Ein Klick auf das Druckersymbol startet den Druckvorgang des Dokuments Drucken
 
Autor: Specht, Bruno
In: Deutsche Bauzeitung - 29 (1895); 81. - S. 501 - 504
 
Raumkunst
 
Die Frage nach dem Wesen der Baukunst scheint der spekulativen Aesthetik viel Verlegenheit zu bereiten. In der Noth werden entweder, und zwar oft mit erstaunlicher Willkür, einzelne dem zufälligen subjektiven Empfinden besonders zusagende Merkmale zur Erklärung herangezogen und dagegen andere, ebenso offenkundige, aber genau das Gegentheil berührende einfach ignorirt; oder es werden weitschweifige Erörterungen philosophischen oder historischen Inhalts ins Feld geführt, Betrachtungen allgemeinster Natur, mit denen sich alles und nichts erklären lässt, die den Gegenstand mehr verhüllen als beleuchten und den ohnedies schwer zu findenden Pfad nach der geheimen Werkstatt der menschlichen Phantasie, wo allein es möglich ist, die Entstehung eines künstlerischen Gedankens zu erlauschen, recht oft versperren.

Der hauptsächlichste Grund der herrschenden Unklarheit mag darin liegen, dass man sich nur zu leicht verleiten lässt, das  g a n z e  Gebiet des Bauwesens, also  a l l e s,  was man nach dem herrschenden Sprachgebrauch unter "bauen" versteht, auch ästhetisch unter einen Hut bringen zu wollen. Es wird übersehen, dass dieser Sprachgebrauch mit dem eigentlichen Wesen der durch "bauen" entstandenen Menschenwerke nicht das geringste zu thun hat, genau so wie es bei dem ja gelegentlich auch zu komischen Irrthümern verleitenden Ausdruck "malen" der Fall ist. Weil wir eine Kathedrale ein "Bauwerk" nennen und weil wir eine Brücke ebenfalls ein "Bauwerk" nennen, so glaubt man meistens, auch die ästhetische Wirkung beider auf unsere Phantasie auf die gleiche Ursache zurückführen zu können. Unterstützt wird dieser Glaube allerdings durch die Wahrnehmung, dass gewisse formale Forderungen Allgemeingiltigkeit besitzen auf allen Gebieten des Bauwesens. So wird kein Verständiger leugnen wollen, dass die sichtbare Darstellung der Kraft- und Lastwirkungen in der gesammten Baukunst, auch in der Ingenieurkunst, die Grundlage bildet für einen grossen Theil der künstlerischen Formensprache. Aber es darf doch nicht behauptet werden, dass damit der  W e s e n s i n h a l t  der Baukunst, der psychische Ursprung des architektonischen Schaffens und Geniessens ergründet sei.

Dem Ziele am nächsten werden demnach immer jene Untersuchungen kommen, welche, sich von dem Zwange des eben erwähnten Sprachgebrauchs frei machend, die Betonung nicht auf das "bauen", also auf die äussere Herstellungsart legen, sondern auf den inneren Zweck, auf die psychische Veranlassung - jene Untersuchungen also, die das Wesen der Baukunst unmittelbar  a u s  d e r  B e z i e h u n g  d e s  M e n s c h e n  z u m  B a u w e r k  abzuleiten suchen.

Von dieser Grundlage geht Prof. Schmarsow in Leipzig in seiner "das Wesen der architektonischen Schöpfung" behandelnden, vor Jahresfrist gehaltenen Antrittsvorlesung aus und gelangt dabei zu Ergebnissen, die, man mag über einzelnes denken wie man will, im grossen und ganzen hoch erhaben stehen über den meisten landläufigen Erklärungsversuchen.

Mit Recht tadelt Schmarsow, dass bei den Untersuchungen über diesen Gegenstand oft "im eifrigsten Bemühen um Einzelformen das geistige Band verloren gegangen zu sein scheine", sodass man schliesslich gar auf den Irrthum verfallen sei, "als sei die Architektur selbst die ideale Darstellung der Begriffe Kraft und Last, während diese Aufgaben doch erst der späteren Durchführung des Organismus angehören können". Dieser grundsätzliche Irrthum, diese Verwechslung von Mittel und Zweck, von Struktur und Inhalt, sei daraus entstanden, dass man "mit Vorliebe nur beim Aufbau und beim Aussenbau verweile, die  R a u m e r f i n d u n g  aber völlig ausser Acht lasse". Demgegenüber fordert Schmarsow "die ganze technische Ausführung wenigstens für einen Augenblick von der Vorstellung des architektonischen Kunstwerkes abzustreifen", um dasselbe "rein, der gestellten Frage zugänglich vor das geistige Auge zu rücken". Dann sagt er: Die Fähigkeit zur Vorstellung des dreidimensionalen Raumes, - "der uns umgiebt, wo wir auch seien, den wir stets um uns aufrichten und als nothwendig vorstellen, nothwendiger als die Form unseres Leibes" - ist bei dem Menschen infolge der fortwährenden Erfahrungen seines Gesichtssinnes in hohem Grade ausgebildet. Die Phantasie bemächtigt sich dieses Keimes und drängt das uns innewohnende Raum g e f ü h l  zur Raum g e s t a l t u n g.  So entsteht das architektonische Raumgebilde als eine "Ausstrahlung des gegenwärtigen Menschen", als eine "Projektion aus dem Innern des Subjektes" und zugleich als eine  "U m s c h l i e s s u n g"  des Subjektes. Während sonst der Mensch immer  a u s s e r h a l b  des dem Kunstwerk eigenen Dreiaxensystems sich befindet, tritt in der Baukunst, und zwar blos in der Baukunst, der besonders Fall ein, dass das Axensystem des Kunstwerkes mit dem des Menschen zusammenfällt,  d i e s e r  s e l b s t  a l s o  z u m  M i t t e l p u n k t  s e i n e r  e i g e n e n  S c h ö p f u n g  wird. So errichtet die Baukunst ein von der Aussenwelt sich absonderndes, einen selbständigen Mikrokosmos bildendes und dabei dem gesetzmässigen Wesen des Menschen Genüge leistendes Regnum hominis. -

Wer aus Sempers Schriften weiss, dass schon dieser wiederholt ähnlichen Gedanken, wenn auch in anderer Form und in anderem Zusammenhang Ausdruck verliehen hat, den muss allerdings die einseitige und abfällige Kritik, die Schmarsow dem Geisteswerke gerade dieses denkenden Baumeisters angedeihen lässt, befremden. Aber wie dem auch sein mag - jeder Architekt, dem seine Kunst mehr ist als eine blosse Illustrirung von Kraft und Last, wird es mit Freude begrüssen, dass nunmehr auch vonseiten der wissenschaftlichen Aesthetik der Versuch unternommen wird, das Wesen der Baukunst tiefer zu erfassen, als es bisher - trotz - hochtönender Worte - gemeiniglich der Fall war.

Dem Grundgedanken also, dass die  R a u m s c h ö p f u n g,  die  R a u m u m s c h l i e s s u n g  ästhetisch als das Wesentliche in der Baukunst und der  M e n s c h  als der Mittel- und Ausgangspunkt aller künstlerischen Beziehungen eines architektonischen Raumes zu betrachten sei, stimmen wir nicht blos freudig bei, wir glauben sogar, dass eine solche Anschauung, wenn sie allgemeine Zustimmung fände, am sichersten manche irreführenden und die gesunde Entwicklung der modernen Baukunst hemmenden Vorurtheile beseitigen könnte. Aber hierzu wäre nothwendig, dass diese Anschauung sich als etwas Einfaches und Natürliches darstellte, als etwas, das "dem gesunden Menschenverstande, der sich nur etwas auf sich selbst zu besinnen vermag", wie selbstverständlich erschiene. Und in dieser Hinsicht, meinen wir, lässt der Gedankengang der Schmarsow'schen Untersuchung doch manches zu wünschen übrig. Was namentlich einer bedingungslosen Zustimmung imwege steht, ist die weitläufige Erörterung des dreidimensionalen Axensystems, dessen Eigenschaften Schmarsow eine geradezu ausschlaggebende Bedeutung beizumessen scheint. Solche rein mathematische Hilfsbegriffe bilden ja allerdings und namentlich in der Baukunst, nützliche Anhaltspunkte, wenn es sich für irgend welchen anderen Zweck darum handelt, die Gesammt-Erscheinung eines Kunstwerkes in seine Einzeltheile zu zerlegen. Aber zur  W e s e n s-Erklärung des Schönen, zur Lösung der Frage nach dem  W a r u m  des ästhetischen Wohlgefallens sind sie völlig unbrauchbar. Es kann nicht oft genug und nicht entschieden genug betont werden, dass hier einzig und allein der  u n m i t t e l b a r e  sinnliche Eindruck entscheidet, also das, was man wirklich sieht und was das Auge überdies oft ganz anders beurtheilt, als der reflektirende Verstand. Das Axensystem aber sieht weder der naive Beschauer, noch bildet es bei dem naiv schaffenden Baukünstler den Ausgangspunkt seiner schöpferischen Thätigkeit. Beide schaffen und sehen nichts anderes als die  R a u m g r e n z e.  Blos diese allein darf also als Gegebenes zugrunde gelegt werden, wenn der weitere Gedankengang unmittelbar überzeugen soll.

Gehen wir mit dieser Voraussetzung an die Aufgabe heran, so wird das nächste sein, die verschiedenen Grundrissformen, die architektonischen Raumgrenzen, welche als "Umschliessungen des Subjektes", im Verlauf der Kulturgeschichte Verwendung gefunden haben, einer vergleichenden Musterung zu unterziehen. Dabei zeigt sich sofort, dass sie alle trotz grosser Verschiedenheit doch ein Gemeinsames haben: es sind immer blos solche Formen, die wir als  R a h m e n  bezeichnen, Quadrate, Kreise, Rechtecke, Ellipsen, reguläre Polygone, also blos Formen von zentralem und dabei möglichst einfachem, auf den ersten Blick verständlichem geometrischem Bau. Auch wo Kombinationen dieser Formen auftreten, wird immer ein leicht verständlicher Bezug auf die Mitte gewahrt oder wenigstens bei entgegenstehenden Hindernissen möglichst erstrebt. Bei Normalanlagen monumentalen Charakters ist dies überall ohne weiteres ersichtlich. Aber auch in schlichten Wohnräumen mit oft sehr unregelmässig und launenhaft angelegten Vorsprüngen, Einbauten und Abschrägungen und mit völlig unsymmetrischer Stellung der Fenster, Thüren und Möbel, streben wir doch, gleichsam einem unwiderstehlichen inneren Triebe folgend, immer danach, wenigstens an jenem Theil des Raumes, der stets für das Auge unverdeckt bleibt, an der  D e c k e,  die einfache, gesetzmässige Form des Rahmens deutlich zur Erscheinung zu bringen. Selbst der stumpfsinnigste Stubenmaler wird seine "Ablinirungen" an der Decke nicht gleichmässig um alle durch die Umfassungswände gebildeten Vor- und Rücksprünge herumführen, sondern ganz instinktiv das Gesetz der zentralen Rahmenbildung zu erfüllen suchen, theils durch Abtrennung und gesonderte Umrahmung der ausspringenden, theils durch Ueberschneidung der einspringenden Theile.

Unser Auge verlangt also in einem architektonischen Raume den  s i c h t b a r e n  A u s d r u c k  d e r  I d e e  d e r  U m r a h m u n g.  Wenn wir dies als das Wesentliche bezeichnen, so wird man vielleicht einwenden, dass ja das Endergebniss genau das gleiche sei, wie das der Schmarsow'schen Untersuchung. Aber das allein schon wäre ein Gewinn, dass wir die Beziehung des Bauwerkes zum Subjekt statt durch den abstrakten Begriff des dreidimensionalen Axensystems nunmehr unmittelbar durch die konkrete Anschauungsform des Rahmens herzustellen vermögen. Und vor allem: wenn wir das Wohlgefallen an der sichtbaren Darstellung der Idee des Umrahmtseins - die sich ja wesentlich unterscheidet von der blossen Idee des Abgeschlossenseins - als die eigentliche Quelle architektonischen Schaffens und Geniessens bezeichnen dürfen, so ist uns damit der Schlüssel in die Hand gegeben zur Erklärung jener ganzen Reihe von Empfindungen, welche die Werke der raumbildenden Baukunst - und zwar alle, auch diejenigen, in denen von Kraft- und Last-Symbolisirung nicht die geringste Spur zu finden ist - in uns erwecken, vom Behaglichen des Wohnzimmers bis zum Erhabenen des Gotteshauses. Und ferner leuchtet nun auch ein, warum, wie wir sehen werden,  d i e  b e s o n d e r e n  B i l d u n g s g e s e t z e  d e s  R a h m e n s  s i c h  u n m i t t e l b a r  a l s  i d e n t i s c h  e r w e i s e n  m i t  d e n  G r u n d g e s e t z e n  d e r  a r c h i t e k t o n i s c h e n  R a u m k o m p o s i t i o n.  Schmarsow sieht die Bedingungen für die besondere Ausgestaltung des architektonischen Kunstwerks bloss ganz allgemein enthalten in dem "Grundgesetz des Menschengeistes, kraft dessen er auch in der Aussenwelt Ordnung sieht und Ordnung will", indem überall in seinem Thun deutlich sei, "dass die Klarheit des Gesetzmässigen, die Uebersichtlichkeit der wiederkehrenden Theile, die Regelmässigkeit und Reinheit ihm die eigentliche Befriedigung gewährt". Mit dem so gegebenen  a l l g e m e i n e n  Begriff der Ordnung ist aber ästhetisch nicht viel anzufangen. Denn einerseits ist derselbe keineswegs ausschliessliches Eigenthum der Baukunst und andererseits giebt es ja bekanntlich eine Menge Aeusserungen des menschlichen Ordnungssinnes, die künstlerisch geradezu unerträglich sind. Der Begriff der Ordnung muss vielmehr spezialisirt werden, wenn damit für die Erklärung des Wesens der Baukunst etwas gewonnen werden soll. Es muss gezeigt werden,  d a s s  e s  e i n e  g a n z  b e s t i m m t e  A r t  v o n  O r d n u n g  g i e b t,  d i e  i n  d e r  B a u k u n s t  z u r  T r ä g e r i n  e i n e r  g a n z  b e s t i m m t e n  I d e e  w i r d.  Diese besondere Art künstlerischer Ordnung ist eben in dem Bildungsgesetz des Rahmens enthalten. Vergegenwärtigen wir ans kurz seine Entstehung und Bedeutung.

Ursprünglich waren es bloss Rücksichten der Zweckmässigkeit, des Schutzes oder der konstruktiven Festigkeit, denen die Verbindung von Konstruktions-Materialien zu einem geschlossenen Linienzug, zu einem Rahmen, entsprang: Umwallung, Umzäunung, Ummauerung, konstruktive Rahmenbildungen aus Holz, Stein oder Metall, Maueröffnungen, Dachgespärre, Rahmenwerk des Hausgeräthes u. dergl. m. Aber immer, sobald der Mensch für irgend ein Bedürfniss seines Daseins etwas gestaltete, "sobald er anfing Blätter zusammen zu heften, Geflechte zu bilden, Schnüre zu drehen, Netze zu stricken, Geschirre aus Thon zu formen, da erhielt er als zuerst kaum beachtetes Nebengeschenk zum praktischen Nutzen auch das Wohlgefallen an jenen leichtest fasslichen Grundgesetzen des Schönen; er sah es werden unter seinen Händen; die Gesetzmässigkeit als Erforderniss zweckmässiger Arbeit war auch Gesetzmässigkeit als Quelle des Schönen. Er ging einem künftigen Königreiche seines Geistes entgegen, als er ausging die drei ersten Nothhelfer seines armen Daseins, Nahrung, Kleidung und Obdach zu suchen" (Göller). Eine der auffallendsten Wahrnehmungen nun, die sich ihm schon bei seinem ersten und einfachsten handwerklichen Ausführungen ganz unwillkürlich aufdrängen musste, war die, dass jeder Gegenstand sofort eine ungewöhnliche Bedeutung zu erhalten scheint, sobald derselbe sich, sei es zufällig oder absichtlich, innerhalb einer Umrahmung befindet. Am zwingendsten ist dieser Eindruck bekanntlich bei jenen einfachsten zentralen Rahmenformen, die wir oben schon genannt haben, beim Quadrat, Kreis und den regelmässigen Polygonen, dann auch beim Rechteck und der Ellipse, sofern sie sich nicht zu weit von der quadratischen oder Kreisform, also von der rein zentralen Form, entfernen. Auf Schritt und Tritt haben wir Gelegenheit, uns hiervon zu überzeugen. Es bedarf deshalb durchaus keiner weit hergeholten Deutungsversuche, um die zurgenüge bekannte Thatsache zu erklären, dass zu allen Zeiten und bei allen Völkern gerade diese einfachsten zentralen Rahmenformen als leicht verständliche Mittel benutzt würden, das Hervorragende, Bedeutende, Mächtige, Heilige äusserlich zu kennzeichnen: Steinkreise, heilige Bezirke, Vorhöfe bei Tempeln und Palästen usw., und im kleinen: Kranz, Krone, Ring, Heiligenschein u. dergl. m.

Schon jeder in sich zusammenhängende, im übrigen beliebig gestaltete Linienzug verleiht dem Eingerahmten eine gewisse Bedeutung dadurch, dass er dasselbe von der Umgebung abschliesst, gleichsam aus der Umgebung heraushebt, als etwas von ihr Verschiedenes kennzeichnet. Hierzu kommt aber bei den eben genannten zentralen Rahmenformen noch die werthvolle Eigenschaft, dass sie vermöge ihres geometrischen Baues das Auge geradezu zwingen, nach der Mitte hinzusehen und, falls sich dort ein Gegenstand befindet, bei der Betrachtung desselben länger zu verweilen. Und weiter kommt hinzu, dass diese trennende und Bedeutung verleihende Kraft der Umrahmung durch sehr einfache Kunstmittel beliebig verstärkt werden kann. Einmal durch  V e r m e h r u n g  d e r  r a h m e n b i l d e n d e n  L i n i e n.  Diese kann stattfinden in der Fläche durch Ziehen paralleler Linien, wie wir es an unseren einfachen Zimmerdecken gewohnt sind; sie kann aber auch plastisch bewirkt werden durch Profilirungen und durch die an denselben sich bildenden natürlichen Licht- und Schattenlinien: Bilder-, Fenster- und Thürrahmen, untere und obere Begrenzungen der umrahmenden Wandflächen im Innern und am Aeussern eines Gebäudes, also Sockel-, Gurt- und Hauptgesimse. (Selbstverständlich haben die Profile und Gesimse in den meisten Fällen auch noch andere Aufgaben zu erfüllen, aber der eben genannte Zweck erklärt Vieles, was sonst nicht erklärt werden kann). Das andere Mittel, die Wirkung eines Rahmens zu erhöhen, besteht im  u n r h y t h m i s c h e n  S c h m u c k,  d. h. in der Verwendung ornamentaler oder struktiver Elemente, die nach dem  G e s e t z  e i n f a c h e r  o d e r  z u s a m m e n g e s e t z t e r  R e i h u n g  den Linienzug des Rahmens begleiten. Eurhythmie ist ursprünglich nichts anderes als  A u s s t r a h l u n g  g l e i c h e r  F o r m e n e l e m e n t e  v o n  e i n e r  M i t t e,  wie sie am vollendetsten an den Blumen- und Sternformen sichtbar wird. Bleibt nun die Mitte frei und blos die äussere geschlossene Reihe der eurhythmisch geordneten Elemente übrig, so erhält alles, was in die Mitte tritt, eine erhöhte Bedeutung dadurch,  d a s s  e s  s c h e i n b a r  s e l b s t  z u  e i n e m  s t r a h l e n d e n  M i t t e l p u n k t e  w i r d.  Daher die uralte symbolische Bedeutung der schon erwähnten Schmuckformen des Kranzes, der Krone, der Kette usw., daher auch der eurhythmische Schmuck, mit dem wir als mit etwas ganz Selbstverständlichem unsere Rahmen an Fenstern, Thüren, Bildern und Spiegeln zu bereichern pflegen; und daher auch schliesslich in der Baukunst überhaupt das dominirende Gesetz der eurhythmischen Ordnung, wie es am Säulenkranz des antiken Tempels, am Pfeilerkranz der mittelalterlichen Kathedrale, am Arkaden- und Fensterkranz der italienischen Paläste in reinster und mächtigster Form zur Erscheinung kommt, in zierlicherer Weise dann an den Konsolen-, Zahnschnitt- und Blattreihen der Gesimse wiederkehrt und noch leise anklingt in den Flächenmustern der Werkstein- und Backsteinverbände sowie der Wandbekleidungen unserer Innenräume.

Es würde an dieser Stelle zu weit führen, das Gesetz der zentralen Rahmenbildung und der eurhythmischen Ordnung über die angedeuteten Grundzüge hinaus bis in alle Einzelheiten seiner Anwendung auf dem Gebiete der architektonischen Raum-Komposition zu verfolgen. Thatsächlich kann man beobachten, wie es sich selbst bei den scheinbar unregelmässigsten Lösungen allen entgegenstehenden Hindernissen zum Trotz "gleichsam spiralisch" hindurchwindet, und umgekehrt wird dem aufmerksamen Beobachter nicht entgehen, dass, wo trotz reichen Aufwandes an Kunstmitteln eine befriedigende Raumwirkung nicht zustande kommt, dies immer auf die zu geringe Betonung der eurhythmisch zu umrahmenden Motive zurückzuführen ist. So lassen die modernen zentralen Kirchenbauten, um nur ein Beispiel herauszugreifen, trotz ihrer "grossen Motive", trotz der hierdurch erzielten energischen Betonung der "Axen" und trotz ihres Reichtums formvollendeter "die Idee des Tragens versinnlichender" Einzeltheile doch leider nur zu oft gerade das vermissen, was vor allem Noth thut, die geschlossene Raumwirkung. Wie viel besser haben diese die Baumeister der byzantinischen und muhamedanischen Zentralbauten zu erzielen verstanden, lediglich durch das einfache Mittel der eurhythmischen Reihung kleiner Säulen- und Fensterstellungen, die wie Perlenschnüre die grossen Pfeiler-, Bogen- und Gewölbemassen umschlingen und hierdurch die Idee der Umrahmung eindringlich zur Erscheinung bringen.

Mögen wir ein schlichtes Wohnzimmer oder eine Kathedrale oder einen Festsaal betreten, immer ist der ästhetische Genuss zunächst und wesentlich dadurch bedingt, dass wir uns  e i n g er a h m t  fühlen, herausgehoben aus der umgebenden Aussenwelt, emporgehoben zu einer höheren Bedeutung, gleichsam in eine andere Welt versetzt, in der wir zugleich Schöpfer und Herrscher sind. - Und vertauschen wir den Standpunkt innerhalb des architektonischen Rahmes mit dem ausserhalb desselben, so erscheinen uns die Werke der Baukunst als köstliche Gefässe, bestimmt, alles Menschliche zu umschliessen, Freud und Leid des Alltagstreibens, alles Schaffen und Geniessen im privaten und öffentlichen Leben, alles Sehnen nach dem Göttlichen. Mit gutem Grunde verweist daher Semper immer und immer wieder auf den uralten und innigen Zusammenhang zwischen Baukunst und Keramik. Wie bei den Gefässen die aussen sichtbaren Formen des Umschliessens, des Umrahmens, des Zusammenhaltens, des Umfassens auf den unsichtbaren  I n h a l t,  als auf das Wesentliche hinweisen, so kennzeichnen auch in der Aussenarchitektur die durch die Umfassungswände und durch die Gesimse gebildeten Rahmenformen - in besonderen Fällen sinnvoll bereichert durch eurhythmisch geordnete Säulen-, Pfeiler- und Fensterstellungen - einen Inhalt, der sich bewusst von der Aussenwelt abzuschliessen, sich als ein Selbständiges, Bedeutendes von ihr zu unterscheiden sucht. So wird die raumbildende Baukunst zugleich zur Denkmalkunst. Die sichtbare Darstellung der Idee der Umrahmung befähigt sie, auch nach aussen hin ausdrucksvoll die Stätten zu kennzeichnen, die der menschliche Geist der Natur abgerungen hat. Indem sie mit Hilfe leicht verständlicher Symbole eine sinnlich wahrnehmbare Grenze zieht zwischen beiden Reichen der Natur und des Menschengeistes, befriedigt sie das dem letzteren innewohnende Sehnen nach Isolirung und lässt zugleich seine bevorzugte Stellung innerhalb des Kosmos ahnen.

Nienburg a. d. Weser - Bruno Specht