6. Jg. , Heft 1 (September 2001)
___Alena Gella
Kharkov
Ukraine 2000: Die Architektur der "Neuen Immaterialität"

1. Eine "Immaterialisierung" in der Architekturideologie entsteht immer in einem krisenhaften professionellen Bewusstsein vor dem Hintergrund von Umbruchsituationen in der Kultur und im politischen und gesellschaftlichen Leben. Im Verlaufe des 20. Jahrhunderts gibt es gleich mehrere solcher Situationen. Die erste kommt in den 20-er Jahren unter dem Einfluss der Erschütterungen des Ersten Weltkrieges zu Stande, in einer Zeit der schnellen Totalitarisierung und Militarisierung einer entwickelten Gesellschaft als Folge des Oktoberumbruchs in Russland und der forcierten Vorbereitung auf den Zweiten Weltkrieg. Ergebnis dieser Krise war eine Kluft zwischen den damaligen Architekturideen und dem realen Baugeschehen. Dabei geht es um die Avantgarde-Bewegung dieser Jahre - um den Konstruktivismus im postrevolutionären Russland, die "Neue Materialität", "L’Esprit Nouveau" und die Gruppe "De Stijl" im Westen (in Deutschland, Frankreich und Holland).

Eine weitere große Krise im professionellen Bewusstsein, die sich Ende der 50-er bis Anfang der 60-er Jahre entlud, war ihrerseits auch Bestandteil der Umbruchsituation in der Kultur und im politischen und gesellschaftlichen Leben jener Zeit. Verstärkt durch die Kritik der "Konsumgesellschaft" und der technokratischen Regierung, sowie durch die Menschenrechtsbewegung, ging sie einher mit einer massiven Abkehr von der traditionellen Architektentätigkeit, und als Folgeerscheinung kamen futurologische ("immaterielle") Projekte von "Städten der Zukunft" und die Zuwendung der Architekten zu direkten sozialen Aktionen in Mode. Somit erfolgt mit der Abwendung von vorgegebenen kulturellen Standards nicht nur eine Immaterialisierung, sondern auch eine Dematerialisierung der Architektur.

2. Die konstruktivistischen Übungen hatten wenig gemein mit realem Entwerfen. Insgesamt waren sie lediglich fixierte Architekturkonzepte, Ergebnisse experimenteller Laboruntersuchungen, die nicht in Form verbaler Äußerungen und Beschreibungen dargestellt wurden, sondern in sichtbaren konkreten Formen, die für eine anschauliche Wahrnehmung und ästhetische Geschmacksbewertungen zugängig waren. Die besten Architekturprojekte der 20-er Jahre bargen künstlerische Offenbarungen in sich, sie zeichneten sich durch Originalität, die Kühnheit der Entdeckung, die Anwendung neuer, bisher nicht existierender Methoden zur Erzielung eines Ergebnisses aus, was sich auch in den Autorenmanifesten widerspiegelte.

Um das neue, präzedenzlose Gebiet der Kunst zu benennen, das nach Auffassung von El Lissitsky irgend wo zwischen Malerei und Architektur angesiedelt ist, wird der Terminus "Proun" erfunden. "Proun" ist zugleich ein "Projekt von UNOVIS" 1 und ein "Projekt, das etwas Neues bestätigt". Projekten dieser Art, die El Lissitsky bis Anfang der 30-er Jahre entwickelt hat, lag die Idee der Verbindung abstrakter "immaterieller" Elemente und einer funktionellen "materiellen" Konstruktion zu Grunde. Eines der prägnantesten "Proun"-Projekte ist das Projekt der Lenin-Tribüne, das einen geneigten Fachwerkträger darstellt, der auf wundervolle Weise im Raum hängt und durch die Fotomontage eines Lenin-Porträts gekrönt wird (1920).

Das berühmte Projekt des Bauwerks und Denkmals der III. Internationale von Vladimir Tatlin ist eine monumentale Skulpturkomposition, die sich im Raum dreht (1919) und ein kolossales Gebäude darstellt, das "nach völlig neuen Grundsätzen, in vollkommen neuen, bisher nicht da gewesenen Architekturformen erbaut wurde" 2. Die vielfach nachgedruckten Fotos vom Modell dieses Bauwerkes wurden zum Symbol für eine ganze Epoche.

Nicht für eine rasche Umsetzung bestimmt waren die Entwurfsideen, die auf Vorstellungen des 1. und 2. Studienjahres von WCHUTEMAS basierten. Die studentischen Arbeiten, die unter der Anleitung von Nikolai Ladovski entstanden, stellten häufig sich entwickelnde geometrische Formen dar, deren Größe und Lage sich beständig veränderten. Dennoch waren diese Projekte in vielerlei Hinsicht ihrer Zeit voraus, sowohl hinsichtlich der sozialen Problemstellungen, als auch im Hinblick auf die künstlerische Gestaltung und die konstruktiven Lösungen.

3. Nach einer Pause von nahezu 25 Jahren halten Mitte der 50-er Jahre die Ideen von WCHUTEMAS und der Architekturschule der 20-er Jahre erneut Einzug in die sowjetische Architekturschule. So wurde nach einer langen Unterbrechung an der Moskauer Architekturhochschule die Ausbildung in "Baukörper- und Raumkomposition" wieder eingeführt, die an fast sämtlichen Architekturhochschulen des Landes Anerkennung fand.

Mitte der 60-er Jahre gaben diese Ideen vor dem Hintergrund der Krise des Stalinismus den Impuls für die Wiederbelebung der Papierprojektierung, und es entstanden Gruppierungen mit Weltniveau wie zum Beispiel die Gruppe NER (Neues Siedlungselement), die "Großen Sieben" und andere.

Und wiederum ist ein Bruch zwischen Architekturideen und realem Baugeschehen zu beobachten. Während in dieser Zeit die Architekturschulen ihre Studierenden wieder auf konzeptionelles Entwerfen, auf die Suche nach einer Lösungsidee von höchster Klarheit für die jeweilige Aufgabenstellung orientieren, in der das Konzept des Autors in größtem Maße umgesetzt werden kann, läuft in der Berufspraxis die "weitere" und "umfassende" Entwicklung der Typenprojektierung. Das Los der meisten Architekten ist die Projektanpassung ein und der gleichen Typenobjekte in den verschiedenen Teilen des Landes.

4. Zu Beginn der 90-er Jahre tritt die Ukraine mit dem Zerfall der UdSSR in eine neue Phase der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Krise ein, aus der sie auch heute noch nicht heraus gefunden hat. Nach dem Scheitern des sowjetischen Verwaltungssystems wurde mit der kommunalen Selbstverwaltung eine neue Verwaltungsebene eingeführt, die an die entsprechenden neuen Strukturen der Stadtverwaltungen und Gemeinderäte gekoppelt war. Als Konsequenz aus dem Niedergang des einheitlichen Projektierungssystems gibt es nun private Auftraggeber, Bauausführende und Nutzer als neue Beteiligte am Projektierungsprozess. Auf dem Arbeitsmarkt hat sich ein Bedarf an Fachleuten heraus kristallisiert, die in der Lage sind, ein eigenes privates Büro zu führen oder zumindest mit einem solchen zusammen zu wirken, und die die Rechte und Interessen sämtlicher Beteiligter am Projektierungsprozess ins Kalkül ziehen. Alle diese Veränderungen vollzogen sich vor dem Hintergrund der Krise des Berufsstandes, die noch verschärft wurde durch fehlende Mittel, durch den Verfall der staatlichen Baubetriebe und durch den Umstand, dass weder die professionellen Projektanten, noch die Architekturschule insgesamt für die neue Situation gewappnet waren.

5. Heute steht die ukrainische Architekturschule am Scheideweg zwischen alternativen Richtungen. Das ist einerseits die Fortführung der Traditionen der Schule aus den 60-er bis 80-er Jahren und andererseits die Wiederbelebung der Anfang der 90-er Jahre unterbrochenen Bewegung zur Umsetzung der Ideen des Milieuansatzes und der "Gemeinschaftsarchitektur". Bisher hat die ukrainische Architekturschule vornehmlich den ersten Weg eingeschlagen, wobei eine ganze Reihe von Ursachen für die Postmoderne der 80-er Jahre unberücksichtigt blieben.

Gegenwärtig zeichnen sich in der Berufspraxis zwei dominierende Tendenzen der Architekturtätigkeit ab: auf dem Gebiet der reinen Formgestaltung, d.h. der Architektur von Pavillons, Gaststätten, Plätzen und urbanen Situationen usw., ist die Neomoderne mit Elementen von europäischem High-Tech, Dekonstruktivismus und Art besonders erfolgreich. Im Bereich der Stadtplanung sind Versuche zu beobachten, die Ideen der "Gemeinschaftsarchitektur" in so genannten "Stadtprojekten" zu verwirklichen, in denen die künftigen Nutzer durch Eigeninitiativen in die Architekturpraxis einbezogen werden.

Darauf ist zurück zu führen, dass Dekonstruktivismus, Milieuansatz und "Gemeinschaftsarchitektur" gegenwärtig in der Ukraine als die am meisten "immateriellen" Gerichte zu den Lieblingsspeisen zählen, die das aktuelle Menü der Architektur zu bieten hat.

Anmerkungen:

1 UNOVIS - Utverditeli NOVogo ISkusstva (Verfechter der Neuen Kunst)

2 Zhizn iskusstva (Leben der Kunst) 1919, 24.-25. Oktober

 

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