6. Jg. , Heft 1 (September 2001)
___Hans Lenk
Karlsruhe
Post(post)moderne Kreativität

Heißt 'postmodern' "besonders kreativ"? Ist Kreativität die Fähigkeit zum Spielen, zur spielerischen ("schöpferischen") Variation und Kombination von Stilen und Zitaten, wie es die nunmehr fast schon wieder überholte1 Postmoderne kultivierte, ja, zelebrierte? Wurden wir postmodern und bleiben wir auch postpostmodern besonders "kreativ"?

 

 

I. Zur Postmoderne

 

Die Postmoderne begann als Revolution gegen den modern-funktionalistischen Purismus, als Paukenschlag, gar, als inszenierter "Sprengsatz" nach Jencks (1978, 79), dem Hauptvertreter des Postmodernismus in der Architektur, genau am 15. Juli 1972, 15.32 Uhr. Damals wurde nämlich eine "schrecklich" modernistisch-puristisch-funktionalistische Siedlung namens Pruitt-Igoe in St. Louis gesprengt.

Was ist, was war die Postmoderne - hier exemplifiziert an der Architektur und ihrer Deutung?

 

Jencks (1978, 6f), der den Begriff "postmodern" aus der Kunstszene und analog zur Redeweise von der "postindustriellen Gesellschaft" (Bell) für die Architektur erstmals 1975 übernahm, glaubte ursprünglich, nur eine Übergangsbezeichnung eingeführt zu haben, die sich aus der Antistellung gegen die funktionalistische Moderne in der Architektur wendet, aber dennoch ‑ daher hält er den Namen für treffend ‑ wesentliche Momente der Moderne und die Notwendigkeit des Durchgangs durch sie festhält. Er versuchte daher in historischen Analysen zur Genese der postmodernen Architektur und in der Zusammenstellung charakteristischer Merkmale eine umfassende Kennzeichnung der Postmoderne zu geben, die für andere ästhetische und intellektuelle Strömungen beispielhaft und auf sie übertragbar ist. Charakteristisch für die Postmoderne ‑ zunächst in der Architektur ‑ ist demnach der Historismus (das Zurückgreifen auf vergangene und die Vergegenwärtigung früherer Stilmerkmale und ‑metaphern), der Bruch mit der rein funktionalistischen Moderne, etwa eines Mies van der Rohe: besonders z. B. Philip Johnson (z. B. seine Synagoge in Port Chester 1956), direkte Stilreproduktion als vergegenwärtigendes Zitat früherer Stilelemente, Wiederbelebung bodenständiger Architektur (z. B. Ziegelbauten, populäre Codes, nostalgisch‑traditionalistische Giebel mit stilisierter Kleinheit, z. B. die Siedlung van Eycks und Boschs in Zwolle).2 Die Rolle von Metaphern, Bedeutungen und sogar Metaphysik wird gegenüber der Moderne neu entdeckt (ebd. 112ff.), wobei die Metaphysik keine verbindliche sein kann, sondern eine quasi surrealistisch manieristische Spielerei "um die möglichen verfügbaren Metaphern": "Die Metaphysik wird dann entweder als implizite oder als explizite Metapher ausgedrückt, die durch die Form bezeichnet ist". Metaphern können explizit beabsichtigt, implizit angedeutet sein oder gemischt auftreten in mehrfacher Verwendung; insbesondere die gemischten Metaphern scheinen ebenso kennzeichnend für die postmoderne Buntheit wie die Verwendung anthropomorpher, physiomorpher (entweder körperlicher oder gar geographischer und in Natur einbettender) Metaphern: Man denke etwa an Yamashitas "Gesichts‑Haus" in Kyoto (1974) oder Jencks' Garagia Rotunda, Wellfleet/Massachusetts (1977), das einen etwas versteckteren physiognomischen Ausdruck zeigt, oder gar das als Phallus geformte Hotel Beverly Tom Takeyamas auf Hokkaido (1973/74) ‑ oder an das Musterbeispiel der Piazza d'Italia von Charles Moore, New Orleans (1976‑79), wo dieser mit antiken Requisiten, insbesondere Kolonnaden dorischer, tuskischer, ionischer, korinthischer und kompositer Säulen arbeitete und die Begrenzungsfassade für den Grundriss eine Landkarte Italiens mit dem Mittelpunkt Sizilien bildete. Um die narrativ‑fiktionale Komposition abzurunden, hat der Architekt sich selbst als "Wetope" (wasserspeiende Metope) porträtiert. Moore bringt das Pluralismusgebot des Narrativen auf die Formel: "Das Erzählerische an einem Gebäude ist für mich all das zusammen: Ein Gebäude soll so deskriptiv wie möglich sein und erzählen, was an ihm interessant ist ‑ entweder, wie es gebaut ist, oder wie die Leute es benutzen; die Botschaft ist vielleicht laut, vielleicht still, versteckt oder nur scheinbar versteckt; aber man erfährt immer, was los ist" (Zitat und Beschreibung der Piazza nach Klotz 1984, 134‑140). Nach Jencks wurden die Metaphern besonders meisterhaft schon von präpostmodernen Architekten angewendet: zum Beispiel von Antonio Gaudi, dem ersten (prä)postmodernen Architekten in seiner Casa Datillo (1904‑06), auf deren Fassade "Knochen und Lava ... die beiden unteren Geschosse, Metaphern von Totenmasken und wogender See ... Wohnungen in der Mitte" artikulieren, "während ein schläfriger Drache vom Dach herunterblickt": "Das Bauwerk repräsentiert Barcelonas separatistische Hoffnungen: Der Schutzheilige St. Georg tötet den Drachen Spanien, der das katalanische Volk verschlungen hat ‑ Knochen und Skelette verbleiben als Denkmal für die Märtyrer" (Zit. Jencks a.a.0. 117). Als Portrait gelungenster postmodernistischer Anwendung der angedeuteten Metapher avant la lettre in der modernen Architektur bezeichnet Jencks Le Corbusiers Kapelle in Ronchamp (1955), bei der die perspektivische Interpretation der Südostansicht "mit visuellen Metaphern übercodiert" ist, eine multivalente Kippfigur von Ente, betenden Händen, Schiff, Dreieckskappe, Umarmung oder (nach Le Corbusier selbst) gekurvten Wänden "im Wechselgesang" bzw. einer Krabbenschale des Daches. Bekannt ist neuerdings auch Utzons Opernhaus von Sydney, dessen Dachschalen Regattasegelboote, einander verschlingende Fische, übereinanderkriechende Schildkröten oder sich entfaltende Blüten gemischt metapherieren.

Explizit und besonders gelungen das Appartementhaus Nagakien Capsule Building von Kurukawa, Tokio 1972 , der Vogelhäuschen für Junggesellen an zwei Betontrikante hängte (vgl. Jencks 41, 42f. 48f.). Die Codierung, Mischung und perspektivische Interpretationsabhängigkeit der Metaphern ergeben einen Effekt der Selbstironisierung (vgl. etwa den bei Jencks, 65, abgebildeten Dog‑Stand (1938) oder das Schuhmobil 1976, beide aus Los Angeles). Übercodierung, Ungereimtheit, narrative Akklamationen und explizite Überstilisierung der Metaphern vernichten natürlich jeden Ernst der metaphysischen Bedeutung ‑ absichtlich: Ausgefallenheit und Indirektheit sowie die manieristische Überstilisierung und Überlappung scheinen eigentlich Jencks' These vom metaphysischen Gehalt aufzulösen und durch ein kaleidoskopisches Potpourri von Bedeutungsassoziationen zu ersetzen. Die Frage ist, ob dies in der Philosophie und Wissenschaftstheorie so grundsätzlich anders ist.3

 

Wolfgang Welsch hat in einem interessanten Vortrag zum Deutschen Kongress für Philosophie 1984 Missverständnisse des Begriffs der Postmoderne in der Architekturtheorie kritisiert. Er argumentiert, dass die Moderne auf Grund eines einzigen entscheidenden Schritts zum radikalen funktionalistischen Paradigma bestimmbar ist, sie sei dem gemäß aber "weder so traditionsallergisch, noch so innovationssüchtig, wie die Doxa es behauptet" (1985, 95). Dem gegenüber, meint er, sei jede simplizistische Form von Postmodernismus, die diesen auf bloßen Neohistorismus und Neotraditionalismus zurückführt, ebenso falsch wie die Habermas'sche tendenzielle Gleichsetzung von Postmoderne und Neokonservativismus ("Portoghesi hat sich zu Recht dagegen gewandt") (ebd. 36). Statt dessen gelte es, eine "zukunftsrelevante Form von Postmoderne" zu umreißen und die "eklatant philosophische Dimension" dieser herauszuarbeiten (ebd. 97) und schließlich auf die philosophische Verfassung des Zeitgeistes zu beziehen. Welschs Hauptthese ist, dass die Postmoderne die Moderne nur erweitert, ergänzt und bereichert ‑ etwa um die Elemente geschichtlicher Traditionen, um symbolische Dimensionen und humane Erwartungen sowie ironische Distanzierung und freie Verfügbarkeit aller Stilelemente. Die Postmoderne sei "keine Anti-Moderne und keine Trans‑Moderne, sondern die über ihre Selbstbeschränkung und Rigorismen hinausstrebende Moderne im Status ihrer Transformation" (ebd. 101). Sie richtet sich also nicht gegen die Moderne selbst, sondern gegen deren Einschränkungen, Selbstverengungen, Verkrustungen, gegen deren Eindimensionalität. Sie sei "als Selbstkorrekturform der Moderne" "eine Nachfolgegestalt" und "Entwicklungsform der Moderne" die offen gewordene "(sich pluralisierende) Moderne nach der (restringierten) Moderne". Sie muss allerdings noch von ihrer "rhetorischen" zur "produktiven" Phase umkonstruiert werden (ebd. 103). Die "Vielfältigkeit" und "Vieldeutigkeit moderner Lebenserfahrung" (nach Venturi), die Vielsprachigkeit und der Multiperspektivismus und Multifunktionalismus einer spätwittgensteinianischen Einheit in der Vielheit von Landschaftsskizzen sei das Charakteristikum der Postmoderne ‑ mit dem Zusatz, dass dieser prinzipielle Pluralismus der Inhalte und Methoden positiv gewertet wird. "Polymorphie der Sprachspiele und Polysemie des Sinns sind Kennzeichen der postmodernen Verfassung" (ebd.105). Marquards Plädoyer für Polymythie und Polytheismus wie Feyerabends Erkenntnisanarchismus oder ‑dadaismus werden ebenso in dieser Charakteristik der postmodernen Verfassung vereinnahmt wie die Kuhnsche Wissenschaftstheorie der Paradigmen, neue Rechtfertigungen mythischer Sinnstrukturen und auch neuere Thesen pluralistischer Rationalitätstypen.4

Er verweist also die Postmoderne auf eine Lebensformen übergreifende, Methodologien metatheoretisch beurteilende, sozusagen pragmatische Einheitsfunktion der Vernunft, was immer das sei. Expliziter wird Welsch nicht, sondern belässt es bei dem beschwörenden Hinweis auf die neue "transversale" Dimension der Vernunft. Das philosophische wie das pragmatische Problem und das der Kreativität bleiben dabei offen.

 

Als Nichtfachmann der Architektur wage ich nicht zu entscheiden, ob die Postmoderne in diesem Bereich sich bereits überlebt hat. (In anderen Bereichen scheint sie noch zu reüssieren.)

Doch dürften die Zitatenorientierung, die Stilkombination, die Liebe zur 'spielerischen' publizitär-rhetorischen Imponiergeste, die semantische und interpretatorische Vielfältigkeit, ja, Vieldeutigkeit, die "Polymorphie... und Polysemie" von Formen und Sinndeutungen geblieben sein - also ein Kennzeichen spielerisch-kombinatorischer "Kreativität".

Bleibt Kreativität, auch wenn die Postmoderne vergeht? Was ist, was kennzeichnet Kreativität5  - über das Postmoderne hinaus - strukturell aus?

 

 

II. Kreativität als Assoziationsprozess

 

Für Kreativität und kreative Personen ist charakteristisch zumal die Neigung, zwischen Originalität und der Übernahme von traditionellen Methoden hin und her zu springen, Spannung auszuhalten und einen "optimalen Mix" herzustellen zwischen "Ikonoklasmus und Traditionalismus" (Simonton 1988, 413). Das klingt geradezu paradox, aber es ist anscheinend doch eine notwendige Bedingung zur Aufrechterhaltung einer produktiven Originalitätsspannung, die offenbar unerlässlich und vielfach charakteristisch ist.

 

Darüber hinaus steht die mentale Kreuzbefruchtung zwischen verschiedenen Disziplinen besonders bei kreativen Neuentwicklungen im Vordergrund. Sie führt aber auch häufig dazu, dass die Kreativen in eine Art Randstellung ("marginal position") in ihrer eigenen Disziplin geraten oder von einer solchen Randstellung aus kreativ werden, u. U. gar nicht oder erst spät entdeckt werden (man denke an Gregor Mendel oder Robert Mayer). Das heißt, die Spannung zwischen Traditionalismus, den etablierten Methoden und arrivierten Ansichten innerhalb einer Disziplin einerseits, und dem Bilderstürmerischen, dem radikal Neuen, dem Neuartigen, dem eventuell aus einem ganz anderen Gebiet Stammenden andererseits - diese Konfrontationstendenz ist offensichtlich charakteristisch für einen kreativen "Zusammenstoß", für die "Zündung". Kreativität entsteht also durchaus auch auf Grund von bestimmten kulturellen und sozialen Vorbedingungen; diese sind typischerweise nur notwendige Bedingungen, aber in keinem Sinne irgendwie hinreichend, insbesondere wenn es um die Leistungserklärung bei den "intuitiven" oder "analytischen Genies" geht. Simonton (1988) spricht davon, dass "der Zufall" an verschiedenen unterschiedlichen Punkten "interveniert": Die Zufälligkeit greift bereits wesentlich ein bei der Permutation der mentalen Elemente, bei der Gewinnung innovativer Ideen, beim vergleichenden Revuepassierenlassen der Konfigurationsrelationen, beim probabilistischen Zusammenspiel zwischen Quantität und Qualität des Outputs, schließlich bei der Chance der Übernahme (Akzeptanz) und, last but not least, auch in der historischen Entwicklung, etwa angesichts von Mehrfachentdeckungen und -erfindungen (Simonton, ebd. 415 ff.).

 

Simontons Theorie der Kreativität ist eher eine Theorie der kombinatorischen, normalen Kreativität, wozu zwar auch gehört, dass man der Stereotypisierung widersteht und die Ausschöpfungskombinationen frei permutiert und kombiniert, in Konfigurationen bringt und im Sinne des erwähnten reproduktiv-kreativen Typs durchführt, aber diese Theorie ist doch nicht in der Lage, die überragenden genialen Kreativitäten zu erfassen. Man kann allenfalls gewisse Elemente zur Kennzeichnung der Persönlichkeiten, der Produkte, der Anregungen, der Plätze, der Prozesse geben, und diese sind eher wissenschaftsgeschichtlich und kreativitätsmethodologisch als psychologisch. Aber die Psychologie mit ihrer Normalitätsorientierung der Methoden(-batterien) hat offensichtlich Grenzen. Psychologische Modelle und Tests sind schon aus methodologischen Gründen (Anwendbarkeit auf den normal Intelligenten, Repetierbarkeit, statistische Reliabilität und Validität sowie Generalisierbarkeit) kaum in der Lage, die Kreativität der besonders Genialen wie z.B. Mozart (Gardner 1996, Hildesheimer 1977, Küster 1991) zu erfassen.6

 

Arthur Koestler vergleicht in seinem Buch Der göttliche Funke die kreativen Entdeckungen, sei es in der Wissenschaft, sei es in der Kunst oder in anderen kreativen Bereichen, mit dem Phänomen des Humors und des Witzes, indem er eine assoziative "Zündungs"-Theorie des Komischen aufstellt, und zwar unter dem Gesichtspunkt der Assoziation ("Bisoziation") von unterschiedlichen Ebenen oder artfremden Perspektiven aus unterschiedlichen Bereichen. Diese werden in einem Akt der plötzlichen Erhellung oder Eingebung im Sinne eines "Aha"-Erlebnisses verbunden, in einem überraschenden Einfall, der gleichsam geradezu in einem bestimmten "zündenden und befreienden Explosionspunkt" kulminiert. Man hat beim Witz typischerweise mehrere Ebenen zu unterscheiden, die zusammen kommen, sich überschneiden

 

Die komische Explosivwirkung beim Witz - oder allgemeiner beim Humor - beruht auf der Konfrontation, Verwechslung und Konfundierung (Zusammen"gießung", gar Konfusion?) von Spielregeln zweier unterschiedlicher Bezugsebenen, die sonst "berührungsfremd" sind, aber in dem Akte der Wechselassoziation ("Bisoziation") – völlig überraschend beim Witz, lächelnd überlegend, sozusagen sanft verständnisinnig beim Humor – zusammen gebracht werden: Es entsteht "ein Zusammenstoß, der im Lachen endet, oder eine Verschmelzung zu einer neuen geistigen Synthese oder eine Gegenüberstellung in einem ästhetischen Erlebnis. Alle Bisoziationen sind dreiwertig – das heißt, das gleiche Systempaar kann komische, tragische oder geistig anregende Wirkungen hervorbringen" (Koestler ebd., 36 ff.). Dabei ist beim Witz oft die von Bergson fälschlich als allein charakteristisch hervorgehobene "mechanische Verkrustung des Lebens" oder die Vermenschlichung des Automaten der Ansatzpunkt, dessen Konflikt oder Spannung sich in der Bisoziation als Komik entlädt. Bergson hat jedoch "erstaunlicherweise ... nicht erkannt, dass sich jedes der oben angeführten Beispiele aus einem komischen in ein tragisches oder rein intellektuelles Erlebnis verwandeln lässt, das auf dem gleichen logischen Muster beruht, also auf dem gleichen Paar bisoziierter Systeme, und zwar durch bloße Änderung des emotionalen Klimas".

Ähnlich wie beim Witz und Humor wirkt nun nach Koestler die Wechselassoziation bei der typischen Entdeckung von neuen Erkenntnissen: Auch diese entstehen zumeist durch Bisoziation unterschiedlicher Ebenen aller Perspektiven, die sonst unverbunden geblieben waren. Die "geistig" anregenden Wirkungen – statt der Komik oder Tragik - stehen hier im Mittelpunkt. (Koestler gibt freilich keine weitere Charakterisierung der (Situationen-)Unterschiede von Komik, Tragik oder zündender Entdeckung – außer, dass der Entdecker lange in der einen Ebene umher gesucht hat, umher geschweift ist – man denke an das exploratorische Appetenzverhalten i. S. d. Verhaltensforscher!, – bevor die Ebenen- bzw. Perspektivenbisoziation zündet. Eine solche kreative wissenschaftliche Entdeckung lässt  sich stark vereinfacht nach Koestler (ebd., 105) graphisch folgendermaßen darstellen:

Abb. 1

 

Der Forscher und Denker sucht irgend etwas, um sein Problem zu präzisieren, um eine klare Frage zu finden und auf einer bestimmten Ebene E1 zu lösen – und plötzlich kommt aus einer Ebene E2, die gleichsam senkrecht zu E1 steht (eine unabhängige Dimension darstellt), durch eine Art von Interpolation (im Unterschied zu den exploratorischen Extrapolationen im bisherigen Bereich E1) eine zündende Bisoziation zustande, die Verbindung zweier eigentlich unterschiedlicher Ebenen oder "Erfahrungssysteme". Es ist in der Tat auch der oder ein Witz des Witzes, dass man den Überraschungseffekt erreicht, indem plötzlich in einer Ebene, in der man normale (Routine-)Antworten erwartet, eine ganz andere Interpretation aus einer anderen Ebene einschlägt – wie einen Blitz beim Witz: Dadurch entsteht der Überraschungseffekt und das Komische.

 

Besonders der gute Witz weist als Charakteristika nämlich sechs oder sieben verschiedene Merkmale auf: Kürze, Knappheit, Sparsamkeit oder Überraschungseffekt, das Zusammenspiel von Elementen aus verschiedenen Ebenen oder verschiedener Interpretationen, und das würde hier auch ganz genauso zutreffen. Die "Bisoziation" oder das "zündende" Kreative, der Einfall in Witz und Humor verbindet bisher unverbundene "Erfahrungssysteme", -ebenen oder -symbole und führt dann eben im Schnittpunkt dieser beiden Ebenen zu einem Einfall bzw. zu einem Erlebnis des Lachens oder der Komik; es kann sich aber – wie Koestler sagt – auch eine "tragische oder eine geistig anregende Wirkung" mit der Bisoziation ergeben: Das Erleben subjektiver Art wird mit einem objektiven Bezugsrahmen in Verbindung gebracht, man setzt sich vom routinemäßigen Denken ab – und gewinnt im Erfolgsfalle doch eine Art von schöpferischer Kombination von zwei verschiedenartigen Dimensionen: daher "Bisoziation", also Wechselverknüpfung, Zweierassoziation. Man kann dem natürlich kritisch entgegen halten, das Konzept sei sozusagen quantitativ und auch terminologisch viel zu beschränkt, um anstatt von Assoziation von Bisoziation sprechen zu können. Sybren Polet hat in seinem Buche Der kreative Faktor geschrieben (dt. 1993, 298), dass Koestler den Begriff der Assoziation nur gegen den der "Bisoziation" ausgetauscht habe und man ihm "besser nicht folgen" solle; denn der "Austausch der Begriffe" sei "nicht nur überflüssig, sondern auch unrichtig", da der Ausdruck "Bisoziation" in gewisser Weise vorspiegele, "dass es sich um ein einspuriges, 'digitales' Assoziieren" handele, wenn auch aus zwei verschiedenen Ebenen, während die tatsächlichen Abläufe von multipler Art und komplex-paralleler Verschaltung seien, wie ja auch aus dem Zitat von James über den "Kessel mit den blubbernden Ideen" ersichtlich sei: dass es sich also gerade um ein vielspuriges, "mehrspuriges" Konfigurieren, Verarbeiten, Verknüpfen handle. Diese Aktivität führe zwar in gewissem Sinne dann durchaus zu einer Art von "eingleisiger Bewusstseinsenge", letztere sei aber nur die "Spitze des Eisberges": Im Untergrund, im Unterbewussten, Unbewussten gebe es sehr reiche Strukturen und eine teils "chaotische", teils hochverflochtene Fülle an Parallelverarbeitungen. Daran ist sicherlich etwas Richtiges, aber das von Polet Angesprochene ist m. E. durchaus in dem Koestlerschen Modell enthalten.

 

Doch man darf diesen Ansatz in der Tat nicht auf bloß zwei Ebenen zusammenstreichen (wie das Wort "Bi-soziation" suggeriert). Wir müssen vielmehr davon ausgehen, dass hier eine multiple Kollision, Kollusion (ein "Zusammenspielen"), Konfundierung, Wechselwirkung und Anregung und nicht nur ein "Extrapolieren" in einer Ebene, ein "Interpolieren" von einer anderen Ebene aus und dann eine Art von "Transponieren" stattfindet. Diese Skizze vereinfacht zu stark. Es handelt sich statt dessen erstens um ein sehr vielfältiges, großenteils dem Oberflächenbewusstsein und damit der Bewusstseinsenge entzogenes Zusammenspiel. Es können nahezu beliebig viele Ebenen sein, die sich da schneiden und zu einem Lösungspunkt oder Zündungseinfall führen. Und zweitens ist zu sagen, dass Koestler tatsächlich nicht die schöpferische Metaschichtenbildung berücksichtigt, die wir zu Anfang als besonders charakteristisch herausgestellt haben und die eine große Rolle bei intellektuellen Entdeckungen, zumal bei Verallgemeinerungen, spielen - neben den sozusagen horizontalen "Bisoziationen" unterschiedlicher Disziplinen und Perspektiven. Das Schichtenübersteigen, das transzendierende Interpretieren gibt neben dem von Koestler betonten "Extrapolieren", "Interpolieren", "Transponieren" und "Transformieren" eine entscheidende Charakteristik des Kreativen ab. Das "Höhersteigen" bedeutet das abstraktere (oder abstrahierende), das stufenübergreifende Zusammenfassen auf Metaschichten: Das Überblicken, Überformen von bestimmten Schichten ist dabei ganz besonders wichtig – wie wir gesehen haben: Man könnte hier von "Transzendieren" sprechen, also nicht nur vom Transponieren, sondern vom Metatransponieren, vom "Aufheben" auf höhere Schichten, vom Metainterpretieren unter höheren (höherstufigen) Perspektiven - und nicht nur aus verschiedenen Blickwinkeln derselben Ebene. Gerade die kreativen Metainterpretationen, die Kreierung von neuen Ebenen und Schichten ist besonders kreativ im Sinne der oben erwähnten "überkombinatorischen" Kreativität. Die Perspektiven sind ihrerseits geschichtet und u. U. hierarchisch verzweigt zu sehen, zu bilden. Deswegen ist es nicht nur nötig, in derselben Ebene eine "neue Denkmütze aufzusetzen", wie der Wissenschaftshistoriker Butterfield das genannt hat (zit. n. Koestler 1966, 255): Die "geistigen Transpositionen in den Gehirnen der Wissenschaftler" kommen in erster Linie "nicht durch neue Beobachtungen oder zusätzliche Daten zustande", sondern dadurch, dass das "Bündel" von vorhandenen "Daten zu einem neuen System wechselseitiger Beziehungen" geordnet wird, "indem man ihnen einen neuen Rahmen gibt; denn das bedeutet im Grunde genommen, dass man eine neue Denkmütze aufsetzen muss" (Hervorhebung hinzugefügt, H. L.). Diese "neue Denkmütze" kann aber manchmal auch einen Geßlerhut bedeuten oder zu einer Tiara hochstilisiert werden (ist dann freilich nicht mehr neu!). Es gibt auch trickreiche Vertreter der Kunst, die sich nur äußerlich einen neuen bunten, auffälligen Hut aufsetzen. Die Wissenschaftsentwicklung (oder eher -verwicklung) ist manchmal nicht bloß dadurch mitgeprägt, dass man einer neuen Denkmütze modischer Art seine Reverenz erweist, sondern zuweilen auch dadurch, dass man lediglich (s)einen alten Hut gegen einen neuen austauscht. Und oft bleibt es auch beim alten Hut - bloß mit neuer, manchmal fremder Feder. Die eigentlichen kreativen Fortschritte genügen freilich anderen Grundkriterien und Quasigesetzen, Anregungs-, Entstehungs- und Entwicklungsdynamiken. Auch die "Bisoziation", die von Koestler aus dem Bereich von Witz und Humor übernommen wird, ist in diesem Sinne zu verstehen. Es gibt ja auch Kabarettisten und professionelle Humoristen, die diese Tricks der komischen Explosionszündung fast mechanisch beherrschen, daraus eine stets einzupassende "Masche" zu machen vermögen. Sie sind bloß "reproduktive Kreative", allenfalls Kleinkünstler, manchmal Klein- und Scheingenies der maschenkombinierenden Pointengymnastik, aber nicht in dem eigentlichen Sinne fundamental Neues schaffende "intuitive Genies", die absolut überkombinatorisch Neuartiges aus der Fülle ihrer überquellenden, schichtenüberspringenden Phantasie schaffen.

 

Es ist also die entscheidende Idee, dass zwei unterschiedliche, bisher "unverbundene Erfahrungssysteme" (Koestler) plötzlich durch einen Einfall zusammengeschlossen werden und dass zwei Ebenen, die bisher unabhängig voneinander waren, gleichsam orthogonal zueinander standen, nun in einem bestimmten Punkt (oder einer Schnittgeraden) miteinander verbunden sind. Man sucht nach einer Problemlösung in einer dieser Ebenen, findet diese nicht – und plötzlich ereignet sich ein "Einfall" (im wörtlichen Sinne!) aus einer anderen Ebene; auf diese Weise kommt nach Koestler die Bisoziation von unterschiedlichen Erfahrungssystemen zustande. Dabei gilt, dass man eine solche Überschneidung und Übereinstimmung nie als bloß aufsummierendes Zusammenfügen von Werten oder Größen verstehen kann, sondern es ist eine wirkliche Integration, die auch innere Wechselwirkungen, ja, "Interferenzen" und wechselseitige "Befruchtungen" der Gesichtspunkte aufweist, also nicht nur additiv verstanden werden kann (ebd., 252). Das ist übrigens etwas, was man Koestler selber ins Stammbuch schreiben könnte, es kann auch beim "Bisoziieren" nicht darum gehen, dass man mechanisch (bloß) zwei unterschiedliche Ebenen nur zum Schneiden oder in Beziehung bringt, sondern die Verhältnisse sind meistens sehr viel komplexer und interessanter. Koestler hat aber sicherlich Recht damit, dass offensichtlich die Gesichtspunkte aus verschiedenen Bereichen zu einer Art von "Zündung" führen; er spricht ja von einer "bisoziativen" Überraschung oder sogar von einem "bisoziativen Schock". Beides kommt ja auch im Witz vor - in der Weise, dass man eine gewisse "Originalität", "Emphase" und "Sparsamkeit" als Kennzeichen des Komischen (ebd., 78 ff.) dann eben mit einer solchen Bisoziation oder einer solchen Zusammenbindung von unterschiedlichen Gesichtspunkten verbindet: "Tatsächlich ist das Überschneiden zweier unabhängiger Kausalketten durch Koinzidenz oder Verwechslung ein eindeutiges Beispiel für bisoziierte Zusammenhänge beim Witz, aber auch bei der Forschung und in der Kunst" (ebd., 73 f.). Es ist eine von Koestlers Hauptthesen, dass in allen diesen kreativen Bereichen gleichsam eine Art von gleicher Verlaufsform der kreativen Prozesse und Phänomene, des Überraschenden und des Originellen, des Einfallsreichen gegeben ist. Dazu versucht Koestler gewisse typische Verhaltensformen, etwa am Beispiel des Witzes, zu beschreiben und typologisch zu entwickeln: die Verlagerung des Akzentes und des Gesichtspunktes, Koinzidenz, Zusammenfallen, Zusammenschalten, das Entwickeln von geradezu widerlogischen Gesichtspunkten oder dann die "Interpolation" in einer Ebene, die Ausdehnung einer bestimmten Reihe oder Kette, "Extrapolation", ebenfalls in derselben Ebene, die dann zu einer Art von "Transformation" gerade dann führt, wenn auf die andere Ebene übergegangen wird bzw. diese sich mit der ersten schneidet, berührt und in diese hinein wirkt. Versteckte Anspielungen, implizierte Gesichtspunkte und Informationen spielen eine große Rolle insbesondere bei geistreichen Witzen, aber ebenso bei tiefsinnigen Entdeckungen. Die Hintergründe, die jeweils impliziert werden und mitspielen, sind recht wichtig für den Begriff einer "tieferen" perspektivischen Transformation oder Interpretationszündung. Dabei spielen Metaphoriken (s.u.), analogische Begriffe, Vergleiche, Übertragungen, Kreuzvergleiche und alles mögliche Querdenken oder Querdeuten eine Rolle – und oft auch bestimmte Konflikte, die einerseits zwischen den inhaltlichen Gesichtspunkten auftreten können (das gilt insbesondere beim Witz), aber andererseits auch Konflikte, die sich bei den kreativen Persönlichkeiten selber einstellen, wie wir oben aus den psychologischen Untersuchungen entnehmen konnten. Das gilt insbesondere beim Forscher oder Künstler, der vor einer besonderen Aufgabe oder Problemstellung steht und manchmal eine Art von "Blockierung" erlebt: Dann verstärkt sich die Anspannung, und eine Art von Kollision wird geradezu wahrscheinlich gemacht, vor- oder aufbereitet – also eine "Bisoziation", die dann eintritt, wenn die beiden Ebenen in einer bestimmten "Einfallssituation" zusammen kommen, wodurch der Konflikt gelöst wird. Man könnte geradezu von der Kollision von konfliktuösen Ausgangsgesichtspunkten sprechen, sowie von einer Kollusion, einem Zusammenspielen, Wechselspiel, interaktivem Ineinandergreifen der entsprechenden Gesichtspunkte unterschiedlicher Erfahrungssysteme, die dann die bisoziative "Zündung" darstellen. Dabei kommen oft Codewechsel vor, die manchmal sogar bewusst werden. Fixierte Strategien werden flexibel gemacht. Man muss typischerweise zu anderen Bezugsrahmen übergehen. Das Wandeln und Abändern von solchen Bezugsrahmen selbst ist ganz wichtig.

 

Doch man kann die Lösung eines Multi- oder Bisoziierungsproblems im Grunde nicht voraussagen; sie ist nicht kombinatorisch-mechanistisch oder kausal-deduktivistisch erklärbar oder gar erzwingbar. Sie ist letztlich auch nicht durch bloße Anpassung erklärbar, sondern der Ansatz Koestlers liefert nur eine Art von eher phänomenologischem Versuch, dieses "Einbrechende", "Einfallende" zu beschreiben. Man kann Entdeckungen dieser Art nicht nur auf Kombinatorik oder auf kombinatorische Gymnastik zusammenstreichen - und dieses Modell selbst auch nicht (s. o. die kritischen Bemerkungen zu Simontons Modelltheorie). Das Bisoziieren ist zwar darauf abgestellt, dass es kombinatorisch vor- und aufbereitet wird insofern, als man versucht, verschiedene Erfahrungssysteme systematisch zu kombinieren. Häufig ist es jedoch ein wirklich zufälliges Zusammentreffen (wenn auch manchmal, typischerweise, ausgelöst durch äußere Zufallsumstände). Oft – wir sprachen von Serendipität – wirkt ein Anregungserlebnis aus der Umwelt "zündend". Man kann versuchen, diese Einfallserlebnisse innerlich zu modellieren, zu schärfen, die "Kollusion" wahrscheinlicher zu machen, indem man "virtuell" eine mentale Strategie des "geistigen Abtastens" einer subjektiven inneren Landkarte durchführt oder in einer "inneren Landschaft" herum wandert, wie Koestler für das "zweckgerichtete Denken" (ebd., 167) sagt, oder den "Brennstrahl der Bewusstheit" auf die "innere Umwelt" richtet und diese zu explorieren, auszuforschen versucht (ebd., 168). Aber das sind alles Metaphern, die sicherlich zur theoretischen Erfassung nicht ausreichend sind. Sie versuchen, etwas eigentlich Undarstellbares "von außen" her zu umschreiben, indem bestimmte Metaphern verwendet werden. Dabei spielen Bezugnahmen auf das Unbewusste, auf das Querdenken, Querdeuten, "Wegdenken" (ebd., 149 ff.) eine große Rolle. Das Entdecken von Analogien ist oft das Einbrechen unterbewusster Verarbeitungen oder unbewusster Vorgänge oder sedierter, abgesunkener Erfahrungen: Das Phänomen ist interessant und wird auch vielfach in der Literatur zitiert. – Es gibt gewisse indirekte Strategien zur Herbeiführung von Problemlösungen oder von Assoziationen. Das zeigt schon die Schilderung von Einfallserlebnissen gesehen, wie sie Poincaré berichtete. Die Verfahren sind indirekte; es sind Strategien des "Wegdenkens" oder Querdenkens, durch die man versucht, die Einfallswahrscheinlichkeit zu erhöhen, die Inkubation zu fördern, die Auslösung herbeizuführen: "Das Glück trifft nur den vorbereiteten Geist", wie Pasteur gesagt hatte.

Souriau, ein französischer Philosoph, hat um 1880 – und das Wort ist auch von Nietzsche übernommen worden – gesagt, "um zu erfinden, muss man wegdenken": "Pour inventer il faut penser à côté" (Polet, 1993, spricht von "Danebendenken"). Im Deutschen haben wir den Ausdruck "Querdenken", der auch gerade hinsichtlich der Ebenenkonstruktion bei Koestlers Bisoziation oder bei allen Multi- und Meta-Assoziationen ganz sinnvoll zu sein scheint. Man sollte das Wort in diesem Zusammenhang (mehr) berücksichtigen. Kann man nun versuchen, die Wahrscheinlichkeit einer solchen Kollision und Kollusion, einer Bisoziation oder gar Multiassoziation planmäßig zu erhöhen? Sicherlich handelt es sich um Strategien, die bei bestimmten Entdeckungsbereichen, in denen man auf besondere Einfälle, auf Visionen angewiesen ist, sinnvoll sind – vor allem dann, wenn man seine Variationen der anregenden Umwelt oder die Auslösemerkmale selber innerlich erzeugen muss und nicht hoffen kann, dass aus der Außenwelt entsprechende Anregungen oder Provokationen im Sinne der zuvor diskutierten Serendipität auftreten. Aber charakteristisch ist, dass bei kreativen Akten und besonders fundamentalen Neuentdeckungen eine gleichzeitige Aktivität auf mehreren Ebenen häufig ist, dass eine Art von typischer Inkubations- oder Reifungszeit zu finden ist. Man muss dauernd mit dem Problem umgehen, "ringen", sich (nahezu) total engagieren und dieses Problem sowie den Konflikt und Problemdruck quasi im Unterbewusstsein arbeiten lassen. Es kommt noch hinzu, dass man eine offene Sensitivität, Empfänglichkeit, für die entsprechende Problemlage und für kleinste Zeichen oder Anzeichen eines Einfalls oder einer Anregung aus der Außenwelt haben muss oder pflegen sollte. Schließlich gilt natürlich, dass in gewisser Weise das rationale Denken, etwa beim Mathematiker, ebenso eine Rolle spielt wie der eher zufällige Einfall, von dem schon die Rede war. Man kann sagen, dass das unterbewusste Weiterarbeiten oder unbewusste Tendenzen und Dispositionen, die man vielleicht zu vereinfachend als "das Unbewusste" zu bezeichnen pflegt, die Funktion haben, das Problem untergründig gegenwärtig zu halten. Das Unterbewusste ist in diesem Sinne eine Art von Strategie, um gleichsam das Problem, den Konflikt, den Problemdruck "am Kochen" zu halten. Man fühlt sich an einen Druckkessel erinnert. Dann kann plötzlich wie ein "Ausbruch" eine spontane Intuition oder tatsächlich das Ereignis einer solchen Bisoziation eintreten, wie sie Koestler im Auge hat.

 

Wir hatten oben bereits diskutiert, dass diese Art von Kollision und Wechselbefruchtung oder -zündung im Allgemeinen nicht auf zwei Ebenen beschränkt werden kann, sondern dass sie genauso im Zusammenspiel vieler unterschiedlicher Perspektiven und Gesichtspunkte zu finden ist, und dass eine Art von multipler Kollusion und Wechselwirkung eine Rolle spielt. Das Modell von Koestler ist also in dieser Hinsicht zu einfach gewählt. Er hat auch nicht gesehen und berücksichtigt, dass dieses Zusammenspiel u. U. von verschiedenen Schichten, Stufen und Ebenen aus gesehen und betrieben werden kann, dass es neben der horizontalen Bisoziation auch eine vertikale gibt, dass man aus einer höheren Perspektive, aus einer metatheoretischen bzw. metasprachlichen Perspektive bestimmte Gesichtspunkte der unteren, objektnaheren Ebenen eben anders sieht. Wir können auch vertikal kreativ assoziieren. Man könnte von Meta-Assoziation sprechen oder von einer Methode, Meta-Assoziationen zu kreieren.

 

Koestler meint, dass offenbar alle Arten von kreativen Entwicklungen, insbesondere bei komplexeren Systemen und schöpferischen Prozessen komplexerer Art, Analogien in den entsprechenden Bereichen aufweisen. Er behauptet sogar, im Wesentlichen liefen kreative Prozesse, humane Kreationen jedenfalls, im Großen und Ganzen nach dem gleichen Schema ab; es unterschieden sich nur die Kriterien der Beurteilung, die bereits spezifischen Produkte selbst oder auch die Art und Weise, wie das Ergebnis des Kreationsprozesses im Einzelnen zustande kommt. Aber die von ihm hervorgehobenen Phasen der Variation, der Interpolation und Extrapolation, der Transposition bzw. Transformation, der Selektion, der Retention (Bewahrung, Stabilisierung) sind für ihn in den Bereichen überall die gleichen. Offensichtlich ist die Übernahme von bestimmten Risiken bei Neuentwicklungen dann ähnlich zu sehen wie der Sprung ins Unbekannte, der darin besteht, dass man sich wie Poincaré auf unbewusste Einfälle kapriziert oder gar verlässt oder von diesen "überwältigt" wird. Was für ein Kriterium letztlich die Beurteilung liefert, sei prozessual, phasenmethodologisch vielleicht gar nicht einmal so entscheidend. Und es gibt ja in der Tat auch Analogie-Zusammenhänge, etwa zwischen künstlerischen und z. B. mathematischen Intuitionen oder Visionen.

 

Poincaré war der Meinung, dass die Beurteilung mathematischer Erfindungen zugleich unter dem Gesichtspunkt der Schönheit und Wahrheit, also als Kreation schöner und nützlicher mathematischer Ideen vonstatten gehe (s.a.u. Anm. 7),  und dass deren Selektieren eigentlich schon eine Bewertung sei, die gleichsam unterbewusst oder vorbewusst, jedenfalls in seinem Geist, zustande komme. Poincaré hat, so meinte er, jeweils schon im Vorbewussten oder Unterbewussten die meisten der nicht sinnvollen Kombinationen eliminiert, selektiert. Der europäische Mentor von Ramanujan, Hardy, hat eine Apologie eines Mathematikers geschrieben, in welcher er behauptete, es käme in der Mathematik ohnehin ausschließlich auf die Idee der Schönheit an; diese sei das einzige und "entscheidende Kriterium" der Beurteilung, das eine Rolle spiele: “Das entscheidende Kriterium ist Schönheit. Für hässliche Mathematik ist auf dieser Welt kein beständiger Platz.“ (zit. n. Koestler 1966, 365). Mathematik, meinte Hardy, könne "nur als Kunstwerk" gerechtfertigt werden. Der berühmte Mathematiker Borel meinte gar, Mathematik sei "Poesie von Ideen" (beides zit. n. Hildebrandt 1992). Das andere Zitat ist von Hadamard, den ich schon im vorangegangenen Kapitel erwähnt hatte, der nach seiner Umfrage unter hervorragenden amerikanischen und französischen Mathematikern resümierte: “Das Schönheitsgefühl ist offensichtlich fast das einzige Gefühl, das in der Mathematik zu Neuentdeckungen führt." Es spielen also das Unterbewusste, die Intuition, das Erleben von Schönheit und das Erkennen sowie Beurteilen von Einfachheit eine hervorragende, wenn nicht gar entscheidende Rolle gerade auch in jenen Disziplinen, die anscheinend ausschließlich dem mechanischen Beweisdenken oder der strikten Präzision der Beweise und Argumente verpflichtet sind - wie in der Logik und insbesondere der Mathematik.

 

Es ist interessant und wird von Koestler (1966, 151) geradezu als ein "scheinbares Paradoxon" bezeichnet, "dass ein Wissenszweig, der vorwiegend mit abstrakten Symbolen arbeitet, dessen rationale Grundlage und Credo Objektivität, Beweisbarkeit und Folgerichtigkeit sind, offenbar von geistigen Vorgängen abhängig ist, die subjektiv, irrational und nur post factum verifizierbar sind". Das impliziert, dass der Beweis immer erst hinterher kommt, die Intuition ist vorgängig und das Entscheidende. Und die geschieht oder ereignet sich, so Hadamard (1945), weitgehend in einem quasi ästhetisch-visionären Erfahren oder (virtuellen) Schauen. Die Lösung eines Problems ist nicht irgendwie schrittweise abgeleitet, sondern wird erlebt als oft plötzlich "einfallendes", den "Kreator" überkommendes Mustererkennen im Sinne einer Gesamtschau, einer überwältigenden und persuasiven Vision.

 

Es kann sogar gesagt werden, dass zumeist, wenigstens in der Initiations- und Visionsphase, die Sprache und die übermäßig präzise Fixierung von Formeln eher Hindernisse darstellen. “Die trügerische Präzision“, sagt Koestler (1966, 184), “die ... Begriffen eignete", die wie die klassischen Raum- und Zeitkonzepte in der Philosophie eine Rolle gespielt und die Mathematik und die Physik Jahrtausende lang beeinflusst haben. Man denke insbesondere an die aristotelische Physik - sie legte nach Koestler "das gesamte wissenschaftliche Denken von Aristoteles bis zur Renaissance in Fesseln". Das ist nach der heutigen Kenntnis der mittelalterlichen Entwicklungen im Nominalismus und auch in der Logik nicht richtig, doch stimmt es zweifellos, dass Sprache und Worte zwar "unentbehrlich" zur Präzisierung sind, dass aber fixe, verfrüht oder absolut verfestigte Begriffe und sprachliche Formulierungen "Fußangeln" (Koestler, ebd.) sein können, bestimmte Perspektiven verstellen mögen, unter Umständen zu einer Weltsicht Anlass geben, die gerade gesprengt werden muss, um Neuentwicklungen zu erlauben.

Selbst die Sprache stellt manchmal bei der eigentlich schöpferischen Eingebung ein Hindernis dar. Zwar ermöglicht sie viele verfeinerte und präzisierte Darstellungen, aber sie kann uns u. U. auch "Scheuklappen" aufsetzen. Darauf hat übrigens auch lange vor Wittgenstein der kongeniale Präwittgensteinianer Lichtenberg in vielen berühmten Zitaten hingewiesen – dass nämlich ein falsches oder fixiertes Sprachverständnis oder schon die Sprachformulierung ein verzerrtes philosophisches – und somit auch ein metaphilosophisches - Problem bedeuten kann. "Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs, also die Berichtigung einer Philosophie, und zwar der allgemeinsten ... Es wird also immer von uns wahre Philosophie mit der Sprache der falschen gelehrt. Wörter erklären hilft nichts." "Unsere falsche Philosophie ist der ganzen Sprache einverleibt." (Lichtenberg H [146])

 

Wie steht es mit der Kreativität beim Künstler? Ist es da ganz ähnlich wie beim Wissenschaftler? Arthur Koestler (1966, 366, 371 u. a.) vertritt diese These. Er meint, dass man hinsichtlich der Entwicklungen der Kreativen – sowohl des kreativen Prozesses als auch des schöpferischen Menschen – in Wissenschaft und Kunst ganz ähnliche Überlegungen für beide Bereiche anstellen kann: Gleiche oder recht ähnliche Beobachtungen seien hinsichtlich der großen Einfälle bei den Wissenschaftlern wie auch bei den Künstlern zu machen. Hier wie dort finden sich "die bahnbrechenden Neuerungen", die sich auf "plötzlichen Verlagerungen der Aufmerksamkeit und der Betonung auf ein bis dahin nicht vernachlässigtes Band des Spektrums der menschlicher Existenz" gründen (ebd., 371). Sie kommen wie in der Wissenschaft, so auch in der Kunst dadurch zustande, dass man – das ist wieder seine Theorie der Bisoziation – plötzlich Systeme zusammenschaltet, die bisher als getrennt angesehen worden sind: "An den entscheidenden Wendepunkten", sagt Koestler (ebd., 443), "die einen Neubeginn in neuen Bahnen einleiten, treffen wir auf Bisoziationen großen Stils, auf Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Perioden, Kulturen und Wissensbereichen": "Dieses Sich-Überschneiden der beiden Ebenen findet sich in allen großen Kunstwerken; aus ihm resultieren alle großen Entdeckungen der Wissenschaft. Es ist der Fluch – oder das Privileg – der Künstler und Wissenschaftler, auf dieser Schnittlinie wie auf einem gespannten Seil wandeln zu müssen." Das heißt, die Bisoziation spielt nach Koestler auch in der Kunst eine entscheidende Rolle.

 

Koestler hatte mehrfach darauf hingewiesen, dass Poincaré oder auch Hardy, die großen Mathematiker, behauptet haben, dass die Schönheit einer Struktur, einer Ableitung oder der Lösung eines Problems eine ganz wichtige heuristische und rechtfertigende Aufgabe in der Mathematik hat – wie auch in der Kunst. Das ist natürlich überraschend.7

 

Was ist nun das Körnchen Wahrheit darin, die Motivation oder Rechtfertigung dahinter oder das Gemeinsame der Phänomenbereiche? Koestler meint (ebd., 366), "der schöpferische Prozess selbst läuft ... in allen Bereichen im Wesentlichen nach dem gleichen Schema ab. Aber die Kriterien, nach denen das Endprodukt zu beurteilen ist, sind natürlich je nach dem Medium verschieden." Mit anderen Worten: das Schöpferische ist in allen Bereichen von gleicher Struktur, und der Ablauf des kreativen Prozesses bzw. Aktes ist im Großen und Ganzen gleich - auch bei der Motivation des Schöpferischen ist etwas Gemeinsames.8

 

Neue Wahrheiten aber und neue Schönheiten sind "kreativ" – sind nur durch kreative Akte zu gewinnen und wirken ihrerseits "kreativierend". Die bahnbrechenden Neuerungen sind besonders wichtig. Es geht also um neue Entwicklungen und neue Erfahrungen. Die bloße Feststellung von Wahrheit oder Schönheit schon bekannter Art ist natürlich dann in diesem Sinne nicht kreativ, sondern allenfalls ein stellvertretendes Nacherleben früherer kreativer Schaffensprozesse. Die Neuentwicklungen, also auch die Originalität 9 muss natürlich hinzukommen, damit wirkliche Kreativität sich realisiert.

 

Solche grundsätzlich berechtigten Gesichtspunkte reichen aber meines Erachtens nicht aus. Hinzutreten müssen zumindest die folgenden Charakteristika und Beurteilungsgesichtspunkte, insbesondere bei kreativen Entwicklungen:
1. die prinzipielle Ausrichtung auf Konfiguration, Ganzheit, Totalität (wie generell bei besonders großer Kreativität, vgl. a. Polet, 1993, 93, 114);
2. die prinzipielle Neuartigkeit. Sie ist natürlich in der Forderung der Originalität enthalten, aber das ist noch zu allgemein; es muss m. E. die Entwicklung neuer Perspektiven, Darstellungsweisen und Gesichtspunkte hinzukommen. Die Originalität kann nicht elementar in dem Sinne sein, dass nur neue, jedoch kleine Erweiterungen vorgenommen und neue Kombinationen von schon Bekanntem erzeugt werden, sondern es müssen neue Grundlagen gesehen, ganz neue Sichtweisen geschaffen, neue Perspektiven, neue Schichten der Deutung entwickelt werden; es zählt also grundsätzlich eine Neoperspektivität oder ein Neoperspektivismus.

3. Entsprechendes gilt sodann, wie es beim Geniebegriff Kants (KU §46f.) einschlägig ist, für die Schaffung neuer Regeln des Verständnisses und der Kreationen, aber auch natürlich der Interpretationen. Diese neuen Regeln konstituieren unter Umständen nicht bloß eine neue "individuelle Spielregel" (Koestler 1966, 424), sondern eine ganz neue Kunstrichtung – man denke an den bereits erwähnten Übergang von der bildlichen Kunst zu einer Relief- oder Collagekunst, die ins Räumliche ausgreift, oder an die Zwölftonmusik. Das ist dann als das Setzen und Durchsetzen neuer Regeln oder auch neuer Regeln der Beurteilung zu verstehen und führt natürlich auch zu einem radikal neuen Stil. Das Genie setzt nach Kant ja selbst neue Regeln und schafft damit in der Frage auch neue Standards der Beurteilung: Diese Art von Neoregularismus oder Neostandardismus, könnte man sagen, müsste natürlich erfasst werden und sich auch auf die Schichtenbildungen beziehen, die ich oben genannt habe.

4. Damit greift das Phänomen des Kreativen über einzelne Gebiete hinweg und wird zu etwas Philosophischem, das eben darin zum Ausdruck kommt, dass man höhere Schichten der Entwicklung von Deutungen hat, die auf anderen Grundlagen und diese überhöhend aufbauen. Der Metaperspektivismus ermöglicht schichtenübergreifende Kreationen, sozusagen Metakreativität. Das könnte dazu führen, dass man die Koestlersche These der gemeinsamen, zumindest gleichphasigen und gleichartigen Struktur des Kreativen auf allen Gebieten zu einer Art von interdisziplinärer Zusammenschau in einer erst zu entwickelnden Philosophie der kreativen Tätigkeiten einmünden lassen könnte. Dabei ist die Auseinandersetzung mit den Zufallsmomenten oder dem traditionell so verstandenen Chaotischen – und auch unter Umständen den deterministischen komplexsystemaren chaotischen Entwicklungen in der nichtlinear verfassten Natur - wesentlich, also Phänomene, die etwa die Chaostheorie heutzutage untersucht.

 

 

III. Chaotische Kreativität?10

 

Im Folgenden möchte ich besonders auf Chaotisches in der Kunst bzw. den fraktalen Charakter und die Selbstähnlichkeit in der Kunst sowie auf bestimmte Korrelationen, formale Übereinstimmungen bzw. Analogien oder Parallelitäten zum natürlichen Phänomen des Wachsens eingehen. John Briggs hat in seinem Buch Chaos. Neue Expeditionen in fraktale Welten (1992, dt. 1993) im Wesentlichen versucht, einen Ansatz zur Deutung der Kunst auf fraktaler und chaostheoretischer Basis aufzubauen; das selbe gilt für Friedrich Cramer, der sich viel mit den Problemen der Evolution, der Ordnung und den chaotischen Phänomenen in der Natur, sowie mit der Zeitstruktur des Erlebens und der Erfahrung befasst hat. Beginnen wir mit Cramers Entwurf.

 

Cramer geht davon aus (1994, 259),11 dass das Schöne als eine "Gratwanderung" zwischen dem Geordneten einerseits und dem Chaotischen andererseits und insbesondere natürlich dem Geordneten im Sinne der fraktalen Geometrie verstanden wird, so dass also Beziehungen und Korrelationen bestehen zwischen der Physik der komplex-dynamischen Systeme mit fraktalen (chaotischen) Attraktoren einerseits und der Entwicklungsbiologie andererseits. Weil alle Entwicklungen immer vom jeweiligen Stand des evolvierenden Systems abhängen, entstehen hier natürlich unmittelbare formale Übereinstimmungen bzw. Analogien. Cramer meint, die Theorie des deterministischen Chaos lasse uns solche Übergänge zwischen Ordnung und Chaos besser verstehen und insbesondere auch das Erleben dieser Übergänge und dieser Oppositionen, solcher Unterschiede, die wir im Zusammenhang mit ästhetischem Erleben erfahren: "Schönheit entsteht überall dort, wo das Chaos in die Ordnung, wo Ordnung in Chaos mündet. Schönheit ist gleich der offenen, irrationalen Ordnung des Überganges, und so ist sie ihrem eigenen Prinzip nach vergänglich, fragil, gefährdet und je nur einmalig – wie das Leben selbst. Schönheit kann nur als lebendige Schönheit existieren" (ebd.,). Das erinnert traditionell an Goethe, an die Schönheit, die sich nur realisieren kann als Gestalt, die lebt, sich entwickelt, sich stets verändern kann und erneut sich (re)konstituiert ("prägende Form, die lebend sich entwickelt") – oder an Schiller, der die Schönheit im Spiel ansiedeln will oder aus dem Spiel hervorgehen sieht.

 

Cramer meint, dass "die 'fraktale Geometrie' und die 'Chaosmathematik'", "welche die Schöne Form hervorbringt ..., die nicht-lineare Realität" auch der Natur "besser zu beschreiben" (1994, 261) gestattet, als das der Newtonische Ansatz vermag, der im Wesentlichen auf lineare Gleichungen und Überlagerungen von Zustandsgrößen in additiver, nämlich in linearer Hinsicht, hinaus läuft. "Der spezifische Reiz", meint er, "der von den Naturformen ausgeht, dürfte darin zu suchen sein, dass sie ... im Regelfall Prozessformen" sind, Ergebnisse von Wachstums- und Entwicklungsprozessen. "Sie sind gleichsam stehen gebliebene – in Wahrheit jedoch meist fortschreitende – Prozesse, die mit dem Prozess korrelieren, in dem der Beobachter selbst begriffen ist. Das Leben der Natur korreliert mit dem Leben des Betrachters. Wie dieses ist die Natur ein Wachstumsprozess" (ebd., 264), also die lebend sich entwickelnde Form oder Gestalt, die Goethe gesehen hat. Im übrigen macht Cramer (ebd., 265) auch eine Reihe von Anspielungen auf die Polarität in der Verfassung der Natur und der Welt – freilich, ohne hier Goethe zu zitieren, der ja auch gemeint hat, dass die Grundstruktur des lebendigen Gestaltens eine Art von polarem Hin- und Herspielen zwischen Gegensätzen sei, woraus sich erst Strukturwachstum und Entwicklung ergäben – insbesondere natürlich auch differenzierte und vielfältige Entwicklung, zumal sichtbar im pflanzlichen Wachstum, aber auch in der antagonistischen Attraktion, Dissoziation, Fortpflanzung der Organismen. Entsprechendes könne man dann übertragen auf die Gestaltung und Beurteilung von schönen Formen, die sich ebenfalls gestalten, sich gleichsam selbstgestaltend entwickeln. Unsere Wahrnehmung ist vorwiegend auf das Erfassen "prozessualer Strukturen" und "auf das Erkennen der Schönen Form (als einer tendenziell dynamischen Form) 'programmiert'" (ebd., 268). Cramer sagt, die gewachsene Entwicklung und deren Struktur bilde somit die Voraussetzung für eine schöne Form. Man kann an einer Form, die als schön erlebt wird, den Prozess der Entstehung immer mit finden, nicht verleugnen, nie ganz unterdrücken. Die Lebendigkeit einer schönen Form besteht gerade darin, dass man diese Art von Entstehungsprozess vermutet und nach- oder miterlebt und dass dann – und da kommen wir schon auf die rein ästhetische Konnotation – die Möglichkeit besteht, immer tiefer in die Schichten dieser entsprechenden Form, des entsprechenden Wachstumsprozesses und des zu Grunde gelegten dynamischen Entwicklungssystems einzutauchen oder gar einzudringen. Auf diese Weise entwickelt sich eine lebendige Aufnahme oder Erfahrung der Gestalt, weil immer neue Gesichtspunkte durch Tieferdringen, durch Verzweigungen usw. auftreten: Das ist eben das Kennzeichen der Schönheit an der Grenze zwischen Ordnung und Chaotischem, d. h. bei nicht im Einzelnen voraussagbaren Phänomenen.

 

Natürlich findet man darüber hinaus auch in der Natur viele fraktale Gebilde, die Selbstähnlichkeit12 der Teilstrukturen aufweisen – wir kennen z. B. die "Blumenkohlvariante", genannt "Romanesco", eine Kreuzung zwischen Brokkoli und normalem Blumenkohl. Dasselbe gilt natürlich für viele andere Strukturen, Wolken oder Farben, Blätter usw. Diese Naturstrukturen haben ja zweifellos einen beträchtlichen ästhetischen Reiz.

 

Zunächst aber zu den Wachstumsprozessen. Wachstumsprozesse stellen im Grunde eine Weiterentwicklung des jeweiligen Entwicklungsstandes dar, der bereits erreicht wurde, ursprünglich ausgehend von einem Anfangsstadium, zu dem dann stets zusätzliche Elemente hinzu kommen, die aber im Allgemeinen die vorherigen Elemente nicht ganz verdrängen13. Es gibt – so sagt ein Biomathematiker der Universität von Calgary – Prusinkiewicz (zit. in Briggs 1993, 87; GEO 1990, 116) – "eine tiefe Beziehung zwischen Selbstähnlichkeit und Wachstumsregeln". Man kann nun versuchen, deren Grundformen zu analysieren. Dabei findet man mit Sicherheit selbstähnliche Formen. Es findet so etwas wie eine Überschichtung von nicht bloß linearer Additivität statt, im Sinne der erwähnten Entwicklungskonkurrenz, mit der dann jeweils eine Art von Stabilisierung mittels Rückkoppelung oder Rückspeisung der Information über das Erreichte verbunden ist. Prusinkiewicz konstatiert mit den Physikern, dass auch "Selbstähnlichkeit" eine Art von "Symmetrie" sei (in Bezug auf Skaleninvarianz), und dass man die Symmetrieformen als Leitmotiv der modernen Wissenschaft immer wieder finde – etwa bei den Wachstumsprozessen. Insbesondere bilden die entscheidenden Brüche, die "Symmetriebrüche", die Übergänge sozusagen von einer Ordnung zur anderen, von einer fraktalen Schicht zur anderen zum Beispiel, ein ganz besonders wichtiges Prinzip der Natur. Eben hierin könne, meint er, die Natur in ihrer Entwicklung und in ihren kontinuierlichen Wachstumsprozessen nachgeahmt werden, könnten die lebenden Formen sozusagen im sequenziellen Modell nacherzeugt werden – insbesondere unter Einschluss der entsprechenden Rückkoppelungen, um Veränderungen zu kontrollieren oder eben den Entwicklungsprozess und auch die jeweilige Grobform relativ zu stabilisieren. Insofern kann man sagen, dass Wachstumsprozesse in diesem Sinne eine Art von kontinuierlicher Entwicklung auf verschiedenen Schichten darstellen – insbesondere im Sinne einer Weiterentwicklung von fraktalen Teilformen. Wenn man versucht, das quantitativ nachzuvollziehen, so gelangt man nicht nur zu negativ (beschränkend) rückgekoppelten Prozessen, sondern u. U. zu einem Exponentialgesetz in positivem Sinne ("positive Rückkopplung"), bei Bevölkerungszunahmen beispielsweise. Doch auch bei der Entwicklung der Blütenkörbe einer Sonnenblume gilt eine ähnliche rückgekoppelte Abhängigkeit vom bereits erreichten Entwicklungsstand, die sich z. B. in der spiraligen Anordnung der Kerne zeigt. Diese Zunahme hat einen ganz bestimmten Charakter, der normalerweise – und jetzt kommen wir der Ästhetik nahe – dem Goldenen Schnitt ähnelt 14.

 

Cramer meint nun, das Alles sei auch in der Kunst so. Die "wirkliche Kunst" sei – wie "Schönheit" – "eine Flucht nach vorne. Sie entsteht, wenn ein dynamisches System gerade noch vor dem Chaos ausweichen kann; Schönheit ist eine Gratwanderung zwischen Chaos und Ordnung, zwischen Zerfall und Erstarrung" (ebd., 276). Und sie sei eben auch in diesem Sinne zu verstehen.

 

Man kann das Gesagte übrigens auch auf die Entwicklung von Ideen übertragen. Die Grundstruktur gilt ja insbesondere in der neueren Gehirnforschung. Man denke an Edelmans Theorie der neuronalen Gruppenselektion im Sinne eines, wie er das nennt, neuralen oder neuronalen Darwinismus oder an Dennetts Auffassung, der zu Folge viele Entwürfe von vielen verschiedenen Zentren im Gehirn um den Eintritt in das Bewusstseins geradezu konkurrieren, so dass auf diese Weise eine neue "Idee" oder Vorstellung erst als Ergebnis eines selektiven Konkurrenzprozesses auf die Bühne des Bewusstseins gelangt. Auch hier findet man dieselbe Grundstruktur. (Zwar hat man den Fibonacci-Charakter der Hirnprodukte in diesem Sinne noch nicht nachgewiesen, aber man könnte sich das leicht vorstellen.)

 

Vielleicht kann man sogar noch weiter gehen und sagen, wir leben in einer dynamisch immer und überall von Wachstumsprozessen geprägten Welt, die von Prozessen und formalen Strukturen beherrscht ist, welche sich daraus ergeben, dass aus etwas Vorhandenem durch Weiterbauen und interne Konkurrenz dann das nächste Produkt, der nächste Zustand, die nächste Wachstumsphase entsteht und so eine teils exponentielle, teils spiralige, teils dem Goldenen Schnitt gehorchende Wachstumsentwicklung entsteht. Man könnte fast davon sprechen, dass wir in einer Fibonacci-Welt leben. (Das ist allerdings ein Ausdruck, den Cramer nicht benutzt.) Aber es scheint mir naheliegend, diese Bezeichnung zu wählen. Das Prozessuale einer Wachstumsentwicklung mit interner Konkurrenzstabilisierung – das ist die entscheidende Grundidee. (Allerdings sind die jeweiligen Schichtenübergänge bzw. Symmetriebrüche – auch bei der Selbstähnlichkeit – zu beachten: Letzteres besonders in der Kunst, s. u.) Cramer geht dann zur Kunst über und möchte die Kunst auch durch solche Entwicklungen und Nacherlebnisse dieser Wachstumsprozesse an der Grenze zwischen Chaos und Ordnung ansiedeln.

 

"Ein Kunstwerk ist neu", sagt er (ebd., 280): "Neues entsteht beim Durchgang durch chaotische Zonen. Kunstschöpfung ist ein Akt in größtmöglicher Nähe zum 'Gerade-noch-nicht-Chaos'." "Das in einer künstlerischen Gratwanderung" an der Chaosgrenze" erzeugte Werk enthält im wahrsten Sinne den Augenblick des Künstlers" – einen Höhepunkt, der immer wieder beschworen worden ist – z. B. auch von Lessing – , "und eben das macht es zum Kunstwerk, dass dieser Augenblick so festgehalten wurde, dass er seinen subtil gefährdeten Schöpfungsprozess nie mehr verleugnen kann" (ebd.,). Der Prozess zeigt einerseits die Orientierung am regelmäßig Symmetrischen, aber andererseits auch "die kleine Abweichung" – und gewinnt beim Betrachten des Werks gleichsam einen Überblick über dessen Entstehung und eine Erkenntnis der abweichenden, überraschend neuen, originären, originalen Variation. Das ist für Cramer das Charakteristikum der Kunst. Er bringt (ebd., 277) das aus der Psychologie bekannte Beispiel, dass man ein Gesicht als langweilig empfindet, wenn man zwei symmetrische Hälften aneinander heftet, und führt das am berühmten Selbstbildnis von Albrecht Dürer vor. Mit anderen Worten: erst die (kleine) Abweichung – etwa von der symmetrisch-regelmäßigen (oder auch der fraktalen Selbstähnlichkeit!) – verlebendigt das Kunstwerk15.

 

Wenn wir nun die Ideen über Selbstähnlichkeit zu einer Ästhetik im Sinne des chaostheoretischen und fraktaltheoretischen Ansatzes entwickeln wollen, so müssten wir zunächst fragen, worin eine solche Ästhetik bestehen kann. Wie ist eine solche Ästhetik zu erklären? Hängt sie davon ab, dass wir selbst in unserem Nacherleben solchen Strukturen biologisch gleichsam "vorprogrammiert" folgen, in dem Sinne, dass unsere neuronalen Assemblies oder neuronalen stabilisierten und plastischen Vernetzungen im Gehirn solchen Verzweigungen nachfolgen, ähnliche Einschwingungsprozesse wie solche dynamischen Systeme aufweisen, die freilich nicht isoliert funktionieren. Ganzheitliche Zusammenhänge und Rückkopplung scheinen dabei eine Rolle zu spielen. Ich hatte ja bereits darauf hingewiesen, dass offensichtlich in den Gehirnmustern bestimmte sich wiederholende Muster von den Systemen eingespielt und angenähert werden. Man könnte direkt von Attraktoren und u. U. von fraktal strukturierten, d. h. "seltsamen", Attraktoren im Gehirn sprechen. Man hätte dann bereits ansatzweise so etwas wie eine fraktale Ästhetik, die auf der fraktalen Grundstruktur, auf dem Hintergrundchaos der Gehirnprozesse ruht und verständlich macht, warum wir solche quasi natürlichen, fraktalen, sehr verzweigten, nicht sehr übersichtlichen, dynamisch komplexen Strukturen genießen, als "schön" empfinden.

 

"In der Kunst steckt immer mehr dahinter, als man sinnlich wahrnimmt. Wegen dieser Fähigkeit, Welten innerhalb von Welten anzudeuten, war die Kunst seit jeher fraktal. Die Chaosforschung trägt zu einem neuen Verständnis einer Ästhetik bei, die den sich wandelnden Kunstauffassungen verschiedener Zeiten, Kulturen und Schulen schon immer zu Grunde lag" (1993, 28).

 

Diese durch die fraktalen Formen neu entdeckten, aber faktisch altvertrauten Eigenschaften des Kunstwerks, "diese neue (und zugleich uralte) Ästhetik, die das Chaos ans Licht bringt", versucht Briggs in folgender Weise zu beschreiben (ebd., 30):

 

"Sie ist holistisch – eine Harmonie, die davon ausgeht, dass Alles von Allem beeinflusst wird. Bei mathematischen wie bei natürlichen Fraktalen wird der Holismus in der Selbstähnlichkeit sichtbar, dem Beweis eines holistischen Rückkopplungsprozesses. In der Kunst entsteht Selbstähnlichkeit, die in unendlich vielfältigen Formen vorkommen kann, nicht dadurch, dass man eine Form sklavisch in unterschiedlichen Maßstäben permutiert. Sie hat eher etwas mit der Selbstähnlichkeit zu tun, die wir entdecken, wenn wir die menschliche Hand mit dem Flügel eines Kolibris, mit der Finne eines Wals oder einem Ast an einem Baum vergleichen. Die Aufgabe des Künstlers besteht darin, diese auffällige Beziehung zwischen Formen und Qualitäten, die selbstähnlich und zugleich selbstverschieden sind, aufzuspüren und auszudrücken und so ein Kunstwerk zu schaffen, das uns eine Ahnung von der holistischen Natur unseres Universums und unseres Daseins in ihm vermittelt."

 

"Die Resultate" sind oft, meint Briggs (1993, 30), "ein fraktales Dokument seiner Wechselwirkungen mit seinen Sujets, die in der Regel selber fraktale Objekte sind wie Farne, Vulkane oder turbulente Strömungen". Die Schönheit der komplexen, verzweigten Naturstrukturen wird auf diese Weise vom Kunstfotografen eingefangen oder jedenfalls ausschnittweise modellhaft verdeutlicht. Diese neue und alte Gesamtästhetik der Naturdarstellung ist in der Tat "holistisch". Sie zeigt eine Art von Harmonie, die in der Selbstähnlichkeit etwa vielfältiger Verzweigungen und Verschlungenheiten deutlich wird, die aber auch Dissonanzen und interne Konkurrenzen enthält, wie sie in der Selektivität des biotischen Wachstumsprozesses auftreten. Schließlich kommt es auch in der Natur vor, dass eine Form nicht "sklavisch" abgebildet, abgespiegelt, sondern abgewandelt wird; sie hat eher etwas mit der Selbstähnlichkeit zu tun, die wir entdecken, die jedoch immer wieder von der exakten skalenähnlichen Reduplikation abweicht - und also nicht genau bzw. ganz voraussagbar ist. Es gibt also bestimmte natürliche Entwicklungen, Rückkopplungen, Abweichungen, die in der Tat im Ganzen wie auch im Einzelnen die selbe Grundentwicklungslogik zeigen, ohne dass jedoch ein sklavisches Abbilden oder Wiederherstellen im Sinne einer isomorphen Iteration oder Reproduktion stattfindet. Die intermittierenden Faktoren, Zufallsumstände, Umgebungsvariationen, Einflusswirkungen sind zu komplex, dynamisch und nicht linear (nicht einander additiv überlagernd).

 

Clifford Pickover hat angesichts der heutigen Möglichkeit, fraktale Strukturen auf jedem Heimcomputer zu erzeugen, gefragt, "ob es die Künstler nicht stört, dass jeder Gymnasiast heutzutage Bilder erzeugen kann, die von den meisten Menschen als schön empfunden werden, während ihnen die 'wahre Kunst' gleichgültig ist" (zit. n. ebd., 170). Die Frage stellt sich natürlich: Hat echte, große, originäre und originale Kunst im Zeitalter der nahezu beliebigen Reproduzierbarkeit von fraktalen Gebilden und Farb-Form-Komplexen noch eine Zukunft?

 

Die entsprechenden, interessanteren Teilfragen lauten: Was macht den Unterschied zwischen den fraktalen computererzeugten Gebilden und eben Gebilden, Erzeugnissen echter, im höchsten Sinne kreativer Kunst aus? Was unterscheidet eine Grafik oder eine Serie von "Bildern" am Rande der Mandelbrotmenge von den bekannten, spiralig-seepferdartigen Strukturen eines Picasso oder beispielsweise von einem Bild van Goghs oder Breughels? Briggs sagt, dass das geniale Gedicht, das große Gemälde "immer neu" sei, "immer wieder feine Überraschungen" berge und neue Tiefenperspektiven aufschließe. (Tun aber das Letztere nicht auch die Skalierungsaufschlüsse am Rande der Mandelbrotmenge?) Briggs verweist auf die Gehirnuntersuchungen von Freeman und Rapp, die zu zeigen scheinen, dass im menschlichen Gehirn ganz ähnliche Prozesse ablaufen. Nach Briggs gilt (ebd., 171 ff.) daher, dass die Darstellungsform eines zeitlosen Kunstwerks einerseits eingängig wirkt, einer Aufnahmefähigkeit des Gehirns entspricht, dass aber andererseits seine "Größe" gerade darin besteht, dass es dieser "Gewöhnungstendenz des Gehirns" immer wieder "widersteht" - indem es nämlich von dieser normalen Standardform, der Selbstähnlichkeit und der erwarteten Schichtenstruktur, mehr überraschend als systematisch abweicht. Stets scheint "ein großes Kunstwerk ... bei jeder (neuen) Begegnung im menschlichen Gehirn einen neuen, sehr seltsamen Attraktor hervorzurufen" (ebd., 174), so dass man ein solches immer wieder auf andere Weise als neu, als ein in der Rezeption variiertes und variierendes Gebilde erleben kann. Darin besteht das Besondere, die "Größe" eines großen Kunstwerks, nämlich in dieser "Mehrdeutigkeit", die einerseits zwar an "die künstlerische Selbstähnlichkeit" angegliedert ist, Ausdrucksform bzw. -instanziierung von dieser ist, oder an die auch ständig zu reproduzierende Muster- oder Strukturwiederholung, von der es, das Kunstwerk, aber doch andererseits immer wieder abweicht. So erregt und verstärkt es immer wieder in typischer Weise eine Art neuerlicher ("reflektaphorischer"16) Spannung, die auf den tieferen Ebenen bzw. bei der Weiterentwicklung oder Neubegegnung sich stets von Neuem auftut. Große Kunstwerke benutzen zwar selbstähnliche Formen und Farben, aber sie variieren diese abweichend von der jeweiligen rhythmischen Regelmäßigkeit. Sie "widerstehen" strikter Wiederholung, sind nicht strenge Abspiegelungen der selben Teilstruktur, obwohl sie sozusagen "selbstbezüglich" immer wieder auf diese Muster zurück greifen, diese "kreativ" variierend. Sie erzeugen eine immer neuartige Spannung, die anregende Mehrdeutigkeiten erzeugt, hervorruft, antönt. Eine solche neue Nuancierung ist etwa diejenige, wie sie in der abweichenden und jeweils neue Spannung erzeugenden Verwendung von Metaphern zu finden ist, die Briggs und Peat "Reflektaphern" (1993, 302) genannt haben. Es handelt sich um Metaphern oder metapherähnliche Strukturen, die eine besondere Spannung im Zusammenspiel von Ähnlichkeit und Unterschiedlichkeit, von Harmonie und Dissonanz erzeugen; und diese "reflektatorische" oder "reflektaphorische" Spannung ist dynamisch, erzeugt immer wieder eine Art von Lebendigkeit, auch beim Erfahren, Erleben, beim Wahrnehmen. Man erlebt Verblüffung, unerwartete Sichtweisen usw. Briggs meint (ebd., 174):

 

"Künstler müssen die richtige Distanz zwischen den Ausdrucksformen ihrer Reflektaphern finden, wenn sie ein Kunstwerk hervorbringen wollen – die richtige Balance zwischen Harmonie und Dissonanz, um die Spannung und die aufschlussreichen Mehrdeutigkeiten zu schaffen, die vom Kunstwerk ausgehen können. Diese richtige Balance überrumpelt die Denkprozesse und verhindert den Gewöhnungsprozess. Denn sie zwingt unseren Verstand dazu, die Worte oder Formen oder Tonfolgen so wahrzunehmen, als sei es das erste Mal, und zwar jedes Mal aufs Neue, gleichgültig, wie oft wir sie zuvor schon wahrgenommen hatten."

 

Man könnte natürlich hier davon sprechen, dass es nicht nur um eine Balance auf gleicher Ebene geht, sondern auch um eine kontrastreiche Beziehung zwischen unterschiedlichen Schichten und Meta-Ebenen von Spannungsformen derart, dass Harmonie und Dissonanz auf unterschiedlichen Ebenen und natürlich auch die entsprechende Ebenen übergreifenden Gesichtspunkte eine Rolle spielen. Man könnte daher neben der Balance auf der selben Ebene aufsteigend und erweiternd von Metabalancierungsprozessen sprechen, wie wir eingangs von Metainterpretationen oder interpretativen Schichtenüberschreitungen gesprochen haben, die nur jetzt auf das reflektaphorische Spannungsspiel zwischen unterschiedlichen Funktionen des großen Kunstwerkes anzuwenden sind.

 

Dazu noch einmal Briggs (ebd., 174):

"Die reflektaphorische Harmonie finden die Künstler, indem sie die Distanz zwischen den selbstähnlichen Bedingungen zunächst in ihrem eigenen Verstand erproben. Ein Dichter, der ein Gedicht überarbeitet, liest es möglicherweise mehrere hundert Male durch. Wirkt die Metapher noch immer leicht überraschend, wenn man sie so oft gelesen hat? Trifft dies zu, so handelt es sich um eine Reflektapher: eine Nebeneinanderstellung von Ausdrucksformen, die sowohl selbstähnlich als auch verschiedenartig sind und deshalb eine Öffnung des Verstandes bewirken." (Hervorhebung hinzugefügt, H. L.)

 

"Die einzelnen Teile gleichen sich zu sehr oder unterscheiden sich in einigen Fällen zu sehr voneinander, um jenes von Mehrdeutigkeiten erfüllte reflektaphorische Gewebe zu erzeugen, das ein großes Kunstwerk kennzeichnet. Kunst ist viel mehr als ein bloßes Austauschen ähnlicher Formen. Sie ist kreativ auf eine der Kreativität der Natur entsprechenden Weise: Jede Form, jede Geste in einem Kunstwerk besitzt Autonomie und wird doch zugleich in ihrer Selbstähnlichkeit in eine Interaktion mit anderen Formen und Gesten des Werkes einbezogen. So entsteht ein Umfeld, das uns ständig zu der Erkenntnis zwingt, dass das Werk lebendig und dynamisch ist..."

 

Die Abweichung von der fraktalen Schichtenselbstähnlichkeit, wie sie sich in den üblichen "schönen" Fraktalstrukturen der Computergrafik bei Iterationen darstellt, beispielsweise bei den Bildern aus den Rändern der Mandelbrotmenge, zeigt also im Grunde so etwas wie eine ewige Wiederholung, welche die hervorgehobene reflektaphorische Spannung auf Dauer eben doch nicht tragen kann. Deswegen muss der Künstler eine Möglichkeit finden, Harmonie und Dissonanz aufrecht zu erhalten, die seltsamen Attraktoren in seinen Gebilden und auch in seinem eigenen Gehirn und in den Gehirnen der Zuhörer so zum Klingen und zum Einschwingen zu bringen, dass sie "der Gewöhnung widerstehen" (ebd., 176). "Es wäre ein Widerspruch in sich", genauer: eine contradictio in adiecto, "zu glauben", meint Briggs (ebd.), "dass ein mechanischer, wenn auch nicht nicht voraussagbarer Algorithmus diese außerordentlich komplizierte Aufgabe bewältigen könnte". Wenn man – wie beispielsweise zwei Schweizer Wissenschaftler das versucht haben –  "mathematische Extrakte" der Fugen von Johann Sebastian Bach in fraktaler Abwandlung wiederholte, dann würde letztlich "eine zwar interessante, aber doch leblose Bach-Imitation entstehen" – und keineswegs "Bach-ähnliche Musik von vergleichbarer Qualität", wie die Kombinatorik-Komponisten behaupteten. Kurz und gut: Kreativität in ihrem eigentlichen Sinne ist nicht nur ein mechanischer Prozess, nicht bloß Anwendung eines Algorithmus, wie etwa Roger Schank (1988) meinte.

Künstler, so Briggs, "sind vor allem deshalb Künstler, weil sie die Fähigkeit besitzen, Reflektaphern hervorzubringen, die ihre Sichtweise einfangen" – die eben diese Art von Spannung erzeugen und auf Dauer aufrecht erhalten können: "Jedes große Kunstwerk ist eine Art von Mikrokosmos", der sozusagen das Universum spiegelt, das größere Ganze aber nicht in einer exakten Abbildung isomorph wiedergibt, sondern eben in einer gewissen Grenzübertretung, und zwar nicht ganz systematisch-formal die Beziehung zwischen Ordnung und chaotischen Phänomenen reflektieren muss, in bestimmtem Sinne also die geheimnisvolle Struktur, "das mysteriöse Chaos und die Ordnung des Lebens, der Naturprozesse und Lebensphänomene" nichtidentisch wiedergibt, variierend reflektiert. Vielleicht könnte man besser sagen: "reflektaphiert" statt "reflektiert", weil es ja nicht nur um bloße Reflektion im traditionellen Sinne geht, jedenfalls nicht im Sinne der Abspiegelung, Widerspiegelung. Eine solche Beinahe-Widerspiegelung ist keine Wiederspiegelung! "Die Selbstähnlichkeit der Reflektaphern ist viel reicher als die Selbstähnlichkeit mathematischer Fraktale; sie ermöglicht es jedem Künstler jeder Generation und jeder Kultur, einen einzigartigen Ansatz zu entwickeln" (Briggs 1993, 177).

 

 

IV. Kreataphern

 

In seinem Buch über eine kognitive Theorie der Metapher (A Cognitive Theory of Metaphor, 1985) hat Earl MacCormac manche umfassenden Überdehnungen der Sprachmetaphorik kritisiert, aber zugleich eine Ausdehnung metaphorischer Prozesse und Operationen auf das vorsprachliche Vorstellen und Denken durchgeführt, die von besonderer Bedeutung für das Verständnis kreativer Aktivitäten und Prozesse ist. Er behauptet, dass die Bildung und Verwendung von Metaphern als Prozess aufgefasst werden muss, der keineswegs nur auf der sprachlichen Ebene abläuft, sondern auf drei wechselseitig aufeinander bezogenen Ebenen: MacCormac unterscheidet Metaphern 1) als "Sprachprozess", 2) als "semantischen und syntaktischen Prozess" (im Sinne einer linguistischen oder sprachwissenschaftlichen Erklärung) und besonders 3) als einen "kognitiven Prozess, der in einen größeren Vorgang der Wissensentwicklung eingebettet ist" (1985, 42). Metaphernbildung wird also "nicht nur als ein semantischer Prozess erklärt, sondern als ein zu Grunde liegender kognitiver Prozess, ohne den neues Wissen nicht möglich wäre" (ebd.).

 

Er bringt Beispiele wie die Metapher des berühmten Gehirnphysiologen Charles Sherrington: "The brain is an enchanted loom where millions of flashing shuttles weave a dissolving pattern" ("Das Gehirn ist ein verzauberter Webstuhl, auf dem Millionen hin und her huschender Webschiffchen ein sich auflösendes Muster weben").

 

Die Funktion der Metaphern besteht nun darin, dass sie eine Spannung zwischen den beiden Beziehungsgliedern, den "Referenten" der Metapher, erzeugen, also diaphorische Qualität aufzeigen, die zu einer neuen Vorstellung, zu einer überraschenden Gegenüberstellung, jedenfalls zu einer Spannung in Bezug auf das gewohnte Schema bzw. die Erwartung führt und unter Umständen emotionale Unruhe erzeugt (Läusebeispiel). Diese Spannung entstehe eher aus "einer scheinbaren semantischen Anomalität ... als aus rein emotionalem Unbehagen": "Die psychologische Spannung entspringt einer semantischen Spannung" (MacCormac 1988, 85).

 

MacCormac erklärt das Wechselspiel zwischen der epiphorischen und der diaphorischen Qualität des Beispiels von Sherrington wie folgt:

"Hier haben wir eine Identifizierung des Gehirns mit einem verzauberten Webstuhl, doch bis wir den Webstuhl in Tätigkeit setzen, die Schiffchen, die ein sich auflösendes Muster weben, verstehen wir die Metapher nicht in ihrer ganzen Stärke. Die Identifizierung des 'Hirns' mit einem 'verzauberten Webstuhl' erschüttert unser semantisches Empfinden und schafft eine semantische Spannung, aber das Bild der huschenden Schiffchen, die ein sich auflösendes Muster weben, erzeugt weitere Spannung und Einsicht sowohl durch die Klärung der Semantik von 'verzauberter Webstuhl' als auch durch die verbale Aktion des 'Musterwebens'. Wie kann man auf einem Webstuhl ein Muster weben, das verschwindet? Man könnte einwenden, dass die Phase, die das Weben umfasst, lediglich den Bedeutungsrahmen einer Nomenmetapher klärt, die 'Hirn' durch die Kopula 'ist' mit einem 'verzauberten Webstuhl' identifiziert ... Wie in der normalen Sprache stehen Syntax und Semantik vieler Metaphern in enger Beziehung zueinander ..., erfordern viele ... Metaphern ein Verständnis ihrer syntaktischen sowie auch ihrer semantischen Bedeutung, damit sie verständlich werden. Über den Versuch, die semantische mit der syntaktischen Bedeutung der Metaphern in Beziehung zu setzen, lässt  sich kaum mehr sagen als über das ungelöste Problem, beides in zwei gegenwärtigen linguistischen Theorien wie der generativen Transformationsgrammatik und der generativen Semantik miteinander zu verbinden. Man darf jedoch nicht annehmen, dass eine Erklärung der semantischen Veränderung in den Referenten einer Metapher ausreichen wird, um die gesamte Bedeutung aller Metaphern zu erklären" (1988, 91 f.).

 

Verbreitet sich eine Metapher in der Sprachgemeinschaft, werden die Sprecher und Hörer immer vertrauter mit ihr, so verliert sie allmählich ihre semantische als auch ihre psychologische Spannung, kann beispielsweise zu einer neuen (Standard-) Bedeutungsvariante im Lexikon führen. So beginnen nach MacCormac "viele Metaphern... ihr literarisches Leben weitgehend diaphorisch (obwohl sie immer auch eine epiphorische Qualität besitzen), werden dann weitgehend epiphorisch – indem sie eher eine Analogie ausdrücken als eine mögliche Bedeutung suggerieren – und treten schließlich als tote Metaphern in den Korpus der normalen Sprache ein. Metaphern sterben, wenn mindestens einer ihrer Referenten einem Wörterbucheintrag eine neue lexikalische Bedeutung hinzu fügt" (MacCormac 1988, 86; 1971, 239 ff.; 1985, 56 ff. u. a.).

 

MacCormacs Behauptung läuft darauf hinaus, dass Metaphern als Grundlage für die begrifflichen semantischen Anomalien durch die überraschende, mehr oder minder bewusste Gegenüberstellung der Beziehungsglieder (Referenten) erzeugt werden und dass "besonders die Identifizierung der Unähnlichkeiten die Möglichkeit der Umgestaltung (Transformation) dieser Unähnlichkeiten in Ähnlichkeiten gestattet, an die man zuvor nicht gedacht hat, wobei die Schaffung einer neuen Bedeutung etabliert wird" (ebd. 50). Kreativität liegt in der Auswahl geeigneter Referenten, die genug Ähnlichkeit für das Wiedererkennen, sowie ausreichende und die richtige Art von Unähnlichkeit produzieren, um eine (neue, H.L.) hypothetische Möglichkeit zu erzeugen" (ebd., 148). Das gilt sowohl für die Erzeugung neuer Metaphern und Perspektiven in allen kreativen Bereichen der Assoziation und Vorstellung, wie auch für das Bilden neuer wissenschaftlicher Grundideen. MacCormac bezieht sich auf Stephen Peppers bereits früher (1942) entwickelte Theorie der "root metaphors", der "Wurzelmetaphern", die neuen Philosophien, Weltsichten und Theorien zu Grunde liegen sollen – wie z. B. die pythagoreische Überzeugung, dass die Welt letztlich mathematisch sei. Ohne solche von MacCormac "Grundmetaphern" ("basic metaphors") genannten Vorstellungsverbindungen, die in der Tat Koestlers Bisoziationsmodell entsprechen, seien z. B. grundlegende wissenschaftliche Theorien, neue Sichtweisen in der Wissenschaft nicht möglich (ebd., 47 ff., 51 u. a.).17

Das Entscheidende ist, dass ohne Metaphern weder die kreative Bildung neuer wissenschaftlicher noch sonstiger Hypothesen und Vergleiche möglich wäre, dass semantische Veränderungen in der Sprache drastisch begrenzt wären, dass man "ohne irgend einen Rückgriff auf die Metapher, das absichtliche begriffliche Bilden von semantischen Anomalien", kaum "über das Unbekannte in Abhängigkeit vom Bekannten" (ebd., 51) spekulieren könnte und erkennend oder erfassend in den Bereich des Unbekannten ausgreifen könnte:

"Metaphern erfüllen die kognitive Funktion der Kreation neuer Bedeutungen, durch die Gegenüberstellung ihrer Referenten in der Sprache. Ohne sie würde die Menschheit nur sehr schwer ihr Wissen ins Unbekannte ausdehnen können, und die Sprache bliebe größtenteils statisch. Die Diaphora bietet die Möglichkeit, ein vertrautes Beziehungsglied zu nehmen und es zu verändern, indem es einem Referenten oder Beziehungsgliedern gegenüber gestellt wird, der oder die normalerweise nicht mit dem vertrauten Referenten assoziiert werden. Die Kombination der Referenten, welche nun die semantische Anomalie produziert, zwingt den Hörer oder Leser einer Metapher dazu, die Ähnlichkeiten zwischen den Eigenschaften der Referenten wie auch die Unähnlichkeiten festzustellen. Nicht nur das Erkennen von zuvor nicht gesehenen Ähnlichkeiten erzeugt neue Einsichten oder neue Bedeutungen, sondern besonders die Feststellung von Unähnlichkeiten erlaubt die Möglichkeit der Transformation dieser Unähnlichkeiten in zuvor nicht bedachte Ähnlichkeiten, wodurch die Schaffung einer neuen Bedeutung etabliert wird" (ebd., 50).

 

Hoch kreative Menschen scheinen charakteristischerweise häufig Metaphern der Sprache und vor allem der Vorstellungen zu erzeugen, die auf kreative Tiefenprozesse zurückweisen.

 

Der "Prozess der Metaphernbildung" ist also ein Vorgang neuer "kognitiver Assoziationen":

 

"Mentale Konzepte, die normalerweise nicht miteinander verknüpft werden, werden zusammen gestellt und auf ihre Bedeutung hin geprüft. Die kreativsten Formulierer von Metaphern dehnen die Vorstellungskraft am stärksten, indem sie die ungewöhnlichsten Kombinationen verwenden". "Der Erfinder einer Metapher ist gewöhnlich darum bemüht, eine neue Einsicht über die Welt oder seine Erfahrungen auszudrücken". Dem gemäß gilt für MacCormac: "Die semantische und syntaktische Bedeutung einer Metapher kann nicht nur in einer grammatischen Tiefenstruktur entdeckt werden, sondern gleichermaßen in einem tiefen konzeptuellen Prozess, der zwischen den kreativen und originellen Erfindungen des Geistes eines einzelnen Dichters oder Wissenschaftlers und den etablierten, festgelegten kuturellen Formen wie den Mythen vermittelt.“ (1988, 92) Darin sowie in der Erkenntnis und der rechten Proportionierung von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit besteht die Kreativität einer neuen Erkenntnis- oder Auffassungsweise durch eine Metapher. "Zwar scheint keine einzelne Regel den kreativen Prozess der Metaphernbildung zu beherrschen", irgendwie scheint es "ein geheimnisvolles Mysterium zu bleiben". "Wie diese lebendigen Verknüpfungen von Konzepten in Worten ausgedrückt werden, bleibt ein Geheimnis." (1988, 92f.)

 

Dies gilt natürlich nicht nur für den Drang des Sprachkreativen, des Dichters zur Erfassung neuer Synthesen, sondern auch für alle anderen kreativen Bereiche, für Vorstellungs- oder Konzeptverbindungen, für die Weiterentwicklung von Stilarten, Perspektiven, Erlebnisweisen usw. in Weltauffassung, Philosophie, technischen Erfindungen und wissenschaftlichen Entdeckungen, mentalen Bildern, Vorstellungen, besonders aber natürlich in der bildenden Kunst.

 

Alle kreativen Bereiche und Prozesse der oben erwähnten Bisoziationen (Koestler) und Multiassoziationen, der Entwicklung neuer Sichtweisen auch auf höheren Schichten, also der kreativen Aufstiege (nicht nur der Transpositionen auf der gleichen Ebene) entsprechen diesem Muster. Dabei können nach Brenda Beck (1978) (zit. n. MacCormac ebd., 93; 1985, 151 f.) solche Metaphern besonders aus dem Zusammenspiel unterschiedlicher Sinnesarten (also aus Synästhesie) entspringen, aber auch aus bildlichen Vorstellungen, wie Kosslyn, der berühmte imaginistische Psychologe, meint (1980).18

 

Generell scheint die Idee, dass metaphorische Prozesse die Grundlage kreativer Prozesse bilden, und dass die Konzeption des Metaphorischen nicht nur auf die äußere Sprache bzw. die bloße syntaktisch-grammatische Gestalt beschränkt werden kann, zu greifen: Selbst wenn man nicht schlechthin Metaphern im engeren Sinne mit diesen kreativen Prozessen der multiassoziativen und tiefenpsychischen Prozesse identifizieren will, sondern z. B. einen neuen Ausdruck hierfür einführt – etwa Kreataphern – , ist die Auffassung kreativer kognitiver wie auch Vergleiche schaffender Aktivitäten im Sinne der Verbindung gewöhnlich unassoziierter Begriffe durch Gegenüberstellung und Feststellung synthetisierender bzw. Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten feststellender Vergleichszüge, Eigenschaften, Erfahrungsweisen usw. offensichtlich notwendig zur dynamischen Entwicklung neuer Perspektiven in der kreativen Aktivität und Erkenntnis jeglicher Art. Statt des "metaphorischen Bewusstseins" des Jonathan Cohen könnte man spezifischer für kreative Menschen und Einstellungen geradezu von einem "kreataphorischen Bewusstsein" sprechen, einem Bewusstsein und einer lebendig-dynamischen Tendenz, stets neue spannungserzeugende Metaphern (Reflektaphern also, nach Briggs / Peat 1993) als Vehikel des Kreativen zu verwenden und zu sehen: Die ins Neue weiterführenden kreativen Metaphern sind kreative Reflektaphern und als solche eben Kreataphern, wie ich sagen möchte (s.u.).

 

Es wäre natürlich eine interessante Aufgabe, die mentalen und psychischen Funktionen der Kreataphern, der kreativen Metaphern und Reflektaphern bei kreativer Tätigkeit – sei es des Künstlers oder Dichters, sei es des Wissenschaftlers, sei es des kreativen philosophischen Denkers – zu erkunden. Hierzu gibt es bislang nur wenige Pionierstudien.

 

Insgesamt dürfte deutlich geworden sein, dass die Entwicklung und Verwendung kreativer Metaphern in der Tat ein erklärendes, zumindest plausibel metaphorisch illustrierendes Licht auf die Entstehung und den Ablauf kreativer Prozesse bzw. auf die Auffassungsweisen kreativer Personen, seien sie Denker oder Künstler, werfen kann. Daher erscheint mir in der Tat MacCormacs Ausdehnung der ursprünglich eigentlich nur sprachlich verstandenen Metapherntheorie auf eine allgemeinere Kreativitätstheorie des metaphorischen Vorstellens und Denkens richtig zu sein. Sie müsste auch auf das kreative Handeln ausgedehnt werden. Man sollte und könnte sie aber terminologisch von den enger linguistischen Konnotationen abtrennen, indem man etwa den Ausdruck "Metapher im engeren Sinne" im sprachlichen Bereich belässt  und in der allgemeineren Konzeption einer Theorie der kreativen Prozesse - und zwar nicht nur der kognitiven, sondern auch der handelnden, schaffenden: poietischen im weiteren Sinne - etwa von Kreataphern, d. h. dynamischen, weiter führenden kreativen Reflektaphern der Vorstellungen bzw. der Einbildungskraft im Sinne Kants, spricht.

 

Kreativspiele, im Sinne des creare, des Kreierens, Etwas-Neues-Schaffens (nicht nur des Erkennens), sind nicht in Callois' Aufstellung der Spielarten (1958, dt. 1982) zu finden. Gerade das eigentlich Kreative, auch übrigens die Kreativspiele der Einbildungskraft à la Kant, ist hier nicht zu finden. Die Kreativspiele19 müssten also mit einem anderen Merkmal charakterisiert werden: "creativitas" ist allerdings kein klassischer Ausdruck im Lateinischen, sondern höchstens ein neuklassischer. "Creans", das Kreierende, könnte man anführen – und das ist natürlich zu unterscheiden von dem, was geschaffen ist, dem creatum (Whitehead).

 

Das Spiel ist offensichtlich ein sehr umfassendes Phänomen im menschlichen Leben. Häufig wird die Idee auch so verallgemeinert, dass das Spiel fast zum umfassendsten Phänomen überhaupt wird. Das gilt z. T. selbst für Naturwissenschaftler: so haben etwa Manfred Eigen und Ruthild Winkler in ihrem Buch Das Spiel (1975, 17) geschrieben: "Das Spiel ist ein Naturphänomen, das von Anbeginn den Lauf der Welt gelenkt hat: die Gestaltung der Materie, ihre Organisation zu lebenden Strukturen wie auch das soziale Verhalten der Menschen" (i. O. kursiv).

Eigen und Winkler meinen: "Zufall und Regel sind die Elemente des Spiels"; und es sei "nicht der Mensch, der das Spiel erfand", wohl aber war er es, der "das Spiel, nur das Spiel" betreibe, um zum "vollständigen Menschen" zu werden. (Hier zitieren sie Schiller.) Wenn man das Erste behauptet, dann ist natürlich der Spielbegriff schon sehr weitgehend verallgemeinert worden; es sind dann gar nicht zwei oder mehrere Spieler, die gegeneinander spielen, sondern es handelt sich um ein prozessuales regelmäßiges, ja, unter Umständen durchaus im ebenfalls erweiterten Sinne, kreatives Sich-Entwickeln von Elementen in einem strukturierten Gesamtprozess oder in einem komplexen Prozesszusammenhang. Und das geht natürlich weit über das Spielen im üblichen Sinne hinaus. Selbst Huizinga, der die berühmte Monographie Homo ludens (dt. 1956) geschrieben hat und die Kultur als Tochter, als Abkömmling des Spiels ansah, und das Spielerische als das Grundlegende, bezog das Spiel natürlich nicht auf Naturkreationen und auf die Prozesse der Selbstorganisation in der Natur. Eigen und Winkler (1975, 88) aber meinen, dass alle Gestaltbildung in der Natur, in der anorganischen wie auch in der lebenden, organischen Natur, im Grunde diesem Spielprinzip folgt, wobei "Gestalt" "auf Ordnung in Raum und Zeit" beruhe. Sie unterscheiden im Wesentlichen zwei Formen (ebd., 116, 89 ff., 110 ff.): nämlich erstens die konservative Form der Morphogenese oder das konservative energie- und kräfteerhaltende sowie durch Gleichheit der Kräfte und Nicht-Energieverbrauch nach außen charakterisierte Prinzip der Gestaltbildung – und zweitens, mit Prigogine, das dissipative Prinzip, bei dem immer Energie zugeführt werden muss, damit eine dynamische Ordnung entsteht. Diese Prinzipien sind unterschiedlich; doch insbesondere für lebendige Strukturen oder für Kreatives im engeren Sinne stehen die dissipativen Formen der Gestaltbildung im Vordergrund. Hier gibt es eine Art von Abstammung, eine Art von Übersummenhaftigkeit und Übertragbarkeit ("Transponierbarkeit") – das sind ja die Prinzipien der Gestaltpsychologen in Bezug auf Gestaltkriterien –, die eine entscheidende Rolle spielen und vermittelt werden durch einen Energiefluss bzw. Stoffwechsel, der überhaupt erst diese dynamischen, relativ stabilisierten Ordnungszustände, wie sie für das Lebendige charakteristisch sind, ermöglicht. Auch die dissipativen Strukturen, insbesondere am Lebendigen, "resultieren" – sagen Eigen und Winkler (ebd., 118) – "in Form räumlicher Muster – ähnlich wie stehende Wellen – aus der Überlagerung von Materietransport und synchronisierter, periodischer Umwandlung und sind als solche nicht in additiver Weise aus den Unterstrukturen zusammensetzbar"; sie sind "übersummenhaft", also nicht mehr linear. Gestaltbildung erfordert die "Kooperativität" der Entwicklung verschiedener Komponenten und ihrer "statistischen bzw. dynamischen Wechselwirkungen" und meistens, insbesondere natürlich im dissipativem Modell, auch autokatalytische Faktoren, die den Prozess in Gang halten, verstärken und in gewisser Weise überhaupt erst ermöglichen. Es gibt eine Reihe von weiteren strukturellen Gemeinsamkeiten mit der konservativen Gestaltbildung, etwa beim Anorganischen und eben beim Dissipativen, aber auch die Unterschiede werden hervorgehoben. Diese sind hier nur kurz zu nennen: In einem dissipativen Modell "entwickelt sich ein stationäres Muster, ohne dass die Materieteilchen reproduzierbar im Raum fixiert sind". "Die dissipative Form ist im Gegensatz zum konservativen Modell nicht allein durch die zwischen den materiellen Trägern wirksamen Wechselwirkungen bestimmt, sondern wird entscheidend von Randbedingungen, Begrenzungen des Systems beeinflusst", steht stets in Wechselwirkungen mit bzw. ist von anderen Umgebungssystemen abhängig usw. Dann das Entscheidende: eine ständige Zufuhr von Energie ist nötig, die die Energieverluste durch "die ständige Dissipation von Energie" ausgleicht, welche zur Aufrechterhaltung des Stoffwechsels des Systems, seines "Metabolismus", und auch der relativ stabilisierten Formen der Gestalten notwendig sind.  – Zwar "verfügen" "konservative Strukturen ... über einen höheren Grad an 'absoluter' (das heißt von Nebenbedingungen unabhängiger) Stabilität, Reversibilität und Superponierbarkeit", also Überlagerbarkeit, aber "dissipative Muster können wegen ihrer Abhängigkeit von den Nebenbedingungen nicht unbeschränkt kombiniert bzw. einander überlagert werden" (ebd., 119). Mit anderen Worten: es ist also ein Muster, das geordnete, lebendige Strukturen in ihrer Entwicklungs- und Erhaltungsdynamik und in der relativen Stabilisierung ihrer Formen als eine Art von Spiel zu erfassen sucht, insbesondere auch im zeitlichen Ablauf, z. B. in der Generationen- und Artenbildung, deren Abwechslung und Veränderung usw. Es ist eine Art von natürlichem "Spiel" mit einfachen Grundelementen, die dann unter bestimmten Gesichtspunkten selektiert werden, im Darwinismus, aber nach Eigen auch schon auf der elementaren molekularen und prämolekularen Ebene. Symmetrie spielt dabei stets eine große Rolle; diese ist allerdings auch erst ein nachträgliches Produkt der Selektion und keineswegs von dieser vorausgesetzt. Das Gleiche gilt freilich (ebd., 151) für "viele symmetrische Strukturen in der Biologie", die "ihren Vorteil effizienter zur Bildung zur Geltung bringen konnten", weil sie sozusagen als symmetrische "die Selektionskonkurrenz gewannen" oder Symmetrie ausbildeten. Die Funktionalität ist also das Entscheidende und nicht die zu Grunde gelegte Symmetrie. Diese These gilt sicherlich nicht gleichermaßen für die rein physikalische Grundlage der Weltformierung. Bei den Elementarteilchen dürfte sich die Sachlage anders darstellen.

Von Eigen und Winkler wird also eine Idee eingebracht, die das "Spiel" in einem sehr erweiterten Sinne als das Grundprinzip der Kreation von lebendigen Formen ansieht - fast in dem Goethischen Sinne: "geprägte Form, die lebend sich entwickelt": spielerische Kreationen als Produkte des Selektionsprinzips auf einer sehr verallgemeinerten Stufe.

 

Meines Erachtens muss man hier aber differenzierte Unterscheidungen vornehmen. Das Spiel zwischen unmittelbaren, bewussten menschlichen oder auch höheren tierischen Partnern ist etwas Anderes als dieses "Spiel" der Elemente in einem dissipativen, dynamischen System. Entsprechend steht es mit der Kreation als Selektion – und auch mit dem Begriff der Kreativität. Darauf komme ich noch zu sprechen. Beim Darwinismus, bei der Darwinschen Selektion handelt es sich ja um eine Reproduktion und bei den Arten, wie Darwin sagte, um "descent with modification by natural selection", also um Abstammung mit Abänderung durch natürliche "Zuchtwahl" oder Auswahl, eben um Selektion im spezifisch naturbiologischen Sinne. Dabei tritt die Variation oder Modifikation jeweils zufällig ein – man kann wohl kaum wirklich sagen, dass sie vom Zufall "gesteuert" wird; und deswegen könnte man hier auch eher von "Zufallsselektion", von "random modification" o. ä. sprechen. Dem gegenüber steht aber dann eine intentional-produktive strategische Kreation, die beispielsweise dem üblichen Begriff der "Kreativität" viel eher entspricht. Dabei findet nicht eine "selection with random modification" statt, sondern eine "election with strategic modification", also eine Auswahl unter strategisch geplanten, intentionalen Variationen. Und diese Variantenerzeugung ist natürlich viel eher charakteristisch für die künstlerische Kreativität. Deswegen sollte man meiner Ansicht nach idealtypisch zwischen der Zufallskreativität im darwinistischen Sinne und einer Designer- oder Designkreativität unter diesen strategiegeleiteten Gesichtspunkten unterscheiden. Ich denke, es ist recht wichtig, die beiden Formen auseinander zu halten.

 

Kreataphern schaffen

 

Auch philosophisches Re-flektieren ist stets auf neue Sichtweisen angewiesen, ist in diesem Sinne kreativ. Philosophieren ist nicht nur Widerspiegeln (im Sinne eines passiven Reflektierens), nicht nur Wiedergeben oder Abbilden von Vorgegebenem, sondern Philosophieren ist interpretierend, Perspektiven wandelnd aktiv, neue Sichtweisen und Grenz- wie Schichtenüberschreitungen schaffend. Wirkliches Philosophieren ist kreativ, kreatives schichten- und grenzenübersteigendes Interpretieren und begriffliches Entwerfen. Philosophieren als transzendierendes Interpretieren sollte kreativ sein.

 

Philosophieren ist also in der Tat kreatives transzendierendes Interpretieren, Transinterpretieren und Metainterpretieren. Ähnlich wie in anderen kreativen Bereichen und bei anderen kreativen Wagnissen ist auch der Philosophierende auf kreative Entwürfe, auf kreative Aktivität und kreative Akte angewiesen.

 

Wir sollten generell die Anregung von Weiss aufnehmen und nach einem charakteristischen "einzigartigen" kreativen Impuls, der sich in jeglicher kreativen Aktivität verkörpert (Weiss 1992, 634) suchen – weit über die traditionell üblichen Bereiche des kreativen Schaffens (wie die Künste) hinaus. Der kreative Grundimpuls kann natürlich nur als Interpretationskonstrukt (Verf. 1993, 1995, 2000) erfasst und wohl nicht als ontologische Wirkentität an sich beschrieben werden. Es gilt, eine kreative Philosophie der Kreativität selbst zu entwickeln, die modernen methodologischen Gesichtspunkten Rechnung trägt, wie z. B. jenem von der konstruktiv-interpretatorischen Verfassung aller Erkenntnisse und Handlungsstrukturierungen, also aller "Erfassungen" (vgl. Verf. 1993, 1993a, 1995, 2000a).

 

Als Anregungs- und Ausgangspunkt kann man die darwinistische Evolutionsmetapher nehmen und diese mit Schichtenüberschreitungen und symbolischen Metainterpretationen verbinden. Es gibt offensichtlich eine Strukturierungstendenz im Universum, wo sich Selbstorganisationsprozesse zu bestimmten Systemen mit emergenten Eigenschaften zusammen finden, welche die Grundlage aller Struktur- und Formenbildungen sind, die auf Prozessen der Interaktionen und Entwicklungen, sowie Zufallsbegegnungen und Einsprengseln beruhen. So weit kann Whiteheads Grundmuster – in darwinistischer Perspektive gesehen – durchaus aufrechterhalten werden, ohne dass hierfür bereits Kreativität in Anspruch genommen werden muss. Kreativität würde erst dann – so der terminologische Vorschlag – gegeben sein, wenn nicht nur eine gewisse zielgerichtete Aktivität von einem Kreator aufgenommen und durchgeführt wird, sondern wenn eben auch grundsätzlich Neues, eventuell nicht final Angestrebtes, im Sinne der prospektiven Exzellenzfaktoren und vor allem des Originalitätsprinzips Wirkendes (wie bei Weiss impliziert), involviert ist. Insofern ist Kreativität in der Tat eine Sache der creative ventures (kreativer Wagnisse). Es ist aber hinzu zu fügen, dass es nicht nur um das Ausleben eines Kreativitätsimpulses, eines Schaffensdranges in Werken geht, sondern dass auch begriffliche Entwicklungen wie Theorien, neue Perspektiven, Ansätze und – last but not least – philosophische Entwürfe kreativ sein können. Kreativität ist eben auch möglich und besonders wichtig im Überschreiten von Grenzen und Schichten der Perspektive. Das Kreative der Philosophie besteht im transzendierenden Metainterpretieren, wie oben vielfach betont wurde. Gerade das Schichtenüberschreiten ist nur durch Symbolisierung und Metaphernbildung bzw. -abwandlung möglich. Die ebenfalls behandelten Kreataphern als spannungserhaltende, stets weiter anregende Metaphern sind Kreativitätszentren der kreativen Prozesse und Akte. Kreativität ist dabei nicht nur durch Neuigkeit, eventuell (aber nicht immer) Zielorientierung, (prospektives) Exzellieren und Originalität gekennzeichnet, sondern auch durch eine ständige exploratorische Aktivität des Dynamisch-Neugierigseins. (Und dies gilt besonders auch für kreative Philosophen, die ständig weiter denken, stets neue und mehr Probleme sehen und finden, als sie je lösen können, tiefere Fragen und Perspektiven eröffnen und zu höheren Interpretationsschichten bzw. Verallgemeinerungen aufsteigen.)

 

Der Mensch als das metainterpretierende, ständig symbolisch transzendierende Wesen ist das kreative Wesen par excellence. Menschliche Kreativität ist per se semper creans. Ausdrücke wie 'kreative Wagnisse' und 'kreative Aufstiege' zeigen dies.

 

Unter dieser generellen Deutung darf man natürlich die spezifische Förderung hoher Kreativität nicht vernachlässigen. Im Gegenteil: es gilt, gerade dem Kreativseinkönnen in unserer zu sehr von Institutionen und Vorschriften gegängelten und formierten Zeit eine Gasse zu bahnen, nein, Felder, Entwicklungsbereiche und Spielräume zu eröffnen und zu erhalten: Homo semper interpretans, ludens, creans.

 

Wenn Neuigkeiten allgemeine Mode werden, überall übernommen werden, dann sind sie als kreative Spiele bzw. Prozessanregungen schon quasi "tot" oder jedenfalls nicht mehr im eigentlichen, Neues und Neuartigkeit kreierenden Sinne fruchtbar. Die Kreativität ist im Prozess, und sie wird notorisch dadurch getötet oder zumindest vermindert, dass Verfestigungen der entsprechenden Gestaltungen eintreten, die dann zu Fixierungen führen. Kreativität ist darauf angewiesen, ständig über alle Versteinerungen und Verstarrungen, über alle Fixierungen und Gestaltverfestigungen immer wieder hinaus zu drängen. Das "Wie" und das "Weiter" scheint an ihr eigentlich auch das besonders Interessante zu sein.

 

Dieses Weiterdrängen ist freilich etwas, was sowohl der Zufalls-Naturkreativität im darwinistischen Sinne als auch der künstlerischen Designerkreativität zukommt. Die "kreative" Entwicklung in der Natur im weiteren Sinne ist vielfältig, differenziert sich scheinbar bis ins Unendliche, ist jedenfalls "unglaublich". Entsprechendes gilt, so vermuten wir, für die Unerschöpfbarkeit bei der Kunstkreativität – zumal bei "großer Kunst". Es scheint ein oberstes Charakteristikum der Kreativität zu sein, dass sie immer über alle Verfestigungen und Fixierungen hinaus drängt. Das Kreative verlangt das ständige Kreieren, greift stets über sich – über den Status quo – hinweg. Das ist das Prinzip der kreativen Eigenaktivität: der ständige Drang zum weiteren Schöpferischsein, über alle Fixierungen hinaus. Das gilt für die Diversifizierung selektiver Art in der Natur, wenn man an die Evolution der Arten denkt, aber auch an die Ausgestaltung von Ökosystemen, an die Vielfalt und die exklusive Tendenz des Lebens, alle Öko-Nischen zu besetzen. Und das gilt ebenso für das Fortschreiten der durchaus strategisch ausprobierenden und unter dem Gesichtspunkt von Gewichtungen und Wertungen operierenden Kreativität in der Kunst oder in anderen kreativen Bereichen wie z. B. der Wissenschaft.

 

Hierin ist auch eine gewisse Plausibilität dieser These von Cramer und Kaempfer zu finden, dass die Prozessualität der schönen Kunstform und der schönen Naturform "gleich" seien – obwohl die eine, wie wir sahen, der Zufallskreativität, die andere der Designerkreativität zuzuordnen ist: Kunstform wie Naturform würden, meinen die beiden Autoren (ebd., 387 ff.), in dem entsprechenden jeweiligen Augenblick der Entscheidung, beim Übergang von Ordnung ins Chaos oder umgekehrt, ins Auge springen. Der "Bifurkationspunkt" im chaostheoretischen Sinne ist der Augenblick, in dem "die Prozessualität der Schönen Kunstform und der Schönen Naturform gleichzeitig kulminiert" (ebd., 398).

 

Rein formal gesehen, mag das durchaus sinnvoll und richtig sein: Es ereignen sich Verzweigungen, Bifurkationen der Entwicklungsprozesse. Insofern hat die Kreativität durchaus einen solchen übergreifenden, wenigstens (aber insoweit auch lediglich) strukturell verständlichen Charakter. Und daher kann man durchaus im Sinne einer solchen Reflektapher, einer Metapher, die hin und her gelesen werden kann und die ständig Spannung aufbaut, von einem "kreativen Universum", von "kreativer Natur",20 von "kreativen Prozessen" in der Natur sprechen, wie es Whitehead getan hat. Dabei muss man sich aber im Klaren sein, dass man den Ausdruck "Kreativität" hier in einem weiteren, unspezifischen Sinne benutzt – oder ihn eben bewusst als Metapher versteht, um Anregungen zu neuen Einsichten zu gewinnen. Ich denke, dass das Zweite das fruchtbarere Verständnis ist – fruchtbarer für das Verständnis gerade der Kreativität.

 

Wenn wir noch weiter gehen und das hier in Bezug auf Kreativitätsperspektiven Gesagte auf das beziehen, was wir eingangs über das Schichtenaufsteigen bei kreativen Prozessen erarbeiteten, so können wir sagen, dass besonders kreative Reflektaphern darin bestehen, dass man Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten eben aus verschiedenen Perspektiven oder auf verschiedenen Ebenen und einander überformenden Schichten sieht. Wenn die Anregungen zu Neuentwicklungen gerade aus der Transposition auf andere Schichten oder in andere Perspektiven bestehen, dann handelt es sich um eine besonders kreativitätsanregende Reflektapher. Wir hatten dafür ein neues Wort vorgeschlagen: "Kreatapher". "Kreataphern" sind also perspektivenübergreifende, schichtenüberbrückende oder -überspringende spannungserzeugende und -erhaltende Metaphern, die anregungsreich zwischen Ähnlichkeiten (Homöotaphern, Syntaphern) und Unähnlichkeiten (Dia[ta]phern, Dissonanzen) spielen. Kreataphern konstituieren Kreativspiele – wie umgekehrt. Es ist also ein "kreataphierendes" Verfahren oder eine "kreataphorische" statt einer nur metaphorischen oder reflektaphorischen Aktivität, die hier zur Diskussion steht. Ich denke, dass dies eine recht interessante Idee ist, die auf das zurück geführt werden kann, was wir eingangs über die Eigenarten und Beschaffenheiten des Menschen und seine Fähigkeiten erkannt haben. Man könnte diese Fähigkeit, nicht nur Metaphern, sondern kreative Reflektaphern, also Kreataphern, zu schaffen, als eine besonders herausragende Eigenschaft des metainterpretierenden Wesens verstehen. Mit anderen Worten: das oben erarbeitete metainterpretatorische Moment ist es, das die besonderen Fähigkeiten des Menschen zur Repräsentation und schöpferischen Gestaltung kennzeichnet – im Gegensatz zur bloßen Symbolverwendung oder bloßen Deutung im Sinne einer bereits eingenommenen Perspektive. Es handelt sich also um die Fähigkeit, über einzelne Perspektiven hinauszusteigen – zu höheren Perspektiven, abstrakteren Interpretationsschichten –, oder auch um die Fähigkeit, den Gesichtspunkt auf der selben Ebene zu wechseln. Das alles lässt  sich im Zusammenhang sehen mit dieser Fähigkeit, Kreataphern zu bilden und zu anderen symbolischen, reflektatorischen Beziehungen und Schichten über zu gehen.

 

Kreativität ist zudem symbolische Eigenaktivität. Eine solche Philosophie des Kreativseins wäre zugleich eine Philosophie der erweiterten und durchaus auch als Reflektapher zu verwendenden "Eigenaktivität" aller möglichen Aktivitätszentren, seien es natürliche, seien es menschliche oder subjektive, seien es soziale, künstlich zustande gebrachte. Im Grunde ist eine Philosophie des Kreativseins oder der Kreataphern etwas, was ich schon seit zwei Jahrzehnten betreibe, zwar unter ganz anderen Gesichtspunkten, unter einem ganz anderen Terminus, nämlich unter dem Gesichtpunkt der Eigenaktivität, der "Eigenhandlung", der "Eigenleistung" (1989). Dies alles lässt  sich einbetten in eine solche Philosophie der Kreativität.

 

Nach MacCormac (1985, 148) liegt "Kreativität [...] in der Auswahl der geeigneten Bezugsgegenstände, indem genügend Ähnlichkeit für das Wiedererkennen und genug Unähnlichkeit – und die richtige Art von Unähnlichkeit – erzeugt wird, um eine (neue, H. L.) hypothetische Möglichkeit hervorzubringen. Der Schöpfer einer Metapher wählt gerade jene Bezugsglieder aus, deren Gegenüberstellung die neue Möglichkeit insinuiert, die er oder sie vorschlagen möchte".

 

Das heißt, MacCormac sieht in der Fähigkeit des Menschen, neue Metaphern mit hinreichenden Ähnlichkeiten, aber auch mit Unähnlichkeiten zu bilden, so etwas wie einen Grundstock auch für die Entwicklung neuer Theorien, Interdisziplinen, neuer Möglichkeiten der künstlerischen, wissenschaftlichen und philosophischen Darstellung, der Weltauffassung. Er sieht diese Fähigkeit als ein Charakteristikum des Menschen überhaupt an: Es ist ein Anthropologikum, gilt einzig für den Menschen, dass er nicht nur Analogien zu entdecken, sondern eben in Metaphern diese Analogien mit Disanalogien, also die Syntaphern oder Synphorien mit den Diaphorien und Diataphern zu verbinden vermag, um neue kreative Metaphern zu bilden, die unser Wissen in den Bereich des bisher Nichtgewussten weiterzutreiben erlauben. (Zu ergänzen wäre nach den hier dargelegten Einsichten, dass diese Fähigkeit auch auf beliebig viele höhere Darstellungs-, Symbolisierungs- und Abstraktionsschichten zu beziehen ist.)

 

Es handelt sich um eine Art von Kreativspiel mit Metaphern, und zwar reflektaphorischen Metaphern oder kreativen reflektatorischen Metaphern, also mit Kreataphern. Man könnte sogar so weit gehen, dass man den Menschen als mit einem kreataphorischen Bewusstsein versehen ansieht, in Spezifizierung des erwähnten metaphorischen Bewusstseins à la Cohen, also den Menschen als das Wesen versteht, das fähig ist, Kreataphern zu schaffen: das "kreataphorisierende" Wesen. Das metainterpretierende Wesen ist das kreative, kreataphorisierende Wesen.

 

Nur der Mensch ist in der Lage, Stufen, Schichten, Perspektiven immer wieder zu übersteigen. Dieser Drang, immer weiter zu schaffen, immer weiter Grenzen und Schichten symbolisch zu transzendieren, ist gerade für das Kreativsein charakteristisch, wie wir einsahen. Menschsein ist nur möglich, wenn man über Versteinerungen hinaus in ständiger Kreativität lebt oder diese übt, in der Lage ist, kreative Metaphern und Reflektaphern zu schaffen und zu verwenden. Der Mensch ist also das Kreataphern schaffende Wesen, man könnte fast von einem Homo crea(ta)phoricus sprechen, statt von einem Homo metaphoricus, wie es ansatzweise MacCormac tut. Kreativität ist das ständige Weiterschaffen, das Sich-selbst-Überholen der Kreataphern, die Fähigkeit und der Antrieb, über das ständige Risiko des Absterbens der Lebendigkeit von Metaphern und Reflektaphern hinaus zu gehen, indem man das Kreativspiel weiter spielt. Semper creans, semper creativus.

 

Ein früher christlicher Theologe, Gregor von Nazianz, hat einmal gesagt – wie ähnlich schon Heraklit –: "Der Logos" (er meint den göttlichen, erhabenen Logos), "er spielt. Mit buntesten Bildern schmückt er, wie 's ihm gefällt, auf jegliche Weise den Kosmos" (zit. n. GEO-Wissen 1990, 69). Dieses "Spielen" kann man ersetzen durch das "Kreativspiel", indem man sagt: Der Logos kreativiert. Oder: der Mensch kreataphorisiert – d. h., er "reflektaphorisiert" bewusst, symbolisch, schichtenübergreifend und metaperspektivisch.

 

Liebe zur Kreativität und zur Kreataphernschaffung – das wäre vielleicht ein Wort, welches das Platonische Bekenntnis zur Philosophie ersetzen könnte. Der Philosoph wäre dann der Jenige, der die Kreataphern begeistert analysiert, sich mit ihnen ständig befasst, neue schafft, also die Disziplin der Analyse oder die Wissenschaft der Kreataphernverwendung, sowie die quasidichterische "Kunst" der Kreataphernbildung betreibt. (Die letzte Tätigkeit teilt er mit dem Dichter: Was kre(ativ)iert wird, stiften die Dichter…) Der Philosoph bleibt insofern Metakreataphoriker, und zwar sowohl in Bezug auf kreative Prozesse in der Natur, in der Welt, im Kosmos wie auch hinsichtlich solcher Phänomene in der menschlichen, der symbolischen Welt, in der Kunst, in der Kultur, als er auf höheren theoretischen und sprachlichen Metastufen des "Erfassens" kreiert und argumentiert. Die Philosophie kann jedenfalls die Prozesse der Kreativität nicht länger vernachlässigen, wie sie es allzu lange traditionell getan hatte. Und sie hat auch keinerlei Veranlassung dazu, angesichts der Problematik, die entsteht, wenn man versucht, gewisse übergreifende formale Strukturen, Muster sowohl beim Zustandekommen der Naturprozesse, als auch bei sozialen und kulturellen Gestaltungen sowie geschichtlichen Prozessen zu verstehen.

 

 

V. Schlussbemerkung

 

Resümierend lässt sich feststellen:

Die Postmoderne – auch in der Architektur – genügt mit ihrer spielerischen Kombinations- und "Zitate"-Freudigkeit über unterschiedliche Stile hinweg zwar den charakteristischen Merkmalen der bisoziativen oder multiassoziativen (Kombinations-)Kreativität. Sie scheint aber weniger einschlägig, wenn es um Fragen der Kantisch verstandenen Genialität, also um das Vorgeben ganz neuartiger Bereiche, Regeln (zumal gänzlich neuartiger Bewertungs- und Konstruktionsregeln und -ansätze) geht. Auch mag das Fraktale der neueren computerästhetischen Ansätze (ihrer Iterationen, Selbstähnlichkeiten, Schichtenaufstockungen und "Selbstzitate") dem "spielerischen" Moment der Postmoderne entsprechen, doch dürften prinzipiell neuartige und somit kreative und bereichskonstituierte Metaphern (Kreataphern) nur selten(er) dem postmodernen "Spielgeiste" entspringen. Freilich wäre die Fruchtbarkeit von chaostheoretischen und fraktalgeometrischen Auffassungen nicht nur in der Kunst (mit ihrem "Durchgang durch chaotische Zonen" und ihrer "Gratwanderung am Rand des Chaos"), sondern auch bei den wirklich grundsätzlich neue Bereiche, Regeln und Weltsichten erzeugenden kreativen Metaphern (Kreataphern) und kreativen Potenzen allgemein noch weiter zu thematisieren.

 

 

 

 

 

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Anmerkungen

 

 

1 Ein profilierter Postpostmodernismus ist noch nicht in Sicht - wenigstens nicht in der Architektur, obwohl wir nach wie vor im Zeitalter der "Postismen", ja, der Meta- und "Postpostismen" leben.

 

2 Besonders charakteristisch erscheint die "Gleichung": "Adhocistisch + urbanistisch = kontextuell", wofür Ralph Erskines partizipatorische Siedlungsgebietsplanung in Byker bei Newcastle/England 1972‑74 und etwa Lucien Krolls Gebäude der Medizinischen Fakultät der Universität Löwen als hervorstechende Beispiele angegeben werden. "Kleinmaßstäblichkeit und Häuslichkeit am Rande zum Überladenen und Kleinbürgerlichen, aber das Ganze ist vor Rührseligkeit bewahrt durch typische Erskinismen, wie die billigen, gewellten Details und freche Scherze" (Jencks 1978, 104), welche die Funktionsvielfalt, Buntheit und Akzeptanz wie auch die Einbettung in Landschaftsgegebenheiten und historisch gewachsene Umgebungen garantieren. Im Falle Krolls führt Jencks "Komplexität und einen Reichtum der Bedeutung, einen herrlichen Pluralismus", an, "den zu erreichen es sonst gewöhnlich Jahre braucht und der das Ergebnis vieler Bewohner ist, die kleine Änderungen über die Zeit hinweg vornehmen": Die Vielzahl der Codes und Nutzungen der Gebäude spiegelt deutlich die Tatsache wider, dass gegensätzliche Wertvorstellungen realisiert worden sind, aber selbst hier ist das Ergebnis nicht ohne Spannungen. Die Ästhetik ist überall pittoresk, als ob Normalität und die schweigende Mehrheit rigoros abgefertigt worden seien (ebd. 105f.): Moderne und Funktionalismus werden noch für Fabriken und Krankenhäuser und als "semiotisches Gleichgewicht... innerhalb eines Bedeutungssystems" relativiert beibehalten. Kontextualismus (nach Colin Rowe) ist der Schlüssel zur Bebauung und "Betrachtung des urbanen Raumes". Rowes "Collage‑Stadt" stellte nach Jencks (ebd. 111) "Argumente auf zwischen dem Mechanismus der erleuchteten Denker und dem Organizismus der Hegelianer, den Phantasien aus der alten Welt der Amerikaner ohne Wurzeln in Disneyland und der "Schönen neuen Welt" der Superstudios mit allzu viel Vergangenheit in Florenz." Er setzte die fixierten, platonischen Utopias der Renaissance in Kontrast zu dem "Utopia als Verdrängung der Futuristen", die einsamen großen Gedanken der "Igel" (z. B. Palladio, H. L.) zu den vielen kleinen Zielen der "Füchse" (z. B. Christopher Wren). Verschiedene Utopias oder "Westentaschenutopias – Schweizer Kanton, Neuengland‑Dorf, Felsendorn, Place Vendôme" –, Hadriansbauten eines "pluralistischen Pantheon, sein Rom, besonders seine Villa in Tivoli sind Ad‑hoc-Sammlungen und dialektische Utopias". Die Hadriansvilla wird zum Vorbild, die "Collision‑City", weil sie – so Rowe – "gefällig alle Konflikte der traditionellen Architekturelemente und alle zufälligen empirischen Ereignisse" reproduziert, durch eine Anhäufung kleiner und sogar sich widersprechender zusammen gesetzter Elemente (fast wie Produkte verschiedener Regime)" die "Phantasien zu unterhalten" gestatten (ebd. 111).

 

3 Metaphysik drückte sich stets auch in der Raumphilosophie und vorausgesetzten Raumstruktur aus. Im Gegensatz zur logisch eindimensional deduzierten Rationalität eines gleichsam isotropen Raumes in der Moderne "ist der postmoderne Raum historisch bestimmt, verwurzelt in Konventionen, unbegrenzt oder doppeldeutig in der Flächenaufteilung und 'irrational' oder veränderlich in seiner Beziehung vom Teil zum Ganzen", unklar in den Begrenzungen, "ohne erkennbaren Abschluss", "evolutionär" (?), enthält aber auch modernistische Elemente der Corbusierschen "Schichtung" und "Verdichtung". Dazu fügte Robert Venturi –nach Jencks "der erste moderne Architekt, der dekorative Formgebung und traditionelle Symbole (etwa den Torbogen) auf aggressive Art anwendete" – etwa in seinem Zentrum für Krankenschwestern und Zahnärzte (schon 1960) schräge und verdrehte Raumelemente, "erzeugt durch spitze Winkel, welche die Perspektive überhöhen", wodurch die Komplexität des Raumeindrucks und der Mischung erheblich erhöht wird (Jencks a.a.O., 86f., 118). Die postmodernistische Raumkonzeption gibt darüber hinaus "wie der chinesische Garten die klare unumstößliche Ordnung der Ereignisse zu Gunsten eines labyrinthischen, weitschweifigen 'Weges' auf, der niemals ein absolutes Ziel erreicht", hebt normale "soziale und rationale Kategorien auf in Irrationalität" oder gar in Unmöglichkeit, bricht Flächen, konstruiert Anspielungen und Scherze, Doppeldeutigkeiten, "um unser normales Empfinden für Dauer und Ausdehnung aufzuheben" (ebd. 124). Anders als der chinesische Garten hat jedoch die Postmoderne "keine wirkliche Religion und philosophische Metaphysik hinter sich", sondern ergießt sich in eine Überfülle von teils historisch bedeutungsträchtigen, teils willkürlichen Metaphern konstruiert‑kalkulierter Überraschungen. Sie ist Patchwork‑Collage mit Multifunktionalismus und Buntheitsverwirrungen: "Bestürzende Rätselhaftigkeit, die wunderbar verwirrend, aber nicht frustrierend ist" (so Jencks über Moores Haus Burns in Los Angeles).

Als letzte, umfassende und übergreifende Charakterisierung der Postmoderne führt Jencks den raffinierten radikalen Eklektizismus an, der die "Vorliebe zum Mysteriösen, Zweideutigen und Sinnenfreudigen" zeigt, wobei die Tendenz "zunehmender Komplexität eine bunte Sammlung von Widersprüchlichkeiten, unterschiedlichen Absichten" einerseits zu einer wachsenden "Verwirrung im formalen und theoretischen Bereich" führt, andererseits "die verschiedenen Wünsche und Ziele der Bewohner widerspiegelt, die jede Großstadt erfüllen muss", und insofern durchaus positiv zu beurteilen sei. Der radikale Eklektizismus sei bei aller Berücksichtigung "lokaler Materialien" und "natürlicher bodenständiger Architektur" "sogar polyglott". Durch die verschiedenen formalen, theoretischen und sozialen Bezüge der genannten "sieben Aspekte der Postmoderne" ergebe sich, so Jencks (a.a.0. 127f.) ein "Amalgam aus historistischen und modernen Elementen sowie semiotischen Spektren", das "zumindest das Potenzial hat, eine stärkere, radikale Vielfalt zu entwickeln" als herkömmliche schwache Eklektizismen des bloßen Ansammelns. Der radikale Eklektizismus "benutzt... das volle Spektrum negativer Mittel – metaphorische und symbolische ebenso wie räumliche und formale –, "mischt diese Elemente (etwa klassizistische und regionale bei Thomas Gordon Smith, Kalifornien, 1976‑77) in einem Werk, richtet unterschiedliche Schichten und Codes auf die avantgardistischen Eliten einerseits, sowie auf die breite bzw. lokale Öffentlichkeit andererseits aus (ebd. 129f. 6), vermittelt zwischen diesen beiden Schichten und Codes durch "beständige Konsultationen" und Kommunikationen, sowie durch Bewusstseinserkenntnis und Hinnahme der "Schizophrenie" der "doppelten Codierung", wie auch durch die Übercodierung "von verschiedenen Geschmackskulturen". Der radikale Eklektizismus ist für Jencks inklusivistisch (nach Venturi und Moore), sowohl kontextuell als auch dialektisch, indem er versucht, eine Diskussion zwischen unterschiedlichen und häufig gegensätzlichen Geschmackskulturen anzuregen, sowie multivalent: "Er fasst verschiedene Arten von Bedeutungen zusammen, die gegensätzlichen Kräfte des Geistes und des Körpers, so dass sie in Beziehung zueinander stehen und einander beeinflussen" (ebd. 131f.).

Der Postmodernismus, der "heute kein Stildogma" mehr als gültig auszeichnet, entdeckt wie Karl Friedrich Schinkel zu Beginn des 19. Jahrhunderts "das Historische und Poetische" wieder: "Mit dem Historischen ist die Bereicherung des Spektrums gegeben, Bezüge herzustellen und die unterschiedlichen historisierenden Stilmittel zur Sprache der Gegenwart hinzu zu gewinnen, um das Poetische daraus entstehen zu lassen. Das Poetische ist die Kraft der Vorstellung zu wünschbaren Orten, ist die Fiktion über Zwecke hinaus. Fiktion schränkt die Abstraktion ein, weil sie der Gegenstandslosigkeit des bloßen Nutzens die Inhalte der Phantasie entgegen setzt" (zit. Klotz S84, 135). Stilwechsel und Stilaggregation werden zur pluralistischen Signatur der Postmoderne dadurch, "dass alle diese Stilvokabularien eingesetzt werden, um das eine Ziel zu erreichen: eine nicht länger abstrakte, sondern wieder gegenständlich' argumentierende Architektur" und damit ein "Anspruch" auf deren "fiktiven Charakter ... frontal gegen die Abstraktion der Moderne gerichtet": "Fiktionale Vergegenständlichung" sammelt die fremden Elemente in pluralistischer Sekundärvereinheitlichung, indem sie verschiedenartige und wechselnde Vokabularien "narrativ‑fiktional" einsetzt, die "also auch Sinn und Bedeutung erbringen" (ebd. 136). Vergegenständlichung, Bedeutung, Sinn, bestimmter Inhalt und die Frage nach Alternativen, eventuell überlappend‑übercodierenden Stilmitteln, die diesen Inhalt darzustellen gestatten, neue Vielfalt und neue Mythologien, Konstruktivismus und Anspielungsdekoratismus, inklusivistische Integrationen rationalistischer Teilelemente und historisierender Fassaden, von modernen Störelementen gebrochen, kennzeichnen die Coincidentia oppositorum, die postmodernistische Vereinigung von Widersprüchen, vgl. a. James Stirlings Neue Staatsgalerie in Stuttgart (1977‑84). Widersprüchliches kann nur als aneinander reihende "Behauptung einer Erzählfiktion" veranschaulicht werden (Klotz a. a. 0. 420), also unter dem Signum einer aggregativ‑fiktionalen Vergegenständlichung. Klotz kennzeichnet in seiner Definition die Postmoderne durch die acht Merkmale des Regionalismus, der fiktionalen Darstellung, Rückgängigmachung der bloßen Funktionalität des Modernismus, der Vielfalt von Bedeutungen in narrativer Gestaltung, der antitechnizistischen Poesie und Phantasie, der Improvisation und Spontaneität, der geschichtlichen Erinnerung als "wiedererlangter Perspektive" im "Geist der Ironie", Relativierung auf "historische, regionale und topographische Bedingungen eines Ortes" und Betonung der "anfassbaren Individualität der besonderen Lösung". "Kompromissfähigkeit an Stelle von Heroismus; Ausgleich zwischen Alt und Neu, Anerkennung einer vorgegebenen Umwelt" (ebd. 422f.). Hatte Mies van der Rohe seine rationalistisch‑funktionalistische Reduktionsarchitekturtheorie mit dem Sprichwort "Weniger ist mehr" ausgedrückt, so beantwortete Robert Venturi das "less is more" mit einem sarkastischen "less is a bore" (ebd. 147).

 

4 Welsch verweist (ebd.105f.) auf zwei Schwierigkeiten des postmodernen Paradigmas: 1. Vielfältigkeit dürfe sich nicht als bloße Sprachverwirrung darstellen und "zu semantischer Beliebigkeit und zum Verlust jeglicher Kommunikabilität" führen, sondern müsse "gerade verständigungsproduktiv" werden und die Venturische "besondere Verpflichtung für das Ganze" im Auge behalten; 2. könne "bloße Vielfalt und ihre Eskalation... Pluralität" und die notwendige und auch als "Bedingung effektiver Vielheit" vorauszusetzende Einheit, "gerade nicht... garantieren", weil der "Unterschied von Gelingen und Danebengehen" in der totalen Regelbeliebigkeit oder Narrativität nicht mehr feststellbar sei und weil die "Etablierung des Dissenses aIs der einzig verbleibenden Kommunikationsform" zwischen sonst hermetisch geschlossenen Sprachspiel‑Monaden" ebenfalls den Pluralismus bloß durch "Hyperdifferenz" "außer Kurs" setze: Hier gebe es praktisch keine Vielfältigkeit mehr". Welsch beschwört den "Rückgang auf die Vollzugsform der Vernunft" und ihr "Vermögen eines sprechend wie verstehend geschehenden Übergehens von einer Sinnfiguration zu einer anderen: In dieser transversalen Dimension liegt... die eigentliche Potenz von Vernunft".

 

5 Auf die psychologischen Kreativitätstheorien kann ich hier nicht näher eingehen (vgl. den Verf. 2000, 76-137 und 38-173).

 

6 Weisberg (1986, 1993) bezweifelt ja die Existenz genialer Persönlichkeiten ebenso wie die von Visionen und Heureka-Erlebnissen – er pocht auf die normale schrittweise Übernahme und Weiterentwicklung von bereits vorliegenden "Elementen". Er erkennt nur die kombinatorische Kreativität und die "kombinatorische Gymnastik" (Simonton) an, versucht dieses aber von zu wenigen Fällen (in der Wissenschaft etwa Darwin und Watson-Crick) ausgehend zu generalisieren. Ein Ramanujan hätte seine theoretische Beschränktheit gesprengt wie wohl eigentlich auch Mozart, den er – kaum überzeugend – in die kombinatorische Gymnastikschule einzuordnen sucht.

 

7 Die Schönheit, sagt Poincaré an einer Stelle, ist in der Mathematik ebenso eine Führerin wie die Wahrheit. Ich hatte ja bereits Hardy zitiert, der sagte, dass ohne Schönheit in der Mathematik nichts wirklich existent und interessant wäre: Fast nur "das Schönheitsgefühl" führe "in der Mathematik zu Neuentdeckungen", und Mathematik lasse sich "nur als Kunstwerk rechtfertigen". So landete auch Koestler (ebd., 368) bei der alten platonischen Idee, dass Schönheit in gewissem Sinne "eine Funktion der Wahrheit" sei – und "Wahrheit eine Funktion der Schönheit". Zwar ließen sich beide analytisch trennen, "aber im wirklichen Erleben des schöpferischen Aktes wie im nachvollziehenden Erleben des Betrachters seien sie ebenso untrennbar wie Denken und Fühlen" (ebd., 368), man könnte auch sagen: wie Denken und Handeln, wie Erkennen und Handeln. Auch Platon hatte ja das Gute mit der Schönheit und der Wahrheit identifizieren wollen.

 

8 Koestler greift dabei auch auf Freud zurück und behauptet, das "ozeanische Gefühl", das Freud als einen Höhepunkt der Zufriedenheit oder der Befriedigung des Menschen betont hat, sei "der sublimierteste Ausdruck des integrativen Strebens des Menschen, das den Wissenschaftler veranlasst, nach letzten Ursachen zu suchen", eben nach der Wahrheit, und das auch "den Künstler dazu drängt, die letzten Wirklichkeiten des Erfahrbaren aufzuspüren". "Das Gefühl wunderbarer Klarheit", der Schönheit und gleichzeitig der Wahrheit, "das Kepler berauschte, als er sein zweites Gesetz entdeckte" (ebd., 363), das findet sich ähnlich auch etwa bei Poincaré oder natürlich entsprechend bei schöpferischen Künstlern. Koestler (ebd., 187 ff.) analysiert zunächst auch den Traum und meint, das Bisoziationsschema sei besonders auch beim Träumen verwirklicht, und zwar "ununterbrochen auf passive Weise", indem "optische Analogien", die "Verlagerung der Aufmerksamkeit" und "Konkretisierung abstrakter Vorstellungen zu bestimmten Bildern" und z. T. "umgekehrt der Gebrauch von konkreten Bildern als Symbol(en) unformulierter Gedanken im Augenblick ihres Entstehens" auftreten. Die "Kondensation mehrerer assoziativer Zusammenhänge im gleichen Bild; das Aufdecken verborgener Analogien; die Personifizierung und die Spaltung der (eigenen) Identität" (ebd., 188) – das alles ist vom Traum wohl vertraut – ebenfalls, dass grammatische und logische Regeln verletzt werden, dass die gelegentliche Umkehrung von Kausalzusammenhängen vorkommt und dass eine Art von "Leichtgläubigkeit des Träumenden" (ebd.,) typisch ist, indem dieser sich mit dem Geschehen identifiziert. Die Kritikfähigkeit ist weitgehend aufgehoben, in gewissem Sinne die Tätigkeit der linken Hirnhälfte reduziert gegenüber dem musterbildenden, visionären kreativen Schaffen der rechten – das ist natürlich alles bekannt.

 

9 Das hat Koestler wiederholt auch für mehrere andere Bereiche betont, z. B. in Bezug auf den Humor und den Witz: Hier gilt, dass Originalität, Emphase und Sparsamkeit zusammen kommen müssen, damit eine Pointe "zündet". Das kann man natürlich leicht auch an der Kunst wiederfinden; denn Entsprechendes lässt sich traditionell auch für das Kennzeichnen und Beurteilen von ästhetischem Wert, zumal Schönheit, feststellen. Das Ideal der Einfachheit spielt natürlich auch in der Mathematik oder in der Wissenschaft eine große Rolle. Diese Charakteristika versuchte Koestler (1966, 369 ff.) auch an der Kunst und bei anderem kreativen Schaffen wieder aufzuweisen. Z. B. sticht die äußerste Sparsamkeit etwa an chinesischen Bildern oder japanischen Gedichten hervor, wo auf alles Überflüssige radikal verzichtet wird und größte Einfachheit der Darstellung und Sparsamkeit der Mittel zum Ausdruck kommen.

 

10 Chaostheoretische, also mit der Theorie der komplexen dynamischen (bislang durchaus deterministischen!) Systeme beschriebene Analysen und modelltheoretische, sowie tierexperimentelle Erfolge haben dazu geführt, dass man nun versucht, solche Modelle auf das menschliche Wahrnehmen, das Denken gar auszuweiten. Earl MacCormac, ein Philosoph in den Vereinigten Staaten, der gleichzeitig an einem Institut für Radiologie arbeitet und sich mit Neuronenradiologie beschäftigt, untersucht derzeit solche nichtlinearen dynamischen Algorithmen und Systeme, die auf chaotischer und Fraktalbasis existieren und die Plastizität des Gehirns darstellen sollen. Er hat in seinem Beitrag zum Deutschen Kongress für Philosophie von 1993 in Berlin (Lenk/Poser 1995) eine kartographische Grundstruktur aufgezeigt, die zu der Theorie führt, dass man letztlich so etwas wie perceptive images, also "Wahrnehmungsbilder", in einer Art von computerähnlicher Verarbeitung, aber parallel verarbeitet und natürlich auf fraktaler Basis, als hauptsächliche Grundlage annehmen kann, um etwa das Denken, zunächst einmal das wahrnehmende Denken, darzustellen. Er spekulierte auch darüber, dass insbesondere das Denken über Denken solche Strukturen fraktaler Art, nämlich Selbstähnlichkeit und komplexe Darstellung, erlauben muss. Er stimmt zum Teil mit Edelman überein, meint aber, dass nichtlineare dynamische Algorithmen stärker berücksichtigt werden müssen, und er schließt sich an Flanagan an, der ja Bücher über The Science of Mind (1984, 51992, s. a. ders. 1992) geschrieben hat und einen "konstruktiven Naturalismus" auf der Basis der genannten Strukturen neurologischer Art vertritt. MacCormac (1995, 215) erweitert das Modell zu einem – wie er das nennt –"konstruktiven computerunterstützten Naturalismus" und möchte gern den "Geist" ("mind") mit "Mustern neuronaler Aktivität" identifizieren, "die mathematisch in nicht-linearen Systemen dargestellt werden können" (ebd., 216). Entsprechendes gilt auch für die Struktur des Bewusstseins, insbesondere für dessen Selbstreflexivität, die Fähigkeit, auf sich selbst Bezug zu nehmen (ebd.,). Auch hier möchte er im Sinne dieser nichtlinearen Systemdynamik und Repräsentationsdynamik eine angenähert fraktale (Selbstähnlichkeiten verwendende) Theorie des Denkens und Darstellens liefern. Er hat zudem mehrere Aufsätze über "Images and Fuzzy Neural Networks", also über die Vorstellungsbildung, über Images und unscharfe Logik, geschrieben. In seinem Institut verwendet er zusammen mit den Radiologen und Medizinern die Positronenemissionstomographie (PET) und versucht, die Gesichtspunkte, die bisher der kognitionspsychologischen Schule der Parallel-distributed-Processing-Gruppe (McClelland, Rumelhart u. a.), also Parallelverarbeitung statt serieller Verarbeitung in Computern nach der von-Neumann-Architektur, zu Grunde liegen, zu erweitern in Richtung auf die Verwendung von nichtlinearen dynamischen Algorithmen, die in computer images, also in Bildvorstellungen, Musterdarstellungen entwickelt werden können und sich koevolutionär mit den entsprechenden Reizen und der Kulturentwicklung von außen entwickeln, beispielsweise in den Sprachformen und den internen quasi eigendynamischen und selbstorganisierten, auf fraktaler Geometrie und unscharfer Logik basierenden Modellen.

Interessant ist, dass MacCormac dies auch auf mentale Gehalte anwendet. Er ist darüber hinaus ein international bekannter Theoretiker der Metaphernbildung. Er wendet die computerunterstützten nichtlinearen Fuzzy-Algorithmen auf die Entwicklung von Metaphern an, insbesondere auf die Bildung von neuen und auf die diesbezügliche "Kreativität" – und auf Selbstreferenz, die Selbstbezüglichkeit etwa bei Strukturen des Bewusstseins. Auch da ist zu erwarten, dass chaotische Erscheinungen auftreten. Es ist ja bekannt, dass wenn man beispielsweise eine Fernsehkamera auf den Videobildschirm richtet und sie das eigene Bild wieder aufnehmen lässt  und das Aufgenommene zurückkoppelt, eine Art von Chaos entsteht. Die Selbstähnlichkeit, eingespeist mit der Rückkoppelung, führt dann zu einer positiven Rückkoppelung und somit zu einer Art von Bild-"Explosion". Eine ähnliche Verkoppelung kann natürlich sowohl bei epileptischen Anfällen zu Grunde liegen, als auch beim selbstreflexiven "Denken über das Denken". MacCormac (1995 a und unpubl.) versucht, die Strukturen der unscharfen Logik, der fuzzy logic, für die Stabilisierung und Entwicklung von computer images zu verwenden und dann insbesondere auf die Bedeutung von Worten und die Entwicklung von Metaphern anzuwenden. Seine etwas ältere Theorie der Metapher  (A Cognitive Theory of Metaphor, 1985) berührt natürlich auch maßgeblich die methodologischen Fragen der Kreativität.

Interessant für uns hier ist nur, dass er glaubt, ein semantisches Netzwerk (das aufgefasst wird als ein Netz von Knoten, wo die Knoten selbst Fuzzy-Mengen sind) könne modellhaft eine rationale Rekonstruktion dafür darstellen, wie etwa der Geist (mind) neue Begriffe und insbesondere neue Metaphern, neue Begriffe in Metaphern bildet. Fuzzy-Mengen sind ja solche, für die keine ganz klare Mitgliedschaft, keine Element-Klassen-Relation scharf definiert ist, wo nur ein Objekt "mehr oder weniger" Element einer Menge ist. Es gibt zwar eine "Kernmenge", aber deren "Begrenzung" ist unscharf. Es bleibt ja auch "unscharf", wann jemand glatzköpfig ist und wann nicht: mit 50 Haaren: ja, mit Tausend: nein? In der Realität ist es offensichtlich so, dass scharfe eigenschaftsgesteuerte Unterscheidungen durch Mengengrenzen nicht so deutlich zu treffen sind, wie man das herkömmlicherweise in mathematischen und logischen Modellen annimmt, und dass man realistischerweise sehr viel stärker auf die komplexen Strukturen und Interaktionen mit unscharfen Grenzen eingehen muss. Wenn man also versucht, die Mittel der Fuzzy-Logik einerseits und der fraktalen Geometrie des Komplexen andererseits zur Darstellung zu verwenden, ist wohl wahrscheinlich, dass man auch sehr komplexen Prozessen der Kreation von Neuem irgend wie näher kommt.

Die "konzeptuelle Macht der Fraktale" leite sich "aus unserer mentalen Fähigkeit" her, diese Fraktale zu "verbildlichen", virtuell zu visualisieren, leiste also gleichsam das, was heute die Computergrafik konkret abbilden kann.

 

11 Vgl. zum Folgenden auch Cramer/Kaempfer 1992.

 

12 Auch das exponentielle Sich-Ändern geschieht ja jeweils selbstähnlich in den je unterschiedlichen Abmessungen.

 

13 Man denke beispielsweise an die Entwicklung von zusätzlichen Ästen oder Zweigen bei Bäumen oder eben an die Entwicklung von Knöllchen oder Blümchen beim Blumenkohl, der dann mit jeder neu entstehenden Blümchenkorbschicht größer wird. Hier scheint offensichtlich so etwas zu Grunde zu liegen wie eine Summation bei gleichzeitiger Konkurrenz. Ein gleichförmiges Geschehen ist anscheinend auch im Gehirn zu finden, insbesondere bei der ersten frühkindlichen Entwicklung von Nervenverbindungen beispielsweise im Sehsystem, wo auch eine Art von Konkurrenz zwischen den nur grob erblich angelegten Verbindungsmustern in der Weise vorhanden ist, dass manche der Neuronen aktiviert und dadurch stabilisiert werden, schließlich das primäre Sehzentrum erreichen und dass andere, benachbarte Neuronen, die damit sozusagen in einer Wachstums- oder Entwicklungskonkurrenz stehen und nicht aktiviert werden, verkümmern. Das heißt, es tritt so etwas wie eine Art von Wachstumsprozess in der Konkurrenz oder eine, wie ich sagen möchte, konkurrenzselektive Stabilisierung auf. Das scheint auch bei solchen Wachstumsprozessen, wie etwa den Entwicklungen von Blumenkohlköpfchen oder -blümchen der Fall zu sein. Solche Wachstumsprozesse ähneln auch der Entwicklung bzw. dem "Aufbau" von bestimmten Formen, die auf dem gegenwärtigen Stand aufbauen, bei denen immer etwas hinzu tritt, ohne dass das ein nur rein additiver Vorgang wäre, sondern es geschieht eine Art von Verzweigung - freilich im Sinne dieser konkurrenzstabilisierenden Selektion oder konkurrenzselektiven Stabilisierung.

 

14 Der Goldene Schnitt besteht ja darin, dass ein Quotient von den bestimmten benachbarten Werten von Teilgrößen der Entwicklung einem bestimmten Quotienten immer näher kommt. Das ist charakteristisch und wurde bereits am Ende des Mittelalters entdeckt – von dem Mathematiker Fibonacci: Die "Fibonacci-Reihe" entsteht daraus, dass man stets die beiden letzten Zahlen der Reihe miteinander addiert und das die nächste Zahl ergibt. Daraus ergibt sich eine bestimmte Folge von Zahlen, (1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89, 144 ...). Sie ist besonders interessant, da sie geeignet ist, die Verhältnisse des Wachstums und der Entwicklung des Goldenen Schnitts darzustellen; denn der Goldenen Schnitt erweist sich in gewissem Sinne als ein Fibonacci-Phänomen. Er ist nämlich genau der Grenzwert des Quotienten zwischen zwei benachbarten Gliedern dieser Fibonacci-Folge, d. h. also, wenn man immer eine Zahl durch die andere dividiert (5:3, 8:5 ...), allgemein ausgedrückt: n+1:n in der Fibonacci-Folge, dann erhält man die Zahl 1,618... Das ist eine irrationale Zahl, die man die Zahl des Goldenen Schnitts nennen kann oder "die Goldene Zahl" oder "Fibonacci-Limes-Zahl". Auf diese Weise kann man versuchen, gewisse Ordnungen in diesen Wachstumsprozessen wiederzugeben – sehr abstrakt-modellmäßig natürlich. Man erkennt, dass die Fibonacci-Zahl als Grenzwert der Fibonacci-Folge zu den rationalen Zahlen einen weiteren Abstand einhält als alle anderen irrationalen Zahlen, die auch als Grenzwerte solcher Folgen auftreten, wie z. B. die Zahl p. (p ist auch nur relativ schwer anzunähern - im Gegensatz z. B. zu "e", der Basis des natürlichen Logarithmus.) Der Kettenbruch nähert sich also "in the long run" diesem Grenzwert, dieser Fibonacci-Zahl oder Zahl des Goldenen Schnitts. Wachstum geht also relativ langsam vonstatten. Man kann Fibonacci-Strukturen bzw. entsprechende Formen des Goldenen Schnitts in sehr vielen Naturprozessen wiederfinden. Z. B. in der sogenannten Logarithmischen Spirale, in allen Schneckenformen, aber eben auch in der Spiralenanordnung der Sonnenblumenkerne. Bei beiden Spiralen zeigt das Wachstum und die entsprechende Weiterentwicklung in Bezug auf die Winkel eine Folge von solchen Proportionen im Sinne des Goldenen Schnitts. Der "Fibonacci-Charakter" scheint ein Gesetz des Wachstums darzustellen, unter der Bedingung, dass schon etwas vorhanden ist, was nicht verdrängt werden kann, sondern an dem sozusagen weiter gebaut wird. Es ist ein rückgekoppelter Wachstumsprozess mit nicht nur additivem oder linearem Charakter. Cramer stellt fest (ebd., 275), dass "der Fibonacci-Charakter oder der Goldene Schnitt... unter allen Wachstumsbedingungen eingehalten wird" und "nicht abhängig (ist) von Größe, Länge oder Dicke der betreffenden Frucht oder Blüte". Das Gleiche gilt entsprechend bei spiraligen Teilformen der Schnecke. In der Tat scheint es, dass diese Wachstumsprozesse als eine Folge des erwähnten internen Konkurrenzphänomens aufgefasst werden können und die Entwicklung dieser Formen als Ergebnis einer je spezifischen, aber generell gleichförmigen internen konkurrenzselektiven Stabilisierung zustande kommen: Auch nach Cramer kann "jedes Wachstum als internes Konkurrenzphänomen aufgefasst werden" (ebd.,). Dies ist anscheinend eine "Grundidee", die in der Natur vielfach verwirklicht ist und zu Formen führt, die wir auch als schön empfinden, an die wir uns sozusagen gewöhnt haben, die in unsere Wahrnehmung "einprogrammiert" sind. Das Grundverhältnis für rückgekoppelte Wachstumsprozesse, das auf den Goldenen Schnitt ausgerichtet ist, ist so gleichsam auf natürliche, naturwissenschaftliche Weise abbildbar – wenn nicht gar teilweise, jedenfalls formal, erklärbar.

 

15 Es gibt ferner auch so etwas wie eine Phasenschönheit, eine Schönheit der Phasenentwicklung, besonders im Pflanzlichen, was ein englischer Autor, D'Arcy-Thompson, schon Anfang dieses Jahrhunderts, 1917, eindringlich festgehalten hat. Er hat ein berühmtes Buch geschrieben Über Wachstum und Form, das in zahlreichen Auflagen erschienen ist. Darin wird diese Art selektiver Stabilisierung durch fraktales konkurrierendes Phasenwachstum in gewisser Weise vorweg genommen; das selbe haben dann häufiger Biomathematiker explizit gemacht, wie der schon zitierte Michael Barnsley, der über die fraktale Struktur der Farne gearbeitet und Farnstrukturen modellhaft aus fraktalen Grundelementen hergestellt hat, indem er von einfachen Initialgrundformen wie astartig verzweigt angeordneten Rechtecken ausging und diese immer wieder auf jede Einzelverzweigung anwendete, iterierte, und zwar beliebig oft (ohne vorab festgelegtes Ende). Er kam damit zu täuschend echten Farnstrukturen – in einem Zwischenstadium natürlich, da die Natur nicht beliebig viele Iterationen zu machen vermag, wie es prinzipiell der Computer kann – wenngleich auch hier nur in der Idee und nicht faktisch. Wenn man Millionen von Wiederholungen (Iterationen) hat, dann hat man eine sehr beeindruckende Zahl von Selbstähnlichkeiten auf den verschiedenen Schichten der Iterationen. Mit anderen Worten: die abstrakten Formen lassen sich ausnutzen, um gleichsam "natürliche" optimale Lösungen der Strukturentwicklungen nachzumodellieren. Und auch damit muss das ästhetische Nacherleben zusammen hängen.

 

16 Ein künstlerisches Nebeneinander" mit vielen selbstähnlichen Formen, Mehrdeutigkeiten, dynamischen Spannungen, die auf mehreren Ebenen zu sehen, zu deuten sind, nennt Briggs (1993, 174) "Reflektapher": "Nicht nur Formen spiegeln sich selbstähnlich darin wider, sondern wie in der Metapher, auch eine Spannung von "ähnlichen und unterschiedlichen Ausdrucksformen. Diese reflektaphorische Spannung erschüttert unseren Verstand mit einer Mischung aus Verwunderung, Ehrfurcht, Verblüffung und der Empfindung unerwarteter Wahrheit oder Schönheit."

 

17 Pepper spricht von "basic analogy or root metaphor" (1942, 91).

 

18  Kosslyn benutzt (zit. n. MacCormac 1988, 94) sogar das geistige Auge metaphorisch als eine "Bildröhre": MacCormac fragt: "Kann man eine Metapher benutzen, um einen Prozess zu beschreiben, auf dem die Gestaltung vieler Metaphern beruht?" (ebd. 94). Theorien über Metaphern seien oft metaphorisch und auf Verwendung von Metaphern angewiesen, aber dies bedeute nicht, dass aller Sprachgebrauch metaphorisch sei (1985, 56).

 

19 Sind etwa Wittgensteinsche "Sprachspiele" oder Spiele der Schematisierung, wie wir sie uns gleichsam in unseren Vorstellungen machen, also Schemaspiele, wie ich (1995) das in Verallgemeinerung der Wittgensteinschen Sprachspielkonzeption nenne, Kreativspiele? Oder repräsentieren sie wiederum eine weitere Form? Sie müssen ja nicht unbedingt kreativ, sondern können in der Regel äußerst konventionell sein. Wittgenstein sagt ja bekanntlich von seinem Ausdruck des "Spiels" (Philosophische Untersuchungen, § 71), dass dieser ein sehr vager Ausdruck sei, der offene Begrenzungen, verschwommene Ränder hat. Man kann sehr "Vieles" als "Spiel" bezeichnen - und es gibt keinen einheitlichen, durchgehenden Zug, meint Wittgenstein (ebd.). Um zuletzt anzuschließen an das, was im voran gehenden Kapitel diskutiert wurde: das Spiel an und mit den Grenzen des Chaos, der chaotischen Phänomene fehlt ebenfalls. Z. B. gerade auch angesichts der Diskussion darüber, ob fraktale Computergrafiken ästhetischen Wert haben, ob sie Kunst darstellen oder ob sich große Kunst fraktal- und chaostheoretisch (vollständig) erfassen lässt . "Chaosspiele" oder "Selbstorganisationsspiele" in diesem Sinne, Spiele an den Grenzen des Chaotischen, gehören vielleicht zu den Ordnungsspielen, sicherlich zählen sie aber nicht zum "Wettkampf", zu den "Zufallsspielen", zur mimicry oder zum Rauschhaften; also auch das Spielen am Rande des Chaos oder mit den Übergängen zum Chaos oder aus dem Chaos müsste man eigentlich noch als eine eigene Spielart anfügen.

 

20 Wobei, wie Kanitscheider (1994, 16, vgl. 1993, 189 ff., 196 ff.) ausführt, es gerade "der kreative Aspekt des Chaos (ist), der die höheren Lebensformen der Natur betrifft" und diese Erweiterung des Kreativitätskonzepts rechtfertigt.

 

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