t u r  Fühlung behält; ein Maler "zweiten Ranges" vermag uns in Stimmung zu versetzen, wenn ein Hauch wirklich empfundener Natur in seinem bescheidenen Werke erhascht ist und sich uns mitzuteilen vermag. Dieser Zusammenhang mit der Natur, der auch dem Schwächeren in der Kunst eine gewisse künstlerische Macht und seine Lebensberechtigung zu geben vermag, er ist dem Architekten versagt. Wohl vermag er sich im schmückenden Beiwerk naturfroher oder schematischer zu geben, aber das eigentliche Wesen des architektonischen Schaffens berührt das nicht. Die Architektur ist die Verkörperung abstrakter Begriffe, sie ist diejenige unter den Künsten, die mit der Natur als innerer Kraftspenderin am wenigsten in direkter Berührung steht, und darin liegt das Schwere, das ungewöhnliche Ansprüche Heischende, das der Architekturgestaltung gegenüber den anderen Künsten eigen ist; die fruchtbarste, die dankbarste, die nie versagende Erneuerungsquelle aller Kunst, sie kommt ihr allein direkt nicht zu gute, sondern in einer Sphäre künstlerischer und formaler Abstraktion muß sie ganz aus sich selbst heraus ihr Leben und ihre Triebkeime entwickeln im Kampfe mit den Realen.
Das dürfen wir nie vergessen, denn das erst giebt uns die richtige Stellung für die Wertung der historischen Architektur-Kenntnis. Die organischen Entwickelungsgedanken, die uns die Geschichte des baulichen Werdens aufdeckt, die Art und Weise, wie wir beispielsweise in der Antike oder im Mittelalter Architektursysteme sich herauskrystallisieren sehen mit einer inneren Folgerichtigkeit, die uns anmutet, als ob hier ganz ohne Zuthun von Kräften einzelner Menschen ein Organismus sich aus sich selbst heraus entfaltete, das sind Momente, die der historischen Seite der Architektur einen anderen Charakter geben, wie ähnlichen Entwickelungsreihen in den übrigen Künsten: die Individualitäten mit ihren Zufälligkeiten treten in solchen architektonischen Systemen ganz zurück gegenüber einem inneren Grundprinzip, das sich allmählich etwas Unpersönliches herausschält. Kurz, der architektonischen Entwickelung liegt etwas zu Grunde, was der folgerichtigen Macht der Natur vergleichbar ist, so daß man übertreibend sagen könnte: was dem Maler die Natur selber ist als Grundlage seines Schaffensmaßstabes, das muß dem Architekten, der diesen Maßstab entbehrt, die historische Entwickelung sein. Wohl gemerkt, nicht die Zufälligkeiten, nicht die spielenden Schmuckformen historischer Zeiten, sondern jene Grundgedanken, die langsam in jahrhundertelangem ununterbrochenen Werden die symbolischen Ausdrucksformen der Architektursprache entwickelten.
Und daraus könnte man dann weiter schließen, daß alles, was sich in der Baukunst natürlich entwickelt hat, nie abgethan werden kann, sondern das unentbehrliche Fundament jeglicher, auch der individuellsten Weiterentwickelung bilden muß.
Das klingt ganz selbstverständlich, wird es denn überhaupt bestritten? Oh ja, es wird bestritten. Es giebt heutzutage eine bedeutende, und man kann getrost sagen, eine interessante Partei, welche trotzdem die historische Architektur-Überlieferung mit feindseligem Auge ansieht, und alle Architektur aufgefaßt wissen will aus dem naiven primitiven Instinkt des Künstlers heraus. - Sie will, daß der Schaffende sich seiner Aufgabe gegenüberstellt, man möchte sagen: à la Robinson; so, als sei er gleichsam zum ersten Male in der Welt berufen, das bauliche Bedürfnis, das in einer Aufgabe liegt, zu decken. Aus dieser naiven Anschauung heraus soll er seine Mittel und seine Formen entwickeln. Nur so, glaubt man, kommt das Beste zu Tage, was der Künstler besitzt: seine Persönlichkeit, und nur so entstehen durch die intakte Originalität der Persönlichkeit die neuen Anregungen, die unsre Kunst weiterführen zu neuen Stilbildungen.
Bei dieser Auffassung ist also eine selbständige schöpferische Persönlichkeit Vorbedingung; dadurch wird der rechtmäßige Interessenkreis sofort ein eng beschränkter - uns aber führt diese Auffassung zu einer neuen Seite unserer Frage von der Bedeutung der historischen Überlieferung für das architektonische Schaffen der Jetztzeit. Wir haben bisher auseinanderzusetzen versucht, daß die Architektur die feste, sichere Leitschnur der Überlieferung nicht zu entbehren vermag, weil nicht jeder Bauende ein Prometheus sein kann und doch jede bauliche Leistung in ungewöhnlichem Maße eine dauernde künstlerische Verantwortung der Mitwelt gegenüber in sich trägt, und wir haben dabei gesehen, daß in der Architektur die Verhältnisse für das freie Schaffen sich besonders schwierig gestalten, weil der Baukünstler der Natur als Mithelferin entraten muß.
Man könnte also denken: diese historische Überlieferung ist ein notwendiges Übel, aus taktischen Gründen der Kunstpolitik können wir sie nicht entbehren; das hätte aber noch nichts zu thun mit der künstlerisch höher gefaßten Frage, welche Bedeutung diese Elemente denn nun für den zum selbständigen Schaffen Berufenen, den mit prometheischem Funken Begabten heutzutage haben.
Diese Frage ist schwerer zu beantworten; sie geht hinaus über die klar umrissenen Grenzen pädagogischer Überlegungen, und wir können eine Stellung ihr gegenüber nur gewinnen aus der Auffassung heraus, die wir uns vom Wesen des architektonischen Entwickelungsprocesses und von den Anforderungen an eine lebendige Kunst überhaupt machen.

Es ist nicht nur die ängstliche Rücksicht auf die unbeeinflußte, von "keinen Vorbildern irre gemachte" Originalität des Schaffens, was als Waffe gegen den Einfluß historischer Überlieferung gebraucht wird, sondern wir begegnen auch positiven Gründen neben diesem sozusagen negativen Momente.
Man spricht davon, daß unsere Zeit aus ihren eigentümlichen Schaffensverhältnissen eine neuartige ästhetische Auffassung entwickelt habe. Eine ästhetische Auffassung, in deren Mittelpunkt nicht mehr der frühere formale Schönheitsbegriff steht, sondern der Begriff einer inneren Schönheit, der Begriff des Zweckmäßigen und seine Erfüllung im Konstruktiven. Der ästhetische Wert eines Werkes tektonischer Art liegt, so sagt man, wie bei der Maschine darin, daß es seine Zweck-Bedingungen zum Ausdruck bringt: konstruktiv möglichst vollkommen, möglichst logisch, möglichst sparsam. Die erste Forderung ist die absolute Wahrhaftigkeit eines Werkes, seine ästhetische Formgebung entwickelt sich dabei wie nach einem Gesetz aus den konstruktiven Funktionen.
Es sind vor allem die belgischen Neuerer, die von diesen Grundsätzen ausgehen, und an ihrer Spitze versucht van de Velde mit dem Eifer eines geborenen Fanatikers eine neue Lehre daraus zu formulieren, eine Lehre die, nebenbei gesagt, über gut die Hälfte seiner eigenen Produktion den Stab brechen würde.
Neben der Wahrhaftigkeit, die wohl von allen Ästhetikern als Forderung aufgestellt wird, wenn sie auch unter "wahr" gar Verschiedenes verstehen mögen, stellt er aus diesen Anschauungen heraus einen Begriff auf, den man eine Art Fatalismus der Kunst nennen kann. Er sieht, wenn bestimmte Vorbedingungen einer Aufgabe gegeben sind, Vorbedingungen an Zweck, Art, Material, innere mit der bestimmten Unabänderlichkeit des Fatums bestehende logische Konsequenzen des Gestaltens, die unabhängig sind von der schöpferischen freien Bestimmung einer Persönlichkeit; es folgt daraus, daß jede Aufgabe, wenn man sie restlos zu lösen verstände, nur eine  e i n z i g e  und keine zweite Möglichkeit der Verwirklichung besäße. Er nimmt an, daß dem richtig erzogenen kommenden modernen Menschen nur Werke solchen streng logischen Geistes gefallen können. Der Begriff der Schönheit, der ja fälschlicherweise für eine Eigenschaft gehalten wird, während er nur die Wirkung eines Gegentandes auf den Beschauer ausdrückt, wird sich bei allem, was irgendwie mit Technik in Berührung steht, in diesem Sinne umgestalten.
Diese theoretischen Durchführungen weissagen ein allmähliches Durchwachsen all unserer Anschauungen mit den machtvollen Begriffen der Technik, sie wären ganz plausibel, da sie mit vielen unleugbaren Symptomen unserer Zeit operieren, wenn es wirklich einen Zustand geben könnte, wo es eine Kunst giebt und doch keine künstlerische Phantasie. Van de Velde's Theorien bedeuten die Negation der Phantasie, *) sie wollen zu einer künstlichen künstlerischen Askese führen, die an Stelle individuellen Schaffens das Rechenexempel vernünftigen Überlegens setzt. Wozu diese Askese? Ist Phantasie denn gleich Lüge? Muß denn alles durchaus unkonstruktiv sein, was den Stempel der Konstruktion nicht dick unterstrichen am Leibe trägt?

*) Die obigen Andeutungen der Van de Velde'schen Anschauungen stützten sich auf seine Vorträge und vereinzelte Aufsätze. In zwischen hat er in einem Buche "Renaissance im Kunstgewerbe" seine Ansichten in detaillierterer Form zusammengefaßt, die ein viel näheres Eingehen auf einzelne Punkte nötig machen würde, als es uns in diesem Zusammenhange möglich ist.
Diese karrikierten Folgerungen aus einem richtig gefühlten ästhetischen Grundprinzip entstehen aus dem eng gefaßten Begriff dessen, wie sich Konstruktion ästhetisch in der Architektur äußert. Die Wahrhaftigkeit besteht in der Architektur nicht etwa lediglich darin, daß man eine Konstruktion wirklich nackt zu Tage treten läßt, das wäre ein primitiver Standpunkt der Kunst, nein, gerade das künstlerische Wesen der Architektur beruht darauf, für die konstruktive Funktion den  s y m b o l i s c h e n  Ausdruck in der Architekturform zu finden; auf diesen symbolischen Ausdruck, der in gewissen Grenzen ein unendlich mannigfaltig wechselnder sein  k a n n,  und der für jedes Material und seine eigentümliche konstruktive Behandlung naturgemäß ein verschiedener sein muß, bezieht sich die Forderung der Wahrhaftigkeit. Damit bringt man die dichterische Erfindung, die Phantasie, wieder auf den ihr gebührenden Platz; als berechtigter Kern jener Forderungen aber bleibt auch unter dem veränderten Gesichtswinkel bestehen: den Formenausdruck jeder Schöpfung mit ihren speziellen Bedingungen in vollen inneren Einklang zu bringen.
Und diese Forderung ist der eigentliche gesunde Inhalt des Programms, das die Modernen den Traditionellen gegenüberstellen. Aus diesem Programm aber folgern sie zumeist in erster Linie den Kampf gegen historische Überlieferung.
Wir erkennen das Programm an; was wir näher betrachten wollen, ist das Verhältnis gegenüber der historischen Überlieferung, das sich daraus ergiebt.

Die Unklarheiten und so mannigfachen Verwirrungen gegenüber modernen Stilforderungen entspringen zu meist aus unserer Sucht zu schematisieren. Diese Sucht ist so groß, daß man z. B. meistens ästhetische Errungenschaften des  K u n s t g e w e r b e s  ohne weiteres in der Form von Forderungen auf die Architektur überträgt, und daß man eigentlich immer ästhetische Prinzipien, die sich an irgend einem auffallenden Einzelwerk der Architektur bewährten, ohne weiteres als Leitschnur für die ganze Architektur aufzustellen geneigt ist. Was man in diesem letzeren Fall, auf den ersten brauche ich wohl nicht weiter kritisch einzugehen, nicht beachtet, ist dies, daß unsre architektonische Bethätigung sich in der letzten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts so ungeheuer, so ohne jeden historischen Vergleich differenziert hat, daß man in den Fragen stilistischer Natur ebensogut typische Gebäude-Kategorien unterscheiden muß, wie man etwa im Kunstgewerbe scheidet zwischen Weberei und Keramik, zwischen Tischlerei und Schlosserei. Auch im Kunstgewerbe gelten für alle diese Gebiete zusammen große allgemeine Gesetze, aber jedes für sich hat seine eigene speziell ausgearbeitete Sonder-Ästhetik.
Nicht ganz dasselbe, aber doch etwas vergleichbar Ähnliches ist in der Architektur unserer Zeit eingetreten; wir stehen hier typischen Aufgaben gegenüber, die in ihren inneren und äußeren Anforderungen so verschieden sind, daß man in engeren Kreisen eigene Stilgesetze erwarten und fordern muß.
Wir können heutzutage zwei prinzipiell entgegengesetzte Strömungen in den Tendenzen unserer Architektur verfolgen. Eine Strömung zeigt einen deutlich  s o z i a l e n  Charakter in ihren Aufgaben und ist bestimmt, diesen Zug ihren architektonischen Resultaten aufzuprägen; die Markthalle, der Bahnhof, das Warenhaus, Gebäude solcher Art gehören in diese Strömung herein; sie sind aus neuen sozialen Anforderungen geboren, und in ihrem ganzen Gepräge muß sich das logischerweise ausdrücken. Aus der anderen Seite aber finden wir eine direkt entgegengesetzte Strömung, eine Strömung, die zum Anti-Sozialen, zur äußersten Verfeinerung des  I n d i v i d u e l l e n  hinführt, und deren konzentriertester Ausdruck die moderne, dem raffiniertesten Einzelbedürfnis angepaßte Villa bildet. Wir kennen diesen Gegensatz des Sozialen und Individuellen. Wohin wir heute in unserem Kulturleben blicken, tritt er uns entgegen; er ist auch auf geistigem Gebiet das Kriterium unserer Tage, und fast alle modernen Zeiterscheinungen hängen mit ihm zusammen. Was Wunder, wenn gerade dieser Gegensatz auch zum stilistischen Kriterium der Kunst unserer Tage wird!
Allerorten aber gibt es ästhetische Systematiker, die das als eine Schwäche unserer Architektur empfinden und nach dem  e i n h e i t l i c h e n  Stil solcher Zeitepochen schreien, die von diesen Zwiespalten noch nichts wußten. Ein verschiedenartiger stilistischer Ausdruck aber muß sich aus solchen Gegensätzen entwickeln, oder man müßte der Architektur jede Fähigkeit der Charakteristik absprechen wollen.
Das Bemerkenswerte aber ist, daß dieser innere Gegensatz zwischen sozialem und individuellem Charakter im allgemeinen parallel geht mit einer weit greifbareren Scheidung: der Scheidung nach dem Materialcharakter.
Jene neuen Gebäudetypen, die den veränderten Bedingungen unseres Verkehrs, unserer Produktion, unseres kommunalen Betriebs, unserer wirtschaftlichen Einrichtungen entsprungen sind, stehen sämtlich in enger Verbindung mit dem Eisenbau. Man kann sagen, daß sie prädestiniert sind für das Eisen, wenn es sich jetzt auch noch in den meisten Fällen nur schüchtern an sie heranwagt. Jene andere Gruppe, in der die Tendenz nach Befriedigung der körperlichen und geistigen Bedürfnisse des Individuums vorwaltet, steht mit dem Eisen durchweg in keiner notwendigen Beziehung.
Der innere Gegensatz äußert sich in der Baukunst also zugleich in einem äußeren, und das verschärft den Zwiespalt.
Es liegt ja auf der Hand, daß das Eisen andere bauliche Gesetze fordert, wie der Stein; es zwingt zu einer grundverschiedenen  ä s t h e t i s c h e n  Ökonomie, es zwingt zu einer grundverschiedenen  t e c h n i s c h e n  Behandlung. Konstruieren und Bauen, Spannen und Schichten: diese Begriffe bezeichnen kurz die grundlegenden Unterschiede, mit denen wir es zu thun haben, Unterschiede die sich im künstlerischen Schmuck vor allem darin geltend machen, daß der Schmuck beim Stein aus der Masse gewonnen wird, beim Eisen neu zur Masse hinzugethan werden muß. Wir stehen hier im Reich der Baukunst vor zwei völlig verschiedenen Welten, die sich nur in dem einen Ziel zusammenschließen: Raum zu umkleiden.
Noch sind wir erst am Anfang der Arbeit, die eine, die neuartige dieser Welten nicht nur der Praxis, sondern auch der Kunst dienstbar zu machen. Es hat Architekten gegeben, die glaubten, die ästhetischen Aufgaben, die sich hier bieten, zu zwingen, indem sie versuchen, die  N e u a r t i g k e i t  des Problems nach Kräften zu verschleiern. Pilasterordnungen im Sinne der Renaissance wurden im Eisen erheuchelt, Kuppeln, die so thun, als ob sie direkte Verwandte der Steinkuppel wären, sehen wir allerorten.
Hier haben wir den Punkt, an dem das äußerliche Festhalten an historischer Tradition sich deutlich ad absurdum führte, und von wo aus man dann versuchte, die Autorität aller Überlieferung zu stürzen. Gewiß, hier mußte konsequenterweise eine Loslösung vor sich gehen, denn wenn wirklich die Formen der Architektur die symbolische Sprache bilden, in der die statischen und technischen Funktionen eines Baugliedes zum Ausdruck kommen, so ist es selbstverständlich, daß der symbolische Inhalt einer Form hinfällig wird, sobald es sich um ein anderes Material mit anderen statischen Gesetzen handelt, als dasjenige, für welches diese Form entstanden war. Es ist selbstverständlich, wenn auch leichter gefordert als geleistet, daß ein neues Material eine eigene stilistische Sprache entwickeln muß, und daß jede wohlfeile Erinnerung an eine Überlieferung, die sich auf ganz etwas Anderes bezieht, schädlich wirkt. Man kann eben nicht etwas weiter entwickeln wollen, was noch gar nicht da war, sondern ist dem Eisen gegenüber in der That gezwungen, so frei und rücksichtslos aus eigenem Wege zu probieren, als ob man wie Robinson auf unbewohnter Insel auf sich selber angewiesen wäre. Erst wenn man das ästhetische Wesen des Eisens in dieser Weise praktisch versuchend ergründet hat, wird man den Übergang finden zu seinem Zusammenwirken mit der Steinarchitektur und dem Einfluß, den dies Zusammenwirken auf den Stein ausübt, nicht indem man mit schwächlichen Kompromissen beginnt.
Aus dieser einfachen, man möchte fast sagen banalen Erkenntnis, daß es durch die Einführung des Eisens eine neue Seite architektonischen Gestaltens giebt, für die wir der Überlieferung entbehren und deshalb mit den Überlieferungen andrer Art nicht wirtschaften können, ist nun ein gar merkwürdiger Schluß gezogen worden.
Man hat verlangt, daß die ästhetischen Resultate, die sich aus der Beschäftigung mit dem neuen Materiale und seinen Konstruktionen ergaben, und die naturgemäß als etwas besonders neuartig Modernes erschienen, für das  g a n z e  Schaffen der Architektur, auch wo diese Forderungen des neuen Materials gar nicht in Betracht kommen, maßgebend würden. Das geschah nicht in dieser direkten, leicht widerlegbaren Form, sondern, wie wir erst schon erwähnt haben, auf einem Umwege. Die Rolle, die das Eisen nicht nur in der Baukunst, sondern in Form von Maschinen aller Art in unserem gesammten Leben und unserer Vorstellungswelt spielt, hat allmählich auf unsere ästhetischen Begriffe in gewisser Weise abgefärbt. Wir haben gelernt die Eleganz einer konstruktiven Linie zu schätzen, wir fangen an die eigentümlich geschwungenen Teile einer Maschine, eines eleganten Wagens, eines Segelbootes zu bewundern, kurz der Sinn für die ungewöhnlichen Kurvenschwingungen vor allen der Metall-Konstruktion ist geweckt, und damit hängt fraglos eng zusammen, was man heute mit all seinen Karikaturen den Kultus der Linie nennt. - Wir haben gar keinen Grund diese Erscheinung zu bedauern; die Beschäftigung mit der Technik hat unsre ästhetischen Ausdrucksmittel auch auf andern Gebieten befruchtet und erweitert; wir müßten sie aber allerdings bedauern, wenn man diese Erscheinungen dauernd als etwas anderes ansehen wollte, als sie sind: wenn man sie statt als ganz speziellen Anbau an das Bestehende, betrachten wollte als den Kern einer neuen revolutionären Schönheitswelt.
Was sich aus dem Eisen und seinen Anforderungen ganz folgerichtig entwickelt, hat an sich noch nichts zu thun mit den architektonischen Gebieten, die vom Geist des Eisens unberührt bleiben; der Steinbau, mag er als steinerne Monumentalkunst oder in seiner bescheideneren Form als Wohnhausbau auftreten, kann ganz andre Wege gehen, ohne deshalb aus dem Geist der Zeit herauszufallen.
Wir werden hier nie durch neue Äußerlichkeiten dekorativer Natur über den Zusammenhang mit ererbten Grundgestaltungen hinwegtäuschen können, und wir würden vor diesem Zusammenhang wahrscheinlich gar nicht so furchtsam fliehen, wenn wir nicht der Überlieferung gegenüber durch die äußerliche schamlose Art, mit der man in der rohen Epoche der Stilnachahmungen die Schätze früherer Zeiten wahllos auszubeuten versuchte, scheu geworden wären und gelernt hätten das historische Erbe als etwas versteinertes Totes zu betrachten statt als etwas feinorganisirtes Lebendiges. Und deshalb war es schließlich begreiflich, daß man die Erkenntnis, daß wir für gewisse moderne Aufgaben ohne Überlieferung sind, zum Anlaß nahm, alle jene Überlieferungen abzuschütteln. Man glaubt nur so ganz stark zu sein, und hält es für eine schwächliche Inkonsequenz, wenn man scheidet zwischen dem großen Strom von architektonischen Aufgaben, der neue Probleme mit neuen Mitteln zu lösen hat, und zwischen dem anderen großen Strome, wo eine völlig organische Weiterentwickelung unter Benutzung der Erfahrungen früherer Zeiten zu neuen Früchten führen kann und wo es eine barbarische Gewaltthat bedeuten würde, wollte man mit der Axt plötzlich die Wurzeln der Vergangenheit abhacken, um Platz zu bekommen für die kleinen eigenen Stecklinge, die man zu pflanzen unternimmt.
Wir sehen also, daß es nicht nur die kultur-politische Rücksicht auf den Durchschnitt der Leistungen ist, von der wir anfangs sprachen, was dem historischen Studium in unserer Kunst seine unwandelbare Bedeutung gibt, sondern daß für jeden Schaffenden auf den Gebieten, die von der Architektur früherer Tage behandelt worden sind, erst der Überblick über die geschichtliche Entwickelung den Ausgangspunkt ergiebt, wo er mit seiner eigenen Arbeit einsetzen kann. Man muß nicht nur die Grammatik können, ehe man anfängt einen eigenen Stil zu schreiben, nein, man muß den historischen Geist der Sprache erfaßt haben, und nur dann, wenn man ihn wirklich faßte und in Händen hat, kann man versuchen, an ihm zu modeln. Das gilt ganz besonders für die Baukunst, wo der schöpferische Akt so ungewöhnlich eng mit Überlegungen gepaart sein muß, die zur künstlerischen Seite der Sache nur indirekt gehören, wo die Inspiration und das mystisch-künstlerische Gefühl nichts ist, wenn es nicht mit dem rein verstandesgemäßem Gerüst der Aufgabe stets parallel geführt wird.
Jeder, der vor praktischen Arbeiten steht, muß erfahren, daß Phantasie auf schwankem Seile nur allzuschnell zu Falle kommt, wenn sie nicht stets die Balancierstange der Erfahrungen zu Hilfe nimmt; diese Erfahrungen aber alle selber zu machen, reicht unser kleines Leben und die Geduld der Mitmenschen nicht aus; Jahrhunderte haben sie vor uns gemacht.
Und deshalb kann man den Satz von den "Vorbildern", die da irre machen, dahin beschränken, daß man sagt: es liegt nicht an den Vorbildern, wenn sie wirklich beirren, sondern an unserer falschen Stellung ihnen gegen über; die historischen  K e n n t n i s s e  sind es nicht, sondern nur die Flüchtigkeit dieser Kenntnisse; man darf hier Kenntnisse nicht verwechseln mit historischen  E i n d r ü c k e n;  die verwirren allerdings, nämlich wenn es nur Eindrücke sind, die man als Resultate irgend einer unbekannten Macht empfängt, und die man deshalb nicht überblicken kann. Es bewährt sich hier eben eine alte Wahrheit, die immer neu bleibt: Alles, was man wirklich weiß, vermag nur zu klären, während alles halbe Wissen nicht etwa die Hälfte der Errungenschaft des ganzen Wissens darstellt, sondern sich verwandelt in ein negatives Moment, in einen Fluch.
Daraus ergiebt sich aber ganz klar, wie die Pflege geschichtlicher Kenntnisse für den zum Schaffen Bestimmten gehandhabt werden muß. Es kommt nicht darauf an, ihn auf die Eigentümlichkeiten einer früheren Epoche zu dressieren, nicht darauf an, ihn zu befähigen, möglichst stilgetreu das Formale nachahmen zu können, sondern es kommt darauf an, das Wesen einer historischen Entwickelung, die innewohnenden künstlerischen Grundgedanken, kennen zu lernen und dadurch zu verstehen, wie auch in der einzelnen Form diese Grundgedanken nachspielen und nachzittern. Hat man das einmal erfaßt, so wird man von selber vor Willkür auch in der Einzelform bewahrt, anderseits aber wird man erkennen nicht nur, wo die toten Äste in einer historischen Epoche sitzen, sondern auch, wo die Keime verborgen liegen, die zu weiterer Blüte entwickelt werden können.
Wir haben schon anfangs gesagt, daß diese Auffassung bei denen, die nicht berufen sind, eigene Werte zu schaffen, zu einer Art Eklektizismus führen wird, der uns als relativ sicherstes Mittel für einen anständigen Geschmacksdurchschnitt erscheint, weil er sich nicht an den Geist von Einzelwesen, sondern an den Geist von Epochen anschließt; man könnte vielleicht daraus folgern, daß diese Auffassung überhaupt stets zum künstlerischen Eklektizismus führen muß.
Und das bestreiten wir. Sehen wir doch auch in früheren Epochen, wo dem flüchtigen Blick ein Sprung gemacht zu sein scheint von einer alten Welt in eine neue, beim näheren Hinsehen ein langsames Entwickeln aus vorhandenen Keimen heraus.
Wir brauchen nur auf das moderne England zu blicken. England ist zu seiner modernen Kunstsprache nicht durch Revolution gekommen, sondern indem es die Fäden aus seiner Gotik, die Morris neu anspann, verwob mit Fäden aus dem englischen bürgerlichen Barock, die Norman Shaw und seine Mitkämpfer hervorholten. Das Resultat aber war keine Kreuzung von Gotik und Queen Anne, sondern es wurde ganz von selber in der Hand von Künstlern etwas Eigenes, Lebendiges, das von jenen Ursprüngen nur die eine Eigenschaft an sich behalten hatte, echt  E n g l i s c h  zu sein.
Und das weist uns auf ein wesentliches Moment, das man nie vergessen sollte, wenn man von historischen Anregungen ausgeht: das Festhalten am  h e i m i s c h e n  Geiste.
Wir haben einen feinen Instinkt für diese Seite einer Schöpfung, einen Instinkt, der uns auch auf Gebieten, die wir eigentlich gar nicht beurteilen können, das echt Heimische als etwas Warmes herausempfinden läßt. Das macht augenblicklich beispielsweise die neuere Münchener bürgerliche Baukunst zu einer so wohlthuenden Erscheinung; das war auch das Geheimnis, welches auf der letztjährigen Pariser Ausstellung das Erscheinen der nordischen Völker mit ihren kraftvoll volkstümlichen und doch modern so brauchbaren Leistungen zu einem solchen Ereignis machte, daß dies große, dem internationalen Kultur-Raffinement gewidmete Unternehmen durch Ironie des Schicksals zu einer Art Triumph der Volkskunst ward.
Sollte uns das nicht nachzudenken geben? Sollten nicht auch wir uns fragen, ob wir für unsere modernen bürgerlichen Bedürfnisse nicht eine bessere Befriedigung finden, wenn wir die schlummernden entwickelungsfähigen Keime unserer Volkskunst zu wecken und weiterzubilden suchen, als wenn wir von auswärts unerhörte Inspirationen von hyperkultivierten Reformatoren erwarten?
Wir sehen im Kunstgewerbe an verschiedenen Punkten, in Weberei, Keramik, Tischlerei einen Anfang in diesem Sinne gemacht, und wir sehen hier deutlich, daß uns diese Versuche nicht erscheinen als etwas Altes, sondern als etwas durchaus "Modernes". Das ist eine wichtige Beobachtung, die auch jene nordischen Völker bestätigten; man sieht eben, daß die Volkskunst instinktiv die stilistischen Methoden ergriffen, zum Teil beibehalten hat, auf die der Kulturkünstler erst wieder auf dem Umweg durch alle stilistischen Seitenstraßen unseres Jahrhunderts in immer größerer Verfeinerung gekommen ist. Und wenn einstweilen auch die Ausdrucksmöglichkeiten dieser volkstümlichen Sprache noch nicht sehr mannigfaltig sind, so liegt ja gerade das Gute in primitiven Formen, daß sie sich in tausend neuen Kombinationen weiter entwickeln lassen.
So werden wir schließlich mit unseren Betrachtungen in den engen kleinen Bezirk unserer eigensten Welt als Kraftspenderin zurückgeführt. Aber es ist ebenso, wie wenn einer alle Lande bereist und kehrt schließlich zur alten Arbeit in seinen Heimatflecken zurück; ein Philister ist man, wenn man sagt: was hat nun all das Schweifen in der Fremde genutzt, er fängt doch wieder an, wo er hätte bleiben können. Nein, wenn er kein Stümper ist, fängt er nicht wieder da an, mag's auch äußerlich so scheinen. Erst die Kenntnis all des Fremden, des Fremden an Zeit und an Ort, gibt ihm das Recht und die Kraft, nun in seiner kleinen Welt das Enge mit  S i c h e r h e i t  zu schaffen, und ob er's will oder nicht: was fruchtbar war an dem, was er gesehen, das sickert mit herein in das alte Thun. So soll es auch bei uns sein: weder dem Fremden noch dem Alten gegenüber den Blick eigensinnig in die enge eigene Straße beschränken, alles durchwandern, alles kennen lernen, und dann doch zurückkehren in die eigene enge Straße. - Nur die Selbständigkeit hat dauernden Wert, die im Kampfe mit fremden Gewalten errungen ist. Es ist ein Zauber bei diesem Kampfe, denn geht man siegreich aus ihm hervor, so werden die Feinde, gegen die man gekämpft, plötzlich zu Bundesgenossen.
Wir sind am Ende. Was wir versucht haben zu skizzieren, ist eine Art Grenzregulierung zwischen der Machtsphäre der gesunden Tradition und der Machtsphäre neuer Einflüsse. In einer Zeit, wo so viele Laien, Laien wenigstens in unserer eigensten Kunst, versuchen unser Schaffen theoretisch zu beeinflussen, da ist der Versuch vielleicht nicht ganz unnütz, darüber klarer zu werden, wo die Grenzen liegen zwischen dem, was für andere Kunstbethätigungen gilt und doch nicht für die unsrige, zwischen dem, was für  e i n e  Seite unsres Schaffens wichtig ist, aber die andre direkt nichts angeht.
Wir müssen uns hüten, daß das Erdreich, das auf der einen Seite unsres Gartens aufgeworfen wird, da, wo man neu anzupflanzen beginnt, nicht auf die schönen lebensvollen Kulturen fällt, die eine Neupflanzung nicht nötig haben, sondern nur eine sorgsame Weiterentwickelung; wir müssen uns hüten, daß nicht ein stürmischer Übereifer den ganzen Garten in Bausch und Bogen umpflügt.
Diese Arbeit des Grenzensteckens ist in jeder Kunst von Zeit zu Zeit nötig gewesen, und es hat immer Vieler bedurft, bis die Regulierung eine richtige war; die ganze Arbeit hat aber überhaupt nur dann praktischen Wert, wenn derjenige, welcher sie unternimmt, zuvor sagt: Gott sei Dank, daß überhaupt gepflügt und neu geackert wird! denn er darf seines Amtes nur dann walten, wenn er es nicht thut, um das neue Leben möglichst einzuschränken, sondern nur, wenn er es thut, um dem neuen Leben zu noch kräftigerem, konzentrierterem Entfalten zu verhelfen, da es seine Kraft nicht in unnützer Breite zu zersplittern braucht. Dazu aber ist unentbehrlich die richtige Kenntnis des Historischen.