6. Jg. , Heft 1 (September 2001)
___Michael
Müller

Bremen

Lorenzettis Erzählung vom "Guten Regiment"
und
die Differenz von Ort und Raum

Differenz

Dem Thema der Tagung habe ich mich von zwei Feldern aus genähert, die Aufschluss geben sollen über Bedeutung und Anteil des Ästhetischen an der Ausbildung kollektiver städtischer Identität.

Im Mittelpunkt meines Interesses steht dabei die immer mehr zur Notwendigkeit werdende Vermittlung zwischen Ort und Raum als zwei zunehmend differente Erfahrungswelten. Dabei ist das Beispiel, an dem ich den Sachverhalt der Differenz und ihrer Vermittlung durch das Medium der ästhetischen Praxis veranschaulichen möchte, ein Bild - besser: ein gemalter Bildraum. Unser Blick auf die ästhetische Praxis der Architektur ist also ein durch das Bild erzeugter, und somit ein bereits hochgradig verdichteter ästhetischer Blick.

Differenz ist in meiner Argumentation eine rein räumliche und raumzeitliche Dimension. Und Ästhetisierung, so die These, hat die Potenz, Differenz durch Vermittlung zu reduzieren. Ästhetisierung ist in dem hier vorgeschlagenen Sinne das mediale Rückgrad städtischer Kultur und hat zunächst einmal nichts zu tun mit Verhübschung der Investorenarchitektur und der Überzuckerung innerstädtischer Fußgängerzonen. Das ist sie selbstverständlich auch.

Differenz ist keine postmoderne Errungenschaft, sondern ein sozialer und kultureller Sachverhalt, der in wechselnden Erscheinungsformen die gesamte gesellschaftliche Evolution mit prägt und diese nicht zuletzt mit einer gewissen, zuweilen erheblichen Dynamik versorgt. So könnte man die Stadt als ein hochverdichtetes Sozialgebilde betrachten, in dem ununterbrochen Differenzen prozessiert werden: soziale, ökonomische, kulturelle, gender-spezifische oder auch solche der Fremdheiten. Prozessieren heißt hier: Vermittlung, Einebnung und Neuaufbau von Differenzen. Wenngleich die uns bekannte Geschichte der Stadt voller gewalttätiger Eruptionen ist, die immer wieder zu Transformationen der grundlegenden Strukturen geführt haben, so zielt der angesprochene Prozess doch immer und unausgesprochen auf die Erhaltung der Stadt, auf die Sicherung und Gewährleistung einer städtischen Lebensgemeinschaft, sei sie auch noch so zerrissen und different. Die bewusste Teilhabe an diesem Prozess begründet für den Stadtbürger das, was Jacques LeGoff "die Liebe zur Stadt" nennt.

Die Rede vom 'Guten Regiment'

Es musste schon überraschen, dass im letzten Jahr in Berlin, wo man zur Jahrtausendwende auf einer Weltkonferenz die Frage der Zukunft unserer Städte erörterte, ein vor 660 Jahren veröffentlichtes, emphatisches Bekenntnis zur Stadt Leitbildfunktion übernehmen konnte. Die Rede ist von jenem grandiosen Freskenzyklus der Allegorie des Buon Governo, des Guten Regiments, den Ambrogio Lorenzetti zwischen 1338 und 1340 im Auftrag der Sieneser Stadtregierung, der Nove, auf drei Wände im Palazzo Pubblico verteilt hat. Insbesondere die Erzählung von den Vorzügen eines guten Stadtregiments geriet derart eindrucksvoll, dass sie bis in unsere Zeit hinein ihre Ausstrahlungskraft beibehalten konnte. Dabei scheint das im Fresko thematisierte politische Programm der Utopie einer gelungenen städtischen Lebensweise ungebrochen. Wie anders wäre zu erklären, warum man sich seiner erinnert als der Erzählung vom Guten Regiment in einem von apokalyptischen Szenarien sozialer und wirtschaftlicher Krise eingenommenen Augenblick der Formulierung zukünftiger Strategien für die Entwicklung der Städte?

Zweifellos erzeugen Lorenzettis Freskenzyklus und unser davon eingenommenes subjektives Erleben solcher Städte wie Siena, Florenz, San Gimignano oder Lucca eines der nachhaltigsten stereotypen Raumbilder europäischer Stadtkultur. Das Fresko ist in nuce der Prototyp einer Projektionsfläche für die Sehnsucht nach ursprünglich intakter Stadtkultur. Als solche ist es aus den gegenwärtigen Urbanitätsdiskursen als künstlerisch formuliertes, im und als Bild gleichwohl eingelöstes Versprechen auf ein besseres Leben nicht hinwegzudenken. Es sind solche Erinnerungen - wie weit sie auch immer von jedweder Wirklichkeit entfernt sein mögen -, die in Zeiten des Zweifels Hoffnung auf all das nähren, was gegenwärtiges Stadtleben nicht bereit hält. Dazu zählen eine harmonische Beziehung zwischen Innen und Außen, die Anwesenheit des Vielen in Gestalt unterschiedlicher Tätigkeiten und eine auf den öffentlichen Raum bezogene Privatheit, überhaupt die sichtbare Bedeutung des öffentlichen Stadtraums zur Vergegenwärtigung der Sinnhaftigkeit urbanen Lebens.

Somit sind also gleich drei Stereotype dessen, was die europäische Stadt aus heutiger Sicht noch bis an den Anfang des 20. Jahrhunderts charakterisierte, in der Bilderzählung des Freskos vereint. Erstens: ihre traditionelle Gestalt; zweitens: der Dominanzanspruch urbaner Lebensweise (im Ausgleich mit einer zur Landschaft urbanisierten Natur); und drittens: die Stadt in der Perspektive von Freiheit und Emanzipation. Eine vierte Dimension kommt hinzu, die heutzutage noch wichtiger geworden zu sein scheint angesichts der Tatsache, dass es die Gesellschaft, die diese Stadt hervorgebracht hat, ohnehin nicht mehr gibt: Es ist die immer perfektere Fähigkeit, all diese Stereotypen in differenten, gleichwohl homogenen Raumbildern ästhetisch zu vergegenwärtigen.

So sehr sich das Fresko zur Rechtfertigung nostalgischer Leitbilder der europäischen Stadt eignet, spricht es bei näherem Hinsehen doch eine Sprache, die von derartiger Vereinnahmung erheblich abweicht. Was sich nicht nur im Einsatz ästhetischer Mittel zeigt, wobei uns gerade dieser besonders interessieren muss. Es ist vor allem das hochgradig differenzierte Problem der Vergesellschaftung, die als Stadt und durch Stadt voran schreitet, von dem hier erstmals in der europäischen Stadt- und Kulturgeschichte außerordentlich gebildet und anschaulich erzählt wird. Das Fresko stellt den damaligen Stadtbürgern wie uns heute die Frage, woran sich dieser Prozess der Vergesellschaftung eigentlich messen lässt, woran und als was er sichtbar wird, er also gegenständliche Form annimmt. Welches ist das große, gemeinsame Thema der Vergesellschaftung? Die Botschaft des Bildes ist eindeutig: Es ist die von Menschen mit Leben erfüllte Stadt als Ort kollektiver und gelebter Identität. Die Stadt: ein hier zu sich selber kommendes Projekt, dessen vornehmstes Medium die Baukunst ist.

Das Thema des Freskos ist darin aktuell. Wo wir spätestens seit Georg Simmel von der anhaltenden Ent-Ortung des Stadtraums sprechen, handelt das Fresko von der Ver-Ortung des Stadtraums, allerdings in einem Raum, der über den rein geografischen, durch Mauer und Stadttore markierten Ort der Stadt hinausgreift. Die Ver-Ortung des Stadtraums in der bildlichen Darstellung bleibt bei Lorenzetti erstmals nicht mehr auf die Stadt beschränkt. Damit versucht er, Ort und Raum, die zunehmend als unterschiedliche Erfahrungsräume koordiniert werden müssen, in einem künstlichen Bildraum neu aufeinander zu beziehen. Insofern ist das Bild der Versuch, die bereits seit einigen Jahrzehnten für einen Teil der Gesellschaft, vornehmlich des popolo grasso, zur lebenspraktischen Erfahrung herangewachsene Differenz zwischen Ort und Raum aufzulösen. Dazu aber bedarf es ihrer Veröffentlichung im Bild, um als eine Differenz erkannt zu werden, die bei aller weit gespannter historischer Distanz zur Blütezeit frühbürgerlicher europäischer Stadtkultur heute zu den zentralen Problemlagen urbaner Existenz zählt.

Vom Bild der Stadt

Die europäische Stadt ist in der christlichen Glaubenswelt ein Ort, der immer auch über sich hinaus auf einen im Glauben der Menschen vorgestellten imaginären Raum verweist, dessen ‚Anwesenheit’ im subjektiven Erleben des realen Stadtraums wir heute kaum mehr ermessen können. Vieles spricht dafür, dass die Differenz zwischen realer und virtueller Raumerfahrung in einem durch Liminalität charakterisierten Stadtraum weitgehend aufgehoben war.

Die Stadt ist ein Konzept: das himmlische Jerusalem, dessen Stellvertreterin auf Erden Rom ist. Als realer Raum erscheint die Stadt im Mittelalter meist als Kreis. Seine Form umschließt einen aus vielen Örtern zusammengesetzten Ort und symbolisiert so einen kollektiven Raum. Die Stadt ist im Grunde ein großer Haushalt. In den Etymologiarium libri (9.4.3.) heißt es bei Isidore von Sevilla: "Ein Haus ist der Ort der Familie, wie die Stadt der einer Bevölkerung und die Erde der Wohnort der ganzen Menschheit". Leone Battista Alberti vergleicht die Stadt mit dem Haus, und die verschiedenen Teile dieses Hauses bzw. der Stadt seien wie kleine Häuser. Die Stadt ist in solch neuzeitlicher Sicht eine Akkumulation von Örtern.

Der lebens(un)wirkliche Raum, der die Stadt umschließt, ist eine von Dämonen bewohnte, von Menschen weitgehend unberührte Natur. Es ist ein abgewehrter Raum, wobei der Gegensatz von Ort und Raum hier noch als ein Gegensatz von Innen und Außen, als Positiv und Negativ erfahren wird. Dem entspricht, dass alles Schlechte, so auch Hinrichtungen, noch lange vor den Toren der Städte stattfindet. Eine Tafel in den Uffizien (Florenz) zeigt Ambrogio Lorenzettis wunderbare Darstellung des "Nikolauswunders" (1332), auf der das bedrohliche Außen in Gestalt eines hinzukommenden Fremden, genauer: des Teufels erscheint, der als Reisender verkleidet die Gegenwelt zum Haus verkörpert. Andere uns überlieferte Darstellungen, wie etwa jene eine Szene an der 1015 entstandenen Bronzetür des Doms in Hildesheim, zeigen die Vertreibung aus dem Paradies als die Vertreibung aus der Stadt.

Selbst als Ort der Reise erscheint die Stadt noch lange als ortsfixierte Größe, in der auf das Reisen in ortsabhängigen Hinweisen, wie Verlust oder Freude des Ankommens, Bezug genommen wird. Das gilt auch für Darstellung der Stadt, die der Findung geografischer Referenzpunkte (z. B. für Pilger) dienen. Der Raum wird darin durch Örter markiert, die nicht in einem Raum liegen, sondern diesen überhaupt erst konstituieren. Deshalb sind Raumdefinition und Raumwahrnehmung noch eindeutig ortsabhängig. Die Örter selber werden von wichtigen Bauten des Glaubens verkörpert. Und wo diese über die von ihnen markierten Örter hinausweisen, geschieht dies hinsichtlich des von ihnen gemeinsam symbolisierten, spirituellen, imaginären Raum. Und es ist die irdische, die vergängliche Welt, die die unsichtbare, himmlische und ewige Welt enthält.

Generell können wir sagen, dass in den damals bekannten Stadtdarstellungen, so auch in Lorenzettis Fresko vom Buon Governo, gemäß der kulturellen, religiösen, ökonomischen und sozialen Bedeutung der Stadt Kohärenz vorherrscht. Inkohärenz ist als Eigenschaft immer dem Bild von der schlechten Stadt (Mal Governo, die Hure Babylojn, die heutige Metropole) vorbehalten. Inkohärenz zeigt den Verlust des Ortes, der Ortsbezogenheit an; der Blick zerfällt hier. Die Stadt aber dient der Verortung und führt zu der Gewissheit, dass an diesem Ort das Gemeinsame Gestalt annimmt. Jan Assmann (1999, 130) nennt es das Wir, und er spricht weiter davon, dass der Städter seine Individualität in der bewusst wahrgenommenen Differenz zum Draußen erfährt, so wie das Ich von außen nach innen wächst.

Ein aus sich verstetigender Erfahrung in ökonomisch und politisch dominierenden Stadtrepubliken hervorgehendes Wissen von der Bedeutung dieses Vorgangs führt in Italien seit Beginn des 14. Jahrhunderts zu einer verstärkten Wahrnehmung der Schauplätze der Verortung und Bildung stadtbürgerlicher Identität. Nicht mehr nur der je einzelne Ort interessiert die Menschen, sondern das, was die Bauten, Plätze, Straßen, Begrenzungen und Umgebungen verbindet und durch was diese Verbindungen erzeugt, aber auch verhindert werden. Als Medium konzentrierter Vermittlung bzw. Veranschaulichung eignet sich die Malerei; und das tut sie noch einmal für uns, da sie – neben zahlreichen schriftlichen Quellen - Zeugnis ablegt von der damals neuen Aufmerksamkeit dem städtischen Raum und seiner Gestalt gegenüber. Tatsächlich setzt in dieser Zeit in der italienischen Malerei eine Veränderung in der Bedeutung räumlicher Situationen für und durch Bilderzählungen ein. Noch in den Bildern Giottos dominieren Örter, die ohne räumliche Verknüpfung auskommen und wo die Figuren kaum mit ihrem architektonischen Hintergrund interagieren. Die Bauten wirken wie entfernt vom Leben, so auch der uniforme, abstrakte blaue Himmel. Solange der Kontext von Kunst religiös ist, solange bleiben Räumlichkeit und Geschichte im Bild abwesend.

Wenn wir in diesem Zusammenhang von Raumerfüllung sprechen, dann setzt dies das Entstehen von Örtern voraus, die von Menschen besetzt werden. Das Dazwischen ist unerfüllter Raum. Erst die Wechselwirkung zwischen den Örtern sorgt für Erfüllung: Die Wechselwirkung aber ist medial bestimmt, es findet Vermittlung statt. Wobei das Dazwischen zwischen Räumen, die durch Substanz und Tätigkeit erfüllt sind, eine räumliche Konstruktion jedweder Art sein kann – besser: jedweder Medialität und deren Vergegenständlichung in Bildern, Bauten usw.

Es geht nachfolgend um eben diese Bedeutung als Emanzipation einer raumfüllenden Tätigkeit gegenüber einer Ortsfixiertheit, in deren Horizont die Geld- und Handelsgeschäfte der städtischen Bourgeoisie als höchst konkrete raumgreifende Erfahrung nicht mehr vermittelt werden können. Die in der Ort-Raum-Differenz gelagerte Komplexität wächst und führt zur Entwicklung bzw. Erprobung neuer medialer Vermittlungsformen. Als solche dient das Bild und insbesondere der von Lorenzetti geschaffene Freskenzyklus.

Siena

Halten wir uns eine seit knapp 200 Jahren freie italienische Stadtrepublik vor Augen, die sich in den 30er Jahren des 14. Jahrhunderts auf dem Höhepunkt ihrer bisherigen politischen, ökonomischen und kulturellen Entwicklung befindet. Flankiert von einem differenzierten Netz verschiedener, für damalige Verhältnisse demokratisch gewählter Institutionen und Gremien, hatte seit gut 50 Jahren (1287) eine durch den Rat der Nove gebildete Regierung erfolgreich für innere Stabilität gesorgt. Diese neun Herren wurden alle zwei (!) Monate neu aus dem Kreis des Popolo grasso, der Schicht der Bankiers und Kaufleute, gewählt. Nach außen hin hatte man machtpolitisch einen Ausgleich mit Florenz gefunden und sich sogar mit der Hafenstadt Talamone 1305 einen freien Zugang zum Mittelmeer erobert. In dem von Siena beherrschten Territorium lebten um 1340 etwa 100.000 Menschen. Handel- und Bankgeschäfte und ein produktives lokales Kleingewerbe trugen zu einem wirtschaftlichen Wohlstand bei, der einem Vergleich mit dem in Florenz durchaus standhalten konnte. In Folge hoher Steuereinnahmen erlebte Siena eine nicht minder bemerkenswerte kulturelle Blüte, was sich in der Malerei (mit Duccio, Simone Martini und den Gebrüdern Lorenzetti) ebenso niederschlägt wie in der vorbildlich beherrschten Kunst, die Stadt nach Maßgabe der Schönheit zu formen. So übertreiben wir nicht, wenn auch wir die Auffassung teilen, dass man in Italien keinen schöneren Platz findet als den Campo Sienas samt Rathaus, seinem von Lippo Memmi entworfenen Torre del Mangia und den Stadtpalästen der großen Magnatenfamilien, deren auf den Campo ausgerichtete Fassaden sich in ihrer Einheitlichkeit einem gemeinsamen Gestaltungswillen unterordnen.

In den Jahrzehnten vor und nach 1300 hatte sich bei den Einwohnern Sienas, wie auch bei denen anderer italienischer Stadtrepubliken, mehr und mehr die Überzeugung durchgesetzt, dass ihre Stadt nicht nur der Ort ihres Gemeinwohls ist, sondern dessen entschiedener Konstitutionsfaktor. Man begann zu verstehen, dass die Organisation des städtischen Lebens unmittelbar mit der Gestalt der Stadt zu tun hat, von deren maßvoller Schönheit man sich einen Einfluss auf das Verhalten der Menschen versprach. Die Stadt wird dabei zu einem Medium, in dem man lernt, das Gemeinsame ebenso wie das Unterschiedliche zu vermitteln. Für kollektive Identität, die ja keineswegs als konstant und gesichert gelten kann, wird es wichtig, sich gegenseitig der Bedeutung des Ortes und seiner Symbolisierungen zu vergewissern. Der Ort ist kulturelle Bedingung, Ausdruck und Ziel des gesellschaftlichen Reichtums in einem. Von ihm aus erobert man den Raum und überzieht ihn mit den ‚Segnungen’ städtischer Ordnung. Die Stadt bzw. städtische Kultur ist in solchem Denken kein Zustand mehr, sondern wird als eine Aufgabe begriffen, die sich in einem kontrovers strukturierten Feld von Mächten und Interessen erfüllt.

Als Folge entsteht ein Modell der italienischen Stadtrepublik der frühen Neuzeit, das sich dadurch auszeichnet, dass in Städten wie Siena, Florenz, Lucca oder Pisa das Bild einer urbanen Idealität (verglichen mit späteren utopischen Stadtkonzepten) gleichsam naturwüchsig durch die lebendige Vielheit des Vorhandenen erzeugt wird. Dies wirkt sich auf die Stadtgestaltung aus und findet darin seine ästhetisch räumliche Entsprechung. In unvergleichlicher Gleichzeitigkeit entstehen soziale und räumliche Verhältnisse, in denen Stadtkultur als Konstituens erstmals bewusst wahrgenommen und in einem neuzeitlichen Sinne artikuliert wird. Der produktive Faktor dieser Entdeckung ist die von weitgehend allen Stadtbürgern geteilte Aktivität des Lebens. Im Augenblick ihrer bewussten Wahrnehmung führen ihre Begeisterung und Überzeugungen, aber auch das Erschrecken angesichts des Wissens um die Gefahren eines Scheiterns zu jenem utopischen Überschuss (als Vermittlung), der Urbanität seitdem in vielfältigsten Ausformungen begleitet. Wobei wir uns in der Blütezeit der italienischen Stadtrepubliken im 14. und frühen 15. Jahrhundert noch ganz in der Phase des statischen Raummodells bewegen, in dem die Dynamik des Wachstums noch nicht als Grund der Expansion der Stadt zu erkennen ist.

Das Fresko

Bernardino von Siena erinnert in einer Predigt 1427 auf dem Campo die Einwohner Sienas an Lorenzettis Fresko mit folgenden Worten: "Als ich außerhalb von Siena war und über Krieg und Frieden predigte, dachte ich an das Bild, das ihr malen ließet und das gewiss eine sehr schöne Erfindung ist. Wenn ich mich dem Frieden zukehre, sehe ich da die Handelsleute umher gehen, ich sehe Tänze, sehe wie die Häuser geflickt werden, sehe in den Rebbergen arbeiten und wie auf den Feldern gesät wird, wie andere zu Pferd zum Bade reiten; ich sehe auch Mädchen zur Hochzeit gehen, sehe die Schafherden und vieles Andere mehr. Außerdem erblicke ich da einen Mann am Galgen, der aufgehängt wurde, um die Gerechtigkeit zu wahren. Und um all dieser Dinge Willen lebt jeder in heiligem Frieden und in Eintracht.

Wenn ich mich dagegen zur anderen Seite wende, sehe ich keinen Handel, keine Tänze, aber ich sehe wie Einer den Anderen umbringt; man flickt keine Häuser, sondern zerstört und verbrennt sie; man bearbeitet nicht die Felder, schneidet nicht die Reben, man sät nicht, man geht nicht zum Bade, noch pflegt man irgend etwas von den andern wonnevollen Dingen. Ich sehe außerhalb des Tores weder Frauen noch Männer, aber den Erschlagenen, die Vergewaltigte; da gibt es keine Herden, es sei denn als Beute. Männer töten sich aus Verrat gegenseitig; die Gerechtigkeit liegt am Boden; ihre Waage ist zerbrochen und sie selbst an Händen und Füßen gefesselt. Und Alles, was Einer tut, tut er in Angst."

Bei dieser "schönen Erfindung", bei deren Erwähnung auch neunzig Jahre nach ihrer Entstehung ein Prediger, wie Bernardino, sicher sein konnte, dass seine auf dem Campo versammelte Zuhörerschaft wusste, wovon er sprach, war Lorenzetti in der Wiedergabe der Stadt mit außerordentlicher Originalität vorgegangen.

Beim Eintritt in den Saal der Nove ist man zunächst mit der schrecklichen Allegorie der Tyrannei und ihrer verheerenden Auswirkung auf Stadt und Land konfrontiert. Die Wand rechts davon nimmt die Allegorie der guten Regierung ein, deren Auswirkungen auf einer weiteren Wandfläche ereignisreich erzählt werden. Dabei wird der Darstellung des die Stadt umgebenden Naturraums, des Contado, ebenso viel Platz eingeräumt wie dem Leben in der Stadt, die unschwer als Siena zu erkennen ist.

Differenzwahrnehmung

Stadt und Land bilden in Lorenzettis Darstellung ein räumliches Ganzes: die Stadtrepublik Siena. Der Raum, das ‚Außen‘, steht dabei ganz und gar unter den Maßstab setzenden Handlungen, Symbolisierungen und Attributen der Stadt. Der Ort vereinnahmt den Raum. Das heißt aber auch: der Ort dehnt sich im bis dato abgewehrten Raum aus und weist so über sich hinaus. Ansprüche und Verantwortung wachsen, die Strukturen werden komplexer, sie verschränken miteinander und gewohnte Differenzen verwischen. Dadurch wächst die Notwendigkeit, die Veränderungen, die durch die Verschiebung der Differenzen entstehen, neu zu vermitteln. Dieser Prozess ist ganz offensichtlich weder rein kognitiv, noch im alltäglichen Erfahrungsablauf hinreichend präsent und nachzuvollziehen. Ihn zu vermitteln, ist von anderem Kaliber als die Veranschaulichung der Bibel für die Laien/Leseunkundigen, wie es z. B. Bernard von Clairveaux dachte. Vermittlung geht über die traditionellen Grenzen des Bildhaften hinaus, indem sie den Bildraum neu formt. Das Medium besetzt einen weiteren Raum, indem es diesen teilweise erst herstellt. Um das zu erreichen, durchbricht Lorenzetti den "ungleichmäßigen und kontraktiven" mittelalterlichen Raum der Örter und erschließt so einen "homogenen und extensiven Raum" des Raumes.

Erst die Stadt macht die Differenzwahrnehmung möglich. Das Außen ist nicht mehr die bloße Natur, Aufenthalt des Schlechten; sondern jetzt ein Raum, wie er sich analog in der Florentiner Domkuppel zu einem architektonischen Raum verdichtet, eine Projektion, die den Natur- und Landschaftsraum in der klaren Gestalt der Domkuppel anschaulich macht. Es ist die Anwesenheit des Außen – hier: des realen Außenraums – im Inneren der Stadt. Ort und Raum erscheinen gleichzeitig an einem Ort, die Stadt greift in den Raum hinaus und zieht ihn symbolisch zu sich hinein. Erst die Wahrnehmung der Natur als Raum macht aus ihr eine Landschaft. Es ist die Erfahrung des Orts, die zur Raum-Wahrnehmung befähigt. Die Konstitution des Orts geht der des Raums voraus; beide gehören jedoch zusammen. Raum-Wahrnehmung hat also die Konstitution des Orts zur Voraussetzung.

Damit ist die Differenzwahrnehmung konstitutiv und führt gleich zu Beginn zu einer grandiosen Vermittlungsleistung: Lorenzettis Fresko als Eroberung des Bildraums in der Malerei. Die Vermittlung, so ließe sich auch sagen, gelingt bildnerisch nur über den innovativen Schritt der Analogie von erobertem Natur- und Bildraum. Oder anders ausgedrückt: die Notwendigkeit der Differenzvermittlung führt zu einer neuen medialen Ausdrucksleistung. Das einheitliche Element ist in beiden Fällen der Raum, der als übergeordneter Faktor die verschiedensten Naturelemente zusammenfasst.

Lorenzetti erobert das Bild als Raum, er stellt eine Analogie her zwischen dem Wahrgenommenem und dem Medium, das das Wahrgenommene in eine Bildrealität umformt. Die Malerei selber vollzieht den Schritt von der Orts- zur Raumqualität, da es Lorenzetti gelungen ist, die neue Raumdimension in den Bildraum zu übertragen. Er setzt dies als Ausdrucksmittel dort ein, wo er in der Komposition des Mal Governo bildräumliche Dissonanzen einsetzt gegenüber einer harmonischen Bildraumgestaltung beim Buon Governo.

Grenzziehung und Grenzüberwindung

Auf Lorenzettis Fresko ist die ganze Stadt das Symbol, denn hohe symbolische Einzelaufladungen sind nicht zu erkennen. So wirkt der Dom - an dessen den Ort sprengender, raumgreifender Erweiterung man in Konkurrenz zu Florenz bereits arbeitete - am oberen linken Bildrand wie gerade noch hinzu gesetzt. Auch wird man den Ort des Freskos, den Palazzo Pubblico, vergeblich suchen.

Anders verhält es sich mit der Stadtmauer als der bis dahin gebräuchlichsten Grenzziehung von Ort- und Raumerfahrung. Wir vermuteten bereits, dass diese Grenze in ihrer symbolischen Aufladung doppelt konnotiert sei. Sie ist einmal das, was sie als Mauer ist: eine wehrhafte, zinnenbekrönte Anhäufung von schwerem Steinmaterial. Gleichzeitig erscheint sie aber auch in dem, was sie überwindet bzw. in den außerstädtischen Raum transzendiert, der juristisch, politisch, ökonomisch und sozial (die Villen der Städter im Contado) auf den Stadtraum als Ort der Vergesellschaftung somit bezogen bleibt. In ihrer Symbolik ist die Mauer höchst ambivalent; sie zu begreifen, setzt beim Einzelnen ein gewisses Abstraktionsvermögen voraus, besser ein Vorstellungsvermögen, das auf Kenntnis beruht.

So gesehen ist die Mauer in Lorenzettis Fresko Ausdruck einer intellektuellen Leistung: sich nämlich innerhalb ihrer Grenzmarkierung der durch sie symbolisierten Notwendigkeit der Grenzüberschreitung bewusst zu werden. Die Mauer hätte somit eine körperliche und eine kognitive Dimension. Sie trennt nicht nur, sie vermittelt auch und das nicht von ungefähr mit Hilfe des Mediums ihrer so oft gerühmten Schönheit, für deren Begründung ihre fortifikatorische Funktion allein nicht ausreichte.

Als ein mit Bedeutungen besetzter und zu besetzender Raum zwischen zwei Örtern, hier dem der Stadt und dem des Landes als den jeweiligen Bezugshorizonten vieler Örter, wäre die Mauer im besten Sinne ein Dazwischen. Als eine relativ stabile Raumkonstitution wird sie als Dazwischen zwischen Ort und Ferne in der alltäglichen Lebenspraxis von der Körperlichkeit der Subjekte erschlossen. Die Mauer erfüllt aber auch eine weitere Bedeutung, für die wir uns von der Körperzentriertheit der Orts- und Raumerfahrung lösen müssen.

Als Dazwischen besitzt die Mauer ihre zweite Bedeutung in ihrer kognitiven Dimension. Sie ist damit das geradezu klassische Sinnbild einer modernen und ununterbrochenen Erfahrung von Grenzverwischung und Grenzauflösung in Wahrnehmung und Praktik des Grenzüberschreitens bzw. der Verwischung von Innen (Ort) und Außen (Raum). Da die Mauer in ihrer zweifachen Bedeutung nicht eindeutig ist, weder nur Objekt körperzentrierter Erfahrung im Verweis auf den geschlossenen Stadtraum, noch nur Grenzauflösung im Verweis auf den urbanisierten Einheitsraum von Stadt und Land, ist sie bereits hier zu solch differenzierter Vermittlung fähig.

Die Mauer verkörpert nicht nur den Gegensatz, sondern auch das Verhältnis von Innen und Außen, das somit in das Innere der Stadt hinein genommen ist. Aber nur symbolisch als Grenze zwischen Innen und Außen. Denn in ihrem Innern ist die Stadt des Buon Governo als Ort wiedergegeben, der unverkennbar einen Ordnungszusammenhang bildet. Lorenzetti vermeidet es, soziale Differenzen als Raumdifferenzen abzubilden; was insoweit verständlich ist, hatte man doch seit einigen Jahrzehnten erfolgreich jene destruktiven Territorialauseinandersetzungen der in Geschlechtertürmen gruppierten Familienverbände überwunden.

Vergesellschaftung

Dass Vergesellschaftungsprozesse raumstrukturierende Vorgänge sind, zeigt das Fresko. Damit zeigt es weiter an, dass bereits zu Beginn des 14. Jahrhunderts ein Wissen von diesen Zusammenhängen vorhanden war. Dabei ist auch dieser Raum eine Projektion der sozialen Gestaltungen und Energien, die sich in ihm ereignen. Es sind die Tätigkeiten der Menschen, durch die er als Handlungsraum gewonnen wird. So ist der Aktionsraum hier bereits Darstellungsraum, in dem das örtlich Getrennte in einen simultanen Zusammenhang und räumliches Bezugssystem gebracht wird. Für die Menschen ist die Stadt ein Ort leibgebundener Erfahrung, die durch Handlungen verschiedenster Art konstituiert wird (man redet, trifft sich, treibt Handel usw.). Und es sind Objekte, wie Häuser, Plätze, Buden etc., die am Ort in Kommunikationen thematisch werden. Der Ort wird belebt, subjektiv erzeugt und dadurch bedeutend. Allgemein können wir sagen, dass der Ort das ist, was man im Raum als ganzheitliche Struktur von Objekten konstruiert und was man alltagsweltlich belebt. Dabei wäre eine raumgreifende Belebung urbanistisch, eine raumkonzentrierende Belebung privatistisch.

Allerdings findet Vergesellschaftung nicht mehr allein am Ort statt. Lorenzettis Fresko ist der subjektive Entwurf, in dem Ort und Raum als soziale und geografische Größen miteinander verbunden werden. Doch ist, wie wir gesehen haben, schon hier die Mauer nicht mehr nur eine Konstruktion, die die Erfahrung des Orts sichern hilft. Wie diese Erfahrung aber auch noch nicht ausschließlich im Subjekt bzw. im Einzelnen verankert ist. Die Ort-Raum-Erfahrung hat ihren Adressaten in einer von der Stadt-Gemeinschaft getragenen Erfahrung, ist also soziale Erfahrung einer kollektiven Identität.

Es ist das Bild, das den Raum in etwas Bekanntes, Vertrautes verwandelt, das die Eigenschaften eines sozial strukturierten und subjektiv belebten Ortes teilt. Raum ist nicht mehr die Negation des Ortes sondern dessen Verlängerung und Erweiterung.

Dass der Raum dem Ort ähnlich wird und man das auch sehen soll, mag die Tatsache

der vielen in der Landschaft eingeschriebenen Örter unterstreichen, die den Raum beleben.

Das Fresko ist nach unserer Begriffsbestimmung ein klassisches Medium, da es zweifelsfrei die Konstruktion von Ort und Raum zusammen bringt. Dabei geht es nicht nur um Identität und das Verwischen der Grenzen, sondern vielmehr um das Bewusstsein davon, dass beide Konstruktionen als aufeinander bezogene gesehen und gedacht werden.

Nochmals: Alle Dinge besitzen im Raum ihren Ort. Der Raum erscheint noch ganz als Erweiterung des Ortes in den Raum. Gleichzeitig werden aber Unterschiede be(ob)achtet und in den Bildraum gesetzt, aber nicht als Gegensätze, sondern als Ausdruck von Vermögen und gesellschaftlichem Reichtum angesichts von Vielfalt: es ist das sich in Gestalt eines Einheitsraums zu einem Ganzen zusammen fügende Verschiedene.

Ästhetisierung als Vermittlung

Das, was hier als Welt im Bild erscheint, stellt ein vom Ort aus gedachtes, erfahrungszugängliches Weltmodell dar. Das unterstreicht die Tatsache, dass das Buon Governo mit Città und Contado im Bild die Perspektive wiedergibt, die man hat, wenn man aus dem Nordfenster des Sitzungs- und Empfangsraums der Regierung blickt. Gleichwohl können wir sagen, dass dieses Fresko ein Beleg für die Vermittlungsarbeit ist, die dieser historische, ortsübergreifende Schritt der frühbürgerlichen Stadtgesellschaft vor gut 660 Jahren erforderlich machte. Beide Dimensionen notwendiger Ort-Raum-Ver-mittlung sind bereits hier erfüllt bzw. klar erkennbar: die alltagsweltliche, die dem Betrachter in reichlich lebendigem Erzählstoff dargeboten wird; und die politische, die hier tatsächlich auf die Vermittlung von lokaler Gesellschaft und überlokalem, nicht auf die Raumerfahrung der Stadt beschränktem politischen und ökonomischen System bezogen ist. Die Vermittlung dient der Beherrschung aller Lagen, der nach außen gerichteten, sowie der innerweltlichen Sicht.

Möglich wird das, weil es gelingt, Ort und Raum bewusstseinsmäßig mit dem Medium des Ästhetischen zusammenzuhalten, das damit virtuell eine identitätsstiftende Funktion übernimmt. In dieser Funktion besetzt das Ästhetische eine Leerstelle zwischen Ort und Raum, die es ausfüllt und beiden Dimensionen körperlicher und kognitiver Raumerfahrung eine weitere hinzufügt. Es steht nicht nur im Dienste einer Vermittlung, ginge also ganz darin auf; stattdessen konstituiert die kulturelle Form des Bildraums ihrerseits eine Ort- und Raumerfahrung, die über ihre praktische Notwendigkeit hinaus reicht. Dabei kommt es in der bildlichen Darstellung der Stadt Siena, ihres Contado und in der ästhetischen Vergegenwärtigung der Tyrannis unter der Hand zu einer Ästhetisierung aller Erscheinungen des praktischen Lebens: Architekturen, Kleidungen, Körperhaltungen, Tätigkeiten, distinktives Verhalten, ja auch Geländeformationen sind in einem ästhetischen Ausdruck zusammen geführt. Durch ihn, als Medium, macht sich der Betrachter ein Bild vom städtischen Leben. Als ästhetisierte erscheint Lebenspraxis im Bild als gelungene, womit sie in dieser kulturellen Ausdrucksvariante zwangsläufig Vorbildcharakter annimmt. Die Rückwirkung des Bildes auf das Verhalten der Stadtbürger bleibt demnach nicht beschränkt auf die Übersetzung komplizierter Gesetzestexte. Das Bild verändert den Blick auf Ort und Raum im Medium einer beider Differenz zueinander vermittelnden Ästhetisierung.

Auf einem der Bildtexte ist zu lesen, dass das Leben in jener Stadt "süß und ruhig" sei ("ecome e dolce vita eriposata quella dela citta"). In solch wunderbarer Verwandlung unzulänglicher Lebenswirklichkeit in eine Idealität durch die Wirkungs- bzw. Überzeugungsmacht des ästhetisch Konstruierten ist ein Versprechen enthalten, dessen ambivalenter Kraft sich das moderne Bewusstsein bis zum heutigen Tage nicht mehr hat entziehen können. Es ist die Kunst - als höchste Potenz kultureller Leistung, damit der Stadt gleichgestellt und wie sie Ausdruck einer kollektiven und kulturellen Identität -, die maßgeblichen Anteil an der Transformation von Ort und Raum hat. Der von ihr hervorgebrachte Blick wird zu einem raumkonstituierenden Faktor.

Adressaten der Vermittlung

Aber für wen, so werden Sie fragen, geschieht das überhaupt? Wer von den Einwohnern Sienas kam in den Ratssaal und hatte so die Gelegenheit, diesen durch die Kunst der bildhaften Raumerzeugung hervorgerufenen neuartigen Blick auf sich einwirken zu lassen? Keine Frage, dass wir es hier mit dem Ergebnis einer Elite-Kultur zu tun haben, die Repräsentativität in Bezug auf das Ganze beansprucht. Diese Kultur ist in ihrem vornehmsten Resultat, der Stadt, allerdings keine exklusive, sondern eine repräsentative Kultur, an der – so ist der Raum nun einmal konnotiert – alle Menschen der Stadtrepublik Siena teilhaben. Lorenzetti und seine Auftraggeber laden uns in einen von allen Ständen belebten Raum ein, der durch die verschiedensten Tätigkeiten hergestellt wird, und in dem und durch den Alle, die daran beteiligt sind, in die Idealität der hier repräsentierten kulturellen kollektiven Identität eingebunden sind. Darauf verweisen die unter der Allegorie versammelten, in Rangordnung aufgereihten 24 Stadtbürger. Der Ratssaal war verhältnismäßig vielen Bürgern zugänglich, neben den Ratsherren weiteren Amtsträgern, Gesandten und Bittstellern. Wie überhaupt das Fresko die damalige Sozialstruktur Sienas wiedergibt. Es treten auf die Casati (ehemalige Feudalherrn, der Adel), der Popolo grasso (Bankiers, Kaufleute), der Popolo minuto (Gewerbe) und mit den Mägden, Knechten und Bauern die politisch Rechtlosen. Stadt und Land, Ort und Raum, erscheinen aus ökonomischer Sicht u.a. verbunden im Bild des Bauern, der Wolle bringt, die von Frauen und Männern in der Stadt bearbeitet wird. Sozial verbunden sind sie mit einem am Wegesrand um Almosen bittenden Bettler. Auch er gehört zu einer sozialen Hierarchie, die erst in der Vollständigkeit der Aufzählung und Wahrnehmung all ihrer Teile die Kultur städtischer Lebensweise zu repräsentieren vermag.

Die Stadt erscheint daher als Bild und als im Bild vorgestellt wie ein konkreter Raum der Gleichzeitigkeit allen Geschehens und nicht als ein Ort, dessen Komplexität sich im alltäglichen Leben normalerweise der subjektiven Erfahrung entzieht. Die von Lorenzetti und seinen Auftraggebern zweifelsfrei erkannten Probleme, die bei der Durchdringung der Gesetzgebung auf Seiten der Repräsentanten der Comune entstehen - bezeichnenderweise übersetzte man für die häufig wechselnden Amtsträger, die "Diener der Gerechtigkeit", den Text ins Volgare und sorgte dafür, dass der Podestà und der Capitano del popolo jeden Monat den neun Ratsherren, den Nove, den Abschnitt der Verfassung vorlasen, der sich mit deren Pflichten befasst - , werden von der Erzählung des Bildes aufgefangen, gemildert und insoweit bewältigt, als die Einhaltung der Gesetze durch das Bild nicht nur gefordert, sondern ausdrücklich als gute Tat gewürdigt wird.

Tatsächlich erscheint 1337-39 eine neue Gesetzessammlung, so dass das Fresko mit der Verschriftlichung der Sieneser Stadtrechte in Verbindung steht. In diesem komplizierten Gesetzestext kommt eine neue Qualität gegenseitiger Abhängigkeit zum Ausdruck, ein schriftlich verfasster Vergesellschaftungsprozess/-vertrag, den das Bild vermittelt, indem es diesen Prozess – und das ist das eigentlich Revolutionäre - als eine kollektive Raumproduktion und Raumerfahrung darstellt. Dabei ist das Fresko zugleich eine gemalte Enzyklopädie, zeitgleich mit den Tafeln am Campanile des Florentiner Doms. Akkumuliertes Wissen wird in einen Kontext integriert. Dieser Kontext ist die Stadt, die durch das Bild als Medium dieses Wissens erscheint.

Andererseits: Die im Bild thematisierte neue Sicht auf den Natur- bzw. Außenraum als Landschaft - und das trifft in gewisser Weise auch auf den Stadtraum zu - vermittelt nicht nur eine Differenz, sondern erzeugt auch neue Differenzen. Allein die Tatsache, dass die bildhafte Wirklichkeit überhaupt nur auf Grund ihrer Differenz zur lebenspraktischen existieren kann, und um als solche wahrgenommen werden zu können, führt zu einer neuen Differenz. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass das Bild vielschichtig argumentieren und sozial und kulturell verschiedene Anspruchniveaus ‚bedienen’ kann. Dazu zählt eine veränderte Sicht des Raums, die bei aller kultureller Vermittlung zugleich die sozialen und kulturellen Ungleichheiten innerhalb der Sieneser Gesellschaft verstärkt haben dürfte. Diese Sicht kommt in erster Linie denen zugute und bestärkt sie in ihrer distinktiven Praxis, die auf Grund ihres Standes und ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit über einen Blick verfügen, der die Fähigkeit besitzt, das Territorium in einen Prospekt zu verwandeln. Er ist Ausdruck des kollektiv beherrschten und privat in Besitz genommen Raums.

Dieser Außen-Raum erscheint auch deshalb als Teil eines kontrollierten Einheitsraums, weil Lorenzetti nicht nur den Contado als Landschaft vermittelt, sondern erstmals auch die die Stadt symbolisierende Einheit von Architektur, sozialen und kulturellen Praktiken, Arbeit und sozialem Status. Wir folgen dabei einem Verständnis von Landschaft, wie es die amerikanische Kulturwissenschaftlerin Sharon Zukin in der Verwendung des Begriffs landscape in ihrer Studie "Landscapes of Power" (1991) entwickelt hat, um heutige Veränderungen in der Ort-Raum-Differenz zu charakterisieren. Danach bezeichnet landscape nicht nur in der gemeinhin üblichen geografischen Bedeutung des Wortes eine physische Umgebung, sondern bezieht sich auch auf ein Ensemble von materialen und sozialen Praktiken und deren symbolische Repräsentation. Zukin (16) spricht von einer "architecture of social class, gender, and race relations imposed by powerful institutions". Darin unterscheidet sie "landscape of the powerful – cathedrals, factories and skyscrapers – and the subordinate, resistant, or expressive vernacular of the powerless – village chapels, shantytowns and tenements".

Darüber hinaus beinhaltet landscape immer eine bestimmte Sichtweise, wobei Institutionen der Macht es bestens verstünden, der selektiv vorgehenden Sicht auf die Landschaft ihren Stempel aufzubürden. Hier verweist Zukin zur Unterfütterung ihrer Begriffserweiterung auf die Landschaftsmalerei, in der durch die Jahrhunderte hindurch nur zu oft sich das Land im Bild in einen beherrschten Raum verwandelt lässt, vermittelt durch die Bedeutung der Form als Ausdruck der kulturell angeeigneten Landschaft. Voraussetzung bzw. Bedingung für die Wahrnehmung des Raums als landscape ist in der frühbürgerlichen Periode die Mobilität der Kaufleute, der Händler und des Adels. Sie haben auf ihren Reisen viele Landschaften kennen gelernt, die im Laufe der Zeit als Bilder ihre Vorstellungswelt anreichern. Daraus entsteht ein aussuchender und interpretierender Blick, der an der Realität des Ländlichen durchaus vorbei gehen kann.

So liegt die Vermutung nahe, dass die in Lorenzettis Darstellung des Außen-Raums verarbeitete neue Sichtweise auch den Blick auf den urbanen Raum verändert hat. Der uns hier dargebotene Stadtprospekt trägt eindeutig Züge einer Stadt-Landschaft. Der Blick wechselt demnach zwischen den Repräsentationsformen des Innen- und des Außenraums, die – noch einmal dem Verständnis von Zukin folgend – als Bildraum eine landscape bilden.

Bild und Identität

Folgen wir den Ausführungen Jan Assmanns (1999), so haben wir es mit einem Bild zu tun, das für die kollektive oder Wir-Identität der die Stadt regierenden männlichen Mitglieder der großen Familien gemacht wurde. Im Auftrag liegt das Bekenntnis zu einer von allen zu teilenden Identifikation mit dem Gemeinwesen. Dass sie sich ein Bild machen, ist sowohl Ausdruck des Entwicklungsgrades und der Stärke dieser Identifikation, als auch des Wissens um deren notwendige Verstärkung durch eine künstlerische Synthetisierung an symbolisch bedeutsamem Ort. Denn der Ratssaal ist die nach innen gewendete Lokalisierung eines Ortes kollektiver Identität. Er ist der Raum, in dem sich diese Identität in den Entscheidungen des Rats de facto ereignet und im Fresko Gestalt annimmt als ein von Allen geteiltes Bekenntnis zur urbanen Kultur.

Aus der Positionierung des Freskos an dieser prominenten Stelle können wir folgern, dass der Körper der Stadt alle Institutionen der Kultur in sich vereint. Die Stadt erscheint als die Summe aller Kultur, sie ist größtmöglicher Ausdruck der zur Kultur fähigen Stadtbürger. Minutiös führt die Allegorie vor Augen, dass erst die Beherrschung der ungezügelten Triebe den Raum für jene hier eindringlich vor Augen geführte Stufe kulturellen Kollektivvermögens erzeugt. Assmann (137) nennt ihn einen Besinnungsraum, "in dem Handeln aus freier Entscheidung und damit Identität erst möglich wird". Ein von Willkür freier, Freiheit bietender "Frei-Raum".

Was das Fresko weiter vorführt, ist die Bedeutung eines gemeinsamen Symbolsystems und der Teilhabe an der darin ausgedrückten Sprache. Sinnbild und realer Ort dieses Systems ist der Raum der Stadt. Das schlechte Regiment führt vor Augen, wie schnell diese kollektive Symbolwelt zerbricht, der babylonischen Sprachverwirrung nicht unähnlich, wenn Tyrannei, Hass, Missgunst und Willkür das Regiment erst einmal übernommen haben. Wie die einzelnen örtlichen Verweise, so zerfällt auch der gesamte Raum in eine Schrecken und Gewalt verbreitende Inkohärenz.

Schließlich hilft das Bild dem Betrachter zu imaginieren, was diesem in der Lebenswirklichkeit leicht abhanden kommt: ein von Bewegung und Zeitverbrauch unabhängiges Raumerlebnis der im Raum verteilten lebensweltlichen Örter. Nicht die Ungleichzeitigkeit der Ortsperspektiven reduziert hier die Komplexität des städtischen Raums. Denn auch das Bild kommt an einer Reduktion zu Gunsten seines betont utopischen Gehalts nicht vorbei. Armut, Elend und ein über das Land fahrendes Volk kennt das Buon Governo nicht. Erst im Zusammenlesen mit dem Mal Governo treten all die im Buon Governo vermeintlich bewältigten Negativ-Erscheinungen des Städtischen umso wirkungsvoller in Erscheinung.

Bild-Leistung

Lorenzetti entwirft mit seinem Fresko ein Bild von den Bürgern Sienas, das sie im Zentrum ihrer Erfahrung sieht. Wobei es sich um eine Erfahrung handelt, die im Zentrum einer einheitlichen, von dieser Erfahrung her räumlich gesättigten und beherrschten Lebenswelt steht. Das Fresko beschwört die Identität von Ort und Raum, die es - wenn überhaupt - in der von ihm beschriebenen pastoralen Stimmung immer nur vorübergehend gegeben haben dürfte. Der Friede zwischen Innen und Außen, verkörpert als Einheitsraum, zeigt den Innenraum als eine vom Außenraum differente ästhetische Erfahrung, da Stadt und Land unterschiedlich gestaltet sind. Und wieder übernimmt die Schattenseite des städtischen Lebens die im Mal Governo verschiedene Erfahrung der Katastrophe der Tyrannei als das Andere der Lebenswelt.

So gesehen bietet der Ratssaal an zwei räumlich verbundenen Örtern die problematische Erfahrung des Innen-Außen. Der Ratssaal als leiblicher Erfahrungsraum einer ästhetisch gebannten Vision vermittelt dabei jene Wirklichkeitserfahrung, die in den beiden Darstellungen des Mal und des Buon Governo sich aufspaltet zu Gunsten jeweiliger Eindeutigkeit durch Überzeichnung: die Verstärkung des Wunschbildes als Zielhorizont eines gelungenen städtischen Lebens dort und die grausame Szenerie eines falschen Lebens, mit der man beim Eintritt in den Saal als erstes konfrontiert wird.

Die Ort-Raum-Differenz, als die von Innen und Außen, hat Lorenzetti als eine für seine Zeitgenossen realitätsmächtige subjektive Erfahrung verarbeitet. Sie zu überwinden, dazu bedarf es nicht bloßer Gesetze, sondern einer externen Vermittlung in Gestalt des Bildes. Überwindung aber meint hier noch die reflektierte Anwesenheit des Widersprüchlichen und keineswegs die Illusion eines widerspruchfreien Lebens, das auf Vermittlung deshalb glaubt verzichten zu können, weil im ästhetisch grundierten Prozess des Vermittelns dessen ursächliche Erfordernis sich der Aufmerksamkeit des Betrachters entzieht.

Allerdings sollten wir nicht daran vorbei sehen, dass in der Bearbeitung von realen Differenzen in der Stadt durch die im Medium des Bildes ästhetisch geleistete Vermittlung zugleich eine neue Differenz entsteht: die zwischen der Realität des Lebens und seiner vorgestellten Idealität als utopisches Stadtbild.

Es ist schon verblüffend, auf welche Weise es Lorenzetti gelungen ist, uns gleich zwei Erfahrungen zugänglich zu machen. Im Augenblick der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassenden Vorführung nicht bewältigter Ort-Raum-Differenz und der zwischen Innen und Außen sind wir Augenzeuge der gelungenen Bewältigung dieser Differenz, die sich jedoch nicht auf das Verwischen dieser Grunderfahrung einlässt. Raum als im Unterschied zum Ort tendenziell fremde, angstbesetzte Größe ist von der Stadt aus in beherrschten, angstfreien Raum zu verwandeln, weshalb die Differenz zwischen Ort und Raum zur marginalisierten Größe schrumpft.

Zu dieser Mehrdeutigkeit und gleichzeitigen Anwesenheit des Verschiedenen ist zu jener Zeit wohl nur die Sprache der Kunst fähig. Nur ihr gelingt es, den Betrachtern vor Augen zu führen, was sie glaubten zu kennen und doch so nicht wissen konnten. Der Freskenzyklus erzählt nicht nur, sondern ist selber Schauplatz der verschiedensten Energien, die zu seinem Entstehen beigetragen und darin Eingang gefunden haben. Will man sich darauf verstehen, dass dieses Fresko nicht nur eine im Verhältnis 1:1 ins Bild übersetzte Enzyklopädie, ein pädagogisches und politisches oder philosophisch-religiöses Programm ist, dann wird man dem Bild jenen Eigensinn attestieren können, den es als eigenständiges Vermittlungs- und Erfahrungsmedium besitzt. Es also Kenntnisse, Vorstellungen, Wünsche und Ängste artikuliert, die in ihrer Aussagekraft und ihrer Wirkung partiell über das ihm zu Grunde liegende Wissen hinaus geht.

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Literatur

Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis, München 1999

Kemp, Wolfgang, Die Räume der Maler, München 1996

LeGoff, Jacques, Die Liebe zur Stadt, Frankfurt/New York 1998

Riklin, Alois, Ambrogio Lorenzettis Politische Summe, Bern 1996

Zukin, Sharon, Landscapes of Power, University of California Press 1991

 

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