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Autor: Simmel, Georg
In: Berliner Tageblatt - (1916); 436. - 2. Beiblatt
 
Wandel der Kulturformen
 
Das Marxistische Schema der wirtschaftlichen Entwicklung: daß die wirtschaftlichen Kräfte in jeder historischen Periode eine Produktionsform erzeugen, die ihnen angemessen ist, innerhalb dieser aber zu Maßen anwachsen, die in jener Form nicht mehr unterkommen, sondern sie sprengen und sich eine neue schaffen - dieses Schema gilt weit über daß wirtschaftliche Gebiet hinaus. Zwischen dem immer weiter flutenden, mit immer weiter greifender Energie sich ausdehnenden Leben und den Formen seiner historischen Aeußerung, die in starrer Gleichheit beharren, besteht unvermeidlich ein Konflikt, der die ganze Kulturgeschichte erfüllt, obgleich er natürlich streckenweise latent bleibt. In der Gegenwart aber scheint er mir für eine große Anzahl von Kulturformen in vollem Gange zu sein. Als gegen Ende des vorigen Jahrhunderts der künstlerische Naturalismus sich ausbreitete, war dies ein Zeichen, daß die von der Klassik her herrschenden Kunstformen das zur Aeußerung drängende Leben nicht mehr in sich aufnehmen konnte. Es kam die Hoffnung auf, in dem unmittelbaren, möglichst durch keine menschliche Intention hindurchgegangenen Bilde der gegebnen Wirklichkeiten dieses Leben unter bringen zu können. Allein der Naturalismus hat den entscheidenden Bedürfnissen gegenüber ebenso versagt, wie es doch wohl auch der jetzige Expressionismus tut, der das unmittelbare Gegenstandsbild durch den seelischen Vorgang und seine ebenso unmittelbare Aeußerung ersetzt. Indem sich die innere Bewegtheit in eine äußere Schöpfung fortsetzt, sozusagen ohne Rücksicht auf deren eigene Form und auf objektive, für sie gültige Normen, glaubte man dem Leben endlich die ihm ganz angemessene, durch keine ihm äußere Form gefälschte Aussprache zu gewinnen. Allein es scheint man einmal das Wesen des inneren Lebens zu sein, daß es seinen Ausruck immer nur in Formen findet, die eine Gesetzlichkeit, einen Sinn, eine Festigkeit in sich selbst haben, in einer gewissen Abgelöstheit und Selbständigkeit gegenüber der seelischen Dynamik, die sie schuf. Das schöpferische Leben erzeugt dauernd etwas, was nicht selbst wieder Leben ist, etwas, woran es sich irgendwie totläuft, etwas, was ihm einen eigenen Rechtsanspruch entgegensetzt. Es kann sich nicht aussprechen, es sei denn in Formen, die etwas für sich, unabhängig von ihm, sind und bedeuten. Dieser Widerspruch ist die eigentliche und durchgehende Tragödie der Kultur. Was dem Genius und den begnadeten Epochen gelingt, ist, daß der Schöpfung durch das von innen quellende Leben eine glücklich harmonische Form wird, die mindestens eine Zeitlang das Leben in sich bewahrt und zu keiner, ihm gleichsam feindseligen Selbständigkeit erstarrt. In den allermeisten Fällen indes ist solcher Widerspruch unvermeidlich, und wo die Aeußerung des Lebens, um ihn doch zu vermeiden, sich sozusagen in formfreier Nacktheit bieten will, kommt überhaupt nichts eigentlich Verständliches heraus, sondern ein unartikuliertes Sprechen, aber kein Aussprechen, an Stelle des freilich Widerspruchsvollen und fremd Verhärteten einer Einheitsform schließlich doch nur ein Chaos atomisierter Formstücke. Zu dieser extremen Konsequenz unserer künstlerischen Lage ist der Futurismus vorgedrungen: leidenschaftliches Sichaussprechenwollen eines Lebens, das in den überlieferten Formen nicht mehr unterkommt, neue noch nicht gefunden hat, und deshalb in der Verneinung der Form - oder in einer fast tendenziös-abstrusen - seine reine Möglichkeit finden will - ein Widerspruch gegen das Wesen des Schöpfertums, begangen, um dem anderen in ihm gelegenen Widerspruch zu entgehen. Nirgends vielleicht zeigt sich stärker als in manchen Erscheinungen des Futurismus, daß dem Leben wieder einmal die Formen die es sich zu Wohnstätten gebaut hatte, zum Gefängnis geworden sind.

Wie es in dieser Hinsicht mit der Religion steht, ist vielleicht nicht zu bestimmen, weil das Entscheidende sich hier nicht an sichtbaren Erscheinungen, sondern in der Innerlichkeit des Gemütes vollzieht. In welchem Ausmaß das Christentum noch die Form ist, in der das religiöse Leben seinen ganz zureichenden Ausdruck findet, muß deshalb dahingestellt bleiben. Feststellen läßt sich nur, daß es irgendwelche Kreise überhaupt gibt, deren religiöse Bedürfnisse sich vom Christentum abwenden. Daß sie sich allerhand exotischen Hergeholtheiten oder wunderlichen Neubildungen zuwenden, scheint keinerlei Bedeutung zu haben. Nirgends kann ich hier ein wirklich lebenskräftiges Gebilde entdecken, eines, das sich, außer in ganz individuellen Kombinationen, dem religiösem Leben als genauer Ausdruck anschmiegte. Dagegen entspricht es der allgemeinen Kulturlage, daß man vielfach auch hier gerade jede Formung dieses Leben ablehnt, und daß die überkonfessionelle Mystik die in jenen Kreisen entschieden überwiegende Anziehung übt. Denn in ihr will die religiöse Seele ihr Leben ganz unmittelbar ausleben, sei es, daß sie ohne Vermittlung eines irgendwie geformten Dogmas, sozusagen nackt und allein, vor ihren Gotte steht, sei es, daß sogar die Gottesvorstellung noch als Starrheit und Hemmung empfunden wird und die Seele nur ihre eigenstes, metaphysisches, in keinerlei Glaubensform mehr gegossenes Leben als eigentlich religiös empfindet. Analog jenen angedeuteten futuristischen Erscheinungen bezeichnet diese gänzlich gestaltlose Mystik den historischen Augenblick, in dem ein inneres Leben in die Formen seiner bisherigen Ausgestaltung nicht mehr eingehen kann und, weil es nicht imstande ist, andere, nun angemessene zu schaffen, ohne Formen überhaupt existieren zu sollen meint.

Innerhalb der philosophischen Entwicklung erscheint mir diese Krisis weitergreifend, als in der Regel zugestanden wird. Die Grundbegriffe und methodischen Funktionen, die, seit dem klassischen Griechentum ausgebildet, auf den Weltstoff angewendet werden, um aus ihm philosophische Weltbilder zu formen, haben, wie ich glaube, alles geleistet, was sie in dieser Hinsicht hergeben können. Der philosophische Trieb, dessen Ausdruck sie waren, ist an ihnen selbst zu Richtungen, Bewegtheiten, Bedürfnissen entwickelt, denen sie nicht mehr angemessen sind; wenn die Zeichen nicht trügen, beginnt der ganze philosophische Apparat zu einem Gehäuse zu werden, das vom Leben Leben entleert ist.

Dies scheint mir an einem Erscheinungstypus besonders sichtbar zu werden. Jede der großen philosophiegeschichtlichen Kategorien hat zwar die Aufgabe, die Zerspaltenheit und chaotische Fülle des Daseins in eine absolute Einheit zusammenzuführen; zugleich aber besteht oder entsteht neben jeder einzelnen eine andere, mit jener im gegenseitigen Ausschluß stehende. So treten diese Grundbegriffe paarweise auf, als je eine zur Entscheidung auffordernde Alternative, derart, daß eine Erscheinung, die sich dem einen Begriff versagt, notwendig unter den anderen fallen muß, ein Ja und Nein, das kein Drittes übrig läßt. Solches sind die Entgegengesetztheiten von Endlichkeit und Unendlichkeit der Welt, Mechanismus und Teleologie des Organismus, Freiheit und Determiniertheit des Willens, Erscheinung und Ding-an-sich, Absolutes und Relatives, Wahrheit und Irrtum, Einheit und Mehrfachheit, Wertfortschritt und Wertbeharrung in der menschheitlichen Entwicklung. Es scheint mir nun, daß ein großer Teil dieser Alternativen nicht mehr der unbedingten Entscheidung Raum gibt, die jeden gerade fraglichen Begriffsinhalt notwendig in die eine oder in die andere einstellt. Wir fühlen an dieser Begriffslogik eine so unangemessene Enge, andererseits gehen ihre Auflösungen so selten von einem schon entdeckten Dritten aus, sondern die bestehen weiter als Forderung und unausgefüllte Lücke - daß sich hiermit doch wohl eine tiefgreifende philosophische Krisis verkündet, die die Spezialprobleme in eine allgemeine, wenn auch zunächst nur negativ zu bezeichnende Tendenz sammelt. Auf einige dieser Probleme gehe ich kurz ein.

Ueber die Bestimmung des Willenslebens nach Freiheit ober Notwendigkeit kann man doch wohl alle Argument für die eine wie für die andere Entscheidung als erschöpft ansehen, ohne daß die Frage dadurch erledigt wäre. Neben der theoretisch festgehaltenen naturgesetzlichen Bestimmtheit steht ein unleugbares Gefühl, daß diese Rechnung nicht glatt aufgeht, die Opposition irgendeiner inneren Realität - die sich gerade in der letzten Zeit wieder zu theoretischer Behauptung der Freiheit verdichtet hat. Aber diese scheint mir vielfach daran zu kranken, daß sie sich mit dem Nachweise begnügt: mechanische Notwendigkeit könne für unseren Willen nicht gelten - und dies unbefangen für den Erweis der Freiheit hält. Allein sollte, angesichts der schweren Bedenken auch gegen die Freiheitsbehauptung, diese Alternative wirklich unbedingt sein? Sollte der Wille nicht in einer Form ablaufen können, die jenseits dieses Entweder - Oder steht, und für die wir freilich seinen theoretischen Ausdruck haben? Die große Kantische Lösung erscheint doch mehr als eine gedankliche Möglichkeit, wie als der Ausdruck des wirklichen inneren Verhaltens, von dem das Problem überhaupt ausgeht. Indem Kant Notwendigkeit und Freiheit an zwei verschiedene Daseinsschichten verteilt - die Notwendigkeit an die erfahrbare Erscheinung, die Freiheit an das unerkennbare An-Sich unserer Existenz -, beseitigt er zwar ihre Konkurrenz um unser Subjekt, aber von der dazu vollbrachten Zerschneidung dieses Subjekts weiß es selbst gerade an dem Punkte nichts an dem daß Problem ansteigt. Im Grunde genommen ist durch die Zweiheit, Ich-Erscheinung und Ich-an-sich, mit der jeder der beiden Ansprüche gesättigt werden soll, die Frage mehr umgangen als gelöst. Denn das Leben, das sich weder mit der Determiniertheit noch mit der Freiheit wirklich ausgedrückt findet, ist ein einheitliches, das seine Probleme und Konflikte, die ihm als einheitlichem kommen, gerade nicht durch itio in partes lösen kann. Für das logisch-begrifflich Interesse Kants waren viel mehr die Begriffe Freiheit und Notwendigkeit der primäre Problemstoff, als das Leben, das sie aus sich gebiert, und darum hat er ohne Bedenken dies Leben gezweiteilt, um den Widerstreit der Begriffe als solcher zu schlichten. Mir aber scheint, daß deren porenlose Aneinandergefugtheit brüchig geworden ist und aus der Bruchstelle eine Forderung oder Ahnung - mehr ist es noch nicht - aufsteigt: die Wesensform unseres Willens sei etwas jenseits von Notwendigkeit ebenso wie von Freiheit, ein Drittes, das sich dieser Alternative nicht ergebe.

Ebenso unzulänglich scheint mir der Gegensatz zwischen Einheit und Mehrfachheit, wo er das Wesen des beseelten Organismus zu deuten unternimmt. Der Dualismus von Körper und Seele, für dessen gröbste wie verfeinertste Formen es schließlich immer zwei wesensverschiedene "Substanzen" sind, darf wohl als überwunden gelten. Die Spekulationen freilich, die die "Einheit" beider aus den letzten Gründen des Tiefsinns heraufholen wollen, haben keinem irgendwie positivem Bild Ueberzeugungskraft gewonnen, sondern nur der Tatsache, daß jene Zweiheit unerträglich ist. Man wird vielleicht sagen können, daß es  e i n  Leben ist, als dessen Pulsschläge sich die körperliche und die seelische Existenz erzeugt; allein daß dies Leben im innerlichen Sinne Einheit ist, ist dadurch so wenig präjudiziert, wie der Begriff der  e i n e n  Welt darüber entscheidet, ob die Welt monistisch oder pluralistisch gedacht werden muß. Es gibt eigentlich nur zwei letzte Lösungsmöglichkeiten, wenn zwei einander streng ausschließende Begriffe die Bestimmung irgendeines Gegenstandes in Anspruch nehmen. Die objektive Lösung entdeckt an dem Gegenstand selbst eine Doppelheit der Existenz, der Seiten, der Bedeutung, so daß jeder der beiden gegensätzlichen Begriffe störungslose Anwendung findet. Die subjektive läßt den Gegenstand in voller Einheit bestehen und erklärt die beiden, ihn beanspruchenden Begriffe für verschiedene Gesichtspunkte, unter die die Betrachtung ihn einstellen kann. Beide Verfahrungsweisen heben die Konkurrenz der Begriffe auf, aber ersichtlich wird mit ihnen in manchen Fällen dem Problem mehr ausgewichen, als eine wirkliche Lösung gegeben; und zu ihnen scheint mir die Frage zu gehören, ob das körperlich-seelische Phänomen eine Einheit oder eine Zweiheit darstelle.

Die Schwierigkeit liegt darin, daß die hervorgehobene Ablehnung der Zweiheit zwar logisch nur die Einheit übrig zu lassen scheint, daß aber auch damit dem tatsächlichen Bilde nicht entsprochen wird. Denn wir gewinnen nichts Rechtes, wenn wir den Menschen als Einheit des Körperlichen und des Seelischen verkünden. Dem bildenden Künstler mag es gelingen, die beseelte Menschengestalt als schlechthin einheitliche Vision hinzustellen: für das denkende Vorstellen aber liegen schließlich Körperliches und Seelisches so weit auseinander, daß der Einheitsbegriff für sie ein bloßes Wort bleibt, ein Schema, das um beide herumgelegt wird, ohne aber ihre Fremdheit innerlich zu überwinden. Ich möchte deshalb glauben, daß weder Zweiheit noch Einheit ihr Verhältnis angemessen ausdrückt, daß wir für dieses Verhältnis also überhaupt noch keine begriffliche Formulierung besitzen. Und dies ist deshalb so bemerkenswert, weil Einheit und Dualistik logisch so aneinander stoßen, daß jedes Verhältnis von Elementen notwendig der einen anheimfallen muß, wenn die andere von ihm verneint wird. Trotzdem ist auch diese Alternative für uns jetzt brüchig, sie hat sozusagen ihre Dienste getan, und wir verlangen für das Wesen des Lebens, insoweit es zugleich körperlich und seelisch ist, einen Formausdruck, von dem wir aber bisher nichts sagen können, als daß er ein Drittes jenseits jener scheinbar und bisher zwingenden Alternative sein wird.

Die hier gezogenen Grenzen beschränken mich auf diese knappen Hindeutungen als Symbole der allgemein geistigen Lage. Nirgends schärfer als durch das Versagen der bisher logisch geltenden Begriffsalternativen und durch die Forderung eines noch unformulierbaren Dritten wird klar, daß unsere Mittel, die Lebensinhalte durch geistigen Ausdruck zu bewältigen, nicht mehr ausreichen, daß das, was wir aus drücken wollen, nicht mehr in sie hineingeht, sondern sie sprengt und nach neuen Formen sucht, die für jetzt nur als Ahnung oder ungedeutete Tatsächlichkeit, als Verlangen oder ungefüge Tastversuche ihre heimliche Gegenwart ankündigen.