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Autor: Taut, Bruno
In: Frühlicht - (1922); 3. - S. 65 - 71
 
Neu-Magdeburg, eine realistische Selbstbetrachtung
 
Wer zu Sinnreichheit kommen ist, der wirket alle sinnlichen Dinge desto baß.
Heinrich Suso

Uns sieht der Mietskaserneninsasse und Asphalttreter als bedauernswerte Idealisten und Utopisten an, die nicht mit beiden Füßen auf der Erde stehen. Er aber steht ja nur auf dem Asphalt und nicht auf dem Erdboden, er möchte vom harten Pflaster aus seine Welt, d. i. die Stadt, regieren und merkt nicht, daß er dabei zum traurigen Idealisten wird, zum Anbeter eines Götzen, zum demütigen Knecht eines Phantoms. Wie sieht denn das Erbe "unserer Väter" aus? Ich stand auf dem Domturm und sah - nun - keinen Organismus. Das Alte, die Kirchen stehen wie verkümmerte Blumen in einem wüsten Unkrautacker, und wo man keinen alten Straßenzug, keine organische saubere Dachmasse mehr sah, nach Süden, Fermersleben, Sudenburg usw., da war nur ein Geschiebe von wüsten Kästen, in die mit dem Messer schnurgerade "Fluchten" geschnitten sind - die schöne Welt des Pflastertreters.
Ich fuhr im Flugzeug über die Stadt: tief unten das Werk der winzigen Menschentiere. In dieser schönen Welt, wo die Elbe wie ein Silberband leuchtet, in dem grünen Meer von Feldern und Bäumen - mit Scham sieht man von da aus, was wir Menschentiere geleistet haben.

NeuMagdeburg1.gif (341833 Byte) Abb.1

NeuMagdeburg2.gif (132887 Byte) Abb.2

Wenig schmeichelhafte Vergleiche drängen sich angesichts dieses Steinwirrwarrs auf, wenn wir nicht an der sauberen Anlage des Doms und seiner Umgebung einen Halt für unser Selbstbewußtsein fänden, daß wir Menschen doch zu den "besseren" Tieren gehören. - Von oben sieht man es: "Stadt" - so etwas gibt es eigentlich nicht mehr. Es breitet sich weithin ins Land aus, man sieht keine "Grenze", an der man sagen könnte: hier hört die Stadt auf und das Land beginnt. Aber es strahlt nicht organisch zusammen zu einem Gipfel, zu einem Höhepunkt, es kumuliert, häuft sich nur, ohne jede Form, ohne jeden Sinn (Abb. 1 u. 2). - Wie es kam? wir wissen es, und wir wollen uns damit nicht aufhalten, wir wollen uns nur die Frage vorlegen: wie können wir eine Gestaltung, eine reine klare Fassung der menschlichen Bedürfnisse vorbereiten, die wir vor den kommenden Jahrzehnten verantworten können? - Die Grundfrage ist: was ist heute die Stadt? Elementare Kräfte haben sich des Landes in der Peripherie bemächtigt, unbekümmert darum, wie es aussieht, was wird usw. Sie setzen sich einfach auf den Boden, als wahre "Besitzer", pflanzen Sträucher und Kohl, bauen ihre Buden, oft auch Häuser, und kümmern sich den Teufel um Baupolizei und Stadtbehörde - die Laubenkolonisten und Schrebergärtner zählen in Magdeburg allein nach Zehntausenden. Der Plan gibt ja das deutlichste Bild Abb. 3). Das alles ist aber formlos. Es ist nicht Städteauflösung im Sinne von Erlösung, es ist nur Gestoßensein, nur die Reaktion des Pflastertreters selbst, nicht aber Aktion gegen Reaktion. Neu, wie sie ist, trägt diese Bewegung naturgemäß den Stempel des Gewaltsamen, aber auch den des Embryonalen, Keimhaften. Die Erde der Stadt wehrt sich dagegen, daß alle ihre Poren verschlossen werden, die Erde atmet und lebt mit ihren Mikroben und duldet auf die Dauer nicht das Vorhaben ihrer Tötung. Dies gilt in besonderem Maße für den fruchtbaren Humus der Börde, der die Stadt westlich der Elbe umzieht. Wer sich dieser Erkenntnis nicht verschließt, muß die Bewegung fördern und ihr helfen, indem er aus dem wilden Auftreten die für alle gleichartigen Voraussetzungen herausschält und versucht, in einzelnen Zusammenschlüssen die neue Siedlungsform zu erproben, und zwar nicht bloß baulich (vergleiche Frühlicht Heft 1, S. 20-21), sondern auch gärtnerisch und kulturell. Es wird ein nicht immer gesegneter Weg sein - der Mensch der Steinstadt kann nicht sofort ein Mensch der Erdstadt werden -, bis endlich sich eine Tradition bildet, auf der sich die neue Siedlung aufbaut, deren neue Form sich heute erst tastend und suchend ans Licht wagt. Die sog. Gartenstadt steht als Vermittlungsglied in der Mitte. Ihre Erfahrungen und die neuen Wege werden sich begegnen und das Neue formen. Mag der Pflastertreter dies alles für sporadische und vorübergehende Liebhabereien erklären - über alle Übergangsbeispiele Europas hinweg bleibt die Millionen "gartenstadt" Peking das grandiose Symbol der Siedlungsform auf dem Grunde einer tiefen Kultur. Man kann "Baulücken" in Mietskasernenvierteln schließen, aber man darf nicht ungestraft neue Gebiete wie bisher "erschließen" und (im doppelten Sinne) bepflastern.

NeuMagdeburg3.gif (183857 Byte) Abb.3

Wie kann sich nach seinen Voraussetzungen und Lebensbedingungen Magdeburg entwickeln? Wie kann es selbst, im Ganzen zur Form werden? - Unter Form soll hier nicht ein "städtebaulicher" oder gar ästhetischer Formalismus verstanden werden, sondern das, was ohne jede einwirkende Voreingenommenheit sich etwa zu einem Organismus zusammenfügen könnte, der dann auch für die Sinne erfreulich ist. Auch ein Ameisenhaufen hat Form und bei näherem Hinsehen enthüllt sich seine letzte und unbedingte Gesetzmäßigkeit. Alle Tiere und auch der Mensch bilden nach einer absoluten Idee, die durch Anpassung an bestimmte Gegebenheiten an sich zwar undeutlicher, aber reichhaltiger wird, wenn sie umfassende Kraft hatte. "Bewegung ist alle Form", und die Form der Stadt entsteht aus der tatsächlichen Bewegungsweise der Menschen, aus dem Verkehr untereinander, zur Arbeitsstätte und zur Umgebung und anderen Städten. Der Außenverkehr Magdeburgs gliedert sich in Überlandstraßen, Eisenbahnen, Schiffahrt und späterhin Flugverkehr. Dieser als der anpassungsfähigste wird sich leicht regeln. Auch für die Überlandstraßen läßt sich das einfache große Netz leicht den späteren verstärkten Bedürfnissen anpassen (Abb. 4). Der Schiffsverkehr erhält durch den die Elbe unweit der Stadt überquerenden Mittellandkanal und durch seinen nach dem Industriegelände zu führenden Zuleitungsarm eine starke Veränderung. Eine neue Wasserlinie entsteht, deren Bedeutung schwer abschätzbar, aber aller Voraussicht nach eine eminente sein wird.

NeuMagdeburg4.gif (155504 Byte) Abb.4

Hier muß sich einmal ein Arbeitsleben in großen Ausmaßen entwickeln, das auf das ganze Stadtgebilde umgestaltend einwirkt. Zunächst sei hier noch der beabsichtigte Umgehungskanal erwähnt, der eine ganz wesentliche Entlastung der Elbe und damit ihrer Ufer an der heutigen Altstadt zur Folge haben wird. Aus beiden Faktoren ergeben sich Einwirkungen auf das Eisenbahnnetz. Dieses, wie es heute ist, erscheint organisch, sobald man die alten und die neuen Linien jede für sich betrachtet. Zusammengenommen zeigt es aber Parallelismen, die als überflüssige Verdoppelungen wirken - die Verhältnisse ergaben es eben so - und eigentlich dazu aufzufordern scheinen, sich für eins oder das andere zu entscheiden. Und wie der Lauf der Welt nun einmal ist: das Alte lebt, solange es kann und, wenn das Junge stark und lebensfähig für sich allein ist, so stirbt es in Frieden. Dies wird einmal für die Elbestrecke mit Elbbahnhof, einem alten Hauptbahnhof, gelten, wie es heute schon für die alte Berliner Strecke nach Biederitz gilt, wenn - die junge Strecke etwa am Scheitelpunkt ihrer Kurve die Güterfrage gelöst haben wird. Wie dies geschehen wird, ist eine Frage an die Sphinx; es gibt ja verschiedenartige Projekte dafür, und wir dürfen hoffen, daß die Eisenbahn in einer Magdeburger Lebensfrage, der Verbindung von Altstadt und Wilhelmstadt und der Verringerung ihrer heutigen Zerschneidung nicht - verkehrsfeindlich sein wird. Nach der Lösung des Güterbahnhofs an dieser Stelle und nach dem Fortfall des Umschlag- und Verladeverkehrs an dem Westufer der Elbe im Bezirk der Altstadt würde endlich jene Uferbahn eingehen und damit für die Innenstadt ein großer Schritt getan: Magdeburg würde dann endlich wieder an der Elbe liegen (vgl. Frühlicht Heft 1, S. 17), während es ihr heute mit Schuppen, Schienen usw. seine - Hinterhand zeigt. Schiffs- und Bahnverkehr bestimmen im wesentlichen die Lage der Industrie und, sofern eine vernünftige planvolle Besiedlung erfolgt, auch die Lage der Wohngebiete, welche aus allen, seelischen und materiellen, Gründen nicht zu weit von der Arbeitsstätte liegen dürfen. Heute ist das in Magdeburg nicht der Fall (Abb. 2). Aber die Zukunft ermöglicht es. Die Industrie wird sich dort, wo sie heute am größten ist, auf der Linie Buckau-Fermersleben weiterentwickeln, sodann aber im Norden bei Rothensee um den heutigen und vor allem aber späteren Handelshafen.

NeuMagdeburg5.gif (212697 Byte) Abb.5

Freies Land zum Siedeln wird dort im Westen der südlichen und nördlichen Industriegegenden die dazu nötigen Wohngebiete bilden, die sich in einfachem Wachstum dem Schwung der Elbe anschließen und, in großem Maßstabe dem Bogen der Elbe folgend, wieder die langgestreckte, auch für das alte Magdeburg charakteristische Form bilden, die aus Fluß und Landschaft die natürliche ist (Abb. 7). Diese Gebiete lehnen sich an die neueren und verhältnismäßig solideren Mietshausviertel an, sie verbindend, und im Laufe der Jahrzehnte umformend. Aber die stärkste und rascheste Umformung wird dabei die Altstadt zwischen heutigem Bahnhof und Elbe erfahren. Um Breiteweg, Kaiserstraße und Altmarkt bis zum Bureauhaus auf dem Kaiser-Wilhelm-Platz (Heft 1, S. 12-16), das als Schnittpunkt der großen Überlandwege (Abb. 4) geradezu ein Wahrzeichen bildet, wird sich bis zum Dom als Tangente dieses Kreises die Messestadt mit Geschäften, Bureaus und Hotels immer markanter herausbilden, wovon wir trotz der heutigen Ansätze dazu kaum eine Vorstellung haben. Natürlich ist das nicht grob prinzipiell zu nehmen; gewisse Nebenzentren müßten entstehen, z. B. um die neue Halle "Land und Stadt" (Heft 1, S. 6-8), Viehhof usw. (ob vielleicht in jene Gegend der neue Güterbahnhof kommen könnte?). Am stärksten wird sich die Umbildung aber in den eigentlichen Altstadtvierteln zeigen, welche sich heute östlich vom Breitenwege, der Bodensenkung folgend, bis zur Elbe herunterziehen. Aus ihnen ragen der Dom und die großen Kirchen heraus, mit den Türmen gegen Westen der Anhöhe zu und mit den Chören der Elbe sich zuneigend, mit betontem Ausdruck der Bodenbewegung (Heft 1, S. 17). Aber - die Elbe sieht sie nicht. Sie ist mit "Nutz"anlagen verstopft, kein Hauch der frischen Wasserluft dringt an heißen Sommerabenden in die Quartiere, welche die großartigen Kirchenbauten umgeben. Ihr Schicksal ist besiegelt. Baulich nach 20 Jahren unhaltbar, sanitär nach dem Zeugnis von Ärzten und Fürsorgerinnen heute schon nicht mehr, werden auch sie sterben, wenn der oben geschilderte Entwicklungsprozeß der Stadt vor sich geht.

NeuMagdeburg6.gif (164991 Byte) Abb.6

Aber keine "Freilegung" darf diese Sanierung sein. Feinfühlige Hände werden den Reiz der Straßenzüge zu erhalten verstehen, die neue Bebauung nach dem Strom hin niedriger werdend, mit Gärten und Parks durchsetzt, Arbeitsräume in terrassenförmigem Anstieg und Wohnungen vielleicht für alle diejenigen, welche wegen ihres Berufs in der Nähe der Geschäftsstadt wohnen möchten. Die großen Massen aber werden automatisch durch die neuen Siedlungsgebiete abgezogen. Zu dieser Auflockerung und Elbebefreiung wird ein breites öffentliches Grün an den Ufern, Alleen usw. kommen, um das Stagnieren der schlechten Stadtluft in diesem Luftsack, wie es heute bei milder Luft dort die Regel ist, endgültig zu beseitigen. Gegenüber, auf dem andern Elbeufer, würde das Zitadellengebiet der gegebene Mittelpunkt eines repräsentativen Viertels, etwa mit dem Rathause als Kulmination sein (Heft 1, S. 18-19). Die Zukunft wird die neuen großen Bauaufgaben erst stellen, welche einem höheren Zweck dienen und wirksam genug sind, um ein großes Gesamtstadtland zu krönen, als Zusammenfassung des geistigen Lebens der verschiedenen Siedlungsgebiete. Dort würde die Uferausbildung in gleicher Weise wie das Westufer mit dem schönen Rotehornpark zusammenwachsen, mit dem der große Bogen des Glacis eine geschlossene Einheit des öffentlichen Grüns um die geschäftige Stadt bildet. Das neue öffentliche Grün (Abb. 6) bedeutet eine gleiche Zivilisierung des Militärs wie das alte. Es verbindet die Forts und Außenwerke, soll sich aber auch zungenartig in die Siedlungen hineinziehen, um jede letzte Verkümmerung des Städters zu verhindern. Das sollen aber durchaus keine teuren "Anlagen" sein, vielmehr gärtnerisch angebaute Flächen mit Wegen, Obst usw. (vgl. Harry Maaß, Lübeck). Dieses Neu-Magdeburg, das Abb. 7 andeutet, entspricht zwar nicht dem Begriff "Stadt", der einen Kreis oder ein Quadrat fordert. Aber "Stadt" ist heute nichts Abgeschlossenes mehr, es ist etwas Ausstrahlendes und nirgends Aufhörendes, das die Grenzen von Stadt und Land schließlich ganz verwischt. Die weite Distanz verstärkt die Selbständigkeit, alles, was distanziert, fördert.

NeuMagdeburg7.gif (324921 Byte) Abb.7

Ein besonderer Vorzug liegt für Magdeburg aber in dieser Lage: alle Wohngebiete - die wahrscheinlich wenig entwicklungsfähigen Ostgebiete ausgenommen - liegen im Westen von Industrie und Geschäft. Wo wie in Berlin und London z. B. der Zug nach dem Westen wegen der unverbrauchten Luft nur einem Teil der Bevölkerung erfüllbar bleibt; hier ist er nicht nötig, weil alles Westen ist. Und alles ist dort Humusboden. Nur eins fehlt hier dem Westwind: der pflanzliche Gehalt. Kein Wald weit und breit. Hat die Luft in Magdeburg deswegen keine Frische, schmeckt sie deshalb nur nach - Stadt? Abb. 7 zeigt eine Andeutung, wo einmal in großem Maßstabe aufgeforstet werden müßte. Drei Waldflächen würden mit dem Strom eine große Form bilden. Kreuzhorst, Biederitz und die neue Forst als die bedeutungsvollste zur Auffrischung von Lunge und Geist der Magdeburger. Die Chinesen verbinden ihren Stadtbau aufs engste mit der Landschaft. Ihre Stadtorientierung hat tiefe mythische Bedeutungen. Wir müssen es auch tun; sonst rächt sich die Erde, die Luft, das Wasser, das Feuer. Lieben wir die Elemente, so lieben sie auch uns und helfen uns. "Städtebau" ist ein Unding, wenn feste Pläne mit "Fluchtlinien" eine Zukunft in den Einzelheiten festlegen wollen, von denen wir noch gar nicht wissen, ob nicht alles bald überholt ist. Solche Pläne werden zum Fetzen Papier wie ein überlebter Vertrag. Wo die Häuser stehen, wie sie gebaut werden, das darf kein Plan im voraus festnageln wollen, weil nur die körperliche Gestaltung der drei Dimensionen entscheidet, aber niemals ein "planum". Im Großen ist aber eine Richtung für die Erkenntnis des neuen Werdens notwendig, um danach von Fall zu Fall die Tagesfragen entscheiden zu können. Diese Erkenntnis ist die wesentliche Grundlage des schöpferischen Gemeinschaftsgeistes.

Bruno Taut (Zeichnungen von Erich Fresdor)