6. Jg. , Heft 2 (Januar 2002)
Leitbild und Formensprache
in Anlehnung an die historische Bausubstanz

Einleitung

22 Jahre sind seit Rolf Kellers Buch „Bauen als Umweltzerstörung“ vergangen, und trotz einer umfangreichen Diskussion über Architektur und Stadtplanung hat sich im Grundsatz an der gebauten Qualität nichts verändert. Neben der Vergiftung von Boden, Wasser und Luft zerstört der Mensch tagtäglich durch seine gestaltlose Bauwut Städte und Dörfer ebenso wie die noch intakten Landschaftsbilder. Aber Bauen wird ein Urtrieb des Menschen bleiben, selbst wenn - wie bei uns in Westeuropa - ein wirklicher Bedarf für neuen Wohnraum bzw. gewerbliche Zwecke eigentlich gar nicht mehr existiert. Der Urtrieb Bauen wird bleiben, ob wir ihn begrüßen oder auch manchmal verwünschen. Im Bauen wird der Mensch immer wieder versuchen, sich schöpferisch zu verwirklichen.

Auch wenn heute unzählige sogenannter städtebaulicher Wettbewerbe durchgeführt werden, so haben die Ergebnisse in der Regel wenig mit Städtebau zu tun, vielmehr spiegeln sie eine Architekturdiskussion wider, die auf den Entwurf einzelner oder die pure Addition mehrerer Gebäude ausgerichtet ist. Städtebau, wenn er stattfindet, ist eigentlich nur noch innerhalb der historischen Zentren zu finden, nicht aber am Stadtrand, geschweige denn in der nichtstädtischen, dörflichen Siedlung. Nach wie vor sind die Weichbilder unserer Stadtregionen und die Dörfer die Stiefkinder einer Bauentwicklung, die auf das repräsentative, ökonomisch orientierte, gestylte Einzelgebäude gerichtet ist. Das Chaos wird - als Ausdruck der pluralistischen Gesellschaft und Lebensweise - auch noch positiv interpretiert!

Dieser Text ist der Planung von Dorf, Siedlung und Stadtrand gewidmet. Er soll an nicht alltäglichen Beispielen aufzeigen, wie durch behutsame Planung ein Leitbild für einen Ort entwickelt werden kann, das zur Grundlage einer gemeinschaftlichen Gestaltungsaufgabe der Bewohner wird. Leitbilder sind notwendig, um aus menschlichen Siedlungen Orte werden zu lassen.  

Ohne Leitbilder ist es nie gegangen. Immer benötigten wir eine Erfindung, der sich alle Teile unterordneten. Vorgaben der Natur, der vorgefundenen Kultur, des gesellschaftlichen Zusammenlebens usw. formten die Idee. Hierbei konnten durchaus unterschiedliche, auch gleichwertige Lösungen gefunden werden, doch war es wichtig, innerhalb eines Ortes ein Gestaltleitbild zu formulieren, in das sich alle in durchaus spielerischen und phantasievollen Varianten einfügten.

Heutzutage finden wir ortstypische Leitbilder kaum noch. Stattdessen finden sich internationale Leitbilder an Stellen zusammen, ohne mit diesen oder auch nur untereinander eine logische Verbindung einzugehen. Bei den nachfolgenden Beispielen des sanierten Ortes Muttenz bei Basel, dem Neubau einer Wohnsiedlung bei Biberach und der Umsiedlung eines ganzen Dorfes war immer die Orientierung am Alten ein Leitthema. In Muttenz war es die sensible Einfügung neuer Bauten in einen historischen Kontext, in Biberach der Wunsch der Bürger, eine neue Siedlung mit beispielhaften Qualitäten - entwickelt aus der mittelalterlichen Stadt - zu realisieren. Es wurden also viele der vorhandenen Elemente analysiert und als „Bausteine“ für die neuen Siedlungen verwendet.


Die Formensprache ist jedoch immer unterschiedlich:

In Muttenz sind es die schweren kubischen Baukörper der Bauernhäuser des alten Ortes, die mit ihren Lochfassaden und oft unprätentiös eingeschnittenen Fensteröffnungen und den nahezu abgehoben erscheinenden dünnhäutigen Satteldächern bei dem Architekten zu einer Neuinterpretation, aber bei intensiver Sprachverwandtschaft, führen. Die kubischen Häuser bleiben, das Verhältnis von Wandfläche und Öffnungsanteil ist ähnlich. Die Öffnungen selbst werden frei neu gestaltet, die Abhebung der Dachfläche vom Baukörper wird thematisch gesteigert. Alles in allem ist aber gerade die Verwandtschaft von Alt und Neu faszinierend.

In Biberach ist man bei der Neubausiedlung relativ frei, doch der Straßenraum in seinen Proportionen, die im Wesentlichen als Satteldachhäuser geplanten Bauten der Altstadt, sind Vorbild für die Neubebauung. Eine Straße in dem neuen Baugebiet ist so angelegt, dass sie sich auch für eine Sanierung der Altstadt durchaus eignen würde. So sind auch die Details, wie das Verhältnis Wandfläche/Öffnung, die Tatsache der Lochfassaden, die Art der Dachaufbauten, die Zwerchgiebel bzw. Satteldachgauben und selbst die Materialität der Putzfassaden durchaus mit der Altstadt verwandt.

Bei der Umsiedlung des Ortes Etzweiler konnte ein Straßendorf im alten Sinne nicht realisiert werden. Dennoch war die Mittelachse wichtig, die prägnante Straßenräume schaffen sollte. So wurde die Straßenachse der Waldstraße, der Eichenstraße und des Iriswegs zum Rückgrat der Siedlung, dort wurde die dichteste Bebauung angelegt, die mit einer Art Grenzbebauung ähnliche Strukturen wie im alten Dorf aufzeigt und auch zu ähnlichen Straßenproportionen führt.

Die Verpflichtung, sich mit dem Bestehenden auseinander zu setzen und eine Synthese zwischen Alt und Neu herzustellen, besteht ohnehin immer. Dafür eine Methode zu entwickeln, ist die Aufgabe der Stadtplanung, die über planungsrechtliche und gestalterische Festsetzungen sowie eine intensive Bürgerberatung das Leitbild entwickeln und umzusetzen versucht.


Fallbeispiel - Ortskern und Gemeindezentrum in Muttenz bei Basel

Nach längerer Diskussion und nach dem Versuch, zunächst ein geeignetes Grundstück am Ortsrand zu finden, beschloss der Gemeinderat Ende der 60er Jahre, unter Abbruch des ehemaligen Gemeindehauses, ein neues Gemeindezentrum zu realisieren. Über einen Architektenwettbewerb wählten die Gemeindevertreter Rolf Keller und Fritz Schwarz aus Zürich, deren Entwurf ihren Wünschen am ehesten entsprach, insbesondere weil er sich am besten in das bestehende Ortsbild einfügte. Neben einem Gemeindehaus mit der Verwaltung gehört zum Programm ein Hotel mit großem Bürgersaal und Restaurationsbetrieb sowie ein Geschäftshaus.

Muttenz, im Weichbild der Stadt Basel angesiedelt, galt bereits im Jahre 1964, als die Planungen für Ortskern und Gemeindezentrum begannen, als eine Wachstumsgemeinde und war bevorzugter Wohnstandort der Region. Es wurde seinerzeit schon für eine Zahl von 30.000 Einwohnern geplant. Bereits in den 50er Jahren wurde in Muttenz eine umfassende Ortsplanung erarbeitet. Während sich im Norden sowie in den westlichen und östlichen Bereichen Neubaugebiete befinden, die den üblichen Vorstellungen der vergangenen Jahrzehnte entsprechen, wurden für den alten Dorfkern und das daran angrenzende Gebiet bis zum Bahnhof bereits in den 60er Jahren die Teilzonenpläne „Ortskern“ und „Geschäftszentrum“ beschlossen. Die Hauptstraße entwickelte sich nach den Zielvorstellungen dieses Plans zu einem attraktiven Wohn-, Geschäfts- und Dienstleistungszentrum.  

Der Plan wurde mehrfach überarbeitet, insbesondere der Zonenplan „Ortskern“ (Abbildung 1) mit den Teilbereichen A und B sichert heute die alte Bausubstanz der Bauernhäuser: Zweigeschossige Kuben (Abbildung 2) tragen die steilen Satteldächer, deren Traufen parallel zur Straße orientiert sind. Die Giebelseiten sind ohne Dachvorsprung ausgebildet. Charakteristisch sind die Aufschieblinge der Traufen-, Fenster sind frei in der Fassade verteilt. Die Eingänge sind oft durch große Toreingänge definiert. Die Häuser stehen unmittelbar an der gepflasterten Straße, meist ohne Vorgärten. Zwischen den einzelnen Häusern führen schmale Durchgänge zu Höfen und Gärten. Schmale Anbauten, quer zur Hauptbebauung, greifen in Blockinnenbereiche und Gartenlandschaft hinein.

Aus diesen alten Merkmalen und Bauelementen wurde die neue Architektur des Gemeindezentrums mit starker Gliederung und Staffelung entwickelt. Sie nimmt allerdings auch moderne Elemente auf, wie die großen Fenster, die zu Bändern zusammengefasst wurden. Sie sind zurückgesetzt und mit den dunklen Dachflächen verbunden. Die bei den alten Fassaden vorhandene Unregelmäßigkeit der Öffnungen wurde jetzt zu einem übergreifenden Thema gemacht und führt zu neuen, spannungsvollen Wechselwirkungen zwischen den weißen kubischen Baukörpern und den besonders tief eingeschnittenen Fensteröffnungen (Abbildung 3). Die Dachlandschaft bleibt zwar der historischen Form verpflichtet, modifiziert aber das Thema „Dachhaut“. Sie wird oft vom Baukörper gelöst (Abbildung 4), was ihr die Schwere nimmt und zu einer eigenständigen Bedeutung verhilft.

Heute existieren für die Gemeinde Muttenz ein Zonenplan „Siedlung“ und ein Zonenplan „Dorfkern“, die die unterschiedlichen Nutzungen und die Ausnutzungsmöglichkeiten der Grundstücke festlegen. Zu beiden gehört ein Zonenreglement "Siedlung", mit Regeln sowohl für die Nutzung, als auch für die Baukörpergestaltung. Insbesondere in den Sektoren A und B im Dorfkernbereich sind differenzierte Gestaltungsfestsetzungen getroffen.

Die Einbindung in den Ort ist ein wichtiges Kriterium zur Beurteilung aller in die Realisierung gehenden Einzelgebäude, was schließlich dazu geführt hat, dass durch die vorbildliche Realisierung dieser Gebäude Maßstäbe für viele Gestaltungsfragen innerhalb des Ortskerns gesetzt wurden.  


Fallbeispiel -
Die Wohnsiedlung „Auf dem Sandberg“ bei Biberach an der Riss

Die Stadt Biberach beabsichtigte Anfang der 80er Jahre, ein größeres Neubaugebiet östlich der Kernstadt zu realisieren. Für die Entwicklung der Gesamtkonzeption und zur Erarbeitung des Bebauungsplanes gewann die Stadt Biberach den Architekten Rolf Keller.

Er wollte auch hier den "modernen Siedlungsplanungen" etwas entgegen setzen, das aus der Tradition entwickelt ist. Rückgrat der Gesamtplanung (Abbildung 5) sind enge Straßenräume und Plätze, die die tradierten Qualitäten des mittelalterlichen Biberach fortschreiben sollen. Im Innenbereich ist eine große Grün- und Wasserfläche vorgesehen.

Hier, am Nordufer des Sees, befindet sich auch das kleine Versorgungszentrum (Abbildung 6) an dem dicht bebauten Sandbergplatz, der mit einer kleinstädtischen bzw. dörflichen Atmosphäre geplant ist.

Zur städtebaulichen Gestaltung sagt Rolf Keller: „Analog eindrücklichen alten Städten, die wie aus einem Guss wirken, soll auch hier, auf dem Sandberg, durch wenige Materialien (naturrote Ziegeldächer, weißer Putz, sparsamer Umgang mit Farben) ein harmonisch abgestimmtes Ganzes entstehen (Abbildung 7). Solche stadtgestalterischen Vorgaben sollen einen prägnanten Stadtraum sicherstellen oder, zusammengefasst, Vielfalt in der Einheit ermöglichen.“

Da die Stadt über ausreichenden Grundbesitz innerhalb des zur Bebauung vorgesehenen Geländes verfügte, war es möglich, über den Bebauungsplan hinaus durch privatrechtliche Regelung bei dem Grundstücksverkauf die Bauherren und somit auch die Architekten an ein Gestaltkonzept zu binden. Zu den Kaufverträgen war es erforderlich, dass Bauherren und Architekten Vorentwürfe zu den Projekten vorlegten. Gleichzeitig mit der Beauftragung von Rolf Keller gab es eine Initiative der Biberacher Architekten zur Kooperation bei der Realisierung des neuen Baugebietes.

Die Idee wurde vom Baudezernat und Rolf Keller aufgegriffen und bekam Richtung, Form und Gehalt durch das von Keller in den Jahren 1984 und 1985 durchgeführte Architektenseminar zur Realisierung des Projektes „Auf dem Sandberg“. Man traf sich zu „Entwurfstagen“, auf denen man sowohl die Entwürfe der Haustypen diskutierte, konzipierte, und einen gemeinsamen Gestaltungskatalog entwickelte.

Die Gestaltung zeichnet sich besonders durch eine weitgehende Einheitlichkeit bei den Baumaterialien, den Außenanlagen und in der Farbgebung aus. Die Dachneigungen sind ebenfalls einheitlich definiert und führen, zusammen mit der Materialgleichheit, zu einem komplexen Erscheinungsbild.

Neben der Beratung durch Rolf Keller und der gestalterischen Abstimmung in den Seminaren war das Hauptsteuerungselement für die Durchsetzung der Leitidee der Bebauungsplan mit seinen differenzierten Festsetzungen.

Es wurden in dem Bebauungsplan ausführliche Festsetzungen zur Gestalt der Straßenräume und zu den Baukörpern getroffen (z. B. Baulinien, Definition abweichender Bauweisen, um den Anteil der „Geschlossenheit“ der Bebauung zu erhöhen). Weiterhin sind in Verbindung mit der Landesbauordnung umfangreiche Detailfestlegungen für die Gestalt der Fassaden, Fenster- und Türöffnungen, Dächer und Dachgauben formuliert.

So ist einerseits eine Siedlung entstanden, die mit dem inneren Grünbereich den Bewohnern ein hohes Maß an Freiraum bietet, andererseits sind tatsächlich traditionelle Elemente der alten Stadt, die engen Straßen und die geschlossenen Straßen- und Platzräume, in eine Neubausiedlung übertragen worden und gewähren den Bewohnern damit eine hohe Aufenthaltsqualität mit großer Identifikationsmöglichkeit.


Fallbeispiel – Umsiedlung der Orte Etzweiler / Gesolei

Die Problematik der Umsiedlung

Die Rheinische Braunkohlenlagerstätte reicht von Euskirchen im Südosten bis vor die Tore von Venlo in den Niederlanden und verfügt mit einem Vorrat von rund 55 Milliarden Tonnen Braunkohle über das größte zusammenhängende Vorkommen in Europa. Davon sind unter Berücksichtigung technischer und wirtschaftlicher Belange etwa 10,4 Mrd. t abbaufähig. 4,1 Mrd. t davon liegen bereits in im Abbau begriffenen bzw. genehmigten Feldern.

Etzweiler und die Siedlung Gesolei befinden sich im südlichen Teil der Gemeinde Elsdorf. Beide sind in der flachen, fruchtbaren Bördenlandschaft der Kölner Bucht gelegen. Für die betroffenen Orte bedeutet die Umsiedlung die unwiederbringliche Vernichtung, sie müssen anderswo neu entstehen. Natürlich ist jedem Bewohner freigestellt, wohin er sich orientiert, angestrebt und angeboten wird jedoch stets eine geschlossene Umsiedlung, um die Dorfgemeinschaft zu erhalten. Umsiedlungen ganzer Orte sind glücklicherweise seltene und sehr extreme Fallbeispiele für die Notwendigkeit der Aufstellung qualifizierter Bebauungspläne.

Die Vernichtung des natürlichen und kulturellen Erbes ganzer Landstriche, bedingt durch die Energievorsorge, wird heute weitaus kritischer betrachtet, als dies zu Anfang des rheinischen Braunkohlenbergbaus der Fall war. Hiermit ist das Konfliktfeld noch längst nicht umrissen, hinzu kommen die überall wahrzunehmende Urbanisierung in der Gestalt und gleichzeitig die funktionalen Entleerungstendenzen in unseren Dörfern. Die Eigenart des Dorfes geht verloren, die Schlafstätten im Umfeld der Ballungsräume entwickeln sich ins Dorf hinein - schon Stadt, noch Dorf oder was sonst?

Natürlich ist der Anspruch an den Lebensraum Dorf heute ein anderer. Die dominierende Rolle der Landwirtschaft verschwindet immer mehr. Wohnfunktionen und Freizeitansprüche drängen nach. Die Baukultur orientiert sich am Angebot der Baumärkte und den mühelos über CAD zu vervielfältigenden Hausmustern.

Unsere Vorfahren haben jedenfalls aus einem unvergleichlich existentiellen Erfordernis gehandelt, wenn sie zum Hausbau schritten. Faktoren wie Landschaft, Topographie und Klima spielten eine wichtige Rolle. Die Grundrisse wurden sinnvoll aufgeteilt, Materialien gab die nähere Umgebung her, ob Holz, Naturstein oder Ziegel, das richtete sich allein nach der Verfügbarkeit, und so wuchsen die Häuser wie selbstverständlich zu Orten zusammen.

Das Leben im natürlichen Umfeld benötigte zudem keine halbherzig geschaffenen Versatzstücke aus Rest- und Verkehrsgrün. Heute machen die Obstbäume zuviel Arbeit, werfen die Pappeln zuviel Laub ab, das im Herbst fortgeschafft werden muss, schauen - unmöglich! - Grashalme aus den Ritzen der Betonpflastersteine.

Unsere Lebens- und Wirtschaftsweise verlangt der Umwelt ständig neue Opfer ab. Erst in jüngster Zeit rückt ins Bewusstsein, dass wir selber - als ein Teil der Natur - genauso betroffen sind.


Etzweiler als Straßendorf

Etzweiler (Abbildung 8) scheint wie aus der Landschaft gewachsen. Das Gelände, die Bewirtschaftung, die alten Verbindungsstraßen, die Wasserläufe und der Wald bestimmen seine Lage und Form. Baumreihen gliedern das flache Land und geben Raum und Schatten, Alleen und Wege führen ins Dorf, markante Einzelbäume schaffen wichtige Orientierungspunkte in der Ferne. Die historische Straße des Ortes (Abbildung 9) von West nach Ost - und die daran entstandene Bebauung - wurde zum Ende des 19. Jahrhunderts von der Landstraße nach Elsdorf gequert. Hier entwickelte sich in der Folgezeit eine weitere Bebauung.

Die Häuser des Dorfes stehen mit der Traufe oder dem Giebel zur Straße, sind ein- bis eineinhalbgeschossig, selten zweigeschossig und haben ruhige, geschlossene Dächer mit wenigen kleinen Aufbauten. Nicht alle sind in Reihe gebaut, einige sind mit Grenzabstand errichtet und über Mauern mit den Nachbargebäuden verbunden. Nur wenige Baustoffe sind verwendet worden, ohne dass dies langweilig wirkt. Im Gegenteil: An vielen Stellen tauchen phantasievolle Schmuckformen auf, ohne dass sie insgesamt chaotisch wirken. Die Freiheit liegt in der Beschränkung!

Der alte Ort zeigt sich auf diese Weise beim Gang durch seine verschränkten Straßen in ständig neuen, immer wieder markanten Situationen, und jeder Schritt bringt andere Einblicke, mal verengt sich die Straße, mal weitet sie sich, Plätze entstehen, die unterschiedlichsten Straßenräume bilden sich. Ihre „Wände“ sind die Fassaden der Häuser, die alle - so verschieden sie untereinander auch sein mögen - immer zueinander passen. Alle sind sie unterschiedlich groß und halten dennoch Maß.

Die Grundstücke liegen mit ihrer Schmalseite zur Straße und entwickeln sich weit hinaus in Richtung der Felder. Direkt an der Straße stehen die Wohnhäuser und schirmen den dahinter liegenden Innenhof ab. Ein großes Tor bildet die Durchfahrt für landwirtschaftliche Fahrzeuge. Rechts und/oder links sind Stallungen, nach hinten wird der Hof durch die quergestellte Scheune abgeschlossen. Garten und Obstbaumwiese schließen an.


Die Siedlung Gesolei

Während Etzweiler den für die alten Dörfer im Rheinland typischen Straßendorfcharakter trägt, ist die Gesolei eine Arbeitersiedlung aus den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts (Abbildung 10). Etzweiler ist - den Hambacher Forst in Sichtweite - rundherum von Feldern umgeben, die Gesolei (errichtet von der Gesellschaft für soziale Leistungen) reicht im Norden bis unmittelbar an den Elsdorfer Ortskern heran. Auch die Gesolei hat ihr charakteristisches Bild (Abbildung 11). Sie entwickelte sich mit seitlichen Stich- und Ringstraßen entlang der Straße von Etzweiler nach Elsdorf als ländliche Siedlung der zwanziger Jahre und hat ihr ursprüngliches Bild nahezu erhalten.

Wenn für Etzweilers alte Hauptstraße die mehr oder weniger geschlossene Bebauung typisch ist, so steht hier das Doppel- oder freistehende Einfamilienhaus an erster Stelle. Auch hier fällt kein Haus aus der Reihe, alle fügen sich in ein geschlossenes Gesamtbild, das durch lange Mauern, Hecken und Holzzäune noch gewinnt.


Alte und neue Strukturen

Gestalterische Aspekte und die begrenzten räumlichen Möglichkeiten führten zu einer neuen Definition des Ortsgrundrisses. Von der klassischen Form des Straßendorfes hin zu einer kompakteren Gestalt (Abbildung 12). Dennoch findet sich mit der Waldstraße und in der Verlängerung, der Eichenstraße bzw. dem Irisweg, auch im neuen Dorf eine zentrale Erschließungsachse, die das Rückgrat des neuen Ortes bildet (Abbildung 13). Entlang dieser Straße findet sich, wie es auch für den alten Ort typisch war, die höchste Baukörperdichte. Von hier aus werden die weiteren Quartiere des Dorfes erschlossen. Die Quartiere sind stark begrünt, und ein System von Heckenwegen verbindet sie untereinander. Weitere Fußwege führen hinaus in die Landschaft, durch die Obstwiesen und nach Angelsdorf. Im Norden liegen die landwirtschaftlichen Nebenerwerbsstellen, daneben kleine Gewerbebetriebe. Im Osten befindet sich der Sportplatz.

Die Quartiere weisen eine eher lockere Bebauung auf, sie sind jedoch im Dorfgrundriss gut zu unterscheiden, da sie jeweils ein prägendes Charakteristikum (Thema) aufweisen, das, unabhängig von der aufeinander bezogenen Stellung der Baukörper, ihren Zusammenhang deutlich macht und sich schon im Namen widerspiegelt.

So zeichnet sich das „Angerquartier“  durch den zentral gelegenen Dorfanger aus, ein für rheinische Dörfer typisches Gestaltungselement. Der Anger diente ursprünglich als gemeinsame Weidefläche der Bauern des Dorfes und war so auch ein wichtiger Kommunikations- und Treffpunkt. Auch im neuen Dorf soll der Anger, als gemeinsam nutzbare Fläche, wieder als Treffpunkt verstanden werden.

Die Grundstücke in den beiden „Heckenquartieren“ werden von Heckenstrukturen eingerahmt, die trotz der eher aufgelockerten Bebauung in diesen Flächen den räumlichen Zusammenhang unterstreichen. Hecken sind auch unter ökologischen Aspekten ein interessantes Element alter Kulturlandschaften, das in der heute überwiegend flurbereinigten Agrarlandschaft nur noch selten anzutreffen ist. Alte Dörfer wirken in diesen ausgeräumten Landschaften, mit ihren umgebenden Obstwiesen und Heckenzügen, oft wie grüne Inseln. Diese Elemente wurden für den Entwurf des Umsiedlungsortes in eine zeitgemäßere Form übertragen. Die großzügige Umrahmung der Siedlung mit einer Streuobstwiese und Aufforstungsflächen dient gleichzeitig als flächensparende (weil hochwertige) Ausgleichsfläche. Außerdem macht die Umrahmung das Dorf auch gegenüber angrenzender anderer Bebauung als zusammenhängendes „Ganzes“ erfahrbar und bildet eine sanfte Übergangszone zur freien Landschaft.

Friedhof und Festwiese mit Dorfanger führen als Grünzüge keilförmig in den Ort hinein und ermöglichen eine Durchlüftung mit westlichen Winden. Unerwünschte kalte Ostwinde werden durch die Anpflanzung zur östlich gelegenen Kreisstraße hin gemildert. Die öffentlichen Straßen, einschließlich der beiden Zufahrten und der Plätze, werden mit heimischen Bäumen bepflanzt.

Die Bezeichnungen der Straßenzüge im Umsiedlungsort verweisen entweder direkt auf den alten Ort (Waldstraße, Hubertusstraße, Gesoleistraße) oder schaffen durch Beschreibung des Umfeldes eine bessere Identifikation mit dem neuen Ort, indem sie markante Eigenheiten des Gebietes herausheben (Lindenplatz, Eichenstraße).

Der Gestaltungsplan verdeutlicht die Idee: Der Torbau hinter einem Waldstreifen bildet den Eingang. Das Tor macht den Ort verlockend und schafft den Rahmen für die Eintretenden. Plötzlich ist man mittendrin. Dahinter beginnt die neue Waldstraße, sozusagen als Rückgrat des Ortes: Die Häuser sind aneinander gebaut oder mit Mauern verbunden. Sie gliedern sich in Haupt- und Nebenbauten. Zwischen der Friedhofskapelle, die als Ersatz für die alte Etzweiler Kirche dient, und dem Bürgerhaus wird im Ortszentrum ein Dorfteich angelegt.

Zentraler Ort ist der Bereich um die Friedhofskapelle (Abbildung 14) mit dem nach vollendeter Umsiedlung hierher auf einem neuem Sockel versetzten alten Kirchturmhelm und dem Bürgerhaus. Die privaten Häuser gruppieren sich drumherum. Ein Platz und eine öffentliche Grünfläche bilden neben den noch einmal für sich umschlossenen Vorhöfen von Bürgerhaus und Friedhof einen schönen Treffpunkt.

Die nördliche Bebauung des „Lindenplatzes“ (Abbildung 15) ist eine Neuschöpfung. Um den Blick von hier aus in die Landschaft frei zu halten, sind alle Häuser schmal und giebelständig zur Straße. Zur Schaffung eines Ensembles darf die Traufhöhe hier 4,50 m nicht überschreiten und die Dachneigung ist auf einheitlich 45º festgelegt.


Die Bauweisen

Es sind grundsätzlich nur Gebäude mit Satteldächern erlaubt. Bis auf den nördlichen Teil des Lindenplatzes sind fast alle Bauflächen in einen bereits angesprochenen 10 m tiefen vorderen und einen 6 m tiefen hinteren Anbaubereich unterteilt, damit durch eine entsprechende Gliederung eine Kleinmaßstäblichkeit erreicht wird. Sofern nicht zwingende städtebauliche Gründe Festlegungen der Hauptfirstrichtungen erforderten (z. B. an Straßen- und Platzecken), dürfen die Häuser nach freiem Ermessen trauf- oder giebelständig errichtet werden.

Auf Festlegungen bezüglich der Geschossigkeit wurde auf Grund ihrer problematischen Interpretierbarkeit bewusst verzichtet. Stattdessen sind die maximalen Trauf- und Firsthöhen angegeben. Sie sind je nach Bereich unterschiedlich, meist 7 m Trauf- und 12 m Firsthöhe für die vordere Baufläche und etwas geringer für die sogenannte Anbauzone.

Die abweichende Bauweise

Die sogenannte „Abweichende Bauweise“ (Abbildung 16) ist im Bereich der „Dorfstraße“ festgesetzt. Sie ermöglicht die größte gestalterische Vielfalt und wurde aus der Analyse traditioneller Ortsgrundrisse entwickelt. Damit kommen die Straßenzüge in abweichender Bauweise in ihrem Charakter alten Dorfstraßen recht nahe. Die Häuser können hier sowohl mit ein- oder beidseitigem Grenzabstand, wie auch ohne errichtet werden. Die entstehenden Lücken müssen allerdings mit Mauern geschlossen werden, um einen geschlossenen Eindruck des Straßenraumes zu erreichen. Ferner wird dadurch die Schaffung privater Außenräume ermöglicht. Natürlich kann auch hier zwischen Trauf- und Giebelständigkeit gewählt werden. Die Abbildung zeigt eine denkbare Gestaltung einer Dorfstraße in der abweichenden Bauweise. Deutlich wird die große Flexibilität dieser Lösung, vor allem im Zusammenspiel mit der rückwärtigen 2. Bauzone, die für untergeordnete Erweiterungen des Hauptbaukörpers genutzt werden kann.


Gestaltungsberatung

Grundlage für die Bauberatungen war die Fibel „Bauen und Gestalten“, die jedem Umsiedler an die Hand gegeben wurde. Neben Erläuterungen zum Leitbild und zum Rechtsplan enthält sie Gestaltungsvorschläge im Detail. Auszugsweise werden im Folgenden Vorschläge für Mauern, Dächer, Türen und Fenster, sowie die Gärten aufgeführt. Dabei wird immer auch ein Blick auf die traditionellen Vorbilder geworfen.

Die Mauern

Das Ziegelmauerwerk eines modernen Einfamilienhauses (Abbildung 17). Im sogenannten „Wilden Verband“ gemauert: Die Fugen wirken nicht als streng regelmäßiges Netzwerk wie übergestülpt, sondern lassen die Wand einheitlicher erscheinen. Sie sind bündig abgezogen („Glattstrich“), bringen die natürlichen Unregelmäßigkeiten des Steines hervor und tragen so zum Gesamtbild bei. Ein Foto aus dem alten Brügge, dessen Erscheinungsbild ganz wesentlich vom Ziegelstein bestimmt ist (Abbildung 18), zeigt die Gesamtwirkung eine Straßenrandbebauung in Ziegelmaterial.

Dächer und Dachaufbauten

Dächer der Heimat: Immer einfach, immer von sinnhaftem, plastischem Material, immer etwas Bergendes, Schützendes, immer mit Liebe und Verstand gemacht (Abbildung 19). Aber auch immer ein Teil des Ganzen und nicht lieblos darüber gestülpt. Dachüberstände nur so weit, damit das Gesims als Übergang von der Wand zum Dach noch schön genug zur Geltung kommt. Mehr war noch nie nötig - auch heute nicht.

Ein neues Haus, das es beispielhaft versteht, sich an den alten Qualitäten zu orientieren (Abbildung 20). Schöne Materialien, knappe Überstände, auch mal eine praktische Loggia unterm Giebel, ein ruhiges Dach als bergende Hülle. Und keine Spielereien, keine Details, die nicht zweckdienlich sind - einfach (und) gut!

Drei Fehlgriffe, die mit zur Zerstörung der (Haus-) Landschaft beitragen (Abbildung 21). Man braucht sich nur die Dachüberstände und die schlecht reproduzierten Erinnerungen an den letzten Schwarzwaldurlaub anzuschauen. Dort sind Krüppelwalmdächer gut und sinnvoll, aber auch in anderen Dimensionen anzutreffen.

Fenster und Türen

Fenster und Tür aus alten Orten - die Türe (Abbildung 22) stammt aus einem Eifelgehöft und ist seit etwa zweihundertdreißig Jahren in Gebrauch. Sie bietet Schutz gegen Wind und Wetter, und man kann den oberen Teil getrennt vom unteren öffnen. Frische Luft kommt rein, Hund und Katze aber bleiben draußen. Diese sogenannte Gattertür ist von solidem Handwerk und keiner modischen Strömung unterworfen gewesen, deshalb gefällt sie auch heute noch.

Neue Türen, gute und schlechte (Abbildung 23). Und das ist kein Geschmacksurteil: Gut heißt nützlich, gut heißt praktisch, gut heißt präzis und gut heißt von menschlichem Maß.

Die Gärten

Der Vorgarten, seine Einfriedung und die Haustür sind die Schwellenbereiche des Hauses, sozusagen der Empfang für die Eintretenden (Abbildung 24). Es gibt viele Arten von Vorgärten, und es wird im neuen Ort wieder viele Arten von Vorgärten geben. Je nach Lage haben sie verschiedene Tiefen: Zwei Meter entlang der „Dorfstrasse“, um den Straßenraum nicht unnötig aufzuweiten und damit zu verwischen, größere Tiefen in den Bereichen mit frei stehenden Häusern.

Wichtig ist, dass der Vorgarten nicht durch Betonsteine, Asphalt o. ä. „versiegelt“ wird. Das macht ihn vielleicht pflegeleichter, aber auch steril und hässlich. Außerdem werden mit dem abzuleitenden Wasser Kanal und Kläranlage unnötig beansprucht. Er soll wirklich auch Grünfläche bleiben und bepflanzt werden, ohne zu überwuchern. Fassadenbegrünende Pflanzen wie etwa Efeu oder Wilder Wein können hier wurzeln. Die unaufdringlichsten und schönsten Einfriedungen sind immer noch Hecken, einfache Holzzäune (Abbildung 25) und Mauern.

Die Beratung

Es wurden von der Gemeinde Elsdorf, von der Firma Rheinbraun und von unserer Seite umfassende Beratungen angeboten. Die Beratung zielte insbesondere auf die Erläuterung der Baumöglichkeiten auf der entsprechenden, vorgemerkten oder erworbenen Parzelle. Darüber hinaus fertigten wir skizzenhafte Zeichnungen (Abbildung 26 / Abbildung 27) im Sinne von Vorentwürfen für die Betroffenen an.


Ortsprägende Gebäude

Das Bürgerhaus, die Friedhofskapelle und der Torbau bilden wichtige Ziel- und Blickpunkte im neuen Ort. Sie müssen daher besonders gut auf die stadträumliche Situation zugeschnitten werden und gestalterisch vorbildlich durchgearbeitet sein. Um hier den Zielen des Bebauungsplanes entsprechende Gebäude zu erhalten, haben wir hierzu Entwürfe erarbeitet, von denen wir drei vorstellen:

1. Der Torbau (Abbildung 28)
Als Schwelle zum Umsiedlungsort nimmt er Sozialwohnungen auf. Ein Laubengang erschließt die oberen Maisonettewohnungen und den Gemeinschaftsraum über der Durchfahrt.

2. Die Friedhofskapelle (Abbildung 29)
Hier steht der alte Turm auf neuem Sockel - wie früher in der Achse der Landstraße - steht er nunmehr in der Achse der neuen Dorfstraße. Durch den Turm hindurch gelangt man in das „Paradies“, den Vorplatz. Die Kapelle nimmt die alten Kirchenbänke auf und die alte Orgel auf der neuen Empore. Bei nichtchristlichen Trauerfeiern wird der hintere Bereich mit dem Altar abgetrennt.

3. Das Bürgerhaus (Abbildung 30)
Das Bürgerhaus ist Begegnungsmittelpunkt der neuen Siedlung für Jung und Alt und konnte in einer regional typischen Bauweise, nach den Kriterien des Bebauungsplanes, realisiert werden.


Fazit

Für das zuletzt vorgestellte Beispiel kann festgestellt werden, dass das Leitbild der Planung – auch wenn zwischendurch wegen starker Reglementierung Kritik geübt wurde – letztlich äußerst positiv von den Bürgern angenommen wurde und sich heute zeigt, dass sich die Planung sehr bewährt hat.

Im Vergleich mit den anderen städtebaulichen Projekten muss die Forderung festgehalten werden - und das betrifft den gesamten Bereich der Stadtplanung - dass überhaupt ein sinnhaftes Leitbild aufgestellt wird.

Die Projektbeispiele von Rolf Keller sind beide, auch wenn es sich um neue Projekte handelt, ebenfalls aus einer tradierten Bildvorstellung entwickelt. Diese ist in ihrer Sinnhaftigkeit für die Bürger verständlicher als die heute so gern zitierte „Moderne“.


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