5. Jg., Heft2 Dezember 2000 |
Jörg Schnier Das As im Ärmel des Architekten |
Die Ursachen der Krise: Nicht der Rückgang des Bauvolumens in Deutschland um rund 10% seit Mitte der 90er Jahre oder der Planungsleistungen um ca. 9% im selben Zeitraum sind die Gründe für die gegenwärtige Krise des Architekenberufes.1 Ihre Ursachen sind eher strukturell als konjunkturabhängig und letztendlich Spätfolgen der durch die industrielle Revolution ausgelösten technischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Umwälzungen. Während noch im 18. Jahrhundert Kirchen, Klöster, Schloß, Villa und Stadtpalais die typischen Bauaufgaben eines Architekten waren, stellten die Bauten des Industriezeitalters diesen vor völlig neuartige technische und gestalterische Anforderungen.2 Der ständig steigende Komplexitätsgrad der neuen Bauaufgaben wie Ausstellungshallen, Fabriken und Bahnhöfe, die erstmals durch industrielle Massenherstellung billig verfügbaren Baumaterialien Stahl, Portlandzement und Tafelglas sowie die sich rasant entwickelnde Bautechnik, überforderten die Assimilationsfähigkeit und Flexibilität des traditionell arbeitenden Architekturbüros. Die Bauten des Industriezeitalters erforderten ein weit
spezialisierteres Wissen, als es ein Mensch besitzen konnte. Statt Entwurf und Ausführung
in hohem Maße selbst kontrollieren zu können wurde es notwendig Spezialisten in den
Entwurfsprozeß einzubinden. Stark gefördert wurde die Trennung von Entwurf und Produktion außerdem durch die Einführung des Generalunternehmers im ausgehenden 19. Jahrhundert. Der als Geschäftsmann hauptsächlich mit den finanziellen Aspekten der Bauproduktion befaßte Generalunternehmer ersetzte vielfach den Kontakt des Architekten und Bauherrn mit den Handwerkern. Ohne die Möglichkeit intensiv mit hochqualifizierten Handwerkern seiner Wahl zusammenzuarbeiten verliert der Architekt jedoch einen wichtigen Diskussionspartner, mit dem er viele technische und ästhetische Bauschäden bereits im Entwurfsstadium verhindern kann. Mit den neuen Bauaufgaben entstand auch eine neue Art von Bauherren.
Als Auftraggeber von Großprojekten wurde der Bauherr als Einzelperson zunehmend von
Komitees wie Firmenvorständen, Bauausschüssen und Verwaltungsräten abgelöst. Diese
Bauherrenvertreter beauftragen den Architekten in der Regel nicht mehr direkt, sondern
holen Vorschläge verschiedener Büros ein, die dann nach Konsensbeschlüssen hinsichtlich
der Nutzerinteressen bewertet werden. Der Einfluß der Architektenpersönlichkeit auf die
Auftragsvergabe wird dadurch zugunsten eines zielorientierten Vergleiches verschiedener
Entwürfe etwas in den Hintergrund gedrängt. In der Folge wich der Baumeister, als oberster Handwerker mit profunden Kenntnissen aller Gewerke, immer mehr dem Architekten als Leiter eines modernen, arbeitsteilig organisierten Entwurfs- und Planungsbüros, welches der Nachfrage nach größerer Kompetenz und breiterem technischen Spezialwissen besser gerecht werden kann. Allmählich mutierte der Architekt zum Projektleiter, dessen Aufgaben überwiegend in die Arbeitsorganisation des Teams, die Koordination der einzelnen Spezialisten und die Kommunikation mit dem Bauherren sind. Der Anteil des Projektleiters am eigentlichen Entwurf nimmt in seiner Tätigkeit einen relativ geringen Raum ein und beschränkt sich in der Regel mehr oder weniger auf eine allgemeine Richtlinienkompetenz. Eine persönliche, intensive Beschäftigung mit dem Entwurfsproblem, und somit eine über allgemeine Standard-Lösungskonzepte hinausgehende Auseinandersetzung mit den problem- und ortspezifischen Besonderheiten des einzelnen Entwurfs, ist in der Praxis gewöhnlich kaum noch möglich. Der Architekt als Universalist hat endgültig ausgedient, er wurde vom Bürospezialisten abgelöst, der am eigentlichen Projekt kaum mehr Anteil als der Statiker und Haustechniker hat. Diese Entwicklung ist unumkehrbar. Kein Mensch schafft es heute noch Experte in allen architekturrelevanten Fachgebieten zu sein. Es ist schier unmöglich gleichzeitig ein hervorragender Projektsteuerer, Bauklimatiker, Baukonstrukteur, Bauökonom, Entwerfer etc. zu sein. Kein noch so guter Architekt kann gleichzeitig mit allen Spezialisten der einzelnen Fachgebiete konkurrieren. Besonders gefährlich an dieser Entwicklung ist, daß über der praktischen Notwendigkeit sich zumindest ein Grundwissen in allen relevanten Gewerken zu erarbeiten, die eigentliche Schlüsselqualifikation des Architekten - die Entwurfskompetenz - zunehmend vernachlässigt wird. Die Folge dieser Entwicklung ist ein fataler Profilverlust des Architektenberufes. Primär ist die Krise dieses Berufes also eine Identitätskrise. Die besonderen Fähigkeiten des Architekten, die ihn von allen anderen am Bau Beteiligten unterscheiden, liegen eben nicht in der Bauökonomie oder der Bauklimatik, sondern vor allem auf dem Gebiet der Ästhetik. In diesem Sinne ist das Entwerfen die charakteristische Tätigkeit, das Spezialgebiet des Architekten. Wenn die Architekten nicht wenigstens auf diesem, ihrem ureigensten Gebiet die unbestrittenen Experten der Branche sind, dann wird dieser Berufsstand seine Daseinsberechtigung verlieren. Dies gilt nicht nur für den Wettbewerbsspezialisten, sondern gleichermaßen für Bauleiter oder Werkplaner. Auch ihre Arbeit zielt darauf ab, einen Entwurf unter den jeweiligen Rahmenbedingungen möglichst optimal umzusetzen. Eine hohe Entwurfskompetenz ist hierfür eine Grundvoraussetzung. Sobald man einem Gebäude nicht mehr ansieht, ob es auf der Skizzenrolle eines Architekten oder mit dem Taschenrechner eines Bauträgers entworfen wurde, ist der Architekt überflüssig. Sollte sich diese bereits begonnene Entwicklung auf breiter Front durchsetzen ist es kein Wunder, wenn die Architekten den Verdrängungswettbewerb mit Generalunternehmern, Projektentwicklern, Fertighausfabrikanten & Co. langsam aber sicher verlieren. Das Theoriedefizit Die Akzeptanzprobleme der Entwurfstheorie Es wird offenbar befürchtet das Geheimnis der bisher unerklärlichen
Begabung zu entzaubern und damit sowohl die geheimnisvolle Aura des kreativ-genialen
Entwerfers, als auch die Möglichkeit Kritik mit dem Verweis auf die intuitiv empfundene
Richtigkeit pauschal abzuwehren, verlieren zu können. Ein Projekt, dessen
Entwurfsentscheidungen untersucht und nachvollziehbar begründet werden, läßt sich eben
viel leichter kritisieren, da das Wertesystem auf dem er basiert, offengelegt wird. Ein weiterer Grund für die ablehnende Haltung vieler Architekten ist
die mangelnde Differenzierung zwischen Entwurfsmethodik und Entwurfstheorie. Die Notwendigkeit der Entwurfstheorie "Des Architekten Wissen umfaßt mehrfache wissenschaftliche und mannigfaltige elementare Kenntnisse. ... Dieses (Wissen) erwächst aus fabrica (Hand-werk) und ratiocinatio (geistiger Arbeit)."6 Er unterstreicht ausdrücklich die untrennbare Dualität von Theorie und Praxis, indem er ausführt, daß es weder der reine Praktiker noch der reine Theoretiker zu einer Meisterschaft in ihrem Fache bringen können. "Daher konnten Architekten, die unter Verzicht auf wissenschaftliche Bildung bestrebt waren, nur mit den Händen geübt zu sein, nicht erreichen, daß sie über eine ihren Bemühungen entsprechende Meisterschaft verfügten. Die aber, die sich nur auf die Kenntnis der Berechnung der symmetrischen Verhältnisse und wissenschaftliche Ausbildung verließen, scheinen lediglich einem Schatten, nicht aber der Sache nachgejagt zu sein."7 Ebensowenig wie in der Musik ein Komponieren ohne die Kenntnis der grundlegenden Regeln der Kompositionslehre denkbar ist, kann das architektonische Entwerfen ohne ein theoretisches Fundament auskommen. Die unter Architekten verbreitete Ansicht, jede Theorie sei ein "Kreativitätskiller", ist nicht haltbar, da selbst die freie Interpretation in der Musik auf Prinzipien beruht, die erforscht und gelehrt werden können. "Zunächst kann es ... eine absolute, d.h. völlig freie Improvisation gar nicht geben. Zu allen Zeiten und in allen Fällen hat man sich gewissen Ordnungsregeln gebeugt; selbst die 'modernste' - vom Laien aus gesehene 'kühnste' - Improvisation wird ohne irgendeine vorgegebene Grundlage, und sei es eine 'Reihe' nicht denkbar sein".8 So wie beim Flöte spielen lernen das gezielte Herausgreifen, Analysieren und Erlernen von Einzelmechanismen wie Lippenspannung und Atemtechnik Spielfehler eliminiert, kann das ganz bewußte Trainieren der Grundlagen des Entwerfens die Gefahr von Entwurfsfehlern minimieren. Denn erst wenn die Wirkungszusammenhänge und Einzelmechanismen verstanden und gelernt sind kann die volle Aufmerksamkeit auf dem Gesamtvorhaben liegen.9 Parallel hierzu muß jedoch eine ebenso systematische Lehre der musiktheoretischen Hintergründe stattfinden. Das Wissen um Harmonielehre, Tonarten, Terz und Quint ist nicht formaler sondern, da unmittelbar durch die menschliche Wahrnehmung bestimmt, prinzipieller Natur und somit von fundamentaler Wichtigkeit für jede Komposition, gleich welchen Stiles. So wie die Musikstudenten sich ganz selbstverständlich mit der Musiktheorie auseinandersetzen, ist es für die Architekten wichtig sich die theoretischen Grundlagen des Entwerfens anzueignen. Als Instrumente der Interpretation und Generalisierung der Realität
stellen Theorien symbolische Konstruktionen der Praxis dar und können als Modellbildung
des Entwurfsprozesses betrachtet werden. Ihr Modellcharakter ermöglicht erst Diskussion
wie Kritik und bietet eine Sprache für den Vergleich verschiedener Erfahrungen. Theorien
können somit als dialogstiftendes Instrument zwischen den hinter der Theorie stehenden
Auffassungen und der Praxis dienen. Sie sind die Grundlage der Lehre von abstraktem
Prinzipienwissen und können als Referenzpunkte gebraucht werden, denn ohne sie ist es
kaum möglich Handlungen in Hinblick auf zu erreichende Ziele zu vergleichen und zu
bewerten. "Jene, die sich in die Praxis ohne Wissenschaft verlieben, sind wie der Pilot, so ein Schiff ohne Steuer noch Kompaß betritt, welcher dann nie Sicherheit besitzt, wohin es geht. Immer muß die Praxis auf die gute Theorie gebaut sein."10 Fazit:
Anmerkungen: 1 Vgl. Schwalfenberg, Claudia (Referentin für Öffentlichkeitsarbeit Bundesarchitektenkammer) Pressemitteilung 10/2000 der Bundesarchitektenkammer. Berlin, 27. September 2000 2 Vgl. Ricken, Herbert: Der Architekt. Geschichte eines Berufes. Berlin 1977 S.90 3 Vgl .Kirk, Stephen J., Spreckelmeyer, Kent F.: Creative Design Decisions. New York 1988 Chapter 1. The Evolution of Design Decisions in Architecture 4 Vgl. Alexander, Christopher: Notes on the synthesis of form. Harvard University Press 15. Aufl. 1999 S.8 5 Ehrlinger, W., et al.: Planungs- und Vergabeverfahren im industrialisierten Bauen. Beschaffung als Teil der Industriali 6 Vitruvii De architectura libri decem = Zehn Bücher über
die Architektur / übers. und mit Anm. vers. von Curt Fensterbusch. - 5. Aufl. - 1996
(I.1.1.=2.20-22) S.23 7 Vitruvii De architectura libri decem = Zehn Bücher über die Architektur / übers. und mit Anm. vers. von Curt Fensterbusch. - 5. Aufl. - 1996 (I.1.2.=2.24-3.5) S.23 8 Bresgen, Cesar: Die Improvisation, Wilhelmshaven 1973 S.3ff 9 Vgl.: Lawson, Brian: How Designers Think. The Design Process Demystified. Butterworth Architecture 1990 S.2 10 Leonardo da Vinci zitiert nach Adler, Leo: Vom Wesen der Baukunst. Leipzig 1926 S. 1 |
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