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Autor: Taut, Bruno
In: 1. Aufl. - Jena: verlegt bei Eugen Diederichs (1919); mit 72 Illustrationen
 
Die Stadtkrone
 
MIT BEITRÄGEN VON PAUL SCHEERBART, ERICH BARON, ADOLF BEHNE

DEM FRIEDFERTIGEN



DAS NEUE LEBEN
ARCHITEKTONISCHE APOKALYPSE
VON PAUL SCHEERBART

DAS NEUE LEBEN
Architektonische Apokalypse

Langsam dreht sich der alte Erdball um die alte Sonne, die nicht mehr  glüht und strahlt wie einst.
Dunkelviolett scheint die alte Sonne, so daß es nie mehr Tag wird - auf  Erden niemals mehr.
Stille Nacht ist überall.
Es ist sehr sehr still.
Der Himmel ist schwarz wie schwarzer Sammet.
Die Sterne aber funkeln so hell wie sonst - wohl noch heller, da sie größer sind.
Goldene Sterne sind's!
Der Erdball ist ganz weiß - ganz mit weißem Schnee umhüllt - mit leuchtendem Schnee!
Sternklare Winternacht auf den Höhen und im Tal!
Die tote Erde dreht sich immer langsamer.
Doch im sammetschwarzen Himmel wird's lebendig.
Die großen Erzengel kommen.
Mit riesig großen weißen Flügeln flattern sie eiligst herbei. Es rauscht durch den Himmel.
Es wird so laut, so voll Trubel die Luft, als wenn viele Millionen großer Völkerscharen zu neuem Leben erwachen.
Aber es kommen nur die Erzengel. Es sind ihrer zwölf. Sie sind so schrecklich groß. Sechs umflattern die eine Hälfte der Erdkugel und sechs die andre,  so daß man von beiden kaum mehr was sieht.
Die Engel beugen langsam, Flügel schlagend, die Köpfe herunter. Ihre Füße schweben hoch über den beiden Polen der Erde. Die zwölf Köpfe bilden bald mit ihren flatternden blonden Locken um des Erdballs Mitte einen prächtigen Haarring.
Zunächst nimmt jeder Erzengel den großen Dom, den er im Arme trug, in beide Hände und setzt ihn auf ein hohes Schneegebirge. Danach ziehen alle Zwölf ihre dicken Pelzhandschuhe aus und greifen geschwinde mit ihren zarten Fingern in ihren weltmeergroßen Rucksack.
Aus ihrem Rucksack holen die Engel viele hundert neue, blitzblank glänzende Paläste hervor. Und mit den Palästen schmücken sie den großen  Schneeball, der sich Erde nennt, daß er bunt wird und mächtig funkelt; die Augen der Erzengel leuchten dabei, als wenn sie für artige Kinder Spielzeug auskramten.
Nachdem die Rucksäcke geleert sind, flattern die Engel wieder empor und schweben munter plaudernd in mäßiger Entfernung auf und ab in schönen großen Kreisbogen.
Die Erde sieht bunt aus, als wäre sie mit den Flügeln der kostbarsten Schmetterlinge, erfrorenen Paradiesvögeln und gleißenden Diamanten bestreut.
Und die Paläste werden hell. Millionen Lampen werden überall drinnen angesteckt; durch die bunten Glasfenster der hohen Dome und all die vielen Schlösser strömt gedämpftes Licht tausendfarbig in die violette Schneenacht hinaus.
Die violette Sonne wird noch dunkler. Die fernen goldenen Sterne verlieren auch viel von ihrem Glanz. Der sammetschwarze Himmel rahmt die sanft aufglühende Erde ringsum prächtig ein.
Und die großen Glocken der Dome läuten alle.
Ein Sehnsuchtsschauer durchrieselt die weiten Schneegefilde; durch die nagende Schwermut des kalten Erdballs ringt sich ein neues Leben durch - das ewige Leben!
Die Toten stehen auf.
Überall hebt sich die Schneedecke. Und all die Menschen, die einst auf der Erde lebten und starben, steigen aus ihren Gräbern heraus, schütteln sich den Schnee ab und sehen sich erstaunt an. Als sie merken, daß sie auferstanden sind, fallen sie sich gegenseitig um den Hals und sind sehr gerührt. Ja! Ja! Wer hätte nicht gern ein neues Leben begonnen!
Die Erde dreht sich schneller.
Doch dieser große ernste Augenblick ähnt einem großen drolligen Maskenfest, denn alle Menschen haben Kleider an, die denen gleichen, welche sie zu ihren Lebzeiten am häufigsten trugen. Die Bettler gehen neben den Königen, die Priester neben den Kriegern, die Handwerker neben den Gelehrten - in all den vielen Trachten all der vielen Zeiten. Vom Fellschurz bis zum gebügelten Oberhemd ist alles da.
Die Auferstandenen steigen die goldenen Stufen zu den Schlössern und Domen empor. Es wimmelt man so!
Alle Sprachen der Erde wirbeln durcheinander, daß es mächtig durch den ganzen Himmel brummt und die Glocken nicht mehr zu hören sind.
Oben aber vor den Türen der Schlösser und Dome stehen viele tausend Engel, die nicht größer als die Menschen sind, in zarten hellgrünen, hellblauen und hellroten Gewändern und warten.
Feierliche Begrüßung! Händedrücken und Wangengestreichel! Kopfnicken und Armgewackel! Viel Gelächter! Und viel lächelnde Behaglichkeit!
Die großen Burgen, die aus reinen Riesendiamanten bestehen, sprühen ihren Farbenbrand so festlich in die Dämmerung. Und die andern Edelsteine der weiten Säulenhallen glänzen mit den reinen Riesendiamanten um die Wette. Und die kostbaren Steingewächse, die aus den Domen aufstreben, sind auch so wunderbar. Die Smaragdkuppeln einzelner Schlösser werden von innen erleuchtet und werfen in den schwarzen Sammethimmel weite grüne Lichtkegel, die sich langsam bewegen. Die Saphirtürme ragen höher empor als die andern Türme. Und das stille Licht, das überall durch die tausendfarbigen Glasfenster hinausströmt, das schimmert so heilig-bunt und verheißungsvoll. Ungeheure Palastgebirge sind mit riesigen Opalbogen umgittert. Wenn das Auge von Pol zu Pol schweift, so wird es verzückt bei all der Glanzglut. Der Bauzauber ist so gewaltig, daß man sich verwundert fragt, wie es kommt, daß die auferstandenen Menschen nicht, einfach toll werden. Aber - so entsetzlich es auch ist, so wahr ist es: die meisten Menschen denken bloß an das gute Abendbrot, das ihnen nach ihrer Meinung  in den Domen und Palästen von eifrigen Dienern vorgesetzt werden wird. Wie verblüfft sind da die Auferstandenen, als sie im Innern all der vielen Glanzburgen gar kein Abendbrot finden! Männlein und Weiblein sehen sich verwundert um, entdecken aber nichts. Draußen haben sie schon schmerzlich den gänzlichen Mangel an Bäumen, Früchten und Gemüsen bemerkt - und jetzt ist auch drinnen alles nur unfruchtbarer Stein! Marmor und Rubine, Gold und Silber, bunte Lampen und bunte Wände, entzückend gegliederte Kuppeln, ein bißchen Sammet und Seide, mächtige Granitsäulen, glitzernde Glasgrotten und ähnliche Sachen gibt's ja in unüberschaubarer Menge – doch von Hammelbraten, Schneckensalat und Feuerwein keine Spur!
»Engel, wo bleibt das Abendbrot?«
Also ruft demnach baldigst ziemlich einstimmig das ganze große Menschengeschlecht.
Die Engel öffnen schweigend im Innern der Paläste und Dome kleine Seitenpforten, die bis dahin den Blicken der Menschen entzogen waren. Alle denken natürlich - jetzt gibt's zu essen, zu trinken und zu rauchen. Hei! Wie sie sich freuen!
Indessen - diesmal ist die Enttäuschung noch viel größer.
Das »alte« Leben grinst die Menschen an.
Es steht eben »Alles« wieder auf.
Doch ganz so schlimm wie damals, als die Sonne noch hell schien, ist das alte Elend nicht anzuschauen. Es ist anders umrahmt! Im Palastgeschmack! Die Säle und Zimmer, in denen die alte Beschäftigung wieder aufgenommen werden soll, sind mit so viel feinem Prunk umgeben, dass die »guten« Menschen doch mit großer Freude ins alte Fahrwasser hineinspringen, wenn's auch so unappetitlich ist wie schmutzige Wäsche.
Ja! Ja! Das alte Leben!
Der eine muß wieder seine kranke Frau pflegen, die ohn' Unterlaß stöhnt und klagt; er beginnt den Tanz der Qual mit kalter Ruhe wieder von vorn, wie schon so oft - wirklich ein guter Mensch! Ein andrer guter Mensch fängt wieder an, große Gesellschaften zu besuchen, und klagt dabei wieder über seine nie zu stillende Sehnsucht nach der ewigen Einsamkeit - genau wie einst. Ein Dritter ist wieder mit seinem Ruhme nicht zufrieden; er will immer anders berühmt werden, was ihm natürlich nicht gelingt, da er selber nicht weiß, wie er's haben möchte. Ein Vierter bekämpft mit altem Mute seine riesige Sinnlichkeit und wird zum echten Asketenhäuptling, läßt wieder seine eiserne Willenskraft bewundern, obgleich er sich in jeder stillen Stunde  auslachen muß, da ja alle seine Kraft nur eine naturgemäße Folge von Ausschweifung und Ekel ist. Ein Fünfter hofft immer einen Sack mit Gold zu finden - und was findet er? Einen Sack mit giftigen Witzen!! Ein Sechster muß stets vergeblich »Geld« besorgen - d. h. es gelingt ihm nie!! Und ein Siebenter muß zu allem »Ja« und »Amen« sagen, was ihm von je so schwer fiel. Und die Millionen andern arbeiten und regieren, befehlen und gehorchen - auch genau so wie einst. Die Maschinen rasseln wieder, und die Denkerköpfe rauchen wieder, die Kartoffelfelder tragen wieder ihre mehligen Früchte, die Säufer saufen ganz im alten Stile weiter, und die Verbrecher brechen wieder bei den Leuten, die was haben, ein.
Alles ist wie einst! - Es spielt sich bloß schön umrahmt in herrlichen Palästen und Domen ab, die so groß sind, daß man gar nicht durchsehen kann. Sonst ist kein Unterschied.
Die guten Menschen sind natürlich mit allem zufrieden - aber die bösen Menschen sind natürlich mit nichts zufrieden - ihnen genügt nicht die alles belebende Sonne der Baukunst - sie wollen Abendbrot mit Austern und starkem Getränk - ununterbrochenes Vergnügen mit Tingeltangel und , Schlittenfahrt.
Die guten Engel wollen die bösen Menschen besänftigen und trösten, sagen freundlich: »Kinder, ihr wißt gar nicht, was euch frommt! Leid und Freud sind in jedem Menschenleben ganz gleichmäßig verteilt. Diese ist ohne jenes gar nicht denkbar. Seid vernünftig! Alle Wünsche sind nicht erfüllbar. Ist es nicht genug, daß wir euch eine angenehme Umgebung geschaffen haben? Ihr wollt bloß immer vergnügt sein - und das geht doch nicht!«
»Warum nicht?« schreien die Bösen.
»Weil's euch langweilen würde!« antworten die Engel, und sie gähnen, während sie an ein ,ewiges` Glück denken.
Die Bösen aber lachen - so häßlich, daß die guten Engel ernstlich böse werden.
»Man sollte euch eigentlich«, fahren sie in schärferem Tone fort, piesacken - mit feurigen Zangen. Die Dummheit muß mit Feuer und Schwert ausgerottet werden. Ihr werdet's niemals verstehen, daß anständig, wohnen besser ist als anständig ,leben. Wie die Pflanzen der Erde hauptsächlich nur von Licht und Luft lebten, so sollt ihr jetzt auch hauptsächlich von dem leben, was euch umgibt - von dem Licht und von der Luft der göttlichen Baukunst, die die ,wahre Kunst ist. Ist es euch tatsächlich nicht genug, in diesen  himmlischen Strahlburgen leben zu können? Wißt ihr immer noch nicht, was es heißt: in einer Traumwelt daheim zu sein? Das ist doch die prickelnde  Auster der Armut! Was sind dagegen alle Kaninchen des Reichtums? Eine große Quarkerei - nicht mehr! Euer Leben soll nur ein Akkord in der Sphärenmusik des Alls sein - euer Schmerzenslaut ist also nicht zu entbehren - sonst wird ja die Sphärenmusik so weichlich wie Milchreis! Ihr unglaublichen Nilpferde!«
Die Bösen schütteln sich vor Lachen und halten sich den Bauch. Die Engel bleiben aber ganz ernst, sie sagen noch traurig: »Ihr kommt ja sämtlich nicht zu kurz! Die Qualen des Bettlers werden gleich mit Freuden belohnt, von denen die armen Könige nichts wissen. Und zu alledem kommt noch diese prunkvolle Traumwelt eurer Wunderpaläste.«
»Die macht uns grade erst recht begehrlich! Wir wollen keinen Selbstbetrug!« Also schreien wild durcheinander die dummen Bösewichter, die immer vergnügt und selig sein wollen.
»Na, wenn euch der Selbstbetrug nicht paßt,« donnern die Engel los, »so könnt ihr ja wieder in eure Gräber zurück. Eure kannibalische Dummheit soll uns das neue Leben, das wir euch in dieser Glanzwelt darboten, nicht verleiden!«
Und es treten die hellgrünen Engel mit dunkelgrünen Tannenzweigen hervor, und mit den dunkelgrünen Tannenzweigen berühren sie alle Unzufriedenen.
Und die Berührten fallen um und sind tot.
Rasch werden sie hinausgetragen und wieder im Schnee verscharrt.
Jede Spur der Bösen ist bald verweht.
Die guten Menschen aber, die schon dankbar sind, wenn sie bloß in einer glanzseligen Traumwelt leben können, nehmen die Qualen des alten Lebens ruhig ins neue Leben hinüber, lachen lustig über alles und wollen nicht mehr. Wie die hellgrünen Engel zurückkommen, streicheln sie den guten Menschen freundlich die klugen Köpfe.
Durch die bunten Glasscheiben strahlt das neue Glück in die Schneenacht  hinaus, daß die gar seltsam wird.
Die Smaragdkugeln leuchten mit ihren grünen Lichtkegeln durchs schwarze Weltall.
Die Saphirtürme recken sich noch höher - wie übermütige Gespenster. Die riesigen Opalgitter schimmern wie Millionen aufgescheuchter Schmetterlinge.
Die vielen kleineren Schlösser sehen auf dem weißen Schneeball, der sich Erde nennt, wie Glühwürmchen aus.
Und es ist alles so rührend-feierlich in der ewigen Dämmerstunde, daß jeder ruhig werden kann.
Die Erzengel beugen sich zum zweiten Male zur Erde herab.
Die blonden Riesenlocken bilden wie vorhin einen prächtigen Haarring. Die unbeschreiblich großen Engel stecken die festlich erleuchteten Paläste wieder in ihren Rucksack, ziehen ihre Handschuhe an, nehmen ihre Dome in den Arm - und flattern davon.
Bald dreht sich der ganze Erdball so langsam wie vorhin - wie ein großer Schneeball, den Kinder rollen, wenn sie einen Schneemann bauen.
Die violette Sonne glüht in der Ferne wie eine Ampel, der das Öl ausgeht. Die goldenen Sterne funkeln im; tiefschwarzen Sammethimmel - wie glückliche Strahlburgen.
Und die Nacht ist so still - so grabesstill!


40 BEISPIELE ALTER STADTBEKRÖNUNGEN

 2. Charles Cottet, Stadtbild
 3. Mont-Saint-Michel
 4. Straßenburg
 5. Monte Compatri
 6. Durham
 7. Adrianopel, Selim-Moschee
 8. Augsburg, Ulrichskirche
 9. Utrecht
 10. Assyrischer Tempel, Rekonstruktion
 11. Madura, große Sapura
 12. Salomonischer Tempel zu Jerusalem, Rekonstruktion
 13. Köln
 14. London
 15. Selinunt, Rekonstruktion
 16. Athen
 17. Rangun, Shoay Dagone Pagode
 18. Salamanca
 19. Rangun
 20. Buracos
 21. Tzaffin
 22. Prenzlau
 23. Angkor-Vat
 24. Kairo
 25. Hebron in Palästina
 26. Moskau, Große Kathedrale im Kreml
 27. Moskau im Kreml
 28. La Chaise-Dieu
 29. Béziers
 30. Strangnäs
 31. Pisa. Piazza del Duomo
 32. Danzig
 33. Aden
 34. Streevelliputtur
 35. Miaio tai tze, Gedächtnistempel
 36. Paris
 37. Speier
 38. Mainz
 39. Toledo
 40. Bangkok
 41. Tschillambaram, Schiwa-Teich


DIE STADTKRONE

ARCHITEKTUR

Viel tausendmal gepriesen sei die Herrlichkeit der Architektur!
Sie erfüllt die Bedürfnisse des Menschen nach Schutz vor den Unbilden des Wetters und den vielfältigen Gefahren, denen er ausgesetzt ist, wenn er der Natur ohne Behausung gegenübersteht. So scheint ihre Rolle im Dasein des Menschen eine bescheidene zu sein, diejenige einer »Zweckkunst«, die praktische Forderungen in anmutiger Form befriedigt. Erst wo die menschlichen Wünsche über das bloß praktisch notwendige Maß hinausgreifen, wo ein Überschuß des Wohllebens nach Luxus verlangt, scheint sie in höherem Maße in die Erscheinung zu treten und stärker ihr eigenes Ich zu geben. Da scheint sie nicht mehr so eng an die Notdurft gebunden und: darum als Kunst erst wirklich vorhanden zu sein. Im großen Ganzen ist dies die Anschauung, mit welcher die Allgemeinheit der Baukunst und den ihr Dienenden heute gegenübertritt. Es brauchten sich darum die Architekten noch nicht zu beklagen. Es ist wirklich schon viel, jene immer aufs neue sich wiederholenden und steigernden Bedürfnisse, ohne die es keine Pflege des Menschentums gibt, in Formen zu erfüllen, welche im reinsten Einklang zu den Zwecken stehen und durch ihre innere Wahrhaftigkeit läuternd und fördernd im Kulturganzen wirken. Da es sich aber hier schon um Formen, also Schöpfungen der Phantasie, wenn auch in bescheidenem Maße, handelt, so muß die Bedeutung und der Wert der Phantasie in allen den Fällen viel stärker hervortreten, wo der Luxus zur Triedfeder wird und das Praktische keine engen Grenzen mehr zieht. Hier handelt es sich nicht mehr um den Einklang der Form mit dem Zweck, da über diesen hinaus das Formenspiel mit zur Steigerung des Lebensgenusses dienen soll. Es handelt sich hier schon um den Einklang mit einem höheren Zweck als dem der bloßen Notdurft; und es zeigt sich, daß jene Auffassung von der Architektur und dem wahren Beruf des Architekten doch wohl allzu eng genommen ist. Die Architektur nur in schön gestalteter Zweckerfüllung, in schmuckhafter Einkleidung dessen zu sehen, was man nun einmal notwendig braucht, also ihr die Rolle einer Art Kunstgewerbe zuzuweisen, das ist in der Tat eine allzu geringschätzige Auffassung von ihrer Bedeutung. Es zeigt sich eben schon bei jenen Bauten, die von einem Mehr als der bloßen Notdurft verlangt werden, daß sie als Kunst, als Spiel der Phantasie auftritt, das nur noch ganz lose Beziehungen zu jenen Zwecken hat. Keine Tätigkeit der menschlichen Phantasie kann aber zu festen tiefgreifenden Formen führen, wenn sie  nicht im inneren seelischen Leben, in dem ganzen Daseinsgefühl des Menschen wurzelt. So sollte schon bei jener Einreihung der Architektur in eine so bescheidene Stellung ihre Erklärung aus dem Zweck heraus nicht mehr genügen, wenn man nicht den »Zweck« weiter und ganz unbeschränkt faßt. Wie jede andere Kunst, muß die Architektur im ganzen Sein des Menschen wurzeln, in all dem, wodurch er seinen eigenen Wert, seine Beziehung zur Welt fühlt. Bei der ihrer Natur nach bedingten Abstraktheit ihrer Formen, wegen deren man sie zuweilen in irreführender Weise mit der Musik vergleicht, muß dieser anschauungshafte Kern, von dem ihre Entstehung ausgeht, besonders deutlich und stark sein. Sie kann nicht oder nur schwer wie die Musik lyrisch die wechselnden Stimmungen ihres Schöpfers geben. Was in Stein als Denkmal menschlichen Geistes für Jahrhunderte in die Höhe  ragt, muß auf einer breiten und starken Grundlage des Empfindens beruhen. Ist wohl ein Einzelner der geistige Schöpfer, so braucht doch ein Bauwerk zu seiner Entstehung viele Hände und viele materielle Mittel, und um diese zum Regen zu bringen, muß der Architekt das Bewußtsein und die Kenntnis aller tieferen Empfindungen und Anschauungen in sich tragen, die die Gesamtheit beherrschen, für welche er bauen will, freilich nicht allein die ephemeren, das was man den »Zeitgeist« nennt, sondern vielmehr jene noch schlummernden latenten Seelenkräfte des Volkes, die, in Glauben, Hoffnung und Wünschen verhüllt, ans Licht streben und im höheren Sinne »bauen« wollen. Dies ist schon dazu nötig, um die Aufgaben zu lösen, welche scheinbar nur auf dem Zweck beruhen, da schon dabei nicht die praktische Forderung, sondern die formende Phantasie die Architektur erzeugt. So zeigt es sich, daß es etwas ganz Anderes als die Zweckgebundenheit ist, was den Willen des Baukünstlers ausmacht, und so erklärt es sich, daß dieser Wille über und jenseits des eigentlich Praktischen liegt und daß das Höchste, wonach sein Wille strebt, in den Bauten liegt, deren praktischer Zweck ein geringfügiger oder gar keiner ist. In jeder großartigen Kulturepoche ist es der jenseitig über das Erdenhafte gerichtete Bau, zu dem alle schauen und auf den sich der Bauwille der Zeit richtet. Die heutigen enggebundenen Begriffe über das Bauen erhalten, so gesehen, ihre vollständige Umkehrung. Der Dom, die Kathedrale über der alten Stadt, die Pagode über den Hütten der Inder, der ungeheuere Tempelbezirk im Rechteck der chinesischen Stadt und die Akropolis über den schlichten Wohnhäusern der antiken Stadt - sie zeigen, daß die Spitze, das Höchste, die kristallisierte religiöse Anschauung Endziel und Ausgangspunkt zugleich für alle Architektur ist und ihr Licht auf alle die einzelnen Bauten bis zur einfachsten Hütte hin ausstrahlt und die Lösung der simpelsten praktischen Bedürfnisse mit einem Schimmer ihres Glanzes verschönt. Von der Tiefe und Kraft der Lebensauffassung im großen hängt nicht allein das Großgebaute ab, ihre Intensität, ihre Leidenschaft erzeugt erst das Schöne im kleinen. Sie allein vollbringt die rechte Wertung des Maßstabes, den die Aufgabe des Architekten in sich trägt, und verhütet die Verwischung der Grenzen zwischen dem Großen und dem Kleinen, dem Sakralen und dem Profanen, an der unsere Zeit krankt. Es war in der Gotik die gleiche Hingabe, welche die hinreißende Kühnheit der Dome türmte und zugleich in den einfachen Bauten die restlose Durchdringung der praktischen und konstruktiven Anforderungen erzeugte.


DIE ALTE STADT

Das Gefüge der alten Stadt ist ein deutliches Abbild des inneren Aufbaues der Menschen und ihrer Gedanken. Es ist so deutlich, daß wir daran alles, was die Menschen empfanden, womit sie sich in ihren Seelenfasern verknüpft fühlten, selber wie eine Architektur der Geister klar vor uns sehen. Die Hütten, Wohnhäuser, Rathäuser bilden zusammen, gipfelnd im Dom oder Tempel etwas, was man zusammen eine große Architektur, ein einsziges Bauwerk nennen könnte. Der Zusammenhang ist so eng, daß er über das eigentliche Bauen hinaus alles umfaßt, was die Menschen in Lebensgenuß, Lebensfreude und Weltanschauung vereinigt, und damit auch die anderen Künste. Die Architektur durchzieht das ganze Dasein und dieses selbst wird zur Architektur. Kann die Architektur in ihrer Bedeutung jemals überschätzt werden? Sie ist Träger, Ausdruck, Prüfstein für jede Zeit. Wir brauchen keine Kulturgeschichte zu treiben, nicht die Einzelheiten des Lebens, der politischen und religiösen Lehren der verschiedenen Epochen zu kennen, um an den steinernen Zeugen das klar zu sehen, was die Menschheit erfüllte. Die Architektur bedeutet gleichsam ein zweites Leben selbst, indem sie die Generationen verbindet und als treuester Spiegel das verkündigt, was längst dahingegangene Propheten gelehrt und Geschlechter geglaubt haben. Es erscheint das Wort Bau- »Kunst« fast zu gering für etwas, was steingewordenes Leben und steingewordene Gedankenwelt ist. Treu, rein und ungetrübt ist der Spiegel des alten Stadtbildes. Die großartigsten Bauten gehören dem höchsten Gedanken: Glaube, Gott, Religion. Das Gotteshaus beherrscht jedes Dorf, jede kleine Stadt, und die Kathedrale thront mächtig über der großen Stadt, ganz anders, als wir es heute noch bei dem über den alten Plan hinausgegangenen Stadtbilde mit den Mietskasernen empfinden. Daß es der religiöse Gedanke war, der diese Mächtigkeit erzeugte, darüber braucht keine Rücksicht auf Verteidigungszwecke u. dgl. zu täuschen. Die oft hochragende Stellung der Burg oder des Burgschlosses hat damit nichts zu tun. Dabei waren es praktische, fortifikatorische Momente, die ihre herausragende Stellung erzeugten und die es ja für die heutige Kriegführung nicht mehr gibt. Die Kathedrale mit ihrem wahrhaft unzweckmäßigen Schiff und dem noch unzweckmäßigeren Turm (Zweck als Notdurft) bleibt die eigentliche Stadtkrone. Die Rathäuser, Stadthallen, Gildenhäuser usw. ordnen sich trotz der starken politischen Selbstständigkeit der alten Stadt unter und sind bei aller eigenen Schönheit und Herrlichkeit bunte Edelsteine um den einen funkelnden Diamant. In ihm ruhte alles, was sich als höchste Idee repräsentieren sollte. Die Stadtmauer mit den Türmen, dann die von ihrer Kette umschlossenen Giebelhäuser, das Rathaus, die kleinen Kirchtürme und zuletzt die Hauptkirche, - dies alles bildete einen geschlossenen, sich sehr deutlich zur Spitze steigernden Rhythmus. Er mag im Reichtum quellenden Lebens nicht immer so klar zu erkennen sein, aber die Tendenz ist offensichtlich. Die klerikale Repräsentation allein kann dieses Streben nicht erklären, da sie doch die Folge der tieferen religiösen Bedürfnisse war. Ganz gleich, wie wir das Phänomen zu begründen versuchen, ob es in der Absicht und im Bewußtsein der alten Meister lag oder nicht: es ist da und ist untrennbar mit unserem Begriffe von der alten, der schönen Stadt verknüpft. Wir finden dieselbe Erscheinung in ferner liegenden Zeiten, ja noch gesteigert, bei den Riesentempelanlagen des Altertums, bei den Tempeln und Pagoden Asiens, wo der Fortfall der Festungsmauer oftmals einen noch gewaltigeren Gegensatz zu den Wohnhütten hervorruft.


DAS CHAOS

Ohne nähere Begründung empfindet man das alte Stadtgebilde als einen gewachsenen Organismus. Besonderheiten der örtlichen Lage ergaben die zahllosen Variationen - das Wesentliche, wie sich die Stadt um den Dom, das Rathaus bis zu den Stadtmauern entwickelt, die ursprünglich , sehr weit gezogen waren, damit sich bei Belagerungen die Landbevölkerung hierhin flüchten kann, das bleibt immer das Gleiche. Wie mußte es sich nun plötzlich umwandeln, als sich der wirtschaftliche Aufschwung mit dem Anwachsen des Verkehrs durch die Eisenbahn in rauschhafter Weise vollzog! Mietskasernen, Fabriken, Geschäftshäuser klebten sich daran und drohten den alten Kern zu ersticken, der dennoch immer, trotz des riesenhaftesten Maßstabes der Ausdehnung, der wahre Kern geblieben ist. Eine Unklarheit, ein Durcheinander in den Begriffen der Stadtplanung mußte entstehen, da ein Zusammenfassen des Alten und Neuen nicht mehr möglich war. Schließlich aber, nach allzu langer Zeit, erkannte man die Haltlosigkeit des chaotischen Zustandes. Doch unmöglich, in absehbarer Zeit einen solchen Augiasstall von Kulturlosigkeit zu säubern! Die Verwahrlosung aller grundlegenden Begriffe über das Bauen hatte eine allzu große Macht erhalten. »Das Paradies, die Heimat der Kunst« verschwand und es war »die Hölle, die Heimat der Machtsucht« (Scheerbart) gekommen. Ihre Erscheinungsformen standen freilich in schönster Harmonie  zu ihrem Wesen, nach den Gesetzen der Natur, welche immer die Einheit von Inhalt und Form herbeiführt. Die wildesten Mietskasernenviertel, ja jedes einzelne Haus steht danach immer, wie häßlich es auch sein mag, in Harmonie zu dem Leben, das sich in ihm abspielt. Und käme nun ein Gott und stellte plötzlich das herrlichste Viertel hin, so würde sich nach und nach auch das Leben in solchen neuen Häusern nach ihnen richten. Aber es gehörte wirklich ein Gott dazu. Die wenigen Menschen, die die Trostlosigkeit und Häßlichkeit dieses materialistischen Daseins empfanden, konnten nur langsam schürfen und, von. einzelnen Teilgesichtspunkten ausgehend, nach einer Neuordnung der Dinge suchen.


DIE NEUE STADT

Zunächst versenkte man sich in romantischer Liebe in die Schönheit der alten Stadtbilder und suchte durch Studium der einzelnen Straßen- und Platzformen eine ästhetische Neuorientierung (Camillo Sitte). Dazu kamen Untersuchungen über die neuen Grundlagen der Städtebildung nach der sozialen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Seite hin, Untersuchungen, welche die Organisierung der Stadtviertel und Straßenzüge, sowie die Hervorkehrung alles dessen zum Ziele hatten, worauf sich erst die neue Stadt aufbauen kann (Theodor Goecke), und es bildete sich eine neue Lehre, der »Städtebau« genannt. Sie blieb zwar, von manchen Nachbetern nur äußerlich aufgefaßt, großenteils bis heute in formalistischen Dingen stecken; im wesentlichen aber erwies sie sich als ein fruchtbarer Keim. Nach und nach wurden alle guten Kräfte von ihr mitgerissen, und die Frucht vieler Entwürfe und theoretischer Studien ist, daß wir heute eine Vorstellung davon haben, wie eine moderne Stadt am besten zu organisieren ist. Die Verteilung der Wohn-, Industrie- und Geschäftsviertel im Stadtgefilde, .die Unterbringung der öffentlichen Bauten, Schulen, Verwaltungen usw., alles fand schließlich wenigstens in der Theorie eine feste Form. Es blieb  aber nicht allein dabei, wie das Bestehende am besten umzugestalten und zu disziplinieren sei. Es wurde weiter untersucht, welche neuen Formen eine neue Stadt haben muß, damit die Einwohner in ihr glücklich sein können. Die kritische Sichtung führte zur theoretischen Ablehnung der Mietskaserne und zur Erkenntnis, daß das kleine Einzelwohnhaus, in Reihen gebaut, mit eigenem Garten wohl möglich und durchführbar sei. Die Gartenstadtbewegung, deren Ziel die Schöpfung einer neuen Stadt mit solchen Gartenreihenhäusern in engster Anlehnung an Garten- und Ackerbau, mit praktisch und rentabel angelegten Wohnstraßen, gut verteilten Parks, vernünftiger Unterbringung der Industrie und überhaupt Disziplinierung aller Ingredienzien unter Ausschluß der Bodenspekulation war, - diese Bewegung wurde am kräftigsten in England propagiert und führte dort zur Neugründung einer solchen Stadt eine Bahnstunde von London entfernt in der »ersten Gartenstadt Letchworth«. Viele sich an Großstädte anlehnende Vorortsiedlungen würden auch in Deutschland nach ähnlichen Gedanken errichtet. Wenn man die Gartenstadtbewegung und dazu alle die städtebaulichen Arbeiten, die im Anschluß an bestehende Städte Erweiterungen und in diesen Städten Verbesserungen vornahmen, ferner die vielen fruchtbaren Anregungen in diesem Gebiete überschaut, so kann man sagen: alle diese Arbeiten folgen einer neuen Vorstellung, die, wenn auch durch Kompromisse vielfach verschleiert, in ihnen lebt. Eine neue Idee lenkt alle diese Köpfe und Hände, es ist die Idee der neuen Stadt. Eine tiefe Sehnsucht leitet uns alle: wir wollen wieder Städte, in denen wir nach Aristoteles nicht bloß sicher und gesund, sondern auch glücklich wohnen können. Diese Sehnsucht sitzt so tief, daß wir nicht mehr nach dem Alten zu schielen brauchen. Mit Stolz kennen wir unsere eigenen, ganz von den alten Zeiten abweichenden Wünsche und Neigungen und streben ihnen voll Hoffnung, unbeirrt durch alle Hemmungen, zu.


RUMPF OHNE KOPF

Die Idee der neuen Stadt wird Früchte tragen und wir sollen glücklich sein, daß wir sie haben. Sie ist uns die sichere Verheißung, daß unsere Nachkommen besser und schöner leben werden. Aber vergegenwärtigen wir uns einmal deutlich diese Idee: Organisieren - Disziplinieren - Organisieren - Disziplinieren -. Es soll nicht unterschätzt werden; aber ist das schon eine Idee, die man bauen kann, die selber bauende Kraft hat? Wo liegt darin das Bildhafte, ohne das es keine Kunst gibt? Welches Bild machen wir uns danach von der neuen Stadt? Gesunde Wohnungen, Gärten, Parks, schöne Wege, Industrie, Geschäfte - alles gut geordnet und bequem darin zu leben. Dann hier und da eine Schule, ein Verwaltungsgebäude, - diese schön romantisch oder klassizistisch angelegt. Es will scheinen, als wenn Bequemlichkeit, Behaglichkeit und Nettheit doch wohl nicht alles sein können. Das Ganze zerfließt wie Schnee in der Sonne. Ist denn kein Kopf da, hat dieser Rumpf keinen Kopf? Ist das unser Abbild, ist so unsere geistige Verfassung? Wir sehen die alten Städte an und müssen resigniert sagen: Wir haben keinen Halt. Aber wir haben doch Staatsbauten, Schulen, Bäder, Bibliotheken, Stadtverwaltung usw.! Die können doch dominieren! - Doch ein Teil davon wie Schulen, Bäder, Bibliotheken (mit Ausnahme der Hauptbibliothek) muß aus praktischen Gründen in unserer bequemen Stadt zersplittert liegen; damit sie wirklich ihre heilsame Wirkung ausüben. Aber die Bauten der kommunalen Verwaltung können doch in der Mitte liegen und herrschen, wie einstmals das Rathaus! Doch das ordnete sich früher ja unter, wie wir gesehen haben, trotzdem es damals reiner Repräsentationsbau war. Unsere Rathäuser aber sind Bureaus für alle die städtische Verwaltungsarbeit. Zu ihnen kommt der Bürger, um seine Steuern zu bezahlen, um sich an- und abzumelden usw. Außerdem enthalten sie wohl den Versammlungssaal der Stadtverordneten, Sitzungsräume und anderes; aber repräsentiert das so unsere Lebensauffassung, daß es mächtig über dem Stadtganzen thronen  kann? Die opulente Ausstattung der modernen Rathäuser mit Turm und einer schweren Architektur wird ja neuerdings aus Gründen der Sparsamkeit eben weil es dem inneren Wesen des Baues widerspricht, mit Recht verworfen!.(1 Cürlis und Stephany: Irrwege unserer Baukunst.) Die Städte haben wohl ihre eigene selbständige Verwaltung, aber sie ist nicht so kraftvoll selbstherrlich, wie die der alten Reichsstädte, und selbst in ihnen trat das Rathaus nicht an die erste Spitze. Dem modernen Gefühl liegt es ganz fern, der Stadtverwaltung eine solche Bedeutung gegen- über dem Staatsganzen einzuräumen. Bei dem Aufflackern der nationalen Empfindungen infolge des großen Völkermordens wäre es vielleicht der Staatsgedanke, der geeignet wäre, Ausdruck des höchsten Bauwillens der neuen Stadt zu sein. Im Altertum verquickte sich der Staatsgedanke so eng mit der Religion, daß die Akropolis oder das Forum mit Tempeln gleichzeitig Sitz der höchsten Gerichtsbarkeit, des Areopags, der höchsten Behörden war. Eine Nachahmung dieser Verhältnisse würde heute aber nichts als Nachahmung sein und unser Volksleben nur um einen weiteren Imitationsirrtum bereichern. Überzeugt von der Bedeutung des Staatslebens werden wir es doch nie mit sakralem Glanze umgeben können. Unser Gefühl und unsere Dankbarkeit dem Staate gegenüber beruht darauf, daß er es uns durch seine gute Einrichtung möglich macht, der Vertiefung in unsere Lebensaufgabe und Hingabe daran zu leben. Er ist der Sammelbegriff für alle dadurch erzeugten Werte und existiert nicht über oder außer uns, sondern in und unter uns. Alexander von Gleichen-Rußwurm sagte am 5. Februar 1916: »Das Ideal des deutschen Staatsbürgers bestand in letzter Zeit immer mehr darin, den Staat für sich denken zu lassen, dem man es wahrlich nicht verübeln kann, daß er sich schließlich des Denkmechanismus bemächtigte. Sollen wir aber nur für den Staat erzogen werden? Dieser Gedanke eines. durchgreifenden Drills aller gilt der ,Welt als das deutsche Ideal, aber er ist nicht das deutsche Ideal. Der Staat ist nach unserer Auffassung nicht Selbstzweck, organisierte Macht, sondern ein Gebilde mit der Aufgabe, den Interessen aller Staatsangehörigen zu dienen, die ihrerseits das Recht haben, über die Erfüllung dieser Aufgabe zu wachen und die Tätigkeit der Organe zu kontrollieren.« Und Nietzsche schreibt in »Schopenhauer als Erzieher«: »Alle Staaten sind schlecht eingerichtet, bei denen noch andere als die Staatsmänner sich um Politik bekümmern müssen, und sie verdienen es, an diesen vielen Politikern zugrunde zu gehen.«

Diese Auffassung vom Staatsbegriff findet ihren deutlichen Ausdruck darin, wie sich die Staatsbauten in das Stadtbild einfügen. »Die Stellung der Staatsbauten hat sich gegen früher wesentlich geändert. Im Altertum und zum Teil noch im Mittelalter war jede größere Stadt ein Stadtstaat. Staatliche  Bauten waren städtische Bauten. Staatswohl war Stadtwohl. Die Eigenart der öffentlichen Bauten war durch die örtliche Begrenzung gegeben. Seitdem der Staat als Ganzes Hunderte von Städten umfaßt, sind die staatlichen Bauten in den einzelnen Städten gewissermaßen Fremdlinge. Auch ist es nicht mehr wie früher, daß alles vor den öffentlichen Bauten ehrerbietig Platz macht und sich ganz nach ihnen richtet. Sie haben keine Sonderrechte mehr, ihre örtliche richtige Stellung ist oft nur schwer zu erreichen, ihre künstlerische Gestaltung ergibt sich nicht mehr ohne weiteres durch die eng begrenzte Eigenart des Staatsbietgees.« So schreibt Philipp A. Rappaport im »Städtebau«. Und weiterhin erwähnt derselbe Verfasser, daß die Bauordnung sowohl, wie die Aufstellung eines Bebauungsplanes Sache der Stadtgemeinde sei, welche danach auch das Recht der Verteilung dieser Bauten im Stadtgebiete habe, soweit nicht der Staat sich selbst rechtzeitig Land erwirbt. Es trete eine »Landflucht«, eine Verlegung der Staatsbauten in die Peripherie der Stadt in die Erscheinung. - So scheint sich auch hier äußere Form und Inhalt völlig zu decken und wir müssen nach einem anderen Kopf für den Rumpf suchen.


GEBT EINE FAHNE

Es muß auch heute wie beim alten Stadtbilde sein, daß das Höchste, die Krone, sich im religiösen Bauwerk verkörpert. Das Gotteshaus bleibt wohl für alle Zeiten der Bau, zu dem wir immer hinstreben, der unser tiefstes Gefühl den Menschen und der Welt gegenüber tragen kann. Warum ist denn aber nicht in den letzten Zeiten, etwa seit der Blütezeit des Jesuitismus, irgendwo ein großer Dom gebaut oder wenigstens ernsthaft geplant worden? Schinkels romantischer Zug führte ihn zu einem großen Domprojekt auf dem Templowerberge bei Berlin, aus dem Gefühl, endlich einmal etwas zu schaffen, was Sehnen und Hoffen der Menschen in Gemeinschaft zusammenführt. Doch die Anregung fand keinen Nachhall. In der Idee der neuen Stadt fehlt die Kirche. Es werden zwar in den Plänen auch Kirchen vorgesehen, doch werden sie so verteilt, daß sie keine überragende Bedeutung finden können. Auch die Gottesidee zerfließt, wie die neue Stadt selbst. Es soll nicht behauptet werden, daß das religiöse Leben an Innigkeit nachgelassen habe. Aber es zerfließt mehr und mehr in kleine Kanäle; das gemeinsame Gebet, die lithurgische Handlung hat an zusammenhaltender Kraft verloren. Es ist, wie wenn eine seltsame Schamhaftigkeit im frohen Bekennen des religiösen Glaubens eingetreten wäre, wie wenn es sich nur auf das stille Kämmerlein des einzelnen zurückgezogen hätte. Und die Kirche folgt diesem Vorgang. Sie dezentralisiert, zersplittert sich und sieht das Seelenhirtentum in der Missionstätigkeit. Fromme Vereine mit Bethäusern, die in den Stadtteilen verstreut sind, ebenso verstreute kleine Kirchen - sie zeigen, wie auch die Kirche konsequent sich der allgemeinen Erscheinung des Zerfließens anschließt. Selbst der repräsentationsstolze Klerus der katholischen Kirche folgt ihr. Die großen alten Dome bleiben voll Leben, wie es die Tradition gebietet. Sonst aber verläuft die Seelenpflege in denselben Formen und kein neuer Dom entsteht. Die religiöse Konfession hat anscheinend nicht mehr die alte Kraft. Es treten keine Bekenner, keine Kämpfer für sie auf und, was einstmals große Bewegungen beseelte, das scheint heute, der Dogmen entkleidet, zum einzelnen zurückgezogen und in einer völligen Wandlung begriffen zu sein.

Aber ein Glaube ist sicher noch da. Es ist nicht denkbar, daß Millionen von Menschen, ganz dem Materialismus verfallen, dahinleben, ohne zu wissen, wofür sie da sind. Es muß etwas in jedes Menschen Brust leben, das ihn über das Zeitliche hinaushebt und das ihn die Gemeinschaft mit seiner Mitwelt, seiner Nation, allen Menschen und der ganzen Welt fühlen läßt. Wo liegt das? Zerfließt das auch so oder ist etwas, etwas Neues in alle Menschen hineingeflossen und wartet auf seine Auferstehung, auf seine strahlende Verklärung und Kristallisierung in herrlichen Bauwerken? Ohne Religion gibt es keine wahre Kultur, keine Kunst. Und sollen wir, in Teilströmungen zerrissen, dahinvegetieren, ohne uns die wahre Schönheit des Lebens zu schaffen?
»Die Schritte der Religion sind groß, aber langsam. Sie braucht Jahrtausende zu einem Schritt. Der zum Fortschritt aufgehobene Fuß schwebt schon sich senkend in der Luft; wann wird sie ihn niedersetzen?« (Gustav Theodor Fechner in »Tagesansicht«.)
Es gibt ein Wort, dem arm und reich folgt, das überall nachklingt und das gleichsam ein Christentum in neuer Form verheißt: der soziale Gedanke. Das Gefühl, irgendwie an dem Wohl der Menschheit mithelfen zu müssen, irgendwie für sich und damit auch für andere sein Seelenheil zu erringen und sich eins, solidarisch mit allen Menschen zu fühlen, - es lebt, wenigstens schlummert es in allen. Der Sozialismus im unpolitischen, überpolitischen Sinne, fern von jeder Herrschaftsform als die einfache schlichte Beziehung der Menschen zu einander, schreitet über die Kluft der sich befehdenden Stände und Nationen hinweg und verbindet den Menschen mit dem Menschen. - Wenn etwas heute die Stadt bekrönen kann; so ist es zunächst der Ausdruck dieses Gedankens.

Dies wird der Architekt gestalten müssen, will er sich nicht selbst überflüssig machen und will er wissen, wofür er lebt. Was hat es schließlich auf sich, dieses oder jenes Häuschen oder Gebäude hübsch zu machen, wenn wir nicht das große Element kennen, das alle kleinen Wässerchen speist! Aus dem Fehlen dieses Wissens entstand ganz mit Recht die geringschätzige Anschauung über Architektur, die eingangs geschildert wurde. Die Architekten sind daran mit schuld. Wenn sie nicht um ihr letztes Ziel wissen, wenn sie nicht in Hoffen und Sehnen wenigstens das Höchste ahnen, dann hat ihre Existenz keinen Wert. Dann verliert sich ihre Begabung im gewerblichen Kampf und verzettelt sich in ästhetelnden Kleindingen und Überschätzung des Kleinkrams. Sie müssen sich in Verhimmelung des Alten, in Eklektizismus oder begrifflichen Spekulationen, wie Heimatkunst, Zweck, Material, Proportion, Raum, Fläche, Linie usw. erschöpfen und sind schließlich ganz und gar außerstande, etwas Schönes zu machen, da sie sich von dem letzten unerschöpflich sprudelnden Quell des Schönen ganz getrennt haben. Auch alles Studium der alten Baustile hilft dann nichts; denn sie bleiben so nur an den Einzelformen kleben, weil ihre Augen blind sind für das Licht, das alle die herrlichen Einzeldinge durchstrahlt. Der Architekt muß sich auf seinen hohen, priesterhaft herrlichen, göttlichen Beruf besinnen und den Schatz zu heben suchen, der in der Tiefe des Menschengemüts ruht. In voller Selbstentäußerung vertiefe er sich in die Seele des Volksganzen und finde sich und seinen hohen Beruf, indem er, als Ziel wenigstens, einen Materie gewordenen Ausdruck für das gibt, was in jedem Menschen schlummert. Ein glückbringendes, baugewordenes Ideal soll wieder erstehen und alle zum Bewußt sein führen, daß sie Glieder einer großen Architektur sind, wie es einst war. Dann blüht endlich wieder die Farbe auf, die farbige Architektur, die heute nur von wenigen ersehnt wird. Die Skala der reinen ungebrochenen Farben ergießt sich wieder über unsere Häuser und erlöst sie von ihrem toten Grau- in- Grau. Und die Liebe zum Glanz erwacht: der Architekt scheut nun nicht mehr das Blanke und Glänzende: Er weiß es nun zu verwerten und kann von seiner neuen Warte aus, fern vom alten Vorurteil, alles und jedes zu neuer Wirkung verteilen. Wenn es nun wirklich der soziale Gedanke ist, der ans Licht strebt und noch unter der Oberfläche vergraben ruht, ist es dann überhaupt möglich, etwas Latentes zu gestalten? Die Antwort lautet : die Kathedralen, die Riesentempel sind auch einmal entstanden, einmal waren sie noch nicht da und einmal wurde ihr Gedanke hier und da, immer in einem einzelnen Architektenkopf geboren. Was heute prangend wie selbstverständlich dasteht, einmal wurde es als Idee zum ersten Male aufgeworfen, geplant, als der Wunsch dazu nur unklar im unbestimmten Sehen der Volksseele verschlossen lag. Doch wird man sagen: da waren kleine Anfänge, schüchterne Versuche, aus denen nach und nach der große Dom herauswuchs, als Folge einer Tradition, die immer und immer das Gleiche bildete, bis es dann in kühner Größe als Resultat langer Übung sich ergab. Ich meine, es muß schon in den kleinsten Anfängen die Idee, die Tendenz dagewesen sein, da es doch Menschenwerk ist. Freilich war das letzte Ergebnis dann unbegreiflich, so daß heute im Volksmunde der Inder die Erbauung der Wundertempel den Göttern zugeschrieben wird, obgleich selbst für ganz große Anlagen wie Angkor-Vat (Abb. 23) der Name des Architekten (Diwakara) überliefert ist. Haben wir nicht vielleicht solche Anfänge? Aus dem Nichts wächst nichts. Und Architektur entsteht nur, wenn sie von einer Handlung getragen ist. Es ist nicht möglich, einen bloßen Gedanken ohne einen Handlungsvorgang Architektur werden zu lassen, weshalb alle modernen Denkmalsversuche zur Unfruchtbarkeit verurteilt sind, da nichts an und mit ihnen geschieht und sie schon in der Absicht auf äußerlicher Nachahmung mißverstandener alter Werke beruhen, Der religiöse Vorgang im Tempel, das Opfer, die Messe u. dgl. war nötig, um die großen Bauten zu schaffen. Wenn wir im sozialen Gedanken die Möglichkeit der Stadtkrone sehen, so müssen wir untersuchen, welcher Art die Handlungen sind, in denen sich dieser Gedanke schon heute kund tut. Was will die Volksmasse heute, was tut sie? Gibt es nicht Veranstaltungen, in denen sich in verhüllter Form wenigstens die Sehnsucht der Menge äußert? Gehen wir zu den Orten, zu denen sie sich begibt, um abseits von materiellen Wünschen ihre Muße zu verbringen, und wir kommen dann zu den Vergnügungsstätten, vom Kino bis zum Theater aufwärts, oder zu Volks- und Versammlungshäusern, zu denen sie ein politischer Drang oder der Wunsch, die Gemeinschaft zu empfinden, hinzieht. Es sind also zwei Triebfedern da, das Vergnügen und der Gemeinschaftsdrang, die schon jetzt zahlreiche Bauten ins Leben gerufen haben. Diese Instinkte sind von den Führern klar erkannt (1- Es sei auf den neuerdings begründeten Volkshaus-Bund hingewiesen.) und mit manchem Glück zur Veredlung gebracht worden. Der Wunsch nach Vergnügen, der die Menschen in solchen ungeheueren Mengen in die Theater treibt (in Brüssel beträgt die Zahl der Theaterbesucher nach Zeitungsberichten allabendlich 20 000 bei einer Einwohnerzahl von rund 600 000), dieser Wunsch darf keineswegs als roher Unterhaltungstrieb gedeutet werden, sondern es steckt in ihm der Schrei der Seele nach dem Höheren, nach Erhebung über das Alltagsdasein. Wird doch von Theaterleuten gerade der deutsche Theaterbesucher als dankbar andächtiger Gast angesehen, der mit sonntäglichen Empfindungen ins Theater geht. Die andere Seite des Volkstriebes, die in Volkshäuser führt, beruht ebenfalls auf einem inneren edlen Zuge. Es ist der Wille, sich an der Gemeinsamkeit zu bilden und sich mit der Mitwelt eins, als Mensch unter Menschen zu fühlen. Es liegen hier offensichtlich volksethische tiefgreifende Tendenzen zugrunde, die viele Bauten, darunter recht opulente (Volksbühne in Berlin) und schöne (Diamantsarbeiter - Gewerkschaftshaus im Haag) erzeugt haben. Es gilt sie zusammenzufassen, damit sie nicht zerflattern und sich im politischen Getriebe verlieren. Es ist offenbar eine einzige völlig homogene große Strömung, die diese Tendenzen darstellen. Und es ist sicher die Strömung, die am breitesten und stärksten weite, ja man kann behaupten alle Volksteile umspannt. In ihr liegt das verhüllt, was die Sehnsucht unserer Zeit bedeutet, ans Licht will und nach einer sichtbaren Verklärung ruft. Das ist der bauende Wille unserer Welt. Wir haben die Idee der neuen Stadt, zwar einer Stadt ohne Haupt. Nun wissen wir aber, wie ihr Haupt, ihre Krone sein muß.


DIE STADTKRONE

Der nachstehend abgebildete Entwurf ist ein Versuch zu zeigen, wie vielleicht in der neuen Stadt die Bekrönung, das Höchste angestrebt werden könnte. Es mag nach den hier gezeigten und erwähnten Beispielen mehr als kühn, ja vermessen erscheinen, etwas in gleicher Richtung Liegendes zu wagen. Einmal muß aber der Versuch gemacht werden, auch auf die Gefahr hin, unbescheiden und utopistisch gescholten zu werden. Er soll lediglich in konkreter Fassung die zur Höhe drängenden Tendenzen verdeutlichen und nicht so sehr als Selbstzweck angesehen werden wie vielmehr als Anregung, das Erkannte der Verwicklichung und der weiteren Zielschaffung näher zu führen. Es möge zunächst die Grundlage, dasjenige, was bekrönt werden soll, die Stadt, erörtert werden. Es ist hier ein Schema zugrunde gelegt (Abb. 46), nach welchem in der Ebene eine neue Stadt anzulegen wäre. Es sind absichtlich alle besonderen Reize, die eine bevorzugte Lage mit sich bringen, wie Meer, Strom und Berg unberücksichtigt geblieben, um die Idee selbst, die Theorie möglichst rein erkennen zu lassen. In Wirklichkeit würde sich das Ganze durch alle jene Dinge viel differenzierter geben, ohne daß es deswegen ein solches Schema vermissen ließe, ähnlich wie auch die alte Stadt immer irgendein Schema erkennen läßt. Das Ganze umfaßt ein Kreis von ca. 7 km Durchmesser, in dessen Mittelpunkt sich die »Stadtkrone« befindet. Diese, ein rechteckiges Areal von 800X500 Meter, wird durch die Hauptverkehrsadern berührt, welche aus Verkehrs- und Schönheitsgründen nicht auf ihre Mitte auflaufen, sondern sie tangieren und in weiten Bögen von da ausstrahlen. Die Bahnlinie ist im Ostteil in einem ähnlichen Bogen vorgesehen, so daß zwischen Bahnhof und Stadtmitte sich das Geschäftsleben entwickelt. In diesem Viertel würden praktischerweise die Verwaltungsgebäude, das Rathaus u. dgl. an besonderen Plätzen liegen. Weiterhin an der Bahnlinie bis über die Peripherie hinaus die Fabriken, die, nach Osten gelegt, die Stadt von ihren Gasen verschont lassen. Von Westen, mit der Hauptwindrichtung, kommt ein großer Park sektorförmig bis ins Innere hinein und bringt von Wäldern und Feldern gute Luft. Er verbindet das Herz der Stadt mit dem freien Lande wie eine große Lebensader und soll ein wahrer Volkspark sein mit Tummelplätzen, Spielwiesen, Wasserbecken, botanischem Garten, Blumenplätzen, Rosarien und einem ausgedehnten, breit in die freie Natur ausmündenden Hain und Wald. Achsial zur Stadtmitte liegen in den Wohnvierteln drei Hauptkirchen und sonst verstreut die Schulen, mitten im Park die Unterrichtszentrale (Universität) und weiter draußen die Hospitäler. Zwei Hauptstraßenlinien führen diagonal zum Bahnhof, zur Abkürzung des Weges. Die Straßenzüge der Wohnviertel laufen im wesentlichen von Norden nach Süden, um den beiderseitigen Hausfronten Ost und Westsonne zu geben und windstille Straßen und Gärten. Ihre Ausbildung selbst ist völlig im Charakter der Gartenstadt gedacht, mit niedrigen Einzelhausreihen und tiefen Gärten für jedes Haus, etwa im Sinne von Abb. 50 und 51, so daß das Wohngebiet selbst als Gartenbauzone gilt und Laubenkolonien erübrigt. Außerhalb des peripherischen Parkgürtels schließt sich die Ackerbauzone an: Die Gesamtfläche der Stadt beträgt 38,5 qkm, die des Wohnareals etwa 20 qkm und würde bei gartenstadtartiger Bebauung Raum für 300 000 Einwohner, d. h. 150 Seelen pro Hektar, im Erweiterungsfalle bis 500000 geben. Dazwischen eingesprengte grüne Anlagen, Spielplätze, Parkstreifen zur Trennung der Wohn- und Industriegebiete und sonstige Einzelheiten sind nicht besonders gezeichnet. Die Entfernung von der Peripherie bis zur Stadtmitte beträgt also nicht viel mehr als 3 km = 1/2 Stunde Fußweg: Die Straßen innerhalb der Wohnviertel selbst sind so schmal (5 bis 8 Meter), wie sie gerade sein können, um hier nicht unnötige Mittel zu verschleudern. Die Verkehrsstraßen sind zur Aufnahme von Straßenbahnen und reichlichem Wagenverkehr eingerichtet. Die Haushöhen der Wohnviertel bleiben nach dem Grundsatz der Gartenstadt so niedrig wie möglich. Die Geschäfts- und Verwaltungsbauten dürfen sie höchstens um ein Geschoß überragen, damit mächtig und unerreichbar die Stadtkrone über allem throne. Die Mitte, die Stadtkrone selbst (Abb. 42-48) zeigt eine Gruppierung aller der Bauten, auf welche die vorhin erwähnten sozialen Tendenzen zielen und welche eine Stadt dieser Größe für künstlerische und Unterhaltungszwecke braucht. Vier große Bauten, ein streng nach der Sonne orientiertes Kreuz bildend, bestehend aus Opernhaus, Schauspielhaus, großem Volkshaus oder Saalbau und kleinem Saalbau, bekrönen die Anlage und weisen mit ihren Ausgängen nach den vier verschiedenen Richtungen, um eine rasche Zerstreuung der  Menschenmassen zu ermöglichen. Zu ihren Seiten haben sie freie Plätze mit Rücksicht auf die Panik. In ihrer Mitte liegt ein Hof mit Flügeln für Kulissenmagazine, Vorrats-, Wirtschaftsräume u. dgl. Sie werden verbunden und umfaßt von einem Säulenumgang, der an seinen vier Ecken rechts und links vom Volkshause Gesellschaftshäuser für kleinere intimere Veranstaltungen (Hochzeiten und ähnliches) mit Terrassengärten und auf der anderen Seite Aquarium und Pflanzenhaus mit ebensolchen Gärten bildet. Dieser Umgang ermöglicht die innigste Benutzung des Ganzen; man kann den Nachmittag in den Terrassengärten, den Abend im Konzert, im Theater oder in einer Versammlung zubringen.

 42. Ansicht nach Osten

Während die Ausgänge von Schauspielhaus und kleinem Saalbau auf großen Freitreppen (besondere Auffahrtsrampen sind nicht eingezeichnet; die Zufahrt zum Wirtschaftshof ( in der Mitte würde durch eine tunnelförmige Auffahrt erfolgen) zu baumbestandenen Plätzen führen, schließt sich rechts und links der beiden großen Bauten ein Gefüge von Höfen, Arkaden und Gebäuden an, das je nach Lage und Bestimmung variiert. Vom Opernhause, dessen Begleiter das Aquarium und das Pflanzenhaus mit der stillen Schönheit der Fische, Blumen, erlesenen Gewächse und Vögel sind, führt ein gedeckter Säulengang mit mehrfachen Treppen über einen ebenfalls arkadenumschlossenen Teichhof und von dort erst zum Wagenhalteplatz, als würdiger Ausklang nach dem Kunstgenuß und würdiger Aufklang vor ihm. Am äußeren Platz schließen sich Museum und Zentralbibliothek an, ernste Bauten mit zwei Obergeschossen, die nicht zu groß gehalten sind, weil in der neuen Stadt hoffentlich nicht jene Massenaufspeicherung von allem und jedem, was nur alt ist, und von allem möglichen fragwürdigen Neuen stattfinden wird, wie es die heutigen Museen leider zum Überfluß zeigen. Die lebendige Kunst bedarf überhaupt keiner Aufstapelung; sie soll hier nicht mehr im Museum ihr kümmerliches Dasein fristen, sondern mitwirkend und sich einordnend das Ganze durchziehen. Durch Kolonnaden mit Museum und Bibliothek verbunden stehen in Gärten an Kaskadenteichen zwei Lesehäuser, deren Gärten mit denen der Kaffees und Restaurants zusammenhängen. Die äußersten ausstrahlenden Ecken sollen Konsum- und Kaufhäuser enthalten, welche auf sozial-wirtschaftlicher Grundlage beruhen und wie die Restaurants und Kaffees nur ein Obergeschoß haben, damit sie zu den niedrigen Wohnhäusern überleiten. Sie haben besondere Wirtschaftshöfe. Die beiden westlichen Ecken des Areals enthalten das Gleiche, nur sind hier die Vorhöfe und Gärten entsprechend der veränderten Bestimmung anders als auf der Ostseite. Vor dem großen Saalbau oder Volkshause ist ein arkadenumschlossener ebener baumbestandener Platz für Volksversammlungen unmittelbar vor dem Hause. Vor einer Freitreppe ein geneigter großer Rasenplatz, damit bei Versammlungen im Freien die Menge sich vor dem Sprecher auf der Kanzel an der Treppe lagern kann. Dieser Rasenplatz setzt sich über die Straße hinweg in den Stadtpark hinein fort, bis zu einem See mit Wasserkünsten. Rechts und links vom Rasen steht ein Sommertheater und ein Gartenrestaurant, und jenseits im Park könnten sich anmutige Volksbelustigungen anschließen, etwa im Stile von Tivoli in Kopenhagen. So stuft sich das Ganze von oben nach unten herab, ähnlich wie sich die Menschen in ihren Neigungen und ihrer Veranlagung staffeln. Die Architektur wird kristallisiertes Abbild der Menschenschichtung. Alles ist für alle zugänglich; jeder geht dahin, wohin es ihn zieht. Es gibt keine Konflikte, weil sich immer die Gleichgestimmten zusammenfinden. Die obere Bekrönung bildet das Massiv der vier großen Bauten, als sichtbarer in seiner Kreuzform symbolischer Ausdruck der Erfüllung. Die sozial gerichteten Hoffnungen des Volkes finden hier auf der Höhe ihre Erfüllung. Das Drama, das Musikspiel gibt den hier vereinten Menschen den Seelenschwung, den sie im Alltagsleben ersehnten, und die Zusammenkunft in den Volkshäusern läßt sie fühlen, was sie als Menschen einander zu geben haben, und führt den Herdentrieb, die Urkraft des Zusammenschlusses, zur Veredelung. Die Bauten müssen außen und innen, in ihrer Haltung und ihrem Gefüge, Organismen sein, die einzig in diesem besonderen Leben existieren können. Die Theater haben mit dem bisherigen Abschluß der Bühne vom Zuschauerraum, mit der Kluft zwischen Schauspieler und Genießendem endlich gebrochen und geben den dramatischen Genuß nicht mehr als erkaufte Handelsware, die im »eisernen Vorhang« eingesperrt blieb, .ehe das Eintrittsgeld bezahlt war. Der Vorhang ist nicht mehr Trennung; er ist sinnvolles Kunstmittel, und ein enges Band umfaßt Schauspieler und Zuschauer. Ein Gegenspiel in Licht und Farbe zwischen Bühne und Theaterraum, alles festlich und nach dem Maßstab des einzelnen Menschen gebaut und geschmückt, gibt den Rahmen für dramatische Erlebnisse. Die kahle ungegliederte Wand hat hier keinen Platz. Dieses einzigartige Gegenspiel schwingt durch den ganzen Bau und beschwingt alle seine einzelnen Glieder, ausstrahlend von der Bühne über den Theaterraum, die Wandelgänge, Foyers bis zur Außenarchitektur.

 43. Ansicht nach Westen

Die Volkshäuser haben einen ähnlichen Klang, den vollen harmonischen Ton der Menschengemeinschaft. Geist und Seele soll in ihnen gehoben und reif werden, dem Ganzen ihr Schönstes zu geben. Die großen und kleinen Säle für Versammlungen, Vorträge, Konzerte und Feste, die Auditorien, Bibliothek- und Leseräume, Unterhaltungs- und Spielzimmer, Wandelgänge und alles andere des Volkshausprogramms zeigen eine das häuslich Intime überwindende architektonische Gestaltung, welche ganz auf die große Gemeinschaft gestellt ist und sich mit einem bildnerischen und malerischen Schmuck verbindet, der, gleichermaßen hinausgehend über die Schranken des Alltags, des »Natürlichen«, ihr frei und zugleich in engster geistiger Bindung folgt. Das Kreuz dieser vier großen Bauten ist die obere Bekrönung der gesamten Baugruppe; aber dieses Baumassiv ist allein noch nicht die Krone. Es ist erst Sockel für ein höchstes Bauwerk, das, ganz vom Zweck losgelöst, als reine Architektur über dem Ganzen thront. Es ist das Kristallhaus, das aus Glas errichtet ist, dem Baustoff, der Materie und doch mehr als gewöhnliche Materie in seinem schimmernden, transparenten, reflektierenden Wesen bedeutet. Eine Eisenbetonkonstruktion hebt es über das Massiv der vier großen Bauten heraus und bildet sein Gefüge, zwischen dem in Prismenglasfüllungen, farbigen und Smalten-Glastafeln die ganze reiche Skala der Glasarchitektur prangt. Das Haus enthält nichts als einen wunderschönen Raum, den man von Treppen und Brücken rechts und links des Schauspielhauses und des kleinen Volkshauses erreicht. Doch wie soll man auch nur andeutungsweise schildern, was man nur bauen kann! Alle innigen und alle großen, Empfindungen sollen hier wach werden, wenn das volle Sonnenlicht den hohen Raum übergießt und sich in zahllosen feinen Reflexen bricht, oder wenn die Abendsonne die obere Deckenwölbung erfüllt und mit ihrem roten Schein die reiche Farbigkeit der Glasbilder und plastischen Arbeiten vertieft. Hier wird die Architektur ihren schönen Bund mit der Plastik und Malerei wieder erneuern. Es wird alles ein Werk sein, in dem die Leistung des Architekten in der Konzeption des Ganzen, die des Malers in den Glasgemälden von entrückter weltendurchziehender Phantasie und die des Plastikers untrennbar vom Ganzen und so mit ihm verbunden ist, daß alles nur einen Teil der großen Baukunst, ein Glied des hohen Gestaltungsdranges bildet, der alle Künstler gleichmäßig erfüllt und zum letzten Ausdruck zwingt. Kosmische überirdische Gedanken spiegeln die Farben des Malers, »Weltgegenden«, und eine neue plastische Formenfülle schmückt alle architektonischen Gliederungen, Einstellungen, Verbindungen, Stützen, Konsolen usw. und zeigt, daß die Plastik wieder etwas mehr sein kann als Steinhauerei in Figuren u. dgl. Sie erwache wieder und enthülle alle ihre köstlichen, ihr so lange stiefmütterlich entzogenen Reichtümer. Die ganze freie vom Bann der Realistik erlöste Formenwelt, das, was in Wellen, Wolken, Bergen, allen Elementen und Lebewesen die Seele des Künstlers weit über das bisherige Figurenhafte und Naturgemäße hinausführt, steht auf und glänzt und schimmert in allen Farben und Materialien, Metallen, edlen Steinen und Glas an allen Stellen des Raumes, wo das Spiel von Licht und Schatten dazu herausfordert. Nicht glatt und wandhaft ist dieser Raum sondern von der Harmonie einer reichen vollendeten Gliederung. Von seinen Emporen erklingt die große Musik akustisch ungestört eine Musik, die, dem Häuslichen ebenso fern wie die bildende Kunst, nur dem Höchsten dient.

 44. Vogelschau nach Westen

Vom Licht der Sonne durchströmt thront das Kristallhaus wie ein glitzernder Diamant über allem, der als Zeichen der höchsten Heiterkeit, des reinsten Seelenfriedens in der Sonne funkelt. In seinem Raum findet ein einsamer Wanderer das reine Glück der Baukunst und; auf den Treppen im Raume zur oberen Plattform emporsteigend, sieht er zu seinen Füßen seine Stadt und hinter ihr die Sonne auf- und untergehen, nach der diese Stadt und ihr Herz so streng gerichtet ist. »Das Licht will durch das ganze All und ist lebendig im Kristall«. (1 Spruch Scheerbarts am Glashause zu Köln 1914.) Aus der Unendlichkeit kommend fängt es sich in der höchsten Spitze der Stadt, bricht sich und leuchtet auf in den farbigen Tafeln, Kanten, Flächen und Wölbungen des Kristallhauses. Dies soll Träger eines kosmischem Empfindens werden, einer Religiösität, die nur ehrfürchtig schweigen kann. Es steht aber nicht isoliert da, sondern wird getragen von Bauten, welche den edleren Regungen des Volkes dienen, und welche weiterhin in Vorhöfen wieder von dem profaneren Getriebe getrennt sind: wie früher Jahrmarkt und Kirchweih vor der Kirche, so hier Realistik und Lebensfreude um den Kristall. Der Glanz, das Leuchten des Reinen, Transzendentalen schimmert über der Festlichkeit der ungebrochen strahlenden Farben. Und als ein Farbenmeer breitet sich der Stadtbezirk rings umher aus, zum Zeichen des  Glückes im neuen Leben. Immer ist das Letzte still und leer. Meister Eckhart sprach: »Ich will Gott niemals bitten, daß er sich mir hingeben soll; ich will ihn bitten, daß er mich leer und rein mache. Denn wäre ich leer und rein, so müßte Gott aus seiner eigenen Natur sich mir hingeben und in mir beschlossen sein.« Der Dom war das Gefäß aller Seelen, die so beteten. Und es bleibt immer so - leer und rein - »tot« -, still und ganz und gar abgewandt den Tageszwecken bleibt für alle Zeiten das Letzte der Architektur. Hier verstummt immer der Maßstab praktischer Forderungen - ähnlich wie bei dem Münsterturm, der im Verhältnis zu dem ohnehin schon »unpraktischen« Schiff noch weit über  das hinausgeht, was dieses Kristallhaus im Vergleich zu den vielen von einer  höheren Zweckmäßigkeit gebörenen Bauten bedeutet. Sonst aber steht alles auf bekanntem sicheren Boden. Bei der Stadtgründung wird das Areal freigelassen; dann mit der wachsenden Ausdehnung der Stadt nach dem festen Plan nach und nach das Notwendige errichtet, bis einmal das Letzte aufgetürmt wird. Durch Generationen kann sich der Bau hinziehen, die Mittel finden sich im Maße des Fortschritts, und diese Übereinstimmung zwischen Tempo und Bedarf wird auch die Harmonie des Stils erzeugen. Es können viele Architekten daran bauen, nur daß sie sich einem großen Plan einfügen. Herrlich, daran mitzuwirken ohne zu wissen, welcher glückselige Brunelleschi einmal die höchste Krone formen wird! Die architektonischen Formen sind in diesem Entwurf natürlich nur summarisch zu nehmen. Die Stilfrage verliert für uns Architekten ihre Problematik, wenn wir erst einmal wissen, was unser Ziel ist. Und es mag dieser Vorschlag selber problematisch genannt werden. Vielleicht mit Recht - es mag die Lösung der Stadtkrone einmal ganz anders ausfallen. Immerhin ist genug geschehen, wenn er sein bescheidenes Teil mit dazu gegeben hat, das Suchen in dieser Richtung anzuregen. Diese Arbeit soll bestenfalls eine Fahne sein, eine Idee und theoretische Anregung, deren endgültige Lösung vieltausendfältige Möglichkeiten in sich schließt.

 45. Stadtsilhouette
 46. Stadtschema
 47. Die Stadtkrone, Bild
 48. Die Stadtkrone, Plan und Silhouette
 49. Die Stadtkrone, perspektivische Ansicht
 50. Gartenstadtsiedlung Falkenberg
 51. Straßenbild aus Falkenberg


WIRTSCHAFTLICHES ZUR STADTKRONE

Die Ausführungskosten der Stadtkrone ergeben folgendes überschlägliche Zahlenbild:

A. Baukosten:
1. Kristallhaus (15,0 Millionen Mark)
2. Opernhaus (6,0 Millionen Mark)
3. Großes Volkshaus (4,0 Millionen Mark)
4. Schauspielhaus (4,0 Millionen Mark)
5. Kleines Volkshaus (2,0 Millionen Mark)
6. Magazine usw. für 1-5 (0,5 Millionen Mark)
7. Gesellschaftshäuser, 2 . 0,1 = (0,2 Millionen Mark)
8. Aquarium und Pflanzenhaus (0,2 Millionen Mark)
9. Kolonnaden, Freitreppen in Vorhöfen und Gärten von I-8 (1,0 Millionen Mark)
10. Bibliothek (1,0 Millionen Mark)
11. Museum (1,0 Millionen Mark)
12. Lesehäuser (0,1 Millionen Mark)
13. Sommertheater (0,5 Millionen Mark)
14. Sommerrestaurant (0,3 Millionen Mark)
15. Musikpavillons, Kioske (0,03 Millionen Mark)
16. Restaurants, Kaffees, 4 . 0,2 -f- 2 . 0,1 = (1,0 Millionen Mark)
17. Konsume usw., 4 . 0,2 = (0,8 Millionen Mark)
18. Abrundung (0,37 Millionen Mark)
Zusammen (38,0 Millionen Mark)

B. Erdbewegung, Planierung, Kanal-, Wasser-und Gartenanlagen, rund 20% = (7 Millionen Mark)
Ausführungskosten = (45 Millionen Mark) insgesamt.

Die Baukosten des Kristallhauses sollen in ihrer Höhe nicht andeuten, daß die Schönheit durch Prunken mit teuerem Material erreicht werde. Sie sollen nur einen freien Rahmen geben für eine Aufgabe, die die volle Hingabe der Künstler unabhängig von Zeit und Geld erheischt. Solche Werte lassen sich im Grunde gar nicht abschätzen. Wer wollte heute einen festen Kostenbetrag für den Bau des Straßburger Münsters berechnen! Dagegen könnten öffentliche Zweckbauten, wie Markthallen; Bahnhöfe u. dgl., auch Bureaus, Bäder, Schulen, Rathaus, mit geringerem Aufwand für architektonische Wirkungen gebaut werden, als es bisher geschieht, damit eine Abstufung im Wesentlichen sichtbar wird und die höchste Schönheit sich im Höchsten offenbaren kann.
Die Herstellungskosten der ganzen, Stadtkrone genannten Baugruppe sollen der Stadt nicht auf einmal zur Last fallen. Im Verhältnis zum Wachstum der Stadt und dem sich dabei ergebenden Bedürfnis werden die notwendigen Bauten errichtet, wobei der einzelne Bauabschnitt immer ein abgerundetes architektonisches Bild zeigen kann. Die Kosten teilen sich dann etwa in folgender Weise:

1. Etappe: bei einer Einwohnerzahl von rund 30000 Menschen
16 u.17. Konsumhäuser, Restaurants usw. halb (0,9 Millionen Mark)
13. Sommertheater (0,5 Millionen Mark)
14. Sommerrestaurant (0,3 Millionen Mark)
Allgemeines 25% (0,4 Millionen Mark)
Zusammen (2,1 Millionen Mark)

2. Etappe: bei rund 100000 Einwohnern
16 u.17. Konsumhäuser, Restaurants, 2. Hälfte (0,9 Millionen Mark)
5. Kleines Volkshaus (2,0 Millionen Mark)
4. Schauspielhaus (4,0 Millionen Mark)
7 u. 8: Aquarium, Pflanzenhaus und Gesellschaftshäuser (0,4 Millionen Mark)
Allgemeines 25% (2,0 Millionen Mark)
Zusammen (9,3 Millionen Mark)

9,3 + 2,1 = (11,4 Millionen Mark)

3. Etappe: bei rund 250000 Einwohnern
10. Bibliothek (1,0 Millionen Mark)
11. Museum (1,0 Millionen Mark)
2.Opernhaus (6,0 Millionen Mark)
3. Großer Saalbau (4,0 Millionen Mark)
9. Kolonnaden usw. (1,0 Millionen Mark)
6,12,15 u.18. Wirtschaftsgebäude, Magazine usw. (1,5 Millionen Mark)
Allgemeines 25% (3,6 Millionen Mark)
Zusammen (18,1 Millionen Mark)

11,4 + 18,1 = (29,5 Millionen Mark)

4. Etappe: bei 300000 und mehr Einwohnern
1. Kristallhaus (15 Millionen Mark)
Allgemeines (0,5 Millionen Mark)
Zusammen (15,5 Millionen Mark)

29,5 + 15,5 = (45 Millionen Mark)

Das Gelände der Stadtkrone mit einer Größe von 500 X 800 m = 400000 qm oder 40 ha ist in die Berechnung nicht mit einbezogen. Bei der Gründung der Stadt nach gemeinnützigen Grundsätzen würde das ganze erforderliche Areal, soweit sich die Entwicklung der Stadt vorausbestimmen  läßt - in diesem Falle 38,5 qkm -, von der neuen Gemeinde belegt und Stück für Stück aus landwirtschaftlicher Nutzung für die Bebauung freigegeben werden. Das Bauland der Zentralanlage würde dabei außer der Verzinsung keine Steigerung erfahren. Welche Ursachen zur Gründung neuer Städte führen, ob sie durch den Zusammenschluß industrieller Werke, durch eine günstige Handelslage, durch besondere Institute oder durch landwirtschaftlichen Absatz und Umschlag, oder auch durch die Verbindung mehrerer von diesen und anderer Faktoren am leichtesten geschieht, kann hier nicht untersucht werden. Die örtlichen Voraussetzungen im Verein mit Hauptbahnlinien, Häfen, Flußläufen usw. werden hier entscheiden. Jedenfalls ist es sicher, daß die wirtschaftliche Zersetzung der heutigen Großstädte infolge planloser Bebauung, verbunden mit der Bodenspekulation und dadurch maßlos angeschwollenen Bodenpreisen, zur Gründung neuer großer Städte auf jungfräulichem Gelände führen muß. Und ebenso sicher ist es, daß diese Städte nicht bloß baulich nach den neuen Erkenntnissen errichtet werden, sondern auch in ihrem kommunalen Gefüge auf gemeinnütziger Grundlage beruhen müssen. Sie werden der deutlichste Ausdruck des sozialen Gedankens sein, und ihr  Bild, mit einer Krone an der Spitze, wird wie eine Pyramide der Menschenschichtung Symbol und fest umrissenes Ideal für alle praktische soziale Arbeit sein. Daß in einem solchen Stadtgebilde die absoluten Kosten der Zentralbaugruppe geringer werden und leichter von der Gesamtheit der Bürger zu tragen sind, ist selbstverständlich. Nicht allein durch die Zusammenlegung der Theater, Volkshäuser usw. werden sie geringer, als wenn diese Bauten in der Stadt zerstreut liegen, weil damit eine große Ersparnis in Nebenanlagen und Unterhaltungskosten eintritt; - nach der umfangreichen Literatur über diesen Gegenstand wird die gemeinnützige Organisierung der neuen Stadt einen so erheblich geringeren Aufwand an Straßenbaukosten und allen anderen der Bürgerschaft zur Last fallenden Ausgaben zur Folge haben, daß, verglichen mit den heutigen Städten, ein Überschuß entsteht, der weit über die Kosten der Stadtkrone hinausgeht. An den heutigen Städten gemessen, kann man sagen, fallen sie fort und ergeben trotz des »zwecklosen«  und kostbaren Kristallhauses keine Steuerbelastung des Gemeinwesens.


NEUERE VERSUCHE ZU STADTBEKRÖNUNGEN
Nachwort

Sinn und Absicht dieser Arbeit ist es, nicht etwas zu geben, das in allen Einzelheiten feststeht, sondern vielmehr allgemein anzuregen und gerade auch dort fruchtbringend zu wirken, wo es sich nicht um ausgesprochen neue Städte, sondern um Erweiterungen und Umbildungen bestehender Zustände handelt. Selbst unter dem Zwange zu Kompromissen wird der Wunsch, auch in den einzelnen Stadtteil Relief hineinzubringen, die erste Stelle eins nehmen müssen. Natürlich ist das Ziel die völlig neue Stadt, und es liegt vielleicht gar nicht so weit, als man glauben möchte. Die Bildung der Gemeinde Rheinfelden, welche ein Beispiel für das planlose Aufschießen von Städten ist, Rüstringen bei Wilhelmshaven, das ein Gegenbeispiel dazu darstellt, und schließlich manche in der Öffentlichkeit erörterte Anregung zur Gründung neuer Städte in Deutschland, sei es im Industriegebiet Rheinland Westfalens oder an der Elbe und ähnliches sprechen dafür. (1 Die starke von Hans Kampffmeyer ausgegangene Bewegung zur Gründung einer »Friedensstadt« gibt Hoffnung auf eine nicht zu ferne Erfüllung unserer Wünsche) Es mag deshalb von Wert sein, kurz die wesentlichen Strömungen zu kennzeichnen, welche bereits innerhalb der bestehenden Verhältnisse auf eine solche Stadtbekrönung hingewiesen haben und es noch tun. Im 18. Jahrhundert, der Blütezeit des fürstlichen Absolutismus, gründeten die Landesfürsten neue Residenzen, bewogen durch »Baugnaden« die Bürger zur Ansiedlung und machten in hoher Selbsteinschätzung ihres Berufes das Schloß zum Mittelpunkt der neuen Stadt. (Abb. 54 Karlsruhe.) Die Kirche wurde in Karlsruhe zum Pendant des Rathauses, welche beide, in der Masse gleich und mit gleichen Türmen versehen, einander gegenüberstehen. Es kann nicht behauptet werden, daß hier eine große Idee im Sinne alter Städte obgewaltet habe: »Aufklärung«. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts brachte die bereits erwähnten Versuche der romantischen Schule, Schinkels (Abb. 52); in verwandter Richtung liegt der Entwurf Gillys für das Denkmal Friedrichs des Großen auf dem Leipziger Platz zu Berlin (Abb. 53), der bereits den Keim zu der späteren Denkmalsseuche in sich trug, so große Schönheiten der Entwurf selbst auch hat. Nun kam das Chaos und mit ihm die vollendete Wildheit und Planlosigkeit im Stadtbau. Erst nachdem seit den neunziger Jahren sich die Lehre des »Städtebaues« entwickelte, tauchte ganz allmählich der Wunsch nach Ziel und Bekrönung auf. Ich stelle hier das von Ebenezer Howard in seiner bahnbrechenden Schrift »Gartenstädte in Sicht« für das Stadtzentrum skizzierte Planschema (Abb. 56) demjenigen der chinesischen Stadt Küfu  (Abb. 58) gegenüber, um zu zeigen, wie rein rationalistisch man vorging. Das Zentrum der Gartenstadt Letchworth (Abb. 57) zeigt die Verbindung von Kirche und Rathaus. Das machtvolle Areal des Konfuzius-Tempels in Küfu (Abb. 55) spricht von einer gewaltigen, alle Gemüter bewegenden Idee, der gegenüber unser zerfließender Rationalismus sich nur demütig beugen kann. Aber die Idee der Gartenstadt ist mehr als bloßes Verstandeserzeugnis. Sie ist aus einer Sehnsucht nach Glück geboren und wird uns dem Ziele entgegenführen. Der abgebildete Plan für Klein-Hohenheim bei Stuttgart (Abb. 63) möge als ein Beispiel dienen, daß auch bei einer lockeren landhausmäßigen Bauweise die Schaffung einer Krone mit Festhaus u. dgl. wohl möglich ist. Angestrengte Bemühungen setzten ein, das einmal entstandene regellose. Großstadtbild zu ordnen und auch die öden Mietskasernenviertel mit einem Hauche menschlichen Geistes zu berühren. Viele Anregungen, selbst hier Halt und Kopf zu geben, bot der Groß-Berliner Wettbewerb 1910, der noch an dem Bilde der Reichshauptstadt retten sollte, was zu retten war. Am auffallendsten trat die Neigung zur Spitzenbildung bei der Arbeit von Bruno Schmitz hervor, die aber an einer künstlichen Selbstüberbietung und Monumentalitätssucht krankte. Es fehlte die innere Idee, ohne die solche Dinge nur im Formalen stecken bleiben. Wie edel berührt die Bekrönung Londons durch die St. Pauls-Kirche, die früher nach dem Willen der Stadtschöpfer ganz gewaltig überragte (Abb. 14), aber auch heute noch eine große Wirkung ausübt: in der Krypta, genau im Mittelpunkt der Kuppel, der prächtig hochgestellte Sarkophag Nelsons, darüber die Kirche mit der gewaltigen Kuppel, die auch heute noch das Stadtbild weithin beherrscht. Diese Prägung des Heldenkults erinnert an die feinkultivierte und durch lange Tradition gepflegte Ehrung der Helden im chinesischen Kultus. Schöne Arbeiten erzeugte das Bemühen Otto Wagners in Wien, in die Mietskasernenstadt Ordnung und Klang hineinzubringen (Abb. 62), wenn es auch unter gewissen lyrischen Elementen und unter der unmöglichen Gegenüberstellung von selbstständigen in sich abgerundeten Bauten zu den Baukästen der Häuserblöcke leidet. Es liegt hier etwas den amerikanischen Bestrebungen Verwandtes vor. In Amerika hat man vielleicht am klarsten die Notwendigkeit der Stadtbekrönung erkannt. Eine große Strömung setzte ein, die sich zur besonderen Aufgabe die Schaffung von Mittelpunkten im Stadtbilde machte. Der »City- Club« in Chicago erließ einen Wettbewerb für die Ausgestaltung von Nebenmittelpunkten im Erweiterungsgebiete der Großstädte. Charakteristisch für die Anschauungsweise der Amerikaner diesem Problem gegenüber ist die Äußerung von Frederic C. Howe: »Es gab drei große Zeitabschnitte, in denen der Städtebau die Gedanken und Träume des Menschen anregte: die Zeit der Antonine, in der das römische Volk mit Begeisterung sich der Verschönerung seiner Städte widmete; das Mittelalter in den Städten Italiens, Frankreichs, Deutschlands und der Niederlande, deren Denkmäler die erwachsende Liebe und den Stolz der zu junger Freiheit gelangten Bürger bekunden, und jetzt im 20. Jahrhundert, in dem das deutsche Volk seinen Stolz auf das Vaterland und sein Machtgefühl in Denkmälern von demselben Sinn für Dauer und künstlerischen Glanz bekundet.«
Cornelius Gurlitt charakterisiert die amerikanischen Bestrebungen in einem Literaturbericht im »Städtebau« folgendermaßen: »Da gibt es vor allem sehr lehrreiche Bücher, deren Ziel es ist, ein geregeltes Bauwesen für eine Stadt vorzubereiten. Es wird zumeist darauf gesehen, ein Civic Centre zu schaffen, d. h. für die Mitte der Stadt eine großartige Platz- und Straßenanlage zu entwerfen, die mit allen Mitteln der Kunst ausgestattet werden soll. Die Größe ist das Entscheidende unter diesen Kunstmitteln : Straßen von 100 Metern Breite, eingefaßt von zwölfgeschossigen Häusern, in der Mitte ein riesiges Capitol oder Municipal Building. Selten findet man eine klare Berechnung der Kosten für Grunderwerb, Straßenbau, Bau der öffentIichen Gebäude, noch weniger darüber, wie diese Kosten auf die Schultern der Steuerzahler verteilt werden sollen. Eine sichere Hoffnung auf die Kraft  der Zukunft läßt den großartigsten Plan als den willkommensten erscheinen. Die Städtebauausschüsse sparen nicht Vergleiche mit den großen europäischen Städten, um das zu zeigen, worin diese die amerikanischen übertreffen. Der ,wohlbekannte Unternehmungsgeist und hohe Bürgerstolz berechtigt zu großen Hoffnungen für die Zukunft der Stadt, heißt es im Bericht für Rochester.«
Wie ideal gerichtet diese Bestrebungen sind, mögen die folgenden Worte dartun, die George B. Ford, Berater des Ausschusses für den Stadtplan der Stadt New York am 21. April 1916 auf der Nationalversammlung zur Schaffung von Gemeinschaftsmittelpunkten sprach. »Es genügt nicht, die verschiedenen Gebäude und offenen Plätze so zu gruppieren, daß sie zusammenwirken. Wir bedürfen auch der Schönheit - der Schönheit der Linie, der Form, der Farbe, der Verhältnisse, der Masse, der allgemeinen Komposition. Der geistige Mensch lechzt nach Schönheit.« Und weiter: »Selten haben unsere örtlichen Straßennetze irgendwo einen Kopfpunkt. Gewöhnlich gleichen unsere Pläne einförmigen Bratrosten ohne Abwechslung oder Betonung---. Läßt man die Phantasie mit den Möglichkeiten eines solchen Planes spielen, so entrollt sich allmählich die Vision des Großstadtplanes der Zukunft; eine Stadt aus vielen miteinander verwebten Ortschaften, jede in sich ganz und genügend für die gewöhnlichen Dinge des täglichen Lebens, aber hinauslangend nach den außergewöhnlichen. So würde eine Anzahl von Orten ihre höheren Schulen, ihre Zentralbüchereien, Theater und großen Hörsaal, ihre Konzertsäle, ihre Waffenkammern und größeren Spielplätze in einer Gruppenmitte vereinigen. Große Gemeinschaftsgruppen für die ganze Stadt würden Universitäten, Kunstsammlungen, Anstalten für Kranke und Bedürftige und, schließlich, als Gipfelpunkt der ganzen Stadt, die Gruppe für Verwaltung, Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit umfassen.--- Eine Gemeindemitte in diesem Sinne würde sehr viel dazu beitragen, das Wachstum der Empfindungen für das Gemeinwohl zu beschleunigen. Sobald der Mensch erst das Empfinden der Gemeinde als solcher erlangt hat, ist er viel besser imstande, den wahren Inhalt und die Bedeutung der verschiedenen Wechselbeziehungen zwischen den Nachbargemeinden zu schätzen, und so aufwärts, bis vielleicht eines Tages, wie in einer Vision, sich das ganze große Panorama vor ihm entrollt und er in all ihrer Herrlichkeit und Schönheit ,Die Stadt` empfindet.«
Diese Worte liegen völlig in der Richtung dessen, was auch wir suchen. Auffallend ist daran die Tendenz zur Verkörperung des Bürgerstolzes, die dem auf seinen jungen mächtig aufgeblühten Staat stolzen Amerikaner besonders nahe liegt. Das neue Munizipalgebäude in New York zeigt ein Beispiel für die Verwirklichung dieses Gedankens (Abb. 60). Es kommt gewaltig aus dem Stadtbilde heraus, um sich neben den Wolkenkratzern zu behaupten. Doch wenn man sich das Stadtbild New Yorks ansieht (Abb. 61); so steht es darin nicht gewaltiger, als das herrliche Rathaus in Augsburg (Abb. 59), das sich schließlich doch wieder der eigentlichen Stadtkrone, der Ullrichskirche (Abb. 8) unterordnet. Jene hohe Einschätzung des Bürgerstolzes in den alten Städten, die Howe oben aussprach, scheint also doch auf der Verkennung dessen zu beruhen, was wirklich als höchster Ausdruck des höchsten Gedankens eine Stadt bekrönen kann. Die neuen amerikanischen Stadtpläne weisen als Gipfel das Kapitol, die Regierungsgruppe auf, wie der Plan für die Bundeshauptstadt Australiens von W. Griffin in Chicago (Abb. 64) zeigt. Die Kirche spielt darin nur eine sehr kümmerliche oder gar keine Rolle. Es sind letzten Endes Erzeugnisse eines kühnen Rationalismus, einer Art Rekordsucht, die, auch noch so schön gestaltet, -nicht für die Dauer überzeugen werden. Selbst das formschöne Kapitol in Washington (Abb. 68), das als höchster Regierungssitz des großen Landes den Staatsgedanken verkörpert, kann nicht mit der sakralen Verquickung von Staat und Religion, wie sie sich in der Antike zeigt, verglichen werden. Freilich mag das amerikanische Staatsgefühl nicht allein im Organisatorischen und im Verwaltungsapparat aufgehen; der Staat ist dort mehr als in Europa Sinnbild von Zuflucht und Freiheit. Aber eine sakrale Bedeutung hat er auch dort ganz und gar nicht; er ist auch dort ebenso wie anderswo Diener des Volkes, und es will uns nicht eingehen, ihn zum Träger der letzten in Architektur übersetzten Gedanken, des Sehnens und Glaubens aller Menschen zu machen. Bureauräume und Sitzungssäle mit einem riesigen die Stadt beherrschenden Aufbau abzuschließen ist absurd, und mag von ihnen eine noch so einschneidende Wirkung für das Wohl der Bürger ausgehen. Mehr als Staatsbürger sein heißt Mensch sein« (Robert Saitschik). Der Staat ist und bleibt nur das Gehirn der Gemeinschaft, das Herz muß anderswo sitzen. Das Gleiche gilt von dem an sich wirkungsvollen Justizpalast in Brüssel (Abb. 67), zwar hier noch mehr im negativen Sinne. Wie fein berührt dagegen der schlichte einstöckige Bau des Auswärtigen Amtes in Berlin (Abb. 66), der die treffendste Übereinstimmung von Form und Inhalt für solche Bauten bedeutet.
Das Gebäude der Landesvertretung scheint jedoch im höchsten Maße zur Repräsentation geschaffen zu sein. Zunächst aber hat es wenig Beziehung zu der Stadt, in der es gerade steht, und dann ist sein Wesen doch wohl weniger das der Repräsentation als der angestrengten Arbeit, zu welcher sich die Vertreter aller Volksschichten zum Heile des Ganzen vereinigen. Die dafür gebauten Häuser zeigen aber meistens in ihrer Architektur einen bombastischen Phrasenschwall, wie wenn die Aufgabe der Volksvertretung in prunkenden Reden und nicht in guten Gesetzen liegt, wofür leider unser Reichstagsgebäude trotz seiner historischen Bedeutung ein Beispiel gibt. Es ist ein Suchen bei den Amerikanern, das wir als solches anerkennen müssen. Fast scheint es, wie wenn die Amerikaner die Unmöglichkeit dieses zum alleinigen Prinzip erhobenen Rationalismus zu fühlen beginnen. Der Entwurf eines Weltzentrums, einer Welthauptstadt (Abb. 65), von zwei Amerikanern, Andersen und Hebrard stammend, hat im Herzen neben sonstigen der Bildung und Kunst dienenden Gebäuden als höchste Spitze »den Turm des Fortschritts« von 320 Metern Höhe. »Er bildet das Zentrum einer runden Platzanlage, um das die Paläste für wissenschaftliche Kongresse liegen, alle ausgestattet mit Galerien, Bibliotheken, Bureaus, Kuppeln, Türmen und Kolonnaden. Rechts und links erheben sich die Gebäude für den internationalen Gerichtshof und für den Tempel der Religionen. Eine internationale Bank und eine Weltbibliothek vervollständigen diese Baugruppe. Um dieses monumentale Herz der Stadt nun legen sich konzentrisch die Boulevards mit den Wohnvierteln; den äußersten Ring bildet eine Gartenzone mit begleitendem Wasserlauf.« Es liegt hier ein Ideenbauen vor, das zwar outriert erscheint, aber ein Loskommenwollen vom rein Verstandesgemäßen ankündet. In eine ähnliche Richtung weist der in den Zeitungen aufgetauchte Plan einer Bündnisstadt an der deutsch-österreichischen Grenze, deren Mittelpunkt verwandten Strömungen entsprechen sollte. Als das treffendste Beispiel eines solchen Ideenbauens sei zum Schluß der von edlem Menschentum zeugende Entwurf des Holländers H. P. Berlage für ein Völkerdenkmal erwähnt (Abb. 69), der ihn mit folgenden Worten erläutert: »Dieses Pantheon habe ich mir gedacht nach dem Krieg mitten in Europa auf einem Hügel erbaut, der die Ebene übersieht. Acht Heerstraßen führen von allen Himmelsrichtungen den Pforten zu. Diese, zwischen den Türmen der Liebe und des Mutes, der Begeisterung und der Besonnenheit, der Wissenschaft und der Macht, der Freiheit und des Friedens gelegen, welche, Wächtern gleich, die große runde Halle umgeben und nachts ihr Licht weitaus in die Ferne ausstrahlen, gewähren zum Pantheon Einlaß. An die Türme grenzen die Höfe der stillen Betrachtung, eingefaßt durch die Galerien des Gedächtnisses der Gefallenen aller Staaten, die Krieg geführt haben. Durch die Galerien der Versöhnung schreitet man in den großen Saal. Dort steht, durch die Galerie des Gedächtnisses umschlossen, einzig durch das Zenitlicht der Kuppel bestrahlt, das Denkmal der Menschen-Einheit. Weiter oben liegen die Galerien der Erkenntnis, der Erhebung der Seele und des allumfassenden Verständnisses. Sodann schließt die Kuppel der Völkergemeinschaft den Raum ab.«
Hiermit ist ein Ideenbauen in äußerster Fassung ausgesprochen, ein Komplex, wenn auch schöner in der Form, so doch nicht unähnlich dem der hoffentlich schon hinter uns liegenden Denkmalsepidemie. Man kann nicht einfach irgendwelche Baukörper mit sinnbildlichen Bezeichnungen schmücken. Diese Sinnbilder müssen erst durch eine lange philosophische und religiöse Übung Allgemeingut geworden sein, wie beim chinesischen Tempel (Tor der Erkenntnis, der Läuterung und ähnliches). Eine solche Ideenverbindung mit Baukörpern erscheint uns fremd, weil wir keine Handlungen kennen, die ihre Bezeichnung rechtfertigen. So ist es schließlich wohl der gleiche rationalistische Boden, aus dem dieses abstrahierende Bauen wächst.
Die Architektur ist Kunst und sollte die höchste Kunst sein. Sie entsteht nur aus einem starken Gefühl und spricht auch nur zum Gefühl. Der Kopf kann bestenfalls regulierend wirken, sie selbst, ihr innerstes Wesen kann nur aus dem Herzen erblühen, und dieses allein müssen wir sprechen lassen.

 52. Entwurf zu einem Gedächtnisdom von Schinkel
 53. Entwurf zum Denkmal Friedrichs des Großen auf dem Leipziger Platz zu Berlin von Gilly
 54. Karlsruhe, Stadtplan
 55. Konfuziustempel in Küfu
 56. Planschema von Howard
 57. Zentrum für Letchworth
 58. Plan der Stadt Küfu
 59. Augsburg, Elias Hollplatz
 60. Munizipalgebäude für New York
 61. New York, Stadtbild
 62. XXII. Distrikt in Wien
 63. Projekt für Klein-Hohenheim
 64. Plan für ein Bundeshauptstadt Australiens
 65. Projekt für eine Welthauptstadt
 66. Auswärtiges Amt zu Berlin
 67. Justizpalast in Brüssel
 68. Kapitol in Washington
 69. Entwurf eines Völkerdenkmals von Berlage


AUFBAU
VON ERICH BARON

Der Staatsgedanke ist die starre Klammer der Vernunftgebändigten zur Erschaffung, Wahrung und Stärkung von Machtgebilden, Reichen und Provinzen von außen her. Der soziale Gedanke durchdringt von innen die staatliche Gemeinschaft. Die sich als Kinder Gottes fühlen, es sich in religiöser Scheu selbst nicht gestehen, die fremd dem Walten weltlicher Macht, fromm dem Wirken inneren Gebotes hingegeben sind, die Künstler von Gottes Gnaden, die nie und nirgends zu Hause sind, die Nichtbeamteten, die Nichtversorgten, sie helfen auf unpolitischem, auf überpolitischem Wege die Idee höheren Gemeinschaftslebens verwirklichen. Wie Fernstenliebe wahre Nächstenliebe in sich schließt, ist Sternensehnsucht Antrieb und göttliche Entflammung zu schönerem Aufbau dieser Welt. Wallfahrt und Schicksal, Pilgerschaft und Verklärung sind die Hüllen, in denen der transzendental gerichtete Mensch sein Leben geformt sieht. Nach Kampf und Ziel, Zusammenschluß . und Gewinnvermehrung trachtet der weltliche Sinn. Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.  Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder sein. Mancher wähnt, daß der soziale Gedanke nur eine Zeiterscheinung sei, die der Steigerung der Individualität entgegengesetzt ist. Wenn wir uns sehnen allein zu sein, so ist es oft nur der heimliche Wunsch, in ungetrübter Gemeinschaft mit uns selbst oder noch lieber anders mit anderen zu sein. Die private verheimlichte Ichheit mit dem öffentlichen Geiste zu verknüpfen, die »neue Gemeinsamkeit der Seelen« zu fördern, der Sehnsucht zu genügen, »noch einmal anzufangen, ganz wo anders anzufangen und nicht mehr so allein zu sein«, ist oft versucht worden, im Kriege noch von modern-liberaler Seite. Und die »Aktivisten«, die jungstürmenden Verkünder des »tätigen Geistes« behaupten, daß sie Politiker…..nicht »gegen den Staat«, aber für einen andersartigen sind. Jedes Gemeinschaftsleben fußt auf einem , sozialen Gebilde, dessen höhere Entwicklung auch höhere Stufen der Gemeinsamkeit im einzelnen wie im allgemeinen zeitigt. Der Grad der Kultur ist nicht nur zu bemessen, wie sie in höhere Schichten steigt, sondern wo sie unterhalb beginnt. In den Bestrebungen durch Gewerkschaften und Genossenschaften, Volksbühnen und Volkshäuser, Gartensiedlungen und Massenhygiene dem Ganzen zu dienen, liegt gleichzeitig das Bemühen des einzelnen, dem einzelnen zu helfen, ihn zu fördern und eines höheren veredelten Genießens teilhaftig zu machen. Wir wollen nicht nur die unentbehrlichen jungproletarischen Kräfte; die von unten drängen, wir wissen auch um die geistigen Potenzen, die nach oben ziehen. Es geht um die Mitarbeit der Künstler an dem sozialen Werke. Von ihrer Mission durchdrungen, haben viele von ihnen das Volk weder gekannt noch geliebt und sind ihm doch Förderer oder Führer gewesen. Andere haben in glühender Begeisterung und Erleuchtung sich ihm zugewandt. Die prophetischen Verkünder, die leidenschaftlichen Politiker, die visionären Dichter, sie alle verklärten im eigenen Feuer das Volk und hoben es über sich selbst hinaus. In ihnen war das große Mysterium, die tiefe wunderbare Kraft der Volksseele. Fjodor Dostojewski und Leo Tolstoi, Walt Whitman, Cervantes und Strindberg, Hamsun und Gerhart Hauptmann sind, wie alle großen Künstler, ob sie nun Dichter oder Apostel, Musiker oder Maler, Bildhauer oder Architekten seien, die wahren Volksbildner, die kraft ihrer eigenen Seele aus sich heraus dem Volke die Weihe gaben. Was sich ihnen entringt, gewinnt weiter wirkend Form und lebendige Gestalt auch bei den Empfangenden.
Wie eng begrenzt an innerem und geringem äußerem Wert sind heute noch die Volkshäuser und Volksheime. Dennoch ist einem bekannten österreichischen Lyriker, der dem Proletariat entstammt, »Volksheim: ein Wort voll donnernder Bewegung, schöpferischer Kraft und friedlicher Ruhe der Erkenntnis«. Das Haus selbst ist ihm mit seinem leuchtenden Anstrich ein weißes Steingestirn in dem Grau des Verfalls und des Elends seiner Umgebung ein Haus der Freude. Die Gasse, in der der Name Volkshaus prangt, ist ihm als Lichtquelle heilig geworden wie »das Mekka einer neuen Religion«. Bei der Einweihung eines Volkshauses durch die Sozialdemokratie sprach Sehnsucht in festlichen Worten vom »Atmen im Licht des Geistes«, vom »Leben in seelischem Überschwang«, und das Geständnis überraschte, nicht an den »Grenzen dieses Baues zu haften«, vielmehr zu glauben an »der Zukunft Sternenhaus«. So drängt auch die Arbeit der Gegenwart ins Weite. Nicht nur Häuser des Wissens, der Belehrung, der kargen Freude dem Volke - die Universitäten und Theater, alle Stätten der Weihe sollen sich denen öffnen, die im fließenden Licht der Gottheit zu ihnen wallen.

Aus einem Dom hören wir hohe Klänge. Von einem Turm schwingen feierliche Töne um uns. Die Kirche als Architektur, die Glocke als Instrument ist unserem Sinn entschwunden. Anbetung und Verheißung rührt unser Herz.
Von welchen Wundern lacht die Morgenerde,
Als wär' ihr erster Tag?
Die Schöpfung schauert wie im Stand der Gnade.
Kein Gänger kommt des Weges, dessen Haupt
Nicht eine ungewußte Hoheit schmücke.
Ein breites Licht ist übers Land ergossen,
Heil allen, die in seinen Strahlen gehen!
Stefan George, der diese Verse im Stand der Gnade dichtete, ist unserer Sehnsucht erlauchtester Verkünder. Nicht Verleugnung, sondern heilige Durchglühung des Lebens ist in ihm.

Leidtragende sind wir. Mord wütete unter uns. Leichengeruch durchdringt die Atmosphäre der Welt. Und zusammengekauert liegen die Seelen auf dem Brachfeld. Wir tragen das Leid, aber die Sehnsucht trägt uns darüber empor. Erstarrt im Grauen, zerfetzt von allem Entsetzlichen, spüren wir den Tod im Herzen. Unschuld ist vergiftet, Reinheit befleckt. An den geschändeten Heiligtümern knien Verworfene und Hoffnungslose. Wir richten uns zu neuem Glauben auf. Die Erde hat Blut in Strömen getrunken. Verrucht und kostbar bleibt sie Grab und Wiege des Menschengeschlechts, göttlicher Ahnung voll. Daß doch die Menschen menschlicher wären, sich nicht zerfleischten, dem räudigen Krieg keinen räudigen Frieden folgen ließen. Doch dazu bedarf es aller Läuterung, die das bisher »Selbstverständliche« kühn überwindet und nicht alles Weitere dem Schöpfer überläßt. Zu unserer Schöpfung sind wir Schöpfer und Geschöpf zugleich. Es frommt uns nicht, vom Göttlichen zu reden, wo die Sphäre unseres Wortes endet. Von einer Religion des großen Schweigens sprach Paul Scheerbart, der wußte, »daß wir alle das Bedürfnis haben, vor der Großartigkeit der Welt in glühender Begeisterung zu knieen«.
Er träumte von einem ganz anders gearteten Gottesdienst, als wir ihn kennen. Seine Tempel sollten allein durch ihre erhabene Architektur und durch die große Stille wirken, die nur von Zeit zu Zeit von feiner Orchester- und Orgelmusik unterbrochen wird. Nicht einmal Gesangstimmen dürften hörbar werden in diesen Tempeln. Kosmische Gemälde und Skulpturen dürften zuweilen in den Tempeln zu sehen sein, aber das Sichtbarzumachende wird immer seltener gezeigt, da es nicht im Einklang mit den überwältigenden Gefühlen der Weltverehrung zu bringen ist, wenn zu oft auf Einzelnes und Bestimmtes hingewiesen wird. So seelenhaft war die Religiösität und Weltenliebe dieses Dichters, der in der Glass- und Lichtarchitektur und in der Sternenkrone lebte und die Kämpfe »kindliche Erziehungsmittel unintelligenter Barbarenvölker« nannte. Vielleicht dachte er, der den Krieg verabscheuend starb, an die Lehre des Lao-Tse: »Das Allerweichste auf Erden überwindet das Härteste.«
Krieg wütete. Aber bevor man Österreicher, Serbe, Türke, Chinese ist, ist man Mensch, ein vernünftiges liebendes Wesen, dessen Aufgabe nur darin besteht, während der kurzen Frist, die es in dieser Welt zu leben hat, seine Bestimmung zu erfüllen. Diese aber ist ganz klar: alle Menschen zu lieben. So sprach Tolstoi, und er meinte, wer Sinn und Bedeutung des Lebens versteht, könne gar nicht anders, als seine Gleichheit und Brüderlichkeit mit allen Zugehörigen nicht nur seines, sondern, aller Völker fühlen. Aus demselben priesterlich-prophetischen Geiste wies Walt Whitman in seinen »Trommelschlägen« allen Völkern der Erde den Weg:
Seid nicht verzagt, Empfindung wird den Weg zur Freiheit bahnen jetzt;
Die sich lieben untereinander, sollen die Unbesieglichen werden.
…Dachtet ihr, Advokaten schüfen euch den Zusammenhalt?
Oder Verträge auf einem Papier? Oder die Waffen?
Nein fürwahr, so ist weder die Welt, noch irgendein lebendes Ding zusammengewachsen.
Hier spricht der Liebende des Lebens aus Whitman, der gestaltend eingreift in die äußere und geistige Formung der Welt. Der Liebende alles Lebens ist zum bewußten Schöpfer des sozialen Lebens geworden - er ist Sozialist. Aus der Fülle des Herzens zur geistigen Alldurchdringung zu gelangen, ist das idealistische Ziel des romantisch-visionären Sozialismus, der dem praktischen Sozialismus nicht entgegengesetzt zu sein braucht. Er ist sein Vorläufer und seine letzte Beflügelung. Tatkräftig zeugt Whitman von dem inbrünstigen Glauben an den neuen Menschen, an das neue Volk. »Chaos und Abgrund der Innigkeit, kosmische Liebe und Überschwang des Gefühls« ist in Walt Whitman; so fest und fruchtbar er im sozialen Geschehen wurzelt, so schöpferisch reißt und hebt ihn der Genius aus der Fülle der Erde in den leeren lichten Himmelsraum:
…Mitternacht: dies ist deine Stunde, o Seele, dein freier Flug ins Wortlose ;
Weg von Büchern, weg von Künsten, nach getilgtem Tag, nach getilgter Arbeit
Dich ganz und weit forthebend, schweigend, staunend, sinnend über das, was du am meisten liebtest:
Nacht, Schlaf, Tod und die Sterne.

So wollen wir unser Leben aufbauen, von Grund auf. Die Blüte liebend und die Frucht verehrend. Die Erde habend und den Himmel schauend. Die Fülle gestaltend und die Leere suchend. Es ist kein bloßer Architektentraum: der leere Glaspalast. Er ist im Strahlenglanze Sinnbild höchster Herrlichkeit.

Weltverbesserung und Zukunftsglaube sind oft geschmäht und mißachtet worden, als gehörten sie nicht in diese Welt oder als seien ihre Bekenner bestenfalls den Gregers Werle zu gesellen. Und doch hat Ibsen bei aller Inbrunst des Verneinens ihm seine ganze positive Liebe gegeben, wie ja selbst noch im Hjalmar Ekdal etwas von seiner ursprünglichen Brand-  und Peer Gynt. Seele flackert. Narren im guten und bösen, Betrüger im kleinen und großen finden wir auf allen Straßen, abwärts und aufwärts. Unendlichkeit auch noch im allerengsten Getriebe der Welt, das Land der Seele in der verkrümmtesten Gestalt sah mancher durch Hamsuns Mikrokosmos. Wir wollen ohne Scheu, die heute auch Sozialisten oft nur auf allzu bescheidene Gegenwartsziele pochen läßt, wieder Weltverbesserer heißen, Zukunftsgläubige sein. In aller Arbeit, die an Bestehendes und Gegebenes anknüpft, nicht gleichgültig die alten Fäden fortspinnen, sondern erwartungsvoll und überschwänglich stets dem Neuen, dem Unberechneten, dem Absoluten hingegeben sein. Das gilt auf allen Gebieten. Vergeistigung ist nicht bloß Verfeinerung des Denkens. Internationalität ist nicht bloß »zwischenstaatliche Verständigung«, wozu sie während des Krieges als Friedensziel hinabgesunken scheint. Freiheit ist nicht bloß Wahrung der Gesetzmäßigkeit. Bei den Ideen kommt es gerade auf das an, was jenseits ihrer Begriffsbestimmung, abseits der sie umschreibenden, gar nichts erklärenden Worte liegt. Wir lieben die Ideen, weil sie der Strom des Lebens , sind, der im Ewigen mündet.

Eine vorausschauende Betrachtung des Daseins darf, die Entwicklungsstufen übersteigend, transzendental gerichtet sein, ja sie muß es für alle die, denen das Haben nicht das Erhabene ist. Wenn Horaz mit der Stirn die Gestirne berühren möchte, so haftet er nicht weniger an der Erde, als wenn er den Wein besingt; die aber sich entäußern, sich völlig verlieren, sich ohne Sinn und Wollen dem Alltäglichen, Allbindenden enthaftet und entrückt fühlen, die gleiten in die Unendlichkeit. Erst mit den Sternen gewinnen wir das Leben ganz. Wie der Kampf um die Versorgung allein durch soziale Kultur behoben werden kann, so müssen wir von dem zivilisierten Geschmäcklertum zum Kultus der Kunst gelangen. Gloria mundi et coeli.

O du mondbeschienene Stadt, o du Ferne der Welt

Wir errichten die Stadt und das Reich, aber das Sicherste und Reichste im Menschen ist die Güte, mit der er den anderen und sich selber hilft. Dies war auch ehedem so, aber nur wenige vermochten den Zusammenhang ihres eigenen Lebens mit dem allgemeinen und großen inneren Glücksgefühl zu erkennen. Nun haben wir kraft unseres Wollens und Könnens ein äußeres Abbild dieses Aufstiegs errichtet. Nicht die Hütte und nicht der Palast, kein Dorf und keine Stadtanlage, keine milde oder schroffe Herrschgewalt schließen die letzte Bestimmung in sich. Was die Menschen nach oben ins Glück reißt, was sie nach unten in die Verdammnis stößt, das ist das Geheimnis, dem nur die erkennende Güte beizukommen weiß. Heilig und schön ist alles im Urgrund des Weltwesens, doch bedroht von Verzerrung. Unantastbar das Nichts. Helles Land, grenzenlos offen allen Strömen des Geistes, in Dir sind wir gekrönt, deine Sonne ist unser nie erlöschender Stern. Die Religion in ihrer herkömmlichen Bedeutung als Bindung an Gegebenheiten war dem Staate von jeher ein wertvolles Hilfsmittel für seine eigenen Interessen. Wenn sie sich in höhere Sphären verflüchtigte, ließen die Machthaber sie fallen. Der Staat als personifiziertes Ordnungsgebilde hängt an dem ausgestreckten Finger des menschenähnlichen Gottes. Götzendienst und Untertänigkeit sind die stets wiederkehrenden Formen der äußeren Frömmigkeit, die keine Scheinheiligkeit, und der lieblosen Gewalt, die keine aristokratische oder ochlokratische Tyrannis zu sein braucht. Abkehr von den niederen Geboten der Ichsucht, Aufgabe des Ichs in der Hingabe an die höhere Gemeinschaft sind die Auflösung uralter politisch-religiöser Forderungen aus ihrer zeitlichen Erstarrung in ihren ewig menschlichen Wert.

Nicht ein Programm, sondern eine Fahne soll gegeben werden; nicht ein toter Entwurf, sondern ein lebendiges Gebilde, das die Sehnsucht des Herzens schuf. Menschensiedelung als Seelensache. Der Verstand braucht dabei nicht zu schweigen. Er ist die spürende Vereinzelung in der wundervollen gesamten Unbedingtheit, die auch dort absolut herrscht, wo alles relativ scheint.

Volksrecht, Volkswille, Volksstaat - sind aus lebenskräftigen Tendenzen zu leeren Parlamentsformeln, Zeitungsköpfen und Buchtiteln geworden. Volkskunst, Volkshaus, Volksschule setzt Volk und Kunst, Haus und Schule in gleicher Weise herab. Volk ist tätiger und leidender Inbegriff der bewohnten Erde, Kaiser, König, Edelmann, Bauer, Bürger, Bettelmann. Der erste Diener des Staates sein zu wollen klingt demokratisch, des Königs Willen als oberstes Gesetz zu bestimmen klingt autokratisch. Beides aber geht am Volke fremd vorüber. Regieren und Regiertwerden ist die Umschreibung und Formel der Herrschenden und Untertanen. Mehr als aus Abstimmungen und Äußerungen einzelner spricht das Volk aus der Gesamthöhe seines Schaffens, hier spricht es, besonders auch in der künstlerischen Leistung, abbildlich zu uns. So gewinnen wir den rechten Maßstab. Richtig verstanden, sind Volk und Kunst unteilbar und untrennbar; die unterschiedlichen Stufungen gehen nur Staat und Gesellschaft, Länder und Geschichte, Handwerk und Unterhaltung an.

Der Beamtenstaat und der Militärstaat sind heute die gewöhnlichen Formen des bürgerlichen Neben. und Gegeneinanderlebens, wobei die Menschheit schlecht gedeiht. Das auf gegenseitiger Wertschätzung begründete Miteinandersein ist nur selten und dabei meist unglücklich erprobt worden. Die sozialen, kulturellen und künstlerischen Bestrebungen krankten und scheiterten vielfach an unedlen Abhängigkeiten und kleinpersönlichen Eitelkeiten, wo freie Selbständigkeit und überindividuelles Aufgehen im Werke der Sache und somit der Gesamtheit genützt hätte. Der Gedanke ,.der Gartenstadtgründungen ist spekulativ so arg verfälscht und die damit  verbundene größere Idee so oft und so sehr verkleinert worden, daß von der ursprünglich geplanten Bewegung bei uns in Deutschland noch weniger als in England übrig blieb, was sich zu fördern lohnte. Schöpferische Ideen verdorren ohne die Macht der Empfindung, die ihnen den Weg bereitet.  Wenn man zu klein anfängt, bleibt man leicht im Kleinlichen stecken. Großzügige Werke müssen groß begonnen und unbegrenzt weitergeführt werden. Das mangelnde Vertrauen in die Größe der Zeit ist oft nicht nur Ausgeburt, sondern auch Ursprung ihrer inneren Schwäche, die durch brutale Kraftanstrengungen und Machtbegier nicht widerlegt, sondern bestätigt wird.

In der Leuchtkraft des Glases ist die Architektur von ihrer Schwere erlöst. Wie die düstere Falte den Zorn, so schafft der lichte Anblick Heiterkeit und Harmonie. Die gutgebaute Stadt läßt Menschen edler und besser zusammenwohnen. Das große Wahrzeichen im Werk bringt sie dem großen Ziele näher. Kunst und Künstler, Bau und Mensch gestalten sich wechselseitig und neu. Weil der Stein kein gläsernes Leuchten hat, braucht der steinerne Bau, die steinerne Stadt keine Qual zu sein. Schönheit kennt keine Grenzen - wahrlich: man kann die Schönheit nie zu sehr lieben. Nicht um ein ästhetisches Prinzip, nicht um die ästhetische Form windet sich der Kranz. Heilig ist das Evangelium der Schönheit. Platos Idee, der kosmische Gedanke, die Weltflucht, Gotik und Traum sind Weltenliebe und große Magie. Wie der mittelalterliche Mensch vom Glaubensbekenntnis zu höherem Bewußtsein schreitet, so steigt und schwillt die soziale Sphäre zum kosmisch-göttlich-künstlerischen All.

Im wachen Traum, in seligem Erschauern sehen wir von fern das Land der Schönheit, wo die Menschen den Haß und die Qual überwunden haben, wo das Neben- und Gegeneinander sich zum Miteinander wandelt, wo der Neid und die Gier nach Besitz dem Glück der Sanftmütigen und Friedfertigen gewichen sind. Wie wenige wissen, daß Sanftheit nicht zag und schwach, Friedfertigkeit nicht feig und untertan macht. Im Morgenrot der siegenden Sonne schreitet geistig verjüngt der Mensch, der um des Höheren willen die niederen Sphären überwunden hat. Im Lichte des kommenden Tages leuchten uns die Zinnen der ewigen Stadt. Sie zu bauen, sie schaffend zu erleben ist höchste Lust.

Wir erleben den Zerfall ehemaliger großer Staatsgebilde unter dem Jubel der bisher Bedrückten und Betrogenen, die nicht den rückläufigen Weg von Schmerz und Wut zur Verzweiflung einschlugen, sondern von neuer Einsicht zu neuer Tat und Selbstsicherung schritten. In den Herzen pocht neue Zuversicht, wenn wir das Verfallende stürzen und das Tote unbesudelt begraben; denn kein Leben entsteht. ohne Tod. Die wahrhaft Tapferen unserer Zeit lassen sich nicht in die Niederlage hineinreden und hineinwerfen und ohne Triumphgeschrei sind sie die Sieger von heute und morgen, die keinen Besiegten, sondern nur Abtrünnige und Überwundene kennen. In der Gesundung allein liegt die Gewähr, wenn Meinungen und Überzeugungen wechseln.
Jenseits des Krieges beginnt unser Reich, unsere Stärke ohne Waffen. Wie unser Rausch nicht des Weines, so bedarf unsere Kraft und Wehr nicht des Erzes, unser Sieg nicht der Ehre der Schlachten. Wir zwingen den Geist nicht durch die barbarischen Mittel der Horde. Er steigt empor aus der Verwesung des Krieges, aus der Schädelstätte des Verbrechens, aus der Niederlage der Bewaffneten. Die Menschlichkeit hebt wieder ihr Haupt, der stampfende Haß ist zerstückt und über den Totenacker der rohen Gewalt wölbt sich die Brücke zu neuem Völkerglück, zur Befreiung der Welt.

 70. Kathedrale zu Rouen


WIEDERGEBURT DER BAUKUNST
VON ADOLF BEHNE

Ich möchte den Weg aufzeigen, den die Kunst seit der Zeit der Gotik, in der sie zum letzten Male in Europa blühte, abwärts gegangen ist, und sodann will ich versuchen, die Kräfte an das Licht zu stellen, die, nachdem der äußerste Tiefstand durchlitten ist, uns als Prophezeiung eines neuen Schaffens gelten. Ich fuße bei meiner Darstellung auf der Wahrheit, daß die Baukunst der Träger aller bildenden Künste ist. Krankt der Stamm, so können die Blätter nicht in Gesundheit wachsen, und wenn die Blätter des Baumes sterben, so muß der Stamm Schaden gelitten haben. Der Vorgang aber, daß ein kranker Baum zu einer neuen Gesundung auflebt, kann nur der sein, daß die Krankheit zunächst in immer fortschreitender Lähmung vom Stamme aus Äste, Zweige, Rippen und Blätter, schließlich bis in ihre letzten Spitzen heranholt; daß aber dann, wenn es zur Besserung kommt, das neue Leben, den Baum unten, an der Wurzel des Stammes ergreift. Also keine schrittweise, an einer eindeutigen Skala abzulesende Entwicklung, die unmerklich ihr Vorzeichen ändert, sondern ein neuer Anfang; keine physikalisch zu erklärende Natürlichkeit, sondern ein biologisches Phänomen - ein Wunder. Will ich auf kurzem Raum diesen biologischen Vorgang anschaulich machen, so fasse ich die am weitesten vorgeschrittene Zersetzung an den letzten, Blättern und zeige, abbrechend, dann die Kräfte, die unten am Stamm das Neue heranführen. Das bedeutet für unsere Aufgabe, daß ich zunächst von den Auflösungserscheinungen des Bildes spreche, weil die Malerei die am weitesten vorausgestreckte Entfaltung der bildenden Kunst ist. Und ob gleich man sonst erwarten möchte, daß ich von ihr aus nun rückwärts den Weg zum Stamm in umgekehrter Richtung nehme, bin ich nach dem Vorausgeschickten berechtigt, sogar gezwungen, scheinbar ohne Vermittlung zur Wurzel der Kunst, zur Baukunst, überzugehen. Also ein Sprung. Ich glaube aber überzeugt zu haben, daß dieser Sprung keine Willkür, sondern sachliches Erfordernis ist. Noch eines wird aus dem Gesagten zu folgern sein: daß nämlich meine ,Darstellung nicht an die historische Perspektive gebunden ist. Dort, wo ich mich vom Auflösungsprozeß der Blätter abwende und zu dem neuen Leben des Stammes hin, verlasse ich notwendig die historische Abfolge. Die Zeit schafft keine Kunstwerke. Die Betrachtung der Kunst mit dem Zeitbegriffe in Verbindung zu bringen, ist also völlige Willkür. Indien ist nach dem modernen Impressionismus keine tote Vergangenheit, sondern mit mehr Recht unsere Zukunft. Wir beginnen unsere Betrachtung dort, wo die Malerei noch in einem  fruchtbaren Bunde mit der Baukunst steht. Das Glasfenster einer gotischen Kathedrale mag als Beispiel dienen. Noch nichts ist hier von der Isolierung einer Kunst, noch nichts von einer Trennung des großen Wollens in besondere Fertigkeiten. Das Auge mag beseligt auf diesem einen so reichen, so köstlichen Fenster ruhen - es gehört zum Tiefsten dieses Genusses stets das Bewußtsein, daß neben diesem Juwele viele andere gleich schöne, gleich unerschöpfliche leuchten, und daß wieder sie alle tief gefaßt sind in dem starken, energischen und großen Körper des Raumes, nicht nur der Fensterpfeiler mit ihren knetenden Profilen, des herrlich in die Glaswunder schwingenden kräftigen Maßwerks, der Gurte und der Kappen, der Statuen an den Säulenbündeln und der Schlußsteine hoch oben, nein, über den Kreis des Sichtbaren hinaus fühlen wir die Einheit dieser zarten und starken, dieser innigen und glühenden riesigen Glastafeln mit den Wimpergen und Fialen, den Rosen und Knollen der Portale und der Fronten, fühlen wir die Einheit bis hinauf zu den freien aufgelösten Spitzen des Turmes. Ja, wenn von diesem in die Luft steigenden Formenwerk durch das Läuten der Glocken die Architektur zur Musik sich verwandelt, ist diese Einheit von den leuchtenden Glasbildern des Fensters, die gemeinsam mit dem Dufte des Weihrauchs den reinen, geläuterten Raum bilden, bis zu den läuternden Tönen hoch oben in uns lebendig. Vieles wäre noch zu sagen, um den hohen Reichtum des gotischen Glasgemäldes zu schildern. Aber hier soll es in seiner Einheit mit dem Bau nur am Anfange der Reihe erscheinen als die noch in Einheit gesammelte Quelle des Schönen. Beschreibe ich nun in den folgenden Beispielen der allmählich sinkenden Kunst die Stellen der Verarmung, so erscheint ja von selbst dahinter immer wieder das gotische Glasfenster, dessen Fülle hierdurch nur immer reicher wirken kann. Wichtig scheint es mir nur, auf eines ausdrücklich hinzuweisen, daß nämlich die gotische Epoche neben der alles Irdische in der kristallischen Reinheit bunten Glases verzehrenden Glut der Fensterriesen die stille, heitere, menschennahe Erzählung in den Zeichnungen und den Pinselmalereien der Bücher kannte. Nicht aber kannte die gotische Blüte eine Vermischung des Monumentalen mit dem Intimen, des Heiligen mit dem Menschlichen, des Kosmischen mit dem Anekdotischen. Erst wenn wir beides in unser Bewußtsein aufnehmen, fühlen wir den vollen Reichtum dieser Zeit, die über alle Theorien und Schlagworte erhaben ist. Sie ist ebensosehr realistisch, wie sie unrealistisch ist, und ihr Geheimnis beruht nur darin, daß sie jedes zu seiner Zeit und an seinem Platze ist. Wer möchte die Miniaturen der Wenzelbibel, die Kalenderbilder der »Tres riches heures« bis hin zum Breviarium Grimani auch nur in einem Zuge anders wünschen als sie sind in der unendlich liebevollen Zeichnung der feinen Sträucher, überwelche die Schwalbenfliegen, der bläulich spielenden Ochsenhörner, der scharfzackigen Steinkanten und des leichten dünnen Zaunes, der vielen einzelnen Figuren in ihren mannigfachen Beschäftigungen, der Nähe und der helleren Ferne mit Häusern und Türmen, Burgen und Spitzen. Unberührbar sind diese Blätter in ihrer künstlerischen Reinheit. Und erst wenn wir sie mitbeachten, dann erst verstehen wir ganz den Geist zu würdigen, der völlig neu und gleichsam ohne die Darstellungen der Bücher zu kennen  - der Buchdeckel schließt sie ein - die große fremde Form des Kathedralenfensters schuf. Reizend sind die Miniaturen, wie ein letzter feiner Hauch von der Schicht des Materiellen mit liebenswürdigen Händen gelöst. Und auch von einigen der schönsten Bildwerke dieser Zeit ließ sich das sagen. Aber alle Materie wird für das große Werk in den heißesten Schmelzofen geworfen, bis sich die neue unirdische Masse des Glases gebildet hat, aus dessen körperloser reiner Farbigkeit das Neue gebildet wird.

Einen ersten Schritt zur Mischung des Polaren könnte man schon finden selbst im vielteiligen gotischen Altarbilde. Denn hier tritt zuerst die Malerei aus der Einheit der Kunst heraus, und welche Kostbarkeiten immer diese Werke sind, deren prangende Versammlung in der Akademie zu Siena ein die Seele aufrührendes goldenes Fest bereitet, sie sind schon mehr Wirklichkeit, Materie und Stoff als die Täfelungen aus Glas; die das Schönste ihrer Wirkung von draußen, vom Lichte, vom Himmel her empfingen, in denen sich gleichsam das demütig und zaghaft als Opfer dargebrachte Werk aus Stein mit dem Lichte, den Sonnenstrahlen vermählte. Wenn tief und stark der lichte Äther die Scheiben durchdrang, die Kraft der Farbe aus ihnen wie Orgelton lösend und über Wände und Boden den bunten Widerschein breitend, dann brachte das die Gewißheit, daß dieses Menschenwerk der Gnade teilhaft geworden sei. Solchen mythischen Charakter haben die Altartafeln nicht mehr, sie sind schon Dogma. Sie haben schon einen Rahmen um sich herum. Ohne diesen vermögen sie nicht zu stehen. Und das unendliche Licht wird in ihnen schon zum Golde als Stoff. Aber ihre Schönheit ist noch so voller Huld und Süße, daß sie wie ein Traum in der Erinnerung erscheint. Sind sie nicht mehr mythisch, so weisen doch auch sie noch den menschlichen Maßstab für sich ab. Sie sind weniger kosmisch als die Glasfenster, aber sie sind noch immer phantastisch. Sie haben einen Rahmen um sich, aber dieser Rahmen ist noch immer als Formenwerk empfunden. Er ist selbst eine Architektur im kleinen Maßstabe mit seinen gedrehten schlanken Säule?, die die einzelnen Heiligen wohl trennen, aber doch nicht isolieren; mit den Spitzbogen, oft mit Maßwerk gefüllt, in dessen Schwingungen die Heiligenscheine sich einfügen; mit den aufgesetzten Tympanonfeldern, die in ein sprießendes Lanzenwerk aus goldenen Fialen eingereiht sind; mit den schmäleren Flügelbildern - nicht zu vergessen die fundamentartige Predella. Diese schönen Bilder sind in sich eine Einheit von Darstellung und Umrahmung, beide sind zugleich geboren, und ein Herauslösen der Heiligen, der frommen Szenen aus dem Ganzen ist unmöglich. Die Figuren stehen auf Goldgrund, und der Rahmen ist Gold; und wie der goldene Rahmen durch die Profile der Säulen von der Basis bis zum zierlichen Kapitell, durch die Krabben der Wimperge, durch das zarte Relief in den Zwickeln liebevoll und unerschöpflich verziert ist, so nimmt der Goldgrund der Tafeln das Spiel der Ornamentik auf in seinen fein gepunzten, leis schimmernden Zieraten, die wie ein zartes Gewebe aus Sonnenfäden spielen. Ein solches Werk lebt noch immer im Gefühl der Einheit mit der Architektur, wenn es auch schon aus dem unmittelbaren Verbande hervortrat: Dennoch: nur in dem Kirchenraume zeigt es seinen vollen Sinn, nur dort, wo seine Spitzbögen und Säulen und alle die sonstigen Verwandten der Baukunst in den gebauten Formen gleicher Art ihren Rückhalt haben. Keineswegs ist es ja selbstverständlich, daß diese Tafeln ihre einzelnen Darstellungen in Kurven spitzbogig ausklingen lassen. Gerade dieses gefühlsmäßige Haften an kurvenförmiger Umgrenzung zeigt uns, daß jenes aller wahren Kunst zugrunde liegende kosmische Empfinden hier noch nicht ganz gebrochen ist. Gewiß, es ist die spitzbogige Endigung der Darstellungen zunächst ein Übernehmen gewohnter und überall ringsum geübter Formen. Aber weshalb diese tiefe Liebe zum Schwingenden, zum Ein- und Ausbiegenden, sich Kreuzenden allenthalben? - Es bringt der Kunst der Spitzbogen ein Stück des Himmels, und diese Deutung ist keineswegs willkürlich und »geistreich«, Wenn sich wie auf Sano di Pietros schöner Ancóna in Siena über der Madonna noch hoch und licht der Spitzbogen errichtet, wenn Maßwerkansatz die Kurven, die nicht im Scheitelpunkt, schnell zufriedengestellt, aufhören, sondern ins Unendliche weiterweisen, mitspielend säumt und nun aus ihren offenen Schwingungen strahlende Köpfe der Engel weit von oben her jubeln - dann habe ich den Beweis gefunden. Hier ist noch in der Malerei ein Gefühl dafür, daß aller Maßstab der Kunst nicht der Mensch ist, sondern die Sterne. Die Sterne aber schwingen sich, kreuzen, begegnen sich in weitgespannten Kurven, aus der Unendlichkeit kommend, in die Unendlichkeit gehend. Alles Kosmische ist Spirale, Kurve, Kreis. Es gibt im Kosmischen nicht den geraden kürzesten Weg und keine plane Fläche. Und wir sagen, daß die Baukunst, die doch von allen menschlichen Tätigkeiten am meisten den kosmischen Charakter sich bewahrt hat, wieder, um dem Schöpfungsakt am nächsten kommt, wo sie sich von der Vertikalen und der Horizontalen und von der Ebene am freiesten trennt - dort, wo sie wölbt. Der Maler wiederum schmiegte sich mit Dankbarkeit in die Schalen, die Kalotten, die Zwickel der Wölbungen - kleine Stückchen Himmel, die ihm die Baukunst schuf. Es ist nicht richtig, immer zu bedauern, daß die Gotik der Wandmalerei so wenig Raum ließ, daß diese sich in die geringen schmalen Zwickel der Kreuzgewölbe habe flüchten müssen. Nein, die Zeit der Gotik kam auch hier, in der zarten, schwierigen Rolle, die sie der Malerei in ihren Bauten zuwies, dem Ideal am nächsten. Wie sicher waren nicht die malerischen Gestalten in ihren schwingenden Nischen oder Nestern, aus denen sie wie Sternbilder niedersahen! Wenden wir von ihnen den Engeln etwa, die zu Bourges im Hause des Jacques Couer in der Kapelle die Decke schmücken - das Auge zum Sano di Pietro zurück, so empfinden wir wohl die starre glatte Tafelhaftigkeit doch schon als einen recht zweifelhaften Gewinn. In den aus Licht gewobenen bunten Glasfenstern fiel der Begriff der Tafelhaftigkeit völlig fort. Hier aber, in dem Altarbilde, ist ein verhängnisvoller Schritt getan zum Rationalen. Nun wird es auf die Dauer nicht mehr abzuweisen gehen, wenn allerlei menschenhafte Forderungen die Figuren ergreifen. In ihrer Kurvenwelt, wo sie die geschwungene Kappe wie ein Ritterschild deckte, waren sie solchem vorwitzigen Ansturm entrückt. Die Architektur des Großen hielt ihnen alle Frager fern. Aber nun lassen sie sich wehrlos leicht ergreifen. Eine flache Tafel aus Holz zu ebener Erde leistet keinen Widerstand. Nur die schönen Spitzbogenhimmel schützen noch eine Weile und die Einheit des Goldes in Grund und Figur und Rahmen. Sobald freilich Betrachter und Heiliger sich gleich auf gleich nahe gegenüberstehen, lockert sich die Einheit schnell, die alle Späteren dann mühsam suchen müssen. Hier, bei Sano di Pietro, bei Fiorenzo di Lorenzo, dem herrlichen Künstler, bei Stephan Lochner, folgt aller Reichtum aus der Einheit, die hinter und über dem Schöpfer steht. Ihr Klang ist Gold. Sobald aber in den Goldgrund das erste Loch geschnitten ist, sobald der blaue Tageshimmel seine klare Richtigkeit durchsetzt, muß die verlorene natürliche Einheit von einer neuen Basis aus künstlich gesucht werden. Bis dahin war der schließende Riegel der Einheit außerhalb. Welche Bedeutung es hat, daß nun die Einheit sich im Bilde zusammenfinden muß, wird uns an einer späteren Stelle beschäftigen. Hier werde aber doch Piero della Francesca genannt, bei dem, eine kurze Weile, sich alles Einzelne noch bettet in eine zarte transzendentale Einheit. Ihr Klang ist Silber. Ihre tiefe innige Gebundenheit vermag selbst einem Bildnis - der Battista Sforza - in einer bunten Umwelt der Zeitgenossen etwas Übersinnliches, tief Allgemeingültiges zu verleihen. Im übrigen sind wir hier bei Entscheidungen angelangt, von denen aus die Frage des Gesamtkunstwerkes von neuem zu beurteilen wäre. Trotz allen Mißverständnissen ist das Gesamtkunstwerk das Ziel - nicht freilich das aus Teilen zusammengesetzte, das über die Summe seiner Teile nie hinausgelangt, sondern jenes, das, gleichgültig, welcher und wievieler Mittel es sich bedient, doch alle Saiten zum Schwingen bringt, weil es aus einer Höhe hergeht, in der noch alles gesammelte Einheit ist. So kommt Webers »Oberon« aus der Einheit, während das Werk Richard Wagners zur Einheit will.

Bei Rogier van der Weyden hat sich das Bild nun von der Baukunst ganz gelöst. Ich nenne diesen Namen, weil sein Triptychon mit dem Hl. Lucas, der die Madonna malt, die Konsequenzen dieser Trennung so besonders deutlich erkennen läßt. Rogier ist nicht denkbar ohne die Arbeit der Brüder van Eyk, von denen die Kunstgeschichte mit Recht lehrt, daß sie für sich angeknüpft hätten an die kleinen und genauen, ausführlichen und bunten Lebensdarstellungen der Buchmaler, deren zarte Illustrationen sie zu glänzenden Ölgemälden vergrößerten. Rechnet aber die Kunstgeschichte ihnen dieses zum Verdienst an - »weshalb sollten sie denn das Gute nicht nehmen, wo sie es fanden?« - so sehen wir damit, in Konsequenz unserer früheren Ausführungen, einen entscheidenden Schritt der Tiefe zu getan. Jetzt erst entsteht der moderne Begriff des »Bildes« als einer bemalten, freien, beweglichen, gerahmten Tafel. Und wir unterstreichen es, daß es Bücher, Bilderbücher waren, bei denen die Malerei sich Rats erholen mußte, in dem Moment, da sie sich endgültig von der Baukunst löste. - »Bild«, ist das nicht zunächst, selbst heute noch, in unserer Vorstellung die illustrierte Seite eines Buches? Sind nicht für unser Gefühl noch immer Buch und Bild zusammengehörige Begriffe? Wie schwach, wie bedeutungslos mußte die Malerei geworden sein, wenn sie, niedergestiegen aus den Wölbungen und nun ratlos stehend, keinen anderen Weg der Fortsetzung sich fand, als die Vergrößerung von Buchseiten! Die Kunstgeschichte geht über diesen kritischen Zeitpunkt schlicht hinweg. Sie sieht auch hier nur den üblichen logischen Fortschritt. Wir aber glauben, daß zu dieser Zeit das Verhängnis der modernen Malerei besiegelt wurde und wollen im folgenden auf einige der Folgeerscheinungen aufmerksam machen. Von jetzt ab sieht sich die Malerei gezwungen, gegenständlich zu sein. Das Gegenständliche wird nun der Maßstab der Malerei und wird der neue  Boden, der sie trägt. Die gute Malerei war nicht notwendig ungegenständlich, aber sie blieb dem Gegenständlichen gegenüber frei, sie bediente sich des Gegenstandes. Das Gegenständliche berührte niemals ihren Stil, während man nun geradezu von einem »Stil des Gegenständlichen« sprechen kann. Bis dahin brauchte die Malerei sich nicht zu rechtfertigen. Sie brauchte nur schön und reich zu schaffen und zu sein. Die Rechtfertigung nahm ihr ein Anderes ab. Ihre Rechtfertigung gab das große weitgespannte, alles in sich tragende Werk. Durch dieses hatte sie von selbst einen Sinn. Der Sinn war nicht in der architektonischen Form, nicht in der Plastik und nicht in der Malerei, sondern über ihrer Gemeinsamkeit. Wenn sich nun jetzt die Malerei von der Architektur ganz ablöste, so mußte sie sich einen neuen Sinn, eine neue Rechtfertigung suchen. Und ganz natürlich konnte diese Rechtfertigung nicht mehr in einem größeren Ganzen außerhalb der Malerei selbst sein, sondern die neue Rechtfertigung fiel als eine Last auf ihre eigenen, bis dahin unbeschwerten Schultern. Nur noch in sich konnte die Malerei sich rechtfertigen, und es konnte da kaum etwas anderes sein als der Gegenstand, an dessen Deutlichkeit und allgemeinem Anerkenntnis sie sich aufrichtete. Einstwar sie teilhaftkosmischen Empfindens. Da breitete sie sich schmückend in die Flügel der Baukunst. Hoch wurde sie emporgetragen, und frei, ganz frei konnte sie bilden, nach dem wahren Worte Meister Eckharts: »Je mehr gefangen, je mehr befreit.« Jetzt aber, mit den Eyks, ist die Malerei irdisch geworden. Sie hat Selbstbewußtsein, und weil sie die beruhigende Beobachtung gemacht hat, daß kein strafender deus ex machina sie zurückreißt, wenn sie die köstlichen feinen Blätter der Miniaturen zu »Bildern« vergrößert, hält sie ihre Separation, die doch nur Verkümmerung des Gefühls für den Zusammenhang ist, nun erst für wahre Freiheit. Aber sie merkt es vielleicht nur nicht, daß sie eben jetzt erst in Knechtschaft geraten ist, in den harten Zwang des Gegenständlichen. Was waren nicht ihre Farben in dem starken und breiten Schutz der Architektur. Was hätte dort ihr Sein beeinträchtigen können. Je mehr sie ihre Kraft hingaben, ihre Stärke ausströmten, desto mehr gewann ja das Ganze. Mußte nicht der Architekt ihnen die größte Freiheit selbst wünschen? Heißt das nicht wahre Freiheit? Jetzt hat man die Erfahrung gemacht, daß man die Farben auch zu etwas gebrauchen kann, und  weil nun der Maler aus allem Irdischen auswählen kann, wozu er sie gebrauchen will, so glaubt er die Malerei befreit, verwechselt aber seine Freiheit, die niemandem nützt und gar nicht von Interesse ist, mit der Freiheit der Malerei. Diese existiert nun nicht mehr. Die Malerei ist ein Mittel zum Zwecke der Nachbildung von Gegenständen geworden, also unfrei. Einst hatten die Farben Wirklichkeit, jetzt bedeuten sie Wirklichkeiten. Nun taucht der Rahmen auf, wie wir ihn heute kennen: vier starre Gerade, vier rechte Winkel. Die Kurve, der Spitzbogen, hat nun freilich keinen Sinn mehr. Denn nichts mehr verbindet diese Tafeln mit der Welt der Sterne,  oder auch nur mit den kurvengeschwungenen Wölbungsfeldern der Baukunst. Das »Bild« ist eine vergrößerte Buchseite und übernimmt bedingungslos von dorther auch die Umrandung. Wie im Buche ein weißer Rand die Illustration auf allen vier Seiten gleichmäßig umzieht; so umzieht das neue Bild die schwarze, goldene, glatte oder profilierte Leiste, die nun im Laufe der Generationen immer kräftiger, immer robuster wird. Die zum Tafelbild vergrößerte Buchseite bedarf offenbar eines festen Zaunes, der den Gedanken an ein Umblättern abzuweisen hat. Nun haben wir die klanglos-neutrale, begriffliche; nicht-seiende Bildumgrenzung fertig, die zum gegenständlichen Inhalt gehört wie sein Schatten. - Geometrie statt Musik. Das Triptychon des Rogier van der Weyden ist nun auch in diesem Punkte von einer überraschenden Mitteilsamkeit. Der Maler empfand nämlich die neue einfache und schnelle Bildherstellung so sehr als einen herrlichen Triumph, daß er das Kunststück im Mittelbilde noch einmal wiederholte. Er öffnet eine Wand hinter den Figuren des Mittelbildes, und indem er in die Öffnung zwei Säulen einstellt, gewinnt er die Umrißlinien eines neuen kleineren Triptychons. Dahinein malt er eine Landschaft, die man ohne Mühe sauber aus dem Ganzen herauslösen könnte. - Aber sehen wir auch einmal in das Nebengemach, hinter den Rücken des Hl. Lukas. Dort liegt ein Buch auf dem Lesepult. Sind nicht seine beschriebenen Spalten, gerade so wie sie da sichtbar werden, mit den umrahmenden weißen Rändern, abermals der Typ des Triptychons aus drei rechteckigen Feldern? Und noch weiter ließen sich die psychischen Zusammenhänge ohne alle Gewaltsamkeit verfolgen. Über dem Lesepult steht im Fenster eine schmale hohe Scheibe offen. Wir sehen durch die gemalte Fensterrahmung in die gemalte Landschaft, und genau wiederholt sich hier das Format des Buchspiegels. Es erscheint also im Fensterrähmchen noch einmal ein kleiner Ausschnitt aus der Natur, vom Maler offenbar mit Behagen als neues Bild im Bilde empfunden, ein Ausschnitt, wie er auch außerhalb des nur Gemalten, wie er auch in der Wirklichkeit dem Maler als Bildinhalt fast schon genügen würde. Hier schon ganz am Anfange der naturalistischen Entwicklung sehen wir den zufälligen Fenster- oder Türausschnitt als bildergebendes Element, dem Maler unbewußt, auftauchen. Die vorausgegangene Betrachtung dürfte den Lesern selbst den Gedanken bereits eingegeben haben, daß in dem Bilde des Rogier eine merkwürdige Spaltung des Bewußtseins vorliegen müsse. Und so ist es in der Tat. Nur die Benutzung der Triptychonform, die leise Neigung über das einzelne Bild hinaus, weist noch in etwas auf den früheren Reichtum zurück, und in dem am Boden sich ausbreitenden Mantel der Madonna, der einen schwebenden Bogen beschreibt, scheint noch eine letzte Erinnerung an hoch in Zwickeln sich ausgießende Gewandung der Göttlichen fortzuwirken. Sonst aber ist das Bild wie ein ausführliches Programm der neuen Zeit. Keineswegs verliere ich, wenn ich näher darauf eingehe, das Schicksal der Baukunst aus dem Sinn. Es ist die Ermattung der Baukunst, der wir hier folgen. Denn alle die Schwächungen, die fortgesetzt das Bild erleidet, sind nur möglich, weil der Stamm fortgesetzt mehr und mehr Säfte verliert. Es gibt jetzt statt der idealen Fläche auf ihr einen Vorder- und einen Hintergrund. Rogier malt im Vordergrunde die heilige Szene. Noch fühlt man, ich wiederhole es, in der Gestalt der Maria vom Zipfel des Mantels her bis zum geneigten Haupt einen Rest von Schmiegen in den Zwickel einer Wölbung. Hier ist noch ein wenig Schweben - genug, um uns an dieser Madonna zu erfreuen. Aber schon das Gewand des Hl. Lukas ist unsicher. Die Falten seines roten Mantels stocken. Sie wollen nicht mehr frei und weit schwingen, aber der Versuch, sie gegenständlich zu konstruieren, zu motivieren, will auch nicht glücken. Dem Maler ist unbehaglich hier vorn zumute. Und sobald er kann, flieht er die Nähe, um erst hinter dem zweiten Rahmen, eben dem dreifachen Fenster im Mittelgrunde, mit freiem Aufatmen seine Malkunst auszubreiten. Und diese Flucht in das distanzierte Fernbild wird nun allgemein. Je kleiner und bürgerlicher die Bilder werden, in desto weitere Fernen lassen sie verschwenderisch den Blick gehen. Als ein Mittel dient ihnen die »Verkürzung« - »Verkürzung« wird ihnen die Parole. »Verkürzt« ist gegenüber dem geschwungenen Spitzbogenrahmen schon der neue bequeme »natürliche« Vierecksrahmen. Ein Muster geradezu, auf dem kürzesten und schnellsten Wege möglichst viel zu bringen, ist der Ausblick Rogiers, sein Bild im Bilde. Irgendeine Beziehung zum Thema des Hl. Lukas hat der Hintergrundsreichtum nicht. Die Personen, die in Verkörperung des selbstgefälligen Schmunzelns vor der eigenen malerischen Leistung den weiten Landschaftsblick betrachten, wenden dem heiligen Vorgang getrost den Rücken zu. - Ein neuer Rahmen, ein neues Bild, ein neues Publikum: Spaltung des Bewußtseins. Es verlohnt sich, darauf noch hinzuweisen, daß die Neigung, in das Fernbild zu fliehen, wiederum die Neigung zum Gegenständlichen verstärken muß. Denn erst dem distanzierenden, Abstand nehmenden Betrachter werden die schwebenden Wunder des Auges zu Gegenstandsbegriffen.
So zieht die profane Gesinnung in die Malkunst ein, in dem gleichen Tempo, in dem die Malerei sich an den Wänden des Gotteshauses löst und in die Wohnungen des Bürgers einzieht. Es beginnt die neue Errungenschaft der »Kunst im Leben«, fortgeführt bis zu einer »Kunst in Handel und Industrie«. Die Dome werden immer gleichgültiger, die Wohnräume immer künstlicher, dabei doch nicht reich an Schmuck im wahren Sinne. Denn auch der Sinn für alles Ornament nimmt gleichzeitig schnell ab. Der blaue Himmel der Tafeln löscht die strahlenden, gepunzten Nimben, die Sterne, Kreuze, Rosetten und Kristalle, alle die feinen, zierlich-zarten Muster der Grundierung aus. Schon Rogier verzichtet auf jeden Heiligenschein, selbst auf den leisen dünnen Kreis aus Gold. Wer weiß, ob nicht die Figuren, die da auf der Brücke die schöne Aussicht aus dem Bilde heraus und doch in das Bild hinein genießen, ob sie nicht Maria und Lukas sind, die nach der Sitzung einen Spaziergang machen. Die einzige Stelle eines Bildes, wo künftig Gold noch erlaubt ist, die ist außerhalb des Bildes, auf dem Rahmen. Also Flucht vom Zentrum in den Rand, eine Tendenz, die noch ständig wächst. Nicht einmal mehr im Stoff des Baldachins gibt Rogier das Gold als Gold. Und es ist völlig das Nämliche, ob er die schönen Ornamentfarben des Brokates durch seine pfiffige Verkürzung um ihre schöne Entfaltung bringt oder ob er statt des reinen Goldes aus Gelb und Grau den Anschein schlecht belichteten verblichenen Goldes erweckt:

Nun sind wir mit wenigen Schritten am Ende. Bei Rogier ist noch der heilige Vorgang als Nahbild geblieben, dahinter ein Fernbild ausgemalt. In Hugo van der Goes »Geburt« im Berliner Museum ist die biblische Szene in das Fernbild verlegt, und das Nahbild schrumpft zusammen zu den zwei männlichen Gestalten, die einen Vorhang rechts und links auseinanderziehen. Gewiß steht dieses Bild des Goes an künstlerischer Kraftwesentlich höher als der Rogier. Wundervoll sind die starken festen Köpfe der Männer, die ahnungsvoll ergebene Innigkeit der Maria, die zurückgehaltene Lieblichkeit der feinen Engel. Die verborgene Schwermut dieses Bildes, im goldbraunen Engel mit goldenen Flügeln fast glasartig sichtbar geworden, hebt es aus der soviel profaneren Umgebung hoch heraus. Wir haben hier ein Beispiel, daß fortan der wahre Künstler, gezwungen, gegen den Strom zu schwimmen, tragisch endet. Bei alledem läßt sich aber nicht übersehen, daß diese »Geburt« des Goes in der Fortsetzung des Fernbildes als der eigentlichen Bildform wieder einen wichtigen Abschnitt bedeutet. Alsbald fallen die hier noch das Nahbild andeutenden Vordergrundgestalten, das Bild existiert nur noch in der ausschließlichen Form des Fernbildes, das für die moderne Kunst sowohl der Akademiker Hildebrand wie der Impressionist Weisbach stabilieren.

War des Künstlers van der Goes Gemälde bei auffallender Verstärkung der Zeittendenzen in einer bestimmten Richtung zugleich auch eine ergreifende letzte Ahnung zurückliegender Blüte, so führt der Delfter Vermeer mit seinem Braunschweiger Gesellschaftsbilde in den vollen, tiefen, unaufhaltsamen Strom des allgemein Üblichen hinein. Van der Weyden begann die Trennung von Vorder- und Hintergrund, van der Goes gelang es fast, den Begriff des Hintergrundes noch einmal trotz aller Widerwärtigkeiten der Zeitanschauung aufzuheben. (Die Begriffe »Fernbild« und »Hintergrund« sind nicht zu verwechseln.) Bei Vermeer fällt das Bild ganz messerscharf in Vorgang und Hintergrund auseinander. Dieser Hintergrund ist eine einfarbige Folie, nicht gleichzeitig mit den Figuren entstanden, nicht aus einer Bewegung mit ihnen, sondern die nachträgliche Füllung der koloristischen Lücke. Man bewundert stets bei Vermeer mit Betonung seinen feinen Geschmack, und niemand wird ihn leugnen. Aber diese Betonung des Geschmackes schließt bereits das Urteil ein, daß bei Vermeer die Kunst der Farbe, um von dieser allein zu reden, nicht mehr Totalität ist, sondern bereits zur Proportionalität erstarrte. Seine so überraschenden Geschmacksleistungen sind keine Einheiten mehr im höheren Sinne. Sie ergeben sich nicht notwendig, fertig, aus einer höheren, dahinter wirkenden Einheit, wie wir das noch bei Piero della Francesca fanden, sondern sind nur Beweise für das dort schon angekündigte Suchen nach einer Einheit innerhalb des Bildes. Rechnungsmäßig ergibt sich der eine Teil nach dem anderen. Die Summe ist stets in allen Bildern dieser Art die nämliche, sie wird nur immer anders aufgetrennt. Über die menschliche natürliche Erfahrung hinaus, ins Unerforschte, Neue, läßt sich hier kein Schritt tun. Das Bild wird ein Rechenexempel. Daher erscheinen die Bilder auf die Dauer so leer. Wem fiele es hier nicht auf, daß die kantischen Begriffe des analytischen Urteils und des synthetischen Urteils a priori in dem Gegensatz alter und neuer Bildkunst ihr reinstes, klarstes Anologon haben? In den Bildern der alten transzendentalen Einheit gab es keine ausgesprochenen Gegensätze. Jetzt wird der Gegensatz ein Hauptmittel der Effektbereitung, im besprochenen Bilde z. B. der Gegensatz des reichen, leuchtend lachsroten Kleides vor der dumpfen komplementären Wand. Dasselbe wiederholt sich im kleinen in dem bunten Glasfenster mit seinem Wappen. Von dem tiefen Reichtum der Kirchenfenster blieb nichts als ein billiger Effekt. Nun sucht der Maler nach den verschiedensten Mitteln, die schicksalhafte Leerheit seiner Bilder zu verdecken. Er liebt es, anekdotisch-psychologische Momente einzuführen. Und damit nähert er von neuem seine Darstellungen einer Sphäre, der sie schon ohnehin zustrebten: dem Bühnenhaften. Hier setzt, um eine Einzelheit herauszunehmen, der Blick des Mädchens ganz deutlich die Beziehung auf ein Publikum vor der Rampe voraus. Der gebildete Mensch von heute bewegt sich überhaupt nicht in seiner »Wirkungswelt«, wobei ich mich eines Ausdruckes Jacob von Üxkülls bediene, sondern in der Bühnendekoration eines Theaters und nach der Regie eines Artisten, der konsequent aus allem das Wesentliche zu vertreiben weiß.-

Mit jener unerschütterlichen Logik, die in allem Künstlerischen wirkt, erscheint auf dem Hintergrunde unseres Bildes ein gemaltes Bild in seinem mitgemalten Rahmen. Wir könnten uns kein besseres Element wünschen, um die Auffassung festzulegen, welche diese Zeit von einem Bilde hat. Ein Gemälde, ein Bild, das ist eine bemalte, gerahmte Fläche aus Holz oder Leinen, die einem Objekte ähnlich und wenn möglich auch geschmackvoll sein soll. Man hängt solche Arbeiten in die gute Stube, sie sind eine Art von Möbelstücken geworden. Malt nun ein Maler eine bürgerliche gute Stube, die ein ebenso würdiger Gegenstand der Kunst ist wie irgend etwas sonst, weshalb soll er nicht dann auch die gute Stube in kleinerem Maßstabe an der Wand mitmalen, die als brave Malerei eines Kollegen in jener guten Stube als gerahmtes Bild an der Wand hängen könnte? Es wären schließlich unendlich viele ineinandergestellte gemalte gute Stuben hintereinander auf einem Bilde theoretisch möglich. Niemand stößt sich daran. Warum auch? Aber daß niemand sich daran stößt, ist ein Beweis, daß völlig das Gefühl dafür erloschen ist, daß jedes Kunstwerk eine Auseinandersetzung mit dem Sinn der Welt ist, also etwas ehrlich Ausschließliches. Souverain tritt jedes wahr empfundene Werk eines Künstlers in die Welt, so daß es der wahre Künstler nur als eine Aufhebung seines ganzen Wesens empfinden könnte, wenn man ihm zumutete, selbst, innerhalb seiner Schöpfung, darauf anzuspielen, daß es derartige Dinge zu Dutzenden allerorten gibt. Profanität wird hier nahezu Frivolität. Wir haben die Fortsetzung des Rogier van der Weyden, der zwar auch schon ein Bild im Bilde malte, aber es doch noch nicht als isolierte, gerahmte Leistung eines anderen motivierte. Jetzt ist selbst der langweiligste Rahmen eines gemalten, sehr gleichgültigen Bildnisses ein ausreichender Gegenstand der Malkunst geworden. Zugleich aber erkennen wir noch, weshalb der banale Vierkantsrahmen zu so unbeschränkter Geltung kommen mußte. Woher dieser Rahmen kam, hörten wir schon. Jetzt nun als Stubenbild, als ein Stück des Mobilars mußte sich das Bild selbstverständlich dem Milieu anpassen, den Stühlen, Fenstern, Tischen, Schränken und Truhen. Diese alle aber sind aus praktischen Gründen rechtwinklig. Was blieb also dem Gemälde übrig, als sich ebenfalls in vier rechte Winkel einzupassen? Damit war seine Loslösung vom Architektonischen, seine Abirrung vom Kosmischen zu Ende geführt. Zum Gegenständlichen gezwungen, führt das Bild in der guten Stube, im Salon, ein profanes Dasein. Es ordnet sich zwischen Gardinen, Portieren und Nippes ein. Daß es unter den Gebrauchsgegenständen des bürgerlichen Daseins einen gewissen Schein des Höheren hat, beweist nur noch das dicke, schwere Gold des plastisch gearbeiteten Rahmens, zu dem alle Heiligenscheine und Ornamente des Grundes von einst eingeschmolzen sind. Der Rahmen wird in plastischer Stärke nun auch nötig, um die Gegenstände im Bilde und die Gegenstände auf dem Tische vor Verwechslungen zu bewahren. Die Kunst dient zwar dem täglichen Leben des Bürgers, wird aber innerhalb der häuslichen Kultur mit Pomp isoliert, so sehr, daß die Rahmen immer schwerer und breiter werden. In der Betonung des Rahmens spricht sich - man halte diese Ausführung nicht für Spielerei mit Analogien! - die  deutliche Tendenz einer Zeit aus, die in allen Dingen, allen Fragen und Aufgaben vom Zentrum fort und an den Rand zu fliehen gewohnt ist, weshalb man getrost von einer Rahmenkultur sprechen könnte. Klassische Beispiele sind in der Philosophie David Hume, in der Biologie Charles Darwin, in der Kunst Claude Monet, in der Kunsttheorie Hippolyte Taine. Vom Rande der Erfahrung führt kein Weg in das Zentrum der Erkenntnis, von der Entwicklung keine Treppe zum Organischen, von der Beobachtung keine Mühe zur Gestaltung und vom Milieu keine Spitzfindigkeit zur Kunst. Als eine letzte Steigerung der gedachten Tendenzen wirkt ein Gemälde Ludwig von Hofmanns. Es ist betitelt: Bild mit Rahmen, aber es ist in Wirklichkeit ein Rahmen ohne Bild. Sein Inhalt ist ein Strich in der oberen Hälfte, den Horizont bezeichnend. Darüber ist eine gleichmäßige Fläche, darunter eine fast ganz gleichmäßige Fläche: Himmel und Meer. Ganz fern gesehen, ganz Begriff. Ein gangbares Vorsatzpapier ist interessanter und gehaltreicher. Um dieses Nichts aber ist ein reicher, belebter Rahmen, der rechts und links von einem Beethoven-ähnlichen, geflügelten Haupte eine männliche und eine weibliche Gestalt zeigt, darunter viele stark geführte, zum wenigsten auffallende Ornament-Versuche. So sind wir am Ende angelangt. Der Weg führte uns vom Bilde ohne Rahmen zum Rahmen ohne Bild.

Was wir verfolgt haben, ist der Niedergang nicht lediglich der Malerei, sondernaller Kunst seit der gotischen Blüte. Die historische Feststellung von großen Leistungen einzelner, meist tragischer Schöpferkräfte in diesen Zeitabschnitten - Raffael, Grünewald, Breughel, Daumier, van Gogh - ändert nichts an dem Verlaufe. Der Niedergang ist durch sie nicht abzuändern. Und er ist so völlig, so alles auflösend, daß die Frage nach einem neuen Beginn sich vor dieser absoluten Zerstörung kaum hervorwagt. Und doch steht ein neuer Magnet schon über uns und übt seine Kraft geheimnisvoller Anziehung aus. Wohin? Zu einer neuen großen schöpferischen Baukunst. Freilich, die Dinge bleiben hier in der Sphäre des Ahnungsvollen, und so genau wir der Kurve folgen konnten, die abwärts zum Nullpunkt ging, so traumhaft in vielem bleibt die stolze, lockend-schimmernde Kurve hinauf Es ist unmöglich, hier Schritt für Schritt den Weg der Wahrscheinlichkeit zu bereiten. Das hieße anspringen gegen einen fernen Berg, um stets ermattet zurückzufallen. Aber wir haben ein Versprechen: die Dichtung Paul Scheerbarts, und wir haben die Gewißheit einer fernen Heimat. In ihr stehen im Sonnenlichte Tempel, deren absolutes Sein uns den Atem raubt. Es gibt keine Gebilde auf Erden, das ist nicht zuviel gesagt, deren Abstand von uns gleich riesenhaft wäre, wie die rätselhafte Ferne indischer Tempel. Ihr Bild wirkt dämonisch, und es beunruhigt, seitdem wir es gesehen haben, unser Gewissen. Die Schönheit ist vor uns aufgerichtet und erhebt in göttlicher Ruhe, aber unerbittlich ihre ideale Forderung an uns. Nur wenige hören sie; aber diejenigen, die sie getroffen hat, haben keine Wahl mehr. Ungeheures an Verzicht, an Überwindung, an Reinheit und Einfachheit verlangt das Vorbild von ihnen. Es verlangt ein ursprüngliches, elementar-kristallenes Menschentum; ein Menschentum, das sich vor keinem Begriffe beugt, keine Konvention über sich ergehen läßt, keinen Zwang von außen unbesehen hinnimmt, nur weil er von einer Macht ausgeübt wird; ein Menschentum, das alle Ableitungen und Brechungen unserer Kultur enthüllend durchstrahlt, das den brennenden Trieb zur Nacktheit hat. Dieses Ideal verlangt eine Lostrennung vom Europa unserer Zeit, wie die Umwelt sie in ihrer Konsequenz nur lächerlich und verstiegen nennen kann ; verlangt eine so simple und doch so schwere Umwertung aller Werte, daß sie der Zeitgenosse nicht anders als töricht, unlogisch und unhistorisch bezeichnen kann. Aber so vollkommen fast jedes Teil in sein Gegenteil verwandelnd diese geistige Erneuerung auch ist, und so mannigfaltige, komplizierte und nützliche Errungenschaften der europäischen Zivilisation, Kultur und Entwicklung sie auch, scheinbar für ein lächerliches Nichts, preisgibt, der Betroffene wird sich keiner Forderung entziehen. Sein Auge ist in Dankbarkeit auf die Schönheit der indischen Tempel gerichtet, und er weiß, daß diese höchste Schönheit der Erde ein Kompaß ist, der nicht in die Irre weisen kann. Denn in der höchsten Schönheit offenbart sich mit Notwendigkeit der höchste Sinn. Wo aber bleibt dem, der in den Anblick eines indischen Tempelbaues versunken ist - selbst wenn er auf unvollkommene Abbildung der fernen Wunder angewiesen bleibt - wo bleibt dem jenes Kapitel europäischer Malkunst, das wir nur aus Gründen der Darstellung zuvor so wichtig genommen haben. Wo bleibt es? Es erscheint uns nun fast lächerlich. Mit solchen Werken gibt sich das stolze Europa ab? Mit dem Lächeln eines jungen Mädchens in das Publikum hinein, weil ein begehrlicher Kavalier ihm ein Glas Wein aufnötigt? Mit einem Rahmen ohne Bild? Wir müssen bis zum Sano di Pietro, bis zum Kathedralfenster hinaufgehen, um zu Dingen zu gelangen, die mit dem Anblick einer indischen Architektur überhaupt nur in einem Atem könnten genannt werden. Aber wir sahen ja, wie logisch, wie konsequent, wie stark eingenommen von seiner Leistung Europa zum Heutigen kam. Denn Europa ist nun einmal ein malendes Europa. Es gibt auch Architekten in ihm. Aber die Tatsache, daß diese sich die nämliche Bezeichnung zulegen, wie die einstigen Schöpfer herrlicher Werke, soll uns durchaus nicht verleiten, sie als Künstler anzunehmen. Europa ist ein malendes Europa. Die meisten seiner heute am meisten anerkannten »Architekten« kamen von der Malerei. Sie waren aber zur Malerei nicht einmal begabt genug. Es reichte nur zur modernen Baukunst. Man kann daraus entnehmen, wie schön diese sein muß. Es gibt nur eine bildende Kunst: Bauen. Malen und Meißeln gehören zu ihr. Nicht als Unfreie, nicht als Diener. Sondern die sich entfaltende Baukunst trägt Malen und Meißeln. Es ist ganz überflüssig, eine Theorie über die Stellung der bildenden Künste untereinander aufzustellen. Es gibt nur eine bildende Kunst: Bauen. Außerhalb des Bauens gibt es Malerei und Plastik nur in depravierter Form. In der Gotik hatte Europa zum letzten Male eine bildende Kunst. Aber ist Indien nicht noch mehr als die Gotik? Zu keiner Zeit ist Europa so nahe gekommen dem Morgenlande wie zur Gotik. Es ist auch wahr: in einem ist sie unübertrefflich schön - die süße strömende Innigkeit der Glasfenster hat sie allein. Und auf diese wollen wir gewiß am allerwenigsten verzichten. Aber als Ganzes gesehen thront Indien als reinste Welt des Orients hoch über allem. Selbst China verblaßt vor Indien - der feinste, geistigste Realismus vor reinster Transzendenz. Und unsere Gotik wieder ist nichts als ein herrlicher Traum vom Morgenland, den die Kreuzritter nach ihrer Heimkehr träumten. Die Gotik, wie alles Schönste bei uns, wie Venedig, ist nur zum zehnten Teile Europa - und darum so schön. Ewig kommt das Licht aus dem Osten. Aber Europa war doch der Gotik fähig - und sollte also unter ihrer Schönheit sich nicht mehr zufrieden geben. Europa sollte wieder wahrhaft bilden - das heißt: bauen. Wiedergeburt der Baukunst - sie hat mit der Zeit begonnen, in welcher das ferne Vorbild seine magnetische Macht zu üben begann. Sie läßt sich nicht psychologisch plausibel machen, so wenig wie irgendeine Geburt. Sie ist ein Wunder, so gut wie jede Geburt. Sie hat begonnen, indem sie dem Stamme neue Säfte zuführt, die Wurzeln erneuert, während zunächst die Blätter weiter welken und fallen mögen. Die endliche Geburt, die völlige Erneuerung, werden wir alle nicht mehr erleben.

 71. Palitana, der große Tempel Chamukte


DER TOTE PALAST
EIN ARCHITEKTENTRAUM
VON PAUL SCHEERBART

DER TOTE PALAST
Ein Architektentraum

Ich wußte, wo ich hin wollte.
Ich stieg daher unverdrossen die schlecht behauene Felstreppe höher - und war bald da.
Und ich stand vor dem markigen Palast, den ich mein ganzes Leben hin- durch haben wollte.
Aber so deutlich wie damals hab' ich ihn nie gesehen.
---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Der Palast sitzt auf der Bergkuppe wie ein zackiger Stachelhelm.
Ich bin sehr erstaunt.
Aber - es ist so still:
Ich habe eine so furchtbare Einöde noch niemals empfunden.
Und die Rubinsäulen stechen mir ins Auge - und die weiten Säle der Sonnenglut brennen so stark.
Das also ist der markige Palast, den ich mein ganzes Leben hindurch haben wollte!
Es ist alles so tot!
Und eine Stimme spricht zu mir:
»Die Kunst, die du erträumtest, ist immer tot. Die Paläste haben kein Leben. Bäume leben - Tiere leben - aber Paläste leben nicht.«
»Demnach«, versetz' ich, »will ich das Tote!«
»Jawohl!« hör' ich's rufen - aber ich weiß nicht, wer das sagt.
»Ich wollte die Ruhe - den Frieden!« schrei' ich wild in grausigem Ekel.
»Die Ruhe«, hör` ich nun, »wirst du schon finden - sei doch nicht so  gierig!«
---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Und ich wußte, was ich wollte - ich wollte die Ruhe - ohne Lust - den Abgang ins Unendliche!!!
Der tote Palast zitterte – zitterte!

 72. Die große Pagode von Udepûr

QUELLENANGABE

Die Dichtungen »Das neue Leben« und »Der tote Palast« sind dem phantastischen Nilpferderoman »Immer mutig« von Paul Scheerbart, Verlag J. C. C. Bruns, Minden i. W., mit Erlaubnis dieses Verlages und der Witwe Scheerbarts entnommen.
Die übrigen Beiträge erscheinen zum erstenmal im Druck.
Die Abb.1,13 und 70 nach »Gonse,1'art gothique«, Abb. 3, 28 und 29 nach »C. Brossard; Geographie pittoresque et monumentale de la France«, Abb. 4, 21 und 33 nach »Braun und Hogenberg, Urbes, ca. 1700«, Abb. 9 nach »C. H. Peters, De nederlandsche Stedenbouw«, Abb.10 und 12 nach »Perrot et Chipiez, l'art antique«, Abb. 7 nach »Handbuch der Kunstwissenschaft, Lief. 60«, Abb.14 nach »Prospects of all the cathedral etc. of England and Wales«, Abb. 15 und 57 nach »Unwin, Grundlagen des Städtebaues«, Abb. 20 und 38 nach »Daniel Meißner, Politica-Politica, 1700«, Abb. 22 nach »Pinder, Deutsclie Dome im Mittelalter«, Abb. 23 nach »Fergusson, History of Indian architecture«, Abb. 24 und 25 nach »David Roberts, Egypte and Nubia« und »Holy.Land«, Abb. 26 nach »Grabar, Russische Architektur«, Abb. 27 nach einem alten Aquatintablatt, Abb. 30 nach »Dahlberg, Suecia«, Abb. 32 nach »Die schöne deutsche Stadt«, Abb. 35, 55 und 58 nach »Börschmann, Baukunst der Chinesen«, Abb. 36 und 37 nach »Zeiller.Merian, Topographia«, Abb. 52 nach »Schinkel, Kriegsdenkmäler«, Abb. 53 nach »Möller van den Bruck, Der preußische Stil«, Abb. 66 nach »Mebes, um 1800«, Abb. 6,11,16,17,18,19, 31, 34, 40, 41, 67, 68, 71 und 72 nach den Mappenwerken für Einzelblätter der Bibliothek des Kunstgewerbemuseums zu Berlin.
Aus der gleichen sowie aus der Lipperheideschen Kostümbibliothek stammen die vorher genannten Abbildungen - nach gütiger Genehmigung und Unterstützung durch die Bibliotheksleitung.
Abb. 2 ist nach »Kunstwart« gedruckt, Abb. 5, 8, 54, 59, 60 und 64 nach »Städtebau«, Abb. 61, 65 und 59 nach »Deutsche Bauzeitung« mit gütiger Erlaubnis der Redaktionen, Abb. 62 nach »Otto Wagner, Die Großstadt«, Abb. 50 und 51 mit Genehmigung der Bauabteilung der Deutschen Gartenstadt-Gesellschaft.
Die übrigen Abbildungen stammen von Originalen.

VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN

  1. St. Barbara von Jan van Eyck
  2. Charles Cottet, Stadtbild
  3. Mont-Saint-Michel
  4. Straßburg nach Braun und Hogenberg, Urbes
  5. Monte Compatri bei Rom
  6. Durham
  7. Selim-Moschee in Adrianopel
  8. Augsburg, Ulrichskirche
  9. Utrecht nach J. v. Vianen 1598
10. Assyrischer Tempel, Rekonstruktion von Perrot und Chipiez
11. Madura, große Sapura
12. Salomonischer Tempel in Jerusalem, Rekonstruktion von Perrot und Chipiez
13. Köln
14. London
15. Selinunt, Rekonstruktion nach M. Hulot
16. Athen
17. Rangün, Shoay Dagone Pagode
18. Salamanca
19. Rangûn
20. Buarcos nach Daniel Meißner, Politica-Politica 1700
21. Tzaffin nach Braun, Urbes, ca. 1700
22. Prenzlau
23. Angkor-Vat, Ansicht nach Fergusson
24. Kairo nach David Roberts, Egypte and Nubia
25. Hebron nach David Roberts, Holy-Land
26. Große Kathedrale im Kreml zu Moskau
27. »Vue du Kreml de Moscou prise du pont de pierre« - Aquantintablatt
28. La Chaise-Dieu
29. Bėziers
30. Strangnäs nach Dahlberg, Suecia
31. Pisa, Piazza del Duomo
32. Danzig, Marienkirche
33. Aden nach Braun, Urbes ca. 1700
34. Streevelliputtur
35. Miaio tai tze, Gedächtnistempel für den Kanzler Chang:Liang
36. Paris nach Merian
37. Speier nach Merian
38. Mainz nach Meißner
39. Toledo
40. Bangkok-Siam, die große Pagode Wat Tsching
41. Tschillambaram, Schiwa.Teich
42. Stadtkrone, Ansicht nach Osten
43. Stadtkrone, Ansicht nach Westen
44. Stadtkrone, Vogelschau nach Westen
45. Stadtsilhouette mit Stadtkrone
46. Schema der neuen Stadt
47. Stadtkrone, Bild
48. Stadtkrone, Plan und Silhouette
49. Stadtkrone, Perspektivische Ansicht
50. Gartenstadtsiedelung Falkenberg bei Berlin
51. Straßenbild aus Falkenberg (Abb. 42-51 nach Zeichnungen des Verfassers)
52. Entwurf zu einem Dom auf dem Templower Berge bei Berlin zur Erinnerung an, den Befreiungskrieg von Schinkel
53. Entwurf zu einem Denkmal Friedrichs des Großen auf dem Leipziger Platz zu Berlin von Gilly
54. Karlsruhe, Stadtplan
55. Konfuziustempel in Küfu nach Börschmann, Baukunst der Chinesen
56. Planschema nach Ebenezer Howard, »Gartenstädte in Sicht«
57. Zentralanlage für die Gartenstadt Letchworth nach Unwiri, Grundlagen des Städtebaues
58. Planskizze der Stadt Küfu nach Börschmann
59. Elias-Hollplatz mit Rathaus und Perlachturm zu Augsburg nach-Zeichnung von Dr. Former
60. Das neue Municipalgebäude in New York
61. Stadtbild von New York
62. Luftzentrum des künftigen XXII. Wiener Gemeindebezirks von Otto Wagner
63. Siedelung Klein:Hohenheim bei Stuttgart, Projekt von Jacobus Göttel
64. I. Preis des Wettbewerbs zu einem Bebauungsplan für die Bundeshauptstadt Australiens von W. Griffin.Chicago
65. Internationales Welt.Zentrum, Projekt von H. C. Andersen und M.  E. Helbrard
66. Auswärtiges Amt in Berlin
67. Justizpalast in Brüssel
68. Kapitol in Washington
69. Entwurf zu einem Völkerdenkmal, Pantheon der Menschheit von H. P. Berlage
70. Kathedrale zu Rouen
71. Palitana, der große Tempel Chamukte
72. Udepür, die große Pagode


INHALT

Das neue Leben, architektonische Apokalypse von Paul Scheerbart.
40 Beispiele alter Stadtbekrönungen
Die Stadtkrone
     Architektur
     Die alte Stadt
     Das Chaos
     Die neue Stadt
     Rumpf ohne Kopf
     Gebt eine Fahne
     Die Stadtkrone
     Wirtschaftliches zur Stadtkrone
Nachwort. Neuere Versuche zu Stadtbekrönungen
Aufbau von Erich Baron
Wiedergeburt der Baukunst von Adolf Behne
Der tote Palast, ein Architektentraum von Paul Scheerbart
Quellenangabe
Verzeichnis der Abbildungen


DIETSCH & BRÜCKNER IN WEIMAR DRUCKTEN DEN TEXT DIE SPAMERSCHE BUCHDRUCKEREI IN LEIPZIG DIE TAFELN

AUS DEN ARBEITEN VON BRUNO TAUT:

EINE NOTWENDIGKEIT. »Der Sturm« 1913.
DIE VERERDUNG. »Die Tat« 1917.
ARCHITEKTONISCHES ZUM SIEDELUNGSWERK. »Der Siedler« 1918, Verlag O. Laube, Dresden.
FÜR DIE NEUE BAUKUNST. »Kunstblatt« 1919.
DIE ERDE EINE GUTE WOHNUNG. »Die Volkswohnung« 1919.
ARCHITEKTUR.PROGRAMM. Flugschrift des Arbeitsrats für Kunst, Berlin. Weihnachten 1918.

In Vorbereitung:
HERAUSGABE DER »ALPINEN ARCHITEKTUR« EINES UNBEKANNTEN ARCHITEKTEN in 5 Teilen und 30 Zeichnungen.
DIE AUFLÖSUNG DER STÄDTE.

ARCHITEKTONISCHE DICHTUNGEN VON PAUL SCHEERBART:

GLASARCHITEKTUR. Verlag »Der Sturm«, Berlin.
DAS GRAUE TUCH UND 10 % WEISS. Ein Damenroman, Verlag Georg Müller, München.
DIE SEESCHLANGE. Ein Seeroman, Verlag J. C. C. Bruns, Minden.
DAS GROSSE LICHT. Ein Münchhausen-Brevier.
MÜNCHHAUSEN UND CLARISSA. Ein Berliner Roman, Verlag Osterheld & Co., Berlin.

AUS DEN ARBEITEN VON ADOLF BEHNE:

DIE KUNST DES ORIENTS. Eine Vortragsreihe, Verlag »Vorwärts«, Berlin.
RUSSISCHE KUNST. Eine Aufsatzserie in den »Sozialistischen Monatsheften«, Berlin, 1918.
ZUR NEUEN KUNST. Verlag »Der Sturm«.
ORANIENBURG. Ein Beispiel der Stadtbetrachtung, Flugschrift der Dürerbundes.

In Vorbereitung:
DIE WIEDERKEHR DER KUNST; Verlag Kurt Wolff; Leipzig