Thema
5. Jg., Heft2
Dezember 2000

Achim Hahn

 

Architektur im Fokus des kulturellen Regulationssystems

Anpassungsstrategien für das architektonische Handeln

Architekturtheorie und Architekturverständnis
„Die gegenwärtige Situation der Architektur ist völlig verworren. Vom Bauherrn hören wir ständig Klagen über die Unfähigkeit des Architekten, ihn zufriedenzustellen, sowohl vom praktischen wie auch vom ästhetischen und wirtschaftlichen Standpunkt. Die Behörden äußern Zweifel an der Fähigkeit der Architekten, die von der Gesellschaft aufgegebenen Probleme befriedigend zu lösen. Und die Architekten selber sind sich sogar über fundamentale Fragen uneinig, so daß man ihre Diskussionen als Ausdruck einer tastenden Unsicherheit auslegen muß. Ihre Meinungsverschiedenheiten betreffen nicht nur sogenannte ästhetische Probleme, sondern auch die Grundfragen über das Wohnen und Arbeiten des Menschen in Häusern und Städten."

Mit diesen Worten beginnt die vor gut 30 Jahren auf deutsch erschienene Übersetzung von Christian Norberg-Schulz’ umfangreicher Studie „Intentions in Architecture". Norberg-Schulz hat damals, soweit ich sehe, als erster Architekturtheoretiker den Versuch unternommen, die menschlichen Wahrnehmungs- und Symbolisierungsleistungen zur Grundlage der Auseinandersetzung mit Architektur zu machen. Damit wurde die Architekturtheorie davon entlastet, ein Bauwerk nach der Botschaft zu befragen, die der Architekt mit seiner Architektur ausgesendet hat, zugunsten eines Verständnisses von psychologisch und soziologisch belehrter Umweltwahrnehmung und Umwelterfahrung.

Jede neue Architektur verändert unsere Umwelt und wird nun interpretiert im gesamten Kontext der kulturellen Wirklichkeit. Norberg-Schulz hat dieses steigende Interesse der Gesellschaft an der konkreten Aufgabe der Architektur, bewußt gestaltend eine gegebene Umwelt zu beeinflussen, zum Anlaß seiner damaligen Studie genommen. Die Aktualität dieser Deutung von Architektur läßt sich an der Diskussion um das Denkmal für den Holocaust in Berlin und die Rolle der Architektur ablesen. Eine Gesellschaft streitet sich vehement um die möglichen Ausdeutungspotentiale einer Architektur, die noch gar nicht gebaut wurde. – Lesen wir aber erst einmal weiter bei Norberg-Schulz: „Die Umwelt übt einen Einfluß auf den Menschen aus, und das bedeutet, daß die Aufgabe der Architektur über die im frühen Funktionalismus (hier: die Wohnung für das Existenzminimum zu bauen, A.H.) angedeutete Definition hinausgeht" (S. 14). Norberg-Schulz fordert dazu auf, Architektur nicht länger als ein dem Menschen gegenüber stehendes Objekt aufzufassen, das nach gewissen, wissenschaftlich erprobten, neutralen und lebensfernen Beobachtungsregeln betrachtet werden kann. Vielmehr erklärt er das Bauen zu einer lebensweltlichen und die Umwelt verändernden Tätigkeit, deren Werk schließlich einer sozialen Welt angehört, in der es von Menschen verstanden und genutzt wird. Auch wenn die damaligen psychologischen und soziologischen Herleitungen, auf die sich Norberg-Schulz stützt, nicht mehr dem heutigen Stand der jeweiligen Wissenschaften entsprechen, so kann man dennoch von der Einleitung eines Paradigmawechsels im wissenschaftlichen Umgang mit dem Bauen sprechen.

 

Umwelt und Kultur
In seiner Einführung in die Umweltgeschichte schreibt Helmut Jäger: „Jede Art von Nutzung der Umwelt setzt deren Bewertung voraus" (Jäger 1994, S. 19). Unter Bewertung versteht Jäger schon die sinnliche Wahrnehmung der Natur, die sich in urgeschichtlichen Zeiten in der Bevorzugung bestimmter Lagen für Siedlungszwecke ausdrückt. Der Bezug von Gesellschaft und Umwelt könnte dann darin gezeigt werden, inwiefern die sozialen, räumlichen und ökologischen Systeme miteinander in Beziehung stehen. Reziproke Vernetzung könnte ein passendes Stichwort sein, um auszudrücken, daß alles mit allem zusammenhängt. Ich bin davon überzeugt, daß es „feste" Beziehungen zwischen Sprachverhalten, Situations- und Umgebungsbedingungen gibt. Der Begriff der kulturellen Umwelt verknüpft die tatsächlichen Restriktionen, da sie meßbar sind, mit den jeweiligen Auslegungssystemen, in denen wir die Bedeutung jener Restriktionen ausformulieren. Etwas schlichter ausgedrückt: Es geht mir um die Integration von Architektur in ein Umweltverständnis, das auf der Beachtung und Erfassung der Wechselwirkung zwischen sozialen und ökologischen Aspekten beruht. Wir stehen nämlich vor der Aufgabe, wie es uns gelingen kann, unser Wissen über Architektur in den übergreifenden Zusammenhang eines Verständnisses von einer kulturellen Umwelt einzuordnen. Architektur ist ein Beispiel dafür, wie der Ausgleich zwischen den menschlich-sozialen Zwecken auf der einen Seite und die Anpassung an die jeweilige Umweltsituation auf der anderen Seite gelöst wurde. Ziel einer neuen Beschreibung des Architekten/der Architektin wäre schließlich die Ausbildung von menschlicher Fähigkeiten und Kompetenzen, diesen Ausgleich zu beherrschen.

Ich spreche absichtlich von kultureller Umwelt, weil es immer nur um unser jeweiliges Wissen von Umwelt gehen kann, also unseren Interpretationen und Beschreibungen, nicht um eine Umwelt schlechthin, die sich unmittelbar dem Menschen offenbaren könnte. Es geht auch um „Regeln", die wir gelernt haben zu handhaben, um mit den Herausforderungen unserer Umwelt fertig zu werden. Ich denke, wir sind jetzt dem „Erfassen der architektonischen Ganzheit" (Norberg-Schulz) ein Stück näher gekommen, um uns nun auf eine erhöhte Komplexität der Wirklichkeit einlassen zu können. Um diese vorstellbar zu machen, möchte ich den Begriff „Regulationssystem" einführen.

 

Kultur als „Regulationssystem"
Probleme, die wir durch Architektur zu lösen haben, entstehen im konkreten Umweltraum einer Gesellschaft, der sich nicht transzendieren läßt. Der Ausdruck Regulationssystem hat für uns ausschließlich Werzeugcharakter. Er soll darauf aufmerksam machen, wie sich die verschiedenen sozialen Deutungssysteme, etwa Recht, Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft, untereinander positionieren, regulieren und aufeinander abstimmen. Ferner soll er uns dabei helfen, die Bedeutung von Architektur und die Rolle des Architekten innerhalb dieser Abstimmungsprozeduren und beim Formen der Bedeutungsgewinnung etwas besser zu verstehen.

Regulationssysteme sind institutionelle oder individuelle Antworten auf Fragen, die die jeweilige Umwelt Gemeinschaften oder dem einzelnen Menschen stellt. Regulationssysteme sind weder gewollt, noch geplant oder gemacht. Sie führen lediglich all die genannten Bedingungen zusammen als gegenwärtig erlebbare Wirklichkeit und als erfahrungsmäßig verarbeitetes Lebenswelt- und Lebensführungswissen. Der niederländische Sozialwissenschaftler Fred Spier schreibt: „Jede Art von menschlichem Regulationssystem tritt stets als Antwort auf bestimmte soziale, ökologische und psychologische Probleme in Erscheinung" (Spier 1998, S. 17). Antworten bringen Lösungen hervor, die ihrerseits jedoch wieder eine neue Ausgangssituation für den Menschen schaffen, der seine Zwecke angesichts veränderter Umweltbedingungen verwirklichen möchte. Institutionen (u.a. Vokabulare im Sinne von „Denkstilen") bilden auf gesellschaftlicher Ebene, Gewohnheiten (die Pragmatisten sprechen von „instinktivem Bewußtsein") auf individueller Ebene solche Anpassungssysteme. (Die Frage, ob es sozusagen dazwischen so etwas wie einen Gleichgewichtszustand gibt, wage ich nicht zu beantworten.) Der Umwelthistoriker Rolf Peter Sieferle hat etwa von dem Prozeß des Erzeugens und Stabilisierens von Landschaftstypen gesprochen, nämlich immer diejenigen, die jeweilige Ausgangssituation am besten meistern konnten: „Umweltbedingungen und Adaptionszwänge erzeugen bestimmte kulturelle, soziale und technische Lösungen" (Sieferle 1997, S. 29). Jäger spricht von einem „interdependenten Wirkungsgefüge mit vielfältigen Rückkopplungseffekten" (Jäger 1994, S. 11) zwischen natürlichen und anthropogenen Faktoren. In einem verwandten Sinne können wir davon sprechen, daß ebenso menschlich-soziale Lebensformen sich an die jeweils von ihren Trägern wahrgenommenen Umweltbedingungen, die sie selbst mit erzeugt haben, kreativ anzupassen versuchen.

Schon Arnold Gehlen hat die Kultur in den Zusammenhang der Bemeisterung der Welt durch den Menschen gestellt. „Nennt man den Inbegriff der voraussehend veränderten ‚urwüchsigen‘ Sachverhalte samt der entsprechenden Tätigkeiten ‚Kultur‘, und faßt man darunter ebenso die dazu nötigen ‚Sachmittel‘ wie die ‚Vorstellungsmittel‘ (= Deutungen, Theorien, Kontrollmotive, Verbote usw.), so fällt unter diesen Begriff auch die Tätigkeit der Menschen gegeneinander im Sinne der Erziehung, Führung, Herrschaft, der sozialen und familiären Formierung usw. Dann kann allgemein gesagt werden: die Kultur gehört zu den physischen Existenzbedingungen des Menschen" (Gehlen 1983, S. 77 f.). Insofern kann es nur einen oder mehrere kulturelle Begriffe von Umwelt geben, auf den sich soziale Gruppen jeweils geeinigt haben und in ihrem Verhalten zeigen. Gehlens Begriff von Umwelt, dem wir uns hier nähern wollen, besagt, daß „‚der Mensch‘ immer von den Resultaten seiner verändernden Tätigkeit (lebt), innerhalb und von seiner Kultursphäre, nicht aber angepaßt an urwüchsige Umstände" (S. 80). Umwelt ist das Resultat menschlicher Tätigkeiten, das ständig Neueinpassungen verlangt.

Dabei müssen wir uns jedoch vor einem Zirkelschluß hüten, auf den Sieferle aufmerksam gemacht hat: „Die Adaptivität einer Kultur wird bereits vorausgesetzt, so daß es wenig wundert, wie angepaßt einzelne kulturelle Züge dann erscheinen" (S. 29). Wir müssen nämlich bedenken, daß es oftmals für bestimmte Aufgaben, die eine Kultur zu lösen hat, unterschiedliche Alternativen gibt und somit eine Vielzahl von Antworten denkbar ist. Insofern kommt es vor allem darauf an, daß unsere Antwort plausibel ist und andere zu überzeugen vermag. „Unabweislich ist schließlich die Erfahrung", so Sieferle, „daß Kulturen Praktiken entwickeln können, die ihrer ‚Anpassung‘ an die Umwelt im Wege stehen und in diesem Sinne selbstdestruktiv sind" (Sieferle 1997, S. 29 f.). Jedenfalls können wir sagen: Der Mensch paßt sich an eine Umwelt an, die er sich selbst geschaffen hat. Ihm bleibt keine andere Wahl. In der jeweiligen Form der An- bzw. Einpassung, oder mit meinen Worten: im Gebrauch der umweltlichen Situation und in der spezifischen Nutzung der bereitgestellten Dinge, mag sich dann auch die Bedeutung zeigen, die die Umwelt für ihn hat. Zusammengefaßt heißt dies: Umwelt ist eine hergestellte, gedeutete, mit unseren Zielen und Zwecken aufgeladene Umwelt. Für das Geschehen der Umweltwahrnehmung halten wir mit Viktor v.Weizsäcker fest: „Wenn Wahrnehmungsakte Ordnungen zwischen Ich und Umwelt erzeugen, und wenn diese u.a. in Ordnungen räumlicher und zeitlicher Art bestehen, dann lautet unsere Frage nicht mehr: Wie können räumliche Ordnungen der Umwelt wahrgenommen werden?, sondern die Frage lautet vielmehr: Welche Ordnung zwischen Ich und Umwelt entsteht durch die Wahrnehmung?" (von Weizsäcker 1950, S. 114). Daraus mag sich nun ein spezielles Verständnis von Architektur und ein bestimmtes Bild vom Architekten/von der Architektin und seinen/ihren Tugenden ergeben.

 

Architektur und Umwelt
Der Architekturtheoretiker Juan Pablo Bonta hat einmal gesagt: „Die Wirklichkeit von Architektur besteht zum einen in dem Produkt Haus – als physikalische Wirklichkeit – zum anderen in den Menschen, die darin wohnen – als biologische Wirklichkeit". Wenn Bonta von der biologischen Wirklichkeit spricht, dann meint er den Menschen als bedürftiges Lebewesen, das sich seine Mittel zum Leben erst schaffen bzw. herstellen muß. Sie liegen in der äußeren Natur nicht einfach vor. In diesem Sinne spricht die philosophische Anthropologie vom Menschen auch als von einem „Mängelwesen". Er ist von Natur aus nicht allein überlebensfähig. Der Mensch bedarf des Schutzes und der Wärme, der Liebe und der Ernährung, ebenso der Gemeinschaft und der Kommunikation. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Seine an ihm selbst erlebte Bedürftigkeit verwandelt der Mensch in Ziele und Zwecke, zu deren Verwirklichung er sich gewisser Mittel und Werkzeuge bedient. Das Herstellen und Gebrauchen von Werkzeugen, später die angewandten Techniken müssen in diesem Kontext des Zwecke-durch-passende-Mittel-verwirklichenden-Tuns verstanden werden. Der Begriff der Umwelt verweist nun aber auf die dynamische Situation des Menschen, der sich den stetig verändernden Bedingungen seiner Lebensgrundlage gegenüber sieht und selbst ein wesentlicher „Bestandteil" dieser Umwelt ist.

Solche Ziele und Zwecke, die sich der Mensch seiner umweltlichen Lage entsprechend gesetzt hat, betreffen auch das Bauen und Herstellen von Wohnstätten. Vor allem das Wohnen wird immer wieder als Ziel des Bauens verstanden, das sich der Mensch seit seiner Dauerseßhaftigkeit gesetzt hat und immer wieder neu setzt. Die Dynamik von Umwelt und Gesellschaft führt dazu, daß wir stets neu auf die Frage des Wohnens antworten müssen. Das allseits geforderte und öffentlich angemahnte sog. „humane" Bauen zeigt indes an, daß dieses Ziel immer wieder auch verfehlt werden kann. Das „humane" Bauen verweist also auf den bedürftigen Menschen, für den es geschehen soll. Und das Bauwerk dient dem Zweck, Schutz und Wärme zu spenden, es ermöglicht aber auch, daß Menschen sich an einem Ort versammeln können. Wir wollen auch in Gebäuden arbeiten, egal ob in erster Linie körperlich oder geistig. Auch bedürfen wir einer Architektur, die wie Bahnhöfe oder Flughäfen uns das Erlebnis des Ankommens und des Abschiednehmens schenken. Schließlich erweist sich die Architektur, als Kulturgut, als etwas über den Tag hinaus Bedeutendes, das ein Zeitalter symbolisieren kann, wie Ägyptens Pyramiden oder der Pariser Eiffelturm. Daß das Bauwerk etwas bedeutet, heißt genauer, daß die Tätigkeiten und Gebrauchsweisen, die mit einem Bauwerk in Verbindung gebracht werden können, den Menschen in ihrem und für ihr Leben etwas bedeuten. Bedeutung entsteht also aus der Wechselwirkung zwischen Bauwerk und Nutzer bzw. Betrachter. Architekten oder Künstler schaffen zwar die Dinge, doch es ist der Interpret, der sie klassifiziert und deutet (vgl. Bonta).

Wie ist nun das Verhältnis von physikalischer Wirklichkeit des Gebauten, wie Bonta sagt, zur sog. biologischen Wirklichkeit, womit auf den wohnenden Menschen hingewiesen ist, zu verstehen? Welche Fragen ergeben sich für Ausbildung und Haltung im Umgang mit Architektur?

 

Tugenden
Jedes Werk der Architektur ist auf eine doppelte Weise interessant und untersuchenswert: einmal unter dem Gesichtspunkt seiner Planung und Herstellung, zum anderen unter dem Gesichtspunkt des Gebrauchs und der Nutzung. Zuerst haben wir den für eine Auseinandersetzung mit Architektur wesentlichen Umstand zu beleuchten, daß wir zwischen Herstellen und Nutzen bzw. Gebrauchen sowohl eine Verknüpfung herzustellen, als auch einen deutlichen Unterschied zu markieren haben. Die Wirklichkeit von Architektur, also was sie einer konkreten Gesellschaft bedeutet, erschöpft sich nicht im Betrachten des fachgerecht aufgestellten Gebäudes und eines Kommentars hinsichtlich seiner stilistischen Einordnung.

Eine Architekturkritik, die über Wert und Bedeutung eines Gebäudes unter Ausklammerung der Nutzererfahrung urteilt, verfehlt den lebenspraktischen und gesellschaftlichen Bezug des Bauens. Denn erst die Nutzung vollendet die Wirklichkeit von Architektur, insofern nämlich der tatsächliche Gebrauch von Architektur konkreter ist als seine Herstellung. Da ja ein Gebäude gewissermaßen tagtäglich aufs Neue auf seine Dienlichkeit hin bewohnt wird, kommt die praktische Architekturkritik an dieser Stelle auch zu keinem Ende, so lange das Gebäude nämlich noch gebraucht werden kann.

Immer geht es dem Menschen um die Durchsetzung von individuellen Zwecken des Wohnens und die notwendige Anpassung an die räumliche Umwelt. Beides muß sich nicht widersprechen. Wenn es im Entwerfen von Architektur gelingt, sich dieses Erfahrungswissen anderer im Umgang mit Architektur zu eigen zu machen, ob es nun direkt von den Bewohnern kommt oder vermittelt über einen Dritten, es also auf das eigene Anliegen anzuwenden lernt, dieses so entstehende und immer wachsende Wissen des Architekten bezeichne ich als kritische Urteilskraft. Kritik bedeutet ja: zu prüfen, zu unterscheiden, letztlich zu rechtfertigen. Kritik meint nicht Verurteilung.

Ich schlage deshalb vor, kritische Urteilskraft als eine Tugend des Architekten zu begreifen, die an jedem bewohnten Bau erprobt und geschult werden kann. Indem der gebrauchende Umgang mit konkreter Architektur studiert wird, zeigen sich Güte wie Schwäche der gelösten Aufgabe. Denn erst im Gebrauch zeigt sich, ob ein Architekturelement oder die Architektur insgesamt einem bestimmten Zweck und einem Lebensinteresse entspricht oder nicht. Dies ist ganz wichtig festzuhalten. Auch wenn wir danach fragen, was macht einen erfahrenen Architekten aus, dann dieses Wissen um die konkrete Nützlichkeit seiner Architektur. Nicht nur der Architekt, auch die Nutzer machen ihre Erfahrungen mit Architektur. Und sie machen sie oftmals in ganz unterschiedlichen Lebenslagen. Wer in einem großzügigen ländlichen Anwesen aufgewachsen ist, der wird in einer Neubauwohnung des Sozialen Wohnungsbaus zunächst seine Schwierigkeiten haben. Architektur wird in den wechselnden Situationen des Alltagslebens wahrgenommen und erfahren.

Ich wünschte mir, es könnte gelingen, Studenten und Studentinnen in ein konstruktives Austauschverhältnis zur Architektur zu bringen. Ziel dieses Verhältnisses wäre die Ausbildung einer weiteren Tugend, die ich selbstkritische Kreativität nennen möchte. Sie läßt sich freilich nicht lehren und nach erlernbarem Muster anwenden. Sie funktioniert nicht nach Schema F. Sie ist auch nicht vom Lehrer auf den Schüler übertragbar. Kreativität und Selbstkritik entwickeln sich nur entlang der eigenen Biographie. Durch unablässige Übung und Anwendung an Praxisfällen dürfen wir auf eine bewußte Haltung hoffen, die wir mit der Zeit auch im entwurflichen Handeln immer sicherer beherrschen. Nur durch die Bereitschaft zum Umlernen können beide zur Gewohnheit werden. Kreativität und praktische Urteilskraft sollten sich dabei die Waage halten. Unter Kreativität läßt sich nun das Vermögen fassen, für eine unvertraute Situation, in die man hineingeraten ist, eine ungewohnte Lösung anzubieten. Ungewohnt deshalb, weil alte Antworten nicht mehr taugen, aber auch weil jede individuelle Entwurfs-Situation einer genau ihr angepaßten Lösung bedarf. Hier muß man deshalb vor allem kritisch mit sich selbst sein. Insofern ist Selbst-Kritik die nobelste Form kritischen Denkens und nicht Gegenbegriff zur Kreativität, sondern ihr Komplementärbegriff.

 

Die Frage nach dem „Guten" in der Architektur
Die Tätigkeit des Architekten umfaßt das Herstellen ebenso wie das Handeln bzw. die soziale Praxis. Unter Herstellen verstehen wir den Umgang mit Material in Bezug auf Formgebung und Bearbeitung nach Zweckprinzipien. Naturgegenstände und Baugrundstoffe, wie Holz, Stein, Eisen und Glas werden in Güter oder Mittel verwandelt und dem Menschen zum Gebrauch dienstbar gemacht. Herstellung ist also im weitesten Sinne Materialbehandlung. Soziales Handeln oder kommunikative Praxis dem gegenüber vollzieht sich niemals als schlichte Zweckverwirklichung im Material, sondern als mehr oder weniger autoritäres oder partnerschaftliches Einwirken auf andere Menschen im Rahmen verstehender Sinnkommunikation. Das Handeln des Architekten muß der Sache, um die es geht, gerecht werden. Herstellungs- und Handlungsentwurf sind jedoch erst dann sachgerecht und angemessen, insofern die Mittel den Zwecken, die Wege den Zielen und die Situationsbedingungen den Erwartungen der Beteiligten gemäß sind. Wo das nicht der Fall ist, wird das gewünschte Handlungsergebnis nicht erreicht, oder es treten unerwünschte Nebenfolgen auf. Sachgerechtheit untergliedert sich also in Mittelgerechtheit, Situationsgerechtheit und Norm- bzw. Wertgerechtheit. Damit schließt es nicht nur die materiell-technische, sondern ebenso die ethische, psychologische und soziologische Seite der Praxis mit ein. Auf diese oft verdeckte Seite des Bauens und damit ebenso der Ausbildung möchte ich nun zu sprechen kommen.

Sprechen wir von Situationen, so meinen wir konkrete Alltagskonstellationen, für die adäquate und nicht allgemeine Lösungen gesucht werden müssen. Schauen wir uns folgendes fiktive Gespräch an und achten wir dabei auf die Verwendung des Wortes „gut": Der Bauherr geht zum Architekten und sagt zu ihm: „Bauen Sie mir ein Haus. Aber machen Sie es richtig und gut!" Nachdem sich der Architekt mit der Situation ein wenig vertraut gemacht hat, antwortet er vielleicht: „Ich denke, es ist gut für Sie, wenn Sie ein Flachdach wählen. Dann paßt sich das Haus besser in die Umgebung ein." Oder er sagt: „Es ist gut für Sie, wenn wir eine witzige Fassade entwerfen. Dann kann ihr exzentrischer Lebensstil schon von außen bewundert werden." Er könnte aber auch sagen: „Es ist gut für Sie, wenn wir ordentliche Wärmedämmung vorsehen und auf übergroße Fenster verzichten. So können Sie Ihre Energiekosten besser in den Griff bekommen." Als „gut" können wir etwas also nur in Bezug auf ein bestimmtes Anliegen oder Interesse auffassen. Im ersten Fall ist der Nutzer an seiner sozialen Integration in die Nachbarschaft interessiert, was er „äußerlich" den anderen zeigen will. Im zweiten Fall denkt er an die Umsetzung seines Individualismus. Das Haus ist wie eine Visitenkarte: Sie will gleichsam das Innerste nach außen kehren. Und im dritten Beispiel geht es gar nicht um die Bedeutung von Architektur als ein Zeichen. Das Bauen (und Wohnen) selbst soll einer inneren Haltung gerecht werden. Der Bauherr versucht der Tugend der Sparsamkeit zu entsprechen. An diesen kleinen Beispielen kann man erkennen, daß Wissenschaft allein niemals das Gute bestimmen kann. Hier ist vielmehr das praktische oder Erfahrungswissen angesprochen, das das Tunliche in der konkreten Lebenssituation erkennt. Menschenkenntnis, Praxiserfahrung und kommunikative Kompetenz sind für die „Ausbildung" dieses Wissens leitend.

 

Architektur und die Verwirklichung von Werten
Hinter jeder Haltung und gleichzeitig diese stützend, stehen Werte, deren Verwirklichung in einer konkreten Gesellschaft angestrebt werden. Werte, die mit einer Architektur verbunden werden, sind jedoch nicht der Architektur immanent. Nur Menschen haben Werte, sind von etwas überzeugt und wollen dies in ihrem Leben verwirklicht sehen. So erscheint es mir sinnlos, Transparenz z.B. als einen Wert von Architektur aufzufassen. Das gleiche gilt für die gegenwärtige Diskussion bei den Stadtplanern um Dichte. Dichte oder aufgelockertes Bauen an sich können je niemals ein Wert sein. Nur in Bezug auf den konkreten Menschen, dem seine Stadt, sein Viertel, sein Wohnhaus etwas in seinem Leben bedeuten, für Gemeinschaften, die ihren Ort schon auf eine bestimmte Art nutzen, kann Dichte oder Urbanität einen Wert haben. Werte sind soziale Vorstellungen von dem, worauf es uns in unserem Leben ankommt. Insofern bezweckt „gute" Architektur auch immer, den Vollzug bestimmter Werte zuzulassen und zu unterstützen.

Nicht die Architektur hat Werte, sondern die Menschen wollen ein Gebäude so nutzen, daß es einen bestimmten Wertvollzug ermöglicht. Sie streben danach, daß ihr Leben gelingt. Werte werden in tätigen Vollzug, indem man handelnd und sprechend Wirkung erzielt, realisiert. Sprechen wir in diesem Zusammenhang von Architekturkritik, nämlich im Sinne einer sich selbst und seine Handlungen prüfenden Haltung des Architekten, so kann diese Kritik im Herstellen von nützlichen Bezügen liegen, die immer wieder das eigene Schaffen kontrollieren. So ein Bezug kann darin bestehen, daß ich mir darüber klar zu werden versuche, welche Idee oder welches Leitbild mein Entwurf transportiert. Oder indem ich meinen Entwurf mit dem konfrontiere, was mir in dieser Welt wichtig ist, mir ihn also z.B. auch als Gesellschaftsentwurf vorstelle, dann trage ich an ihn Anforderungen heran, denen ich mich stellen muß. Kritik heißt hier: ungewohnte Bezüge herstellen, Unterscheidungen treffen, Anschlüsse suchen, Lösungen auf ihre Konsequenzen hin befragen.

Doch um welche Werte geht es beim Bauen? Haben wir bislang eher grundsätzlich argumentiert, so will ich nun über die aktuellen Aufgaben des Architekten/der Architektin sprechen. Da kommen wir nicht umhin, zuzugestehen, daß in einer pluralistischen Gesellschaft, wie der gegenwärtigen, auch die Werthaltungen der Menschen nicht einheitlich sind. Sicher, es gibt einen Grundkonsens an Werten, der mit unserer abendländischen Kultur und Tradition verbunden ist. Freiheit, Autonomie und Würde des einzelnen gehören zu diesem Konsens. Aber schon beim Thema Gemeinschaft können wir ins Grübeln kommen. Hier müßten wir schon genauer angeben, an welche Form von Gemeinschaft gedacht wird: Nachbarschaft oder soziale Netzwerke. Wir unterscheiden zwischen Grundwerten und instrumentellen Werten. Die Grundwerte, die z.B. in der Verfassung als Gesellschaftsziele formuliert sind, etwa Gerechtigkeit und Gemeinwohl, sind oftmals sehr abstrakt aufgeführt. Die instrumentellen Werte und Ziele bestimmen viel mehr unser Alltagsleben. So sind z.B. kommunikative Kompetenz, Verständnis für die Sorgen und Bedürfnisse anderer, Selbstkritik, Einfühlungsvermögen, Kreativität und Flexibilität Werte, die viele Menschen schätzen.

Jedoch mit der Zunahme von Pluralismus, Widersprüchen und Zerfallserscheinungen traditioneller Wertesysteme wachsen auch Spannungen, Konflikte und desintegrative Prozesse innerhalb der Gesellschaft. Folgen sind Orientierungsschwierigkeiten und psychische Belastungen der Persönlichkeit.

 

Die Zukunft des Architekten als Umweltgestalter
Unter den Vorzeichen einer weltweiten Verzahnung technischen und geistigen Know-hows müssen Strategien der Anpassung und Kreativität gefunden und ausprobiert werden. Ich glaube, wer hier sagt: entweder Anpassung oder Kreativität, hat schon verloren. Unsere Aufgabe der nächsten Jahre wird darin bestehen, Architektur als eine integrative Antwort auf diese Herausforderungen zu entwickeln. Das heißt nicht, daß ein sicherer Stil für das globalisierte Zeitalter erwartet oder nur auch angestrebt werden soll. Der Umwelthistoriker Rolf Peter Sieferle glaubt an keine stabilen Stile mehr. Die gesellschaftlichen Lebensbezüge, in denen der einzelne, ebenso wie Institutionen oder Gemeinschaften agieren, sind jedoch konsequenter wahrzunehmen. Das Neue, das in einer Gesellschaft als bestimmte ungewohnte Erfahrung von Menschen auftritt, bedeutet immer auch eine ungeübte Weise der Interaktion des Menschen mit seiner Umgebung und ist folglich ein Schritt weg von überlebter Gewohnheit und Konvention. Neue Lebens- und Wohnweisen und Wertvorstellungen, die auftreten, sind selten mit den überkommenen Prinzipien, Vorschriften, Regeln und Normen der Kritik zu verstehen. Es gilt vielmehr, sich ein eigenes Bild von der Perspektive derjenigen zu machen, denen es um neue Erfahrungen in der Gesellschaft zu tun ist. Aber der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Was ihm als bewährt erscheint, dafür sieht er keinen Grund, es zu ändern. Dies führt oftmals zu Mißverständnissen zwischen eingefleischten Bewahrern und jenen Architekten und Nutzern, die über die herkömmlichen Lösungen hinausgehen wollen, da sie neue Tendenzen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit wahrnehmen und darauf reagieren.

Wir müssen also schon sehr genau hinschauen und anderen Menschen zuhören, wenn wir erfahren wollen, was es heißt, heute zu leben. Wir müssen unser Wahrnehmungsvermögen so schulen, daß wir fähig werden, dem Auftreten neuer Lebens- und Arbeitsweisen gewachsen zu sein. Neue Erfahrungen, die Menschen derzeit in einer auf beruflicher und sozialer Flexibilität ausgerichteten Gesellschaft machen, erfordern neue Ausdrucksweisen. Unsere Umwelt verwandelt sich nämlich nicht nur physisch, sondern auch psychisch in dem Sinne, daß wir Neues und anderes von ihr verlangen, aber auch daß wir selbst ganz neu gefordert werden. Dazu kommt, daß wir den Eindruck haben, unsere Umwelt nehme stetig an Komplexität zu, was uns schließlich resignieren läßt, da es an fest gefügten und dauerhaften Orientierungspflöcken fehlt.

Die modernen Probleme, an deren Bewältigung die Architekten an maßgebender Stelle beteiligt sind, können also nicht allein technisch „gelöst" werden. Vielmehr sind heute mehr denn je Kreativität, praktische Urteilskraft und Selbstkritik gefordert. Kreativität ist keine willkürliche Produktion von Bedeutungen oder ein unkontrolliertes Spiel mit konventionellen Zitaten. Ein guter Architekt wird vor allem der, der frei und eigenständig sein Tun reflektiert, es in gesellschaftliche Bezüge integriert und im Blick auf die Folgen ernst nimmt. Wir müssen uns nicht nur im eigenen Metier ständig weiterbilden, wir müssen ebenso über die Konsequenzen der Anwendung unseres Wissens und Könnens auf das Leben der Gesellschaft reflektieren.

Die „Welt" der Architektur läßt sich nicht an der gängigen Architekturkritik ablesen, die den Architekten in der Regel als Erfinder und Macher einer Umwelt begreift. Die Umwelt ist immer schon da, und sie muß verstanden werden als eine komplexe und sensible Lebenswelt, deren Bedeutsamkeit in den Erfahrungen und Erwartungen einer Kultur aufgehoben ist. Sollte es hier zwischen Anpassung und Zweckverfolgung ein Gleichgewicht geben, dann ist dieses labil. Unsere Umwelt kann und soll „verändert" werden (sie hat sich auch schon vor jedem menschlichen Einfluß verändert) – aber nicht blind und unwissend. Zwar hat die Wissens- und Informationsgesellschaft grundsätzlich und irreversibel mit der Vorstellung einer fraglosen Autorität des Althergebrachten, der Gewohnheit und der Tradition gebrochen und die vielleicht folgenschwerste Erfahrung mit dieser globalisierten Welt gemacht: „Es gibt keine selbstverständliche Verpflichtung mehr, sich bei seinen Entscheidungen an Gewohnheiten und Traditionen zu binden". Das darf jedoch nicht dahin mißverstanden werden, daß wir nun aller Verantwortung entpflichtet seien im Sinne eines naiven Anything goes. Im Gegenteil: Die Verantwortung des einzelnen für seine Entscheidungen schrumpft nicht, sie wird vielmehr zur bewußt wahrgenommenen Aufgabe. Wahrgenommene Verantwortung wird zur „integrierten Kreativität", die sowohl aus der Freisetzung von schöpferischer Phantasie und Vorstellungskraft besteht, als auch, in einem zweiten Schritt, mit der verantworteten Selbstkontrolle zusammengebracht wird. Mit anderen Worten: Nach der spontanen Imagination kommt die überlegte Wirklichkeitserprobung. Schöpferische Individualität und durch Erfahrung belehrte Selbstkritik geben den aktuellen Rahmen des architektonischen Handelns an.

Die Plazierung von Architektur im Fokus des kulturellen Regulationssystems bedeutet: Erstens muß der Architekt/die Architektin das einseitige Subjekt-Objekt-Verhältnis gegenüber der Architektur aufgeben zugunsten einer Beziehung zur Umwelt, deren integraler Bestandteil er/sie selbst sowie die Architektur sind. Oder anders ausgedrückt: er/sie muß sein/ihr Verhältnis zur Umwelt interpretieren – als Mensch und als Architekt/Architektin. Zweitens ist Umwelt immer konkret. Also muß er/sie die lokale und zeitliche Besonderheit der Situation des Bauens erfassen.

  

Literatur:

Juan Pablo Bonta, Über Interpretation von Architektur. Vom Auf und Ab der Formen und die Rolle der Kritik. Archibook; Berlin 1982

Arnold Gehlen, Philosophische Anthropologie und Handlungslehre. Gesamtausgabe Band 4. Hrsg. von Karl-Siegbert Rehberg. Frankfurt/M.; Klostermann 1983

Helmut Jäger, Einführung in die Umweltgeschichte. Wiss.Buchgesellschaft; Darmstadt 1994

Hans Joas, Die Kreativität des Handelns; Suhrkamp; Frankfurt am Main 1996

Christian Norberg-Schulz, Logik der Baukunst. Bertelsmann; Gütersloh 1988

Joachim Radkau, Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. Beck; München 2000

Rolf Peter Sieferle, Rückblick auf die Natur. Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt. Luchterhand; München 1997

Fred Spier, Big History. Was die Geschichte im Innersten zusammenhält. Wiss.Buchgesellschaft; Darmstadt 1998

Charles Taylor, The Ethics of Authenticity. Harvard University Press; Cambridge & London 1992

Viktor von Weizsäcker, Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen. 4. Aufl. Georg Thieme; Stuttgart 1950

  

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