Thema
5. Jg., Heft2
Dezember 2000

Ulrich Conrads

Keine Ausbildung ohne Vorbildung

 

Es ist fast schon nicht mehr nur eine Vermutung: Der Freie Architekt figuriert als eine aussterbende Spezies unter den Baubeflissenen.
Aber ist diese Misere eine Frage der Ausbildung? Können Architekturschulen ihr begegnen? Wäre ein Widerstand gegen die Versklavung des Architekten „von vornherein" möglich? In der Art eines europaweiten Flächenbrandes? Mit einer in ihrer Struktur gewandelten Architekten-Ausbildung? Sie ist genau das, was mir jetzt, in diesem - sagen wir ruhig: europäischen - Augenblick des Umbruchs dringend und sinnvoll erscheint. Sicher ist es im Augenblick noch utopisch anzunehmen, auch nur eines unserer auf Leistung und funktionale Tüchtigkeit abzielenden Ausbildungsinstitute würde es sich selbst verschreiben, angehenden Architekturstudenten erst einmal zwei Semester Vorbildung zu verschaffen. Denn das ist meine Idee und Überzeugung: daß heute eine nachhaltige Ausbildung zum Architekten eines mindestens einjährigen Vorlaufs bedarf. Diesen Vorlauf sollte man, um jeder Verwechslung vorzubeugen, nicht „Vorkurs" und auch nicht "Vorlehre" nennen. Mein Vorschlag gilt vielmehr einer BASISLEHRE. Auf ihr aufbauend, wird eine Architekturlehre heute sinnvoll und zukunftsträchtig sein, wie immer sie auch im einzelnen und in ihrer Gewichtung beschaffen sein mag. Sie könnte, so meine Hoffnung, dem Architektenstand die innere wie die politische Stärke zurückgewinnen, die im Moment vertan erscheint. Sie bringt einen Zuwachs an Kompetenz - vor allem Bauen und über das Bauen hinaus.
Denn der Student hat zwei Semester oder drei Semester lang erfahren, was Kindheit heißt, wessen der kleine Mensch in seiner erst noch zu lernenden kleinen Welt bedarf. Der Student hat gelernt zu objektivieren, was er eben erst als heranwachsender junger Mensch erfahren oder vermißt hat. Es ist ihm hautnah mitgeteilt worden, wie das sogenannte Berufsleben den Erwachsenen, die Frau, den Mann, auf je besondere Weise, strapaziert. Der Student hat mal kurz versucht, in Stadtgegenden mit über zwanzig Prozent Arbeitslosen Policen für Kleinlebensversicherungen an den Mann zu bringen. Er hat ein paar Wochen unter Schwerkranken zugebracht, zwei Wochen lang Sterbende in Siechenheimen besucht, weil Kranksein und Dahinsterben in keinem anderen Maßstab als dem der Wirklichkeit, in keiner Übersetzung zu vermitteln sind. Kurz, den angehenden Architekturstudenten hat sein erstes Studienjahr in außerordentliche Spannungen versetzt: Lebensvollzüge, Lebensverhältnisse, Lebenszustände, Lebensziele waren zu erfahren, zu erkennen, zu begreifen, in Zusammenhänge zu bringen, in die gegenständliche Welt einzuordnen. Damit später, beim Bauentwurf, das Zuordnen seinen Sinn und seine Richtigkeit haben wird. Ein Jahr lang ist der Studienanfänger um nichts herumgekommen.
Diese Basislehre läßt sich natürlich aufdröseln in die altbekannten Fächer. Anthropologie, Psychologie, Physiologie; Medizin, Pädagogik, Sprachwissenschaft; Biologie, Ökologie, Hygiene. Aber nun muß ich noch Philosophie dazuschreiben, um nicht mißverstanden zu werden.
Ich meine eben nicht „Fächer", sondern ich meine deren Inhalte, auf die Vollzüge des Wohnens, Arbeitens, Sich-Erholens, Freiseins fokussiert. So streng und bündig das nur geht, ohne damit Lebendiges festzuschreiben. Wenigstens „Kontinuität im Wandel" wäre damit zu demonstrieren und zu erfahren: Das sind wir, so leben wir; heute und, falls es sich schon absehen lässt, gleich morgen. Daraus ergibt sich dann eine ganz andere Frage an die nun folgende Bau-Lehre als die, in welchem Stile wir wohl bauen sollen.

Die erste, die primäre Frage lautet

  • aus der Sicht dessen, der sich getrieben oder berufen fühlt, Architekt zu werden: Für wen werde ich einmal bauen?
    Wobei ruhig offen bleiben kann, ob damit der Auftraggeber, der Bauherr, gemeint ist oder diejenigen, denen das Bauwerk zur Nutzung angedient werden wird.
  • Aus der Sicht der Lehrer zieht die Frage, für wen die von ihnen zu fördernden Studienanfänger später einmal bauen werden, eine lange Schleppe weiterer Fragen nach sich. Und ziemlich viele davon laufen auf eine Selbstbefragung hinaus.

Schon bei diesem ersten Vortasten wird hinlänglich klar, daß, folgt man meinen Vorstellungen, die Architekturlehre schon gleich zu Anfang, noch vor allem Konzipieren und Projektieren, allem Konstruieren und Detaillieren, auf politisches Terrain gerät und mit Sicherheit die Staatsaufsicht auf den Plan rufen wird.
Man wird ihr sagen müssen, daß die Wissenschaft vom Menschen ohne politische Implikationen nicht zu denken, also auch nicht zu praktizieren ist. Man muß ihr sagen, daß die Adrenalin-Proben etwa aus dem Urin der Bewohner des 1974 eben bezogenen Berliner Märkischen Viertels eine verfehlte Stadtbaupolitik und eine ebenso fragwürdige Wohnbaupolitik bloßstellen. Es mangelte leider nur an den einfachsten physiologischen Grundkenntnissen, um diese Blößen der Stadtpolitik wirkungsvoll öffentlich vorzuführen. Es ist nicht anzunehmen, daß dieses Wissen mittlerweile zugenommen hat.
Ist es denn abwegig zu erwarten, daß zumindest der Architekt und der Städtebauer wissen, womit und wie und wo und zu welchem Zeitpunkt sie ihre Mitmenschen in Angst versetzen?

Ein Thema also: Angst. Fast ein Semesterthema.
Neben einem anderen weitläufigen Thema, das ich hier mal mir Erving Goffman Verhalten in sozialen Situationen benennen möchte. Ach ja, schon 1971, vor einem Vierteljahrhundert, publiziert und längst vergriffen und vergessen. Da lag die Vorbildung, für die ich hier plädiere, bereits - wörtlich - auf der Straße!
Wie steht es denn mit diesem sozialen Verhalten: dem Bummeln, Flanieren, einem Menschenauflauf, einer Zusammenrottung, einem Sommernachtspiel, dem Vorbei-Gehen, dem Eckenstehen? Was ist mit dem „Rücken an der Wand" und was ist mit den ausgebreiteten Armen und den zufälligen oder absichtlichen Körperkontakten? Was ist mit der kollektiven Sangeswut Warum ist es am Rhein so schön und Wer soll das bezahlen...?

Allein dies Thema wäre eine Hauptvorlesung wert und zwei Seminare, eines für Fortgeschrittene.

Eine Zumutung für die Lehrenden ist die BASISLEHRE allemal. Denn es werden ihnen ja weder Lehr-Gegenstände noch Lehrpläne anhand gegeben. Es gibt bestenfalls Umschreibungen dessen, was zu vermitteln wäre, und es gibt eine Zielsetzung. Man darf diese nur nicht mit Klassenzielen verwechseln.

Denn:

Das Pensum der Studierenden und die Arbeit der Lehrenden sollen sich, so meine Erwartung, aus der je unmittelbaren Gegenwart, aus den je gegenwärtigen Zuständen, seien es gesegnete, seien es Nöte, entwickeln. So wird es von Semester zu Semester ganz unterschiedliche Themen, Aufgabenstellungen, Arbeitsinhalte geben. Diese Erwartung huldigt der, zugegeben: etwas waghalsigen These, daß sich die Welt aus wenigen Punkten erklären läßt und man sich nur zwei Stunden lang an die Kreuzung zweier wichtiger Stadtstraßen stellen muß, um die Kräfte, die Energien, das interne Klima, das Lebensgefühl, die soziale Verfassung des Ortes in Erfahrung zu bringen.
Das waren einige Illustrationen zur Sache. Ich hoffe, ich habe deutlich machen können, was die BASISLEHRE in ihren zentralen Strängen, ihren inhaltlichen Verflechtungen zu vermitteln hätte.
Damit aber ist es für die Studienanfänger noch nicht getan. Es gibt parallel dazu zwei weitere wichtige Unterweisungen: einmal die Belehrung über die Hauptzüge der Kulturgeschichte, was etwas anderes ist als eine Vermittlung von Kunst- und Architekturhistorie, welche dem eigentlichen Bau-Studium zugeordnet bleiben kann; auf der anderen Seite, damit die „Intelligenz der Hand" unterdessen nicht leer ausgeht, die Schulung der Fähigkeiten des Darstellens, vom Skizzieren bis zum CAD, und ein stetes Training der Sensibilität für Materialien, Oberflächen und Farben.
Denn das unterscheidet den Architekten ja von allen anderen Berufen, die sich mit der Wohlfahrt unserer Gemeinwesen, staatlichen wie kommunalen, befassen oder überhaupt mit dem sozialen Körper: daß er de facto für die Körperlichkeit des Sozialen, die Gehäuse der Gesellschaft, arbeitet und, indem er das tut, in diese Körperlichkeit formend und gestaltend eingreift.

Und das Spannende dabei ist, daß diese gestaltenden Eingriffe durch Erneuerung, Umbildung, Mehrung von Gebäuden oder durch Stadtplanung, Stadtentwicklung, regionale Raumordnung zugleich Übersetzungen eines - oft schwer auszumachenden - kollektiven Wünschens und Willens sind. Schwer auszumachen, weil Vitalität wie Siechtum, ungebrochenes Selbstverständnis wie kränkelndes Sich-Durchbringen sich in Verhaltensweisen äußern, die dem sogenannten Marktverhalten ähneln und glauben machen, hier gehe es um Märkte. Diese Märkte der Architektur und Stadtplanung sind indes bloße Schein-Märkte. Sie ergeben sich nicht aus einem Pensum, sondern werden gemacht, werden veranstaltet. Frage: Auf Geheiß von Werbung? Setzt Werbung Daseinsziele? Dies nur nebenbei. Es ist unsere so langsam schon eingefleischte, internalisierte „marktkonforme" Situation. Denn spöttisch gefragt: Wenn alles Kunst ist, wie viele Dilettanten, aber auch einige gestandene Künstlerpersönlichkeiten behaupten, warum soll dann nicht auch alles Markt sein?

In solcher Situation ließe sich nun um so eher fragen, was denn mit „Situation" gemeint sein kann; und dann:

Wie lange eine dreidimensionale Situation - wenn es eine solche überhaupt gibt! - sich selbst überleben kann, wenn sie geändert wird. Wie bald schwindet die Erinnerung an ein Bauwerk, eine Platzgestalt, einen Straßenzug, wenn es sie nicht mehr gibt. Krieg, Brand, Abriß, Erneuerung, Umbildung. Wie lange läßt sich eine stadträumliche Situation noch vergegenwärtigen, die vor einem Abriß bestand? Diese Frage läßt sich fast an jedem Ort stellen. Und meine Generation hat sie sich nicht selten als Gewissensfrage stellen müssen.

Warum diese Frage - neugierig wie wir sind - nicht zu einem kulturgeschichtlichen Thema machen: Zu welchen Zeiten haben bestehende Bauten neuen Platz machen müssen? Warum? Aus welchem Anlaß? Gegen Widerstände oder ohne Anstrengung? Wie lange ist das alte Bild erinnert worden? Und wie lange hat es gedauert, daß der Neubau oder der umgewandelte Stadtraum angenommen wurde? Was wird im Einzelnen erinnert? Was zuerst vergessen? Gibt es da Zeiten, die festhalten, die bauliche Veränderungen meiden; und wie unterscheiden sich diese von „revolutionären" Jahrzehnten? Durch religiöse Überzeugungen und rituelle Maßnahmen? Die katholische Kirche verlangt zum Beispiel die Gründung aller Altäre, an und auf denen die Konsekration vollzogen wird, auf gewachsenem Boden oder Fels.

Hat das Urteil eines Oberlandesgerichtes Bestand, das den Wiederaufbau eines vor zwei Jahren abgebrannten Forsthauses als Fremdenpension nicht zuläßt; der Wiederaufbau des Forsthauses zu anderen Zwecken falle unter das Verbot des Bauens im Außenbereich; auch habe nach zwei Jahren die Allgemeinheit keine Vorstellung mehr davon, daß es an diesem Ort ein Gebäude gegeben und welche Baumasse und welches Aussehen es gehabt habe. Ich will mit diesem Beispiel nur zeigen, wie wenig Verlässiges wir über Gedächtnis und Erinnerung wissen. Eigentlich erstaunlich. Schließlich gingen aus dem neuntägigen Beilager des Zeus mit Mnemosyne, der Göttin „Gedächtnis", die neun Musen hervor.

Also: Was erinnern wir? Das wäre so eines der kulturgeschichtlichen und zugleich anthropologischen Themen, die wenn es sich so ergibt, behandelt werden könnten.

Ich nenne ein anderes, ein konkreteres: Auf welchen Fußböden tanzten die Leute der verschiedenen Stände und Herkünfte mit welchem Schuhwerk zu dieser oder jener Zeit? Und welche Tänze waren das? Und mit welchen Instrumenten hat man dazu aufgespielt? Schnelle, stampfende, schreitende, springende, wiegende ...? Ist der Turn-Jogger-Ballspiel-Kraxel-Schuh, diese Allround- und Allwetter-Fußbekleidung eine Verarmung oder eine Befreiung? Daran ließe sich dann gleich eine Beobachtung von „Bewegungsräumen" anschließen, von Berührungs- und Nichtberührungsreichweiten und wieweit wohnende, arbeitende, sich vergnügende Menschen sich nahekommen dürfen, ohne daß einer im Geruch des anderen steht. Doch das läuft dann schon wieder eher in Richtung des Verhaltens, zeigt aber, wie eng psychisch gründende Eigenheiten mit körperlichem Ausdruck verknüpft sind.

Stichwort „Körpersprache".

Tastgefühl, Hautsensorium ließen sich aber auch anders schulen; etwa so, daß man die Blindenschrift übt und alle möglichen Versuche anstellt, unter welchen Umständen, in welchem Licht, aus welcher Entfernung eine Oberfläche sich als glatt, geschmeidig, schmierig, rissig, seidig, borkig, pickelig, verschorft, porös erweist. Nähren Erfahrungen der Hand die Erfahrungen des Auges? Wann ist das Auge sicher, daß es sich nicht täuscht, ohne die Hand befragt zu haben? Sie sehen, Splitter einer Vorbildung, wie sie mir zufallen.

Wie etwa dies: daß wir uns nicht genug klarmachen, daß es einen reinen Stoff nie natürlich, sondern immer nur als Präparat gibt. Stoffe kommen vor. Und sie kommen vor, wie sie sind, in der oder jener Beschaffenheit. Wir finden sie so vor und machen etwas aus oder mit ihnen. Indem wir sie reinigen, isolieren, destillieren usw., stellen wir sozusagen Abstraktionen der Stoffe her, bringen sie auf den Begriff, was eine erste Stufe der Virtualität ist als etwas eigentlich so nicht in der Wirklichkeit Vorkommendes. Marmor wäre also der Stoff, Kalk sein reiner Begriff.
Apropos Kalk: den gibt es nun wirklich reinlich, ohne Stoffeigenschaften in bestimmten Stadien seiner erstaunlichen Metamorphosen, die ihm kein anderes Mineral nachmacht.
Kalk: Viele Sorten von Gestein bildend, unbearbeitet wie bearbeitet zum Bauen dienlich. Aber dann: in Wasser gelöst, Baustoff von Schalen, Gehäusen, Knorpeln und Knochen kraft eines organisch organisierten Wesens. Doch gebrannt, zermahlen, gelöscht wiederum Baustoff, jetzt anderer Art und Funktion, seit Menschengedenken. Und die strahlendste weiße Tünche, nicht klebrig, nicht ätzend, nicht versiegelnd. Doch der jüngste Kalk heißt Kreide: Nicht abriebfest und auf den Jurakalk folgend, bezeichnet sie das Ende des Erdmittelalters.
Mit solchem Wissen kann ein Architekt erst einmal gar nichts anfangen. Aber genau darauf lege ich es ja an: Daß die unmittelbare, ich wiederhole: die unmittelbare Verwertbarkeit der in der Basislehre vermittelten Kenntnisse nicht gegeben sein muß. Es geht hier nicht in erster Linie um den Erwerb von Kenntnissen, sondern um Erkennen. Zum Beispiel - ja, vor allem! - vor hermetischen oder okkulten Zusammenhängen. Was nun überhaupt nichts mit Esoterik zu tun hat, sondern eher mit der Kunst der Hermeneutik, einer Methode des Verstehens menschlichen Daseins in der Welt. Insofern sollte niemand auf den Gedanken kommen, es liefe, wenn etwa der Wandlungsfähigkeit eines Minerals wie des Kalks nachgegangen wird, bereits auf eine vorgezogene Baustoffkunde, Baustofflehre hinaus.

Schließlich soll der angehende Architekt in der Basislehre sehen lernen. Und das tut er am besten durch unablässige Versuche zu sagen, was er sieht. Das heißt: durch Beschreiben, durch Berichten. Es gibt, denke ich, kein anderes Mittel, um dem mit der Digitalisierung verbundenen Prozeß fortschreitender Analphabetisierung zu begegnen.
Dessen uneingestandenes Resultat die Rechtschreibreform ist: Die Schriftsprache als pflegeleichte Benutzer-Oberfläche.
Mit Le Corbusier gesprochen: „Sagen, was man sieht, und vor allem - was weitaus schwieriger ist - sehen, was man sieht." In diesem Satz verbirgt sich allerdings schon der gesamte Lehrgegenstand Architektur.

Bei diesen Andeutungen zum möglichen Inhalt der Basislehre will ich es belassen. Ihrer Phantasie wird es leicht sein, die Fäden weiterzuspinnen, das Netz der Lebenszusammenhänge dichter zu knüpfen.

Eine LEHRE wäre keine, wenn sie nicht, um zu erfahren, wohin man es mit ihr gebracht hat, ein Schlußexamen, sozusagen ein Übergangs-Examen zur Architektur, nach sich ziehen würde. Diese Prüfung denke ich mir als einen Disput zwischen Studenten, die von den Lehrern zu einer kleinen Gruppe zusammengewürfelt sind.
Das Thema wird spontan zur Debatte gestellt. Der Disput kann einer öffentlichen Anhörung gleichen. Es gibt keine Noten. Die Basislehre endet mit der Zulassung zum eigentlichen Architekturstudium.

Nun aber ist höchste Zeit zu fragen: Wer lehrt? Und wo? Mit welchen Mitteln? Und woher, bitte schön, die Zeit nehmen?
Fangen wir bei der Zeit an. Ich könnte mir, Außenstehender, der ich bin, vorstellen, daß sowohl in der Unter- wie der Oberstufe ein Semester zu kürzen wäre. Mag es dafür dann weiterführende fakultative Kurse geben, die Spezialkenntnisse vermitteln.
Zum anderen könnte dem learning by doing mehr Gewicht beigemessen werden. Ich glaube, wir brauchen mehr „Unterbrecher", die zu einem von ihnen selbst für richtig gehaltenen Zeitpunkt für ein halbes oder ganzes Jahr in ein prominentes freies Büro gehen.
Wer von dort wiederkommt, wird genauer wissen, was er sich in den verbleibenden Oberstufen-Semestern an Kenntnissen und Fähigkeiten noch zu verschaffen hat.

Welcher Lehrer bedarf die BASISLEHRE? Bestimmt nicht weiterer Professoren auf Lebenszeit und Dauer. Die Basislehre braucht Stadtindianer mittlerer Statur und neugierigen Herzens. Sie hocken heute zwischen allen möglichen Stühlen und wären mit einigem Geschick hervorzuziehen. Sozialarbeiter, Lehrer, Ärzte, Anwälte, Stadtforscher, Journalisten, usw. - alle auch mit der Endung „innen". Solche Leute haben die Aufgabe, als Erfahrene und unablässig weiter Suchende den Studienanfänger in Situationen zu bringen, in denen er selbst Erfahrungen suchen und machen kann. Denn wir wissen ja, wie das mit Erfahrungen so ist: Nur wenige sind transportabel, transferierbar; die meisten muß man allein und selbst machen. Denn das ist ja Studienziel: Erfahrungen und nichts wie Erfahrungen machen, erst einmal; und so nachhaltige, daß sie später im Architekturstudium fruchtbar gemacht werden können. Die von mir so benannten Stadt- oder meinetwegen auch Land-Indianer als Vermittler, Spurenkundige, Nachforschende müssen sich und ihren studentischen Mitläufern, Mitmachern Pensum und Abläufe selbst vorgeben.

Das bedingt eine kernhafte Organisation oder Selbst-Koordination, für die man virulente Gruppen-Dynamik hinnehmen muß, ja sogar hinnehmen sollte. Die Lehrer haben dafür einen kleinen Raum in der Hochschule und darin eine clevere Sekretärin mit 3 Telefonen, Internet-Zugang und eigenen Informationsspeichern.

Die Studenten werden während der Basislehre die mehr oder minder Heiligen Hallen ihrer Alma Mater kaum betreten. Die Mutter verteilt ihre Gaben außerhalb; sagen wir in zeitweise leerstehenden Wohnungen, ungenutzten Schulräumen, Beamtenkantinen, Lagerhallen, Wirtshaus-Hinterzimmern. Kurz, vor Ort; vor Orten. Vor Jahren wurde mal heftig die U-Bahn-Uni diskutiert: an Strängen des Öffentlichen Nahverkehrs gelegene, nicht genutzte oder nur zeitweise genutzte oder nicht ausgenutzte Baulichkeiten und Räume als Stätten der vagabundierenden Lehre. Diese Idee ließe sich im Zeitalter innerstädtischer Brachen und Leerstände wiederbeleben.

Es läßt sich viel noch ausdenken.
Ich sagte: die BASISLEHRE endet mit der Zulassung überdurchschnittlich lebenserfahrener junger Menschen zum Architektur- und Stadtbau-Studium. Äußerlich endet sie so. Doch eben nur äußerlich. Denn - so meine Hoffnung - sie wird weiterwirken als ein Vor-Wissen um das Wesen der jeweiligen Bauaufgaben. Sie wird dem entwerfenden Architekten einen nahezu konkurrenzlosen Vorteil verschaffen: Er weiß verbindliche - das heißt als verbindlich erfahrene und formulierte - Kriterien ins Feld zu führen, die mit ihrem Gewicht den ökonomischen, zumal den ökonomisch-spekulativen, zumindest gleichkommen. Der Architekt befindet sich nicht mehr in der (Neben-)Rolle des Herstellers von Geschmack und Geschmäcklerischem. Er hat mehr im Sinn als gefällige Fassaden, als das Einbringen sogenannter intelligenter Haustechnik und die Erfindung auftrumpfender Selbstdarstellungen. Er gestaltet ein in all seinen Teilen sinnvoll dienendes Werk.
Das in den Jahren postmoderner Beliebigkeit verspielte Vertrauen in den Architekten als Gestalter der Städte und Dörfer und ebenso einer „ansehnlichen" Sozietät kehrt zurück. Die Brüsseler Beamten können sich ihre absurden Schutzvorkehrungen für die Bauherren sparen. Und Staat und Wirtschaft werden es schnell und im ureigensten Interesse unterlassen, dem Berufsstand des Architekten weiter das Fell über die Ohren zu ziehen.

Doch wie sonst auch: der Erfolg einer Neuerung, einer neuen Sicht, einer neuen Methodik, kann sich nur einstellen, wenn sie unternommen werden. Von Nichts kommt Nichts. Videant consules!

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