Urban Bodies
7. Jg. , Heft 1 (September 2002)    

 

___Peter
Gotsch

Karlsruhe
 

Imagine-a-city:

die Stadt der Bilder und die Bilder der Stadt

 
Zur Relevanz der Raumkonzepte von Kevin Lynch, Maurice Merleau-Ponty und Henri Lefèbvre
für das Bild der informationellen Stadt

 

 

Einleitung


Thema meiner Arbeit ist die Relevanz räumlicher Vorstellbarkeit für die zeitgenössische Stadt. Untersucht wird der Stellenwert räumlicher Wahrnehmung im Hinblick auf ein neues Verständnis von Stadt im Informationszeitalter. Der Text ist zu verstehen als eine Weiterentwicklung von Kevin Lynchs “The Image of the City”[1] vor dem Hintergrund der Stadt als eines Ortes der Bilder und Symbole. In der Situation allgemeiner Orientierungslosigkeit bezüglich unserer Stadtbilder wird das Konzept der “vorgestellten Stadt” zum einen als ein Prototyp entwickelt, zum anderen als ein Vorschlag für eine Annäherung an die Idee der informationellen Stadt.

 

Unser Zeitalter wird das der dritten industriellen Revolution, der Globalisierung, der Mega-Urbanisierung, des Hyperkapitalismus, der Neo-Liberalisierung, der Virtualisierung und der Individualisierung genannt. Es ist auch das Zeitalter der Post-, Hyper- oder Zweiten- Moderne. Der Zustand unserer Zeit wird häufig mit der Entwicklung moderner Informationstechnologien (den telematischen Medien) in Verbindung gebracht. In der Tat erfahren heute fast alle Sphären unseres Lebens, ob öffentlich, politisch, wirtschaftlich, oder kulturell, grundlegende Veränderungen. Auch unsere Lebensräume: Landschaften, Städte, Plätze, Orte oder Körper sind dramatischen Wandlungsprozessen unterworfen.

 

Eine Kombination technologischer und ökonomischer Faktoren bildet den Hauptmotor dieser Veränderungen und geht mit einer zunehmenden Abstrahierung, Virtualisierung und Kommodifizierung des Räumlichen einher. Mit dem Aufkommen des abstrakten virtuellen Raumes (des Informationsraumes), scheinen sich Städte in globale Dörfer (global villages) aufzulösen und durch Hypermobilität, Telepräsenz, und Komfort entsteht der Eindruck, die physische Präsenz und Erfahrung unserer Körper wäre zweitrangig.[2]

 

Dabei verkennen wir anscheinend die Relevanz des Räumlichen als dem Feld von Aktion und Reaktion, auf dem die oben genannte Revolution stattfindet. Auch haben wir in dieser Situation das Gefühl, uns den Kräften, die diesen neuen Zustand herbeiführen, ergeben (hingeben) zu müssen. Raum wird immer noch als das ”Andere”[3] abgetan, während er entfremdet, erobert, kolonialisiert und instrumentalisiert wird. Es gibt wenig konzeptionelle Innovation bezüglich seiner Eigenschaften und seiner Bedeutung.

 

Die vorliegende Auseinandersetzung hat zwei Ziele: Sie will dazu beitragen, den heutigen Raum und seine subsidiären Elemente, Städte, Plätze und insbesondere Körper, in einem neuen Kontext zu begreifen (re-kontextualisieren), und sie versucht, neue Konzepte für die Räume des Informationszeitalters zu entwickeln (re-konzeptionalisieren). Insofern will diese Arbeit daran mitwirken, dass Raum erneut kritisch wahrgenommen wird, dass sich unser Denken und Handeln räumlich orientiert und dass Raum-Planung wörtlich verstanden wird.

 

Den Orientierungsrahmen dieser Arbeit bilden folgende Fragen: Wie lässt sich der Zustand des heutigen Raumes charakterisieren? Warum ist die Wahrnehmung ein Schlüssel zum Verständnis der zeitgenössischen Stadt? Und welche Konzepte und Theorien helfen uns, diesen Zustand zu verstehen?

 

 

Die Krise der Räume der informationellen Stadt und der Verlust der Orientierung

 

Stadtraum

 

Meine Untersuchung gilt der Stadt im Informationszeitalter, die ich auch die informationelle Stadt nenne[4]. Zeitgenössischer Raum ist der Raum dieser Stadt. Er wird hier als der Raum verstanden, in dem der traditionelle, physikalische Raum und ein abstrakter und virtueller Raum sich treffen und interagieren[5]. Durch diese Überlagerung unterliegen die Räume der Stadt heute weltweit einer fundamentalen Umstrukturierung[6]. Dieser, durch komplexe gesellschaftliche, politische, ökonomische und technologische Prozesse herbeigeführte Wandel macht auch vor dem Bollwerk ‚Europäische Stadt‘ keinen Halt. Das konstatiert auch der deutsche Stadt­soziologe Hartmut Häußermann,: ”Wenn wir die heutigen Trends bestätigen – und es gibt eigentlich keine Gründe, es nicht zu tun – dann können wir heute folgern, dass wir gerade dabei sind, den gesellschaftlichen Boden für das Phänomen zu verlieren, was einst Europäische Stadt genannt wurde.”[7]

 

Folgen wir dem Narrativ der so genannten kritischen (marxistischen) Stadtgeographen, dann lässt sich der Zustand des heutigen Raumes mit drei grundlegenden Tendenzen beschreiben: der Homogenisierung, Fragmentierung und Polarisierung[8]. Der urbane Raum, dessen Strukturen zu einem Großteil erst kürzlich entstanden sind[9], fragmentiert zunehmend in spezialisierte Teile, polarisiert durch eine zunehmende soziale Segregation und homogenisiert in einen indifferenten Formenbrei. Nach diesem Bild wird die Stadt wird zu einem strategischen Schachbrett, das von ökonomischen und technologischen Kräften ‚vitalisiert‘ wird[10].

 

Abseits politisch-ökonomischer Beschreibungen liefert uns der Medienphilosoph Vilém Flusser andere anschauliche Modelle für die Räume der heutigen Stadt. Er führt die Erscheinungs­formen der informationellen Stadt auf die zunehmende Entgrenzung ihrer Einzelräume zurück, die durch neue Informationstechnologien hervorgerufen wird[11]: Dabei überlagert eine neue Logik von Netzwerken heute die traditionelle Logik von Form und Funktion und ‚verwirrt‘ damit das traditionelle Bild der Stadt, die aus Häusern (privaten Räumen), Marktplätzen (ökonomischen Räumen), Tempeln (heiligen Räumen) und Plätzen/Parks (öffentlichen Räumen) besteht. Traditionelle Räume durchmischen sich und fließen ineinander. Dies geschieht zum Beispiel, wenn die Straßen und Plätze der Stadt aus der Privatheit des Automobils erlebt werden, oder die Öffentlichkeit bürgerlicher Parks durch mobile Telefone durchdrungen wird[12]. Dabei ist die Entwicklung noch nicht abgeschlossen. Weitere neue Dimensionen der Durchdringung und Entgrenzung entstehen z.B. durch LAN-Netzwerke (Wi-Fi) in Universitäten und Cafés.[13] Flusser spricht in diesem Zusammenhang von einer Zerstörung der traditionellen Formen durch die Stürme der Kommunikationsrevolution:


DAS
GLOBALE DURCHEINANDER
BEKANNT         ALS DIE
KOMMUNIKATIONS_______REVOLUTION
HAT DAS HAUS             ZU EINER RUINE REDUZIERT
MATERIELLE    UND                IMMATERIELLE KABEL HABEN
ES                DURCHSTOSSEN”
-- ALLES   SCHWEIZER                             KÄSE
___________________________________________  
[14]

                                    

Körperraum

 

Auch unsere Körper unterliegen als räumliche Gebilde den Einflüssen des Raumes. Die alles durchdringenden Trends der Kommodifizierung sowie der Technisierung machen vor unseren Leibern und unseren Seelen nicht halt. Dem Kontext der fortgeschrittenen, flexiblen Marktwirtschaft entspricht die Dienstleistungs-, Konsum- und Freizeitgesellschaft. In diesem Zusammenhang werden wir selbst, ob als Softwareprogrammierer, als Konsumenten von “Big Brother” oder als Touristen zunehmend zu Orten von Produktion und Reproduktion. Der Marktwert unseres Körpers, sein wirtschaftliches Potential, wird zum dominierenden Kriterium dieses ‚Hyperkapitalismus‘.[15]

 

So ergreift die Fragmentierung, Polarisierung und Homogenisierung des Raumes auch den Körper. Er wird pulverisiert, indem er als kodiertes und zu dekodierendes System betrachtet wird[16], fragmentiert in spezialisierte Bestandteile und polarisiert in seinen täglichen Funktionen.[17] Diese Tendenzen sind auch auf einer gesellschaftlichen Ebene zu beobachten, wenn z. B. die Individualisierung zum Massenphänomen unserer Zeit wird[18] oder wenn durch eine Spezialisierung des Wissens eine fragmentierte Gesellschaft von Experten entsteht, die kaum noch miteinander kommunizieren können.[19]

 

Durch die beschriebenen räumlichen Veränderungen, die einer Im- und Explosion gleichen, entstehen aber auch neue Perspektiven. Indem wir überall hinfahren können, erfahren wir unsere Umgebung aus einer erweiterten Mobilität und Beschleunigung (Hypermobilität); gleichzeitig können wir sie auch aus der Privatheit und dem Komfort[20] unserer Wohnzimmer erfahren (Telepräsenz). Diese beiden Trends gehen einher mit der Möglichkeit, alles zu sehen, ohne gesehen zu werden (Omnivoyance)[21]. Diese neue Mobilität von Körper und Information führt schließlich zum viel zitierten, postmodernen Zustand[22] der Gleichzeitigkeit und Synchronizität.

 

Information und öffentlicher Raum

 

Die zunehmende ökonomische Programmierung des Raumes und ihre Folgen gehören zu den zentralen Aspekten der informationellen Stadt. Die Kommodifizierung traditioneller Räume, Körper und Orte zu ökonomischen Wertobjekten und ihre Transformation in potentielle Produktionsmittel führt zu ihrer nachhaltigen Modifizierung. Öffentlicher Raum, als das Ergebnis eines humanistischen und demokratischen Diskurses[23], verliert seine Bedeutung und (sprichwörtlich) seinen Ort. Die Öffentlichkeit verschwindet nicht nur in den Räumen der (Massen-) Medien, sie wird auch rückwirkend durch diese Medien re-kolonialisiert. Während die Agora, das griechische Ideal des öffentlichen Raumes, durch den Wert von Argument und Gegenargument charakterisiert wurde, gibt es in der Informationsgesellschaft die Tendenz, dass der Wert einer Nachricht an ihrer Profitabilität gemessen wird[24]. Laut der Einschätzung von Alexander Kluge[25], ”industrialisieren die Märkte der Medien heute unser Bewusstsein in einem großem Maßstab” und überfluten uns mit künstlichen Gefühlen und Erfahrungen. Räumliche Repräsentation geht zunehmend mit Massenkommunikation, den Medien und Bildrepräsentationen einher.

 

Krise der Orientierung

 

Dass wir uns kein klares Bild der Gegenwart machen können, empfinden wir als eine Orientierungskrise. In der postmodernen Welt der Simultaneität und Gleichzeitigkeit haben wir den Bezug zur Wirklichkeit verloren. Unser (Welt-) Bild ist durch das Symbol, die Massenmedien verdeckt, verunklärt und obskur (ge)worden[26]. In dieser Situation haben wir auch die Fähigkeit verloren, uns in unserer Umgebung zu repräsentieren und finden wir uns in einem Kampf um Sinn und Bedeutung. Der ‚postmoderne‘ Kritiker Frederic Jameson (1991) beschreibt diese Krise der Orientierung als eine räumliche und soziale Verwirrung des Individuums, die seine Fähigkeit zu handeln und planen paralysiert:

“The postmodern subject has lost his capacity actively to extend its pretensions and retensions across the temporal manifold and to organize its past and future into coherent experience. It becomes difficult to see how the cultural productions of such a subject could result in anything but “heaps of fragments” and in a practice of the randomly heterogeneous and fragmentary”.[27]

 

 

 

Drei Raumkonzepte: kognitive Karten, körperlicher Raum und sozialer Raum

 

Um diese Krise des Raumes zu überwinden, brauchen wir neue Bilder. Die Modelle des modernen, mathematischen Raumes als eines abstrakten Behälters, die auf Descartes oder Leibniz zurückgehen, oder das Modell eines Raumes als transzendentales Konzept, wie es von Kant vertreten wird, halten den Anforderungen eines politisierten, ökonomisierten und daher komplexen Raumes der Informationsgesellschaft nicht stand.[28] In den folgenden Abschnitten setze ich mich daher mit drei ‚alternativen‘ Modellen auseinander, die relative und dialektische Eigenschaften des Raumes betonen und präsentiere drei räumliche Konzepte, welche individuelle, soziale und politische Dimensionen des Raumes aufspannen.

 

Einige Fragen, die uns hier interessieren, sind: Wie hängen unsere Körper mit dem sie umgebenden Raum zusammen? Wie produzieren wir Räume? Wie produzieren uns die Räume? Welche Relevanz haben unsere Vorstellungen, Bilder der Stadt für die Wirklichkeit der Stadt? Wie entstehen diese Bilder? Was für ein Verhältnis haben also unsere räumliche Wahrnehmung, unsere räumlichen Leit- und Orientierungsbilder und die Produktion des Raumes? Welches Verhältnis nimmt die individuelle und die kollektive Produktion von Räumen ein? Welche Folgen hat sie? Welche Relevanz hat dies alles für die informationelle Stadt?

 

Kevin Lynchs Konzept der kognitiven Wahrnehmung

 

In seinem Werk “The Image of the City” (1960) untersucht der amerikanische Stadtplaner Kevin Lynch die Rolle der individuellen Orientierung und kognitiven Wahrnehmung im Rahmen der Stadt und ihrer Planung. Sein Kontext ist die räumliche Desintegration der modernen Stadt in einer Umwelt, die durch beschleunigte Industrialisierung, Massenmobilität und die Suburbanisierung geprägt ist. Lynch adressiert den verlorenen räumlichen Zusammenhang dieser Situation und setzt sich zum Ziel, die nordamerikanische Metropole über ihre visuellen Qualitäten wiederherzustellen. Dabei findet er zurück zu einer Stadt (und Stadtplanung), nicht aus einer üblichen zentralistischen Sicht von oben, sondern aus der Sicht ihrer Einwohner. Daher beginnen seine umfangreichen Analysen und Untersuchungen mit der Erforschung der kognitiven Karten (“mental images”) der Bewohner und ‚Befahrer‘ der Stadträume.[29]

 

Das Raummodell, das Lynch zugrunde legt, ist das eines dynamischen und offenen Raumes, der als dialektische Einheit mit seinen Nutzern betrachtet werden muss und der von unten her entsteht. Die Grundeigenschaft und Überlebensnotwendigkeit des Organismus, sich im Raum zu orientieren, bildet seinen Ausgangspunkt für die Wiederherstellung der modernen Stadt.[30] Auch in der Stadt ist der menschliche Körper auf seine Sinne angewiesen und von seiner Umgebung abhängig. Er muss sich in ihr, des Überlebens willen, zurechtfinden, sich orientieren und in ihr (s)eine Bedeutung finden. Für Lynch werden die Orientierungsfähigkeit, Perspektive und Wahrnehmung des einzelnen Körpers zu den Schlüsselelementen, die eine scheinbar chaotische Stadt erschließen.

 

Die Vorstellung von der Welt, das Bild von ihr, wird dabei zur absoluten Voraussetzung, um eine Bedeutung in ihr zu finden, mit ihr in Kontakt zu treten und soziale Beziehungen aufzubauen. Dieses ‚Bild der Stadt‘ entsteht aus einer Kombination aus dem, was gerade sichtbar ist, erlebt werden kann und der Erinnerung an vergangene Erfahrung. Damit bekommt das Räumliche auch eine zeitliche und historische Dimension.

 

Aus seinen Untersuchungen leitet Lynch konkrete Gestaltungsvorschläge für neue Bedeutungs- und Orientierungsmuster in den zersiedelten und fragmentierten spätindustriellen Stadtlandschaften ab. Dabei betrachtet er die Rückkehr zu historischen Formen nie als eine ernsthafte Option. Vielmehr untersucht er dieselben Prozesse, welche die Krise der Stadt herbeiführen, wie zum Beispiel Autos und Autobahnen, und erklärt, dass sich die Stadt nur durch eine angepasste Wahrnehmung des bewegten Subjektes wiederherstellen lässt. Er begreift in diesem Zusammenhang die erweiterte Perspektive, die sich aus dem fahrenden Fahrzeug ergibt, als eine Chance, den Widerspruch zwischen der vieldimensionalen Räumlichkeit der modernen Stadtlandschaft und der eindimensionalen Räumlichkeit des Körpers zu überwinden. Dazu schreibt Lynch in “View from the Road”[31]: “The automobile, with its speed and personal control, may be a way of establishing such a sense (unity of self and large environment) at a new level. At the very least, it begins to neutralize the disparity in size between a man and a city.”

 

Seine Beschreibung der Erfahrung des Fahrens auf Bostons Stadtautobahnen bei Nacht, aus der Faszination, Reizüberflutung, Abenteuer aber auch Orientierungslosigkeit sprechen, könnte als ein prophetischer Hinweis auf die Erfahrung der heutigen Stadtwirklichkeit gedeutet werden: “At night a new order reigns in the city. The chaotic skylines, jagged spaces, erratic signs, forms, and shapes disappear into the darkness, to be replaced by luminous dots, strips, and diffused light.”[32]

 

Lynch und seine Zeitgenossen gehen im Grunde davon aus, die Komplexität der modernen industriellen Stadtlandschaft sei noch mit raumgestalterischen Mitteln lösbar. Die moderne Stadtregion sei überhaupt noch zu reparieren, indem die für die Orientierung strategisch wichtigen Punkte und Bereiche eine ästhetische Umgestaltung erfahren. Dieser moderne Positivismus muss aus der Sicht der heutigen fragmentierten und heterogenen Konsumgesellschaft eher in Frage gestellt werden. Der entscheidende Beitrag von Lynchs Arbeit ist hingegen die (Wieder-) Entdeckung der Rolle der körperlichen Orientierung als Voraussetzung jeder räumlichen Vorstellung (und jeder Planung).

 

Gerade vor dem Hintergrund einer zunehmenden räumlichen Komplexität, wie wir sie heute in der Informationsgesellschaft erleben, kommt diesem Ansatz von unten höchste Aktualität zu. Denn mehr als jemals zuvor, kann heute die Stadt nur noch als die Summe der Einzelbilder ihrer Bewohner verstanden werden. Im Zusammenhang mit der vorherrschenden Tendenz zum Visuellen, zum Bild und Zeichen, zur Repräsentation und zum ‚Image‘[33] kommt dieser Betrachtung eine neue Relevanz zu.

 

Die Fragen, die wir (Planer) uns also heute stellen müssen, sind die nach den kognitiven Bildern der Bewohner der heutigen postindustriellen und informationellen Stadt; nach den Bildern, welche die Stadt für diese Bewohner produziert; nach der Realisierbarkeit und dem Sinn eines kohärenten und durchgehenden Stadtbildes; und nach den Technologien, um neue Leitbilder umzusetzen.

 

Hier wird also die Bühne für eine zeitgemäße Betrachtung der informationellen Stadt auf Grundlage ihrer Wahrnehmung bereitet. Doch bevor wir aber weitergehen und auf die Aktualität der damit zusammenhängenden Fragen eingehen können, scheint es erst einmal sinnvoll, weiterhin hinter die Kulissen zu schauen und dem Konzept des persönlichen und individuellen Raumes zu seinen Wurzeln zu folgen.

 

Merleau-Pontys phänomenologischer ‘espace corporel‘

 

Während für Kevin Lynch der Raum eine objekthafte Umwelt des Körpers und seiner Orientierung ist, wird der phänomenologische Raum[34] direkt durch den Körper geschaffen. Dabei werden Körper und Raum zu zwei Seiten eines integrierten Systems. In diesem Zusammenhang ist der Raumbegriff der Theorie der phänomenologischen Wahrnehmung, wie sie durch den Franzosen Maurice Merleau-Ponty entwickelt wurde, für unsere Fragestellung nach den Grundeigenschaften des Räumlichen von zentraler Bedeutung.

 

Im Gegensatz zum kartesianischen Raum als dem Ort von Dingen und Objekten beruht der phänomenologische Raum auf Dialogen und Beziehungen –auf dem Dazwischen– individueller Körper. Für Maurice Merleau-Ponty baut sich jedes Sein auf den sinnlichen Erfahrungen der Dinge und der Gefühle den Dingen gegenüber auf. Räumliche Erfahrung entsteht nicht durch Abstraktion aus der Vogelperspektive, sondern durch die Vorstellung des Raumes in individuellen Bildern. Allerdings versteht er den Begriff der Orientierung nicht im Sinne einer biologisch notwendigen Navigation des Organismus in seiner Umwelt, sondern als eine Grundeigenschaft des Seins, eine grundgegebene, strukturelle Gerichtetheit und Polarität des Körpers im Raum und in der Zeit, zwischen gestern und heute und zwischen links und rechts, oben und unten. Das bedeutet, dass Raum und Orientierung einen direkten Zusammenhang erfahren: Keine Räumlichkeit ohne ‚Orientiertheit‘: “ ... Zeit und Raum sind nicht Summen von addierten Punkten, noch die Unendlichkeit der Beziehungen, ... . Ich bin nicht in Raum und Zeit. Ich denke nicht Raum und Zeit, vielmehr bin ich zum Raum und Zeit, mein Körper verbindet sich mit ihnen als ihr fester Bestandteil. ... Unser Sein hat eine Orientierung, unsere Existenz ist eine räumliche, sie ist polarisiert”.[35]

 

Der Körperraum ('espace corporel') stellt also ein Medium dar, das die Positionierung der Körper und die Entwicklung von Beziehungen ermöglicht. "Raum muß als die universelle Möglichkeit für die Deinge gesehen werden, miteinander in Verbindung zu treten." Die Stadt wird in diesem Sinne zu einem Netzwerk menschlicher Pole (Beziehungen) und zu einem redundanten "Beziehungsfeld zwischen den Subjekten".[36] Im Vergleich zu Kevin Lynch beschreibt Merleau-Ponty damit eine noch grundlegendere und existenzielle reziproke Abhängigkeit von Körper und Raum, Raum und Körper. Die Qualität des Räumlichen ergibt sich hier weniger aus ästhetischen Qualitäten, sondern aus den Möglichkeiten und Potentialen der sozialen Vernetzung, die eine Situation bietet. Aus diesem Konzept erwachsen einige Implikationen für die Diskussion des Raumes der Informationsgesellschaft.

 

Folgt man nämlich diesem Modell, dann bekommen moderne Informationstechnologien eine ganz besondere Bedeutung, indem sie die Potentiale dieses Raumes als verbindendes Medium und Netzwerk maximieren. Die Frage ist, ob sie dadurch das phänomenologische Raummodell zu seiner vollen Entfaltung bringen. Und in der Tat finden sich in diesem Zusammenhang viele Ansatzmöglichkeiten für sozial-utopische Hoffnungen auf ein höheres Bewusstsein, einen vereinten Globus, oder gar neue Wirklichkeitsdimensionen, die durch eine Gesamtvernetzung aller Individuen möglich werden sollen[37].

 

Erstaunlicherweise bietet uns aber Merleau-Pontys Theorie einen Ansatz, diese Hoffnungen wieder zu zerstören und ihre Widersprüche aufzuklären. Die Hoffnung auf eine virtuelle und entleibte Welt stellt sich als genauso trügerisch heraus wie der alte Traum vom Gehirn, das ohne den dazugehörigen Leib überleben könnte. Dass die räumliche Sinneserfahrung unserer Körperlichkeit die fundamentale und nicht ersetzbare Grundlage aller Erfahrung bildet, ist schließlich eine der Kernaussagen von Merleau-Pontys Beitrag. Es lässt sich daraus folgern, dass in einem Raum, der auf körperlicher und sinnlicher Erfahrung aufbaut, neue Technologien eher zusätzliche und überlagernde Handlungs- und Bedeutungsebenen, und nicht alternative Welten schaffen, und dass für diese Bedeutungsebenen weiterhin die Gesetzmäßigkeiten der körperlichen Raumwahrnehmung gelten müssen.

 
Henri Lefèbvres “Sozialer Raum”

 

In meiner Diskussion des zeitgenössischen Raumes fehlt noch immer die gesellschaftliche und politische Dimension des Raumes. Während der Raum bis hier als ein Produkt des Körpers vorgestellt wurde, das vom individuellen Körper erfahren, wahrgenommen, und vorgestellt wird,  wendet sich der folgende Abschnitt in der Diskussion von Henri Lefèbvres “sozialem Raum” einer kollektiven Dimension des Raumes zu. Zwar wird dieses Raumkonzept, wie die beiden Modelle von Lynch und Merleau-Ponty direkt auf die Erfahrung und Repräsentation der individuellen Körper bezogen, hier jedoch in ihrer Gemeinschaft. Auch hier begegnen wir – im Gegensatz zu verschiedenen mathematischen oder naturwissenschaftlichen Modellen – einem wirklichen, reellen und kontextuellen Raum, der aktiv durch menschliche Gedanken, Vorstellungen und Handlungen produziert wird.

 

Dem ‚sozialen Raum‘ gelingt es, im Prinzip verschiedene räumliche Modelle – ob geistig, abstrakt, sozial oder individuell – in einem Konzept zu integrieren. Lefèbvre integriert die wissenschaftliche, abstrakte und neutrale Ebene in seinem Konzept. Raum ist für den französischen Philosophen ein ideologisches und politisches Produkt. Und gerade die vorherrschende Deutung von Raum als abstrakt und neutral versteht er allenfalls als ein Ergebnis ideologischer und politischer Vorgänge, wenn er schreibt:

 

Raum ist nicht ein wissenschaftliches Objekt, das von Ideologie und Politik getrennt werden kann. Wenn Raum uns heute in seinen Inhalten als neutral und indifferent erscheint und daher nur ein formales Produkt zu sein scheint, ist dies gerade, weil dieser Raum schon lange besetzt und gebraucht worden ist und im Mittelpunkt von Prozessen steht, deren Spuren sich nicht unbedingt noch alle ablesen lassen. Raum ist politisch und ideologisch. Er ist ein Produkt, das sprichwörtlich mit Ideologien gefüllt ist.”[38]

 

Lefèbvres Raum ist an eine spezifische Lokalität gebunden. Der “Soziale Raum” ist zeit-, orts- und kontextgebunden und entsteht aus der Interaktion verschiedener sozialer Gruppen an spezifischen Orten zu spezifischen Zeitpunkten. Diese menschlichen Gruppen verwenden je nach Zeit und Ort bestimmte Produktionsmittel und Repräsentationsformen und sind in kollektive Handlungen eingebunden, die ökonomische, soziale oder politische Zielsetzungen haben können.

 

Die wesentliche Stärke dieses Raummodells, sein wesentlicher Charakter, ist in seiner Struktur verborgen. Lefèbvre differenziert sein Modell als dreiteiliges Gefüge, des gelebten, des abstrakten und des wahrgenommenen Raumes (vgl. Abb. 1). Dabei ist der gelebte Raum der räumlichen Praxis der ‚reale‘ Bereich des täglichen Lebens. Der abstrakte Raum ist ein ‚symbolischer‘ Bereich, in dem sich abstrakte Mächte manifestieren und repräsentieren. Es ist der ideologische Raum der Repräsentation staatlicher Organisationen, Großkonzerne oder der Raum wissenschaftlicher Operationen. Mit dem ‚imaginären‘ Raum der Repräsentation, der Wahrnehmung und der Vorstellung hält Lefèbvre den Bereich fest, wo das Physische sich selbst reproduziert. Dieser ist ein wahrgenommener und zeichenhafter Raum der Bilder und Symbole, nicht weit entfernt von Merleau-Pontys phänomenologischem Modell.[39]

 

Das Entscheidende ist: Durch seine dreifache Struktur wird der ‚soziale Raum’ zu einem Beziehungsgefüge, einem äquilibrischen Zustand, der empfindlich auf Störungen reagiert. Aus dem Ungleichgewicht der Relationen innerhalb dieses Modells lässt sich eine räumliche Krise herleiten. Und während es noch für Kevin Lynch die verschlungenen Hochstraßen der amerikanischen Stadtlandschaft waren, die zu einer verzerrten Wahrnehmung führen und diese Krise hervorrufen, kritisierte Lefèbvre die politischen Verhältnisse im Paris der Studentenrevolution als Faktoren, die den Raum einseitig dominieren. Diese Krise des Raumes wird aus Lefèbvres Sicht durch abstrakte Apparate, wie den modernen Staat, die moderne Wissenschaft oder durch Großkonzerne hervorgerufen und wird begleitet von den Erfahrungen der Massenmedien, der Konsumgesellschaft und der Individualisierung.[40]

 

Aus dieser Kritik entwickelt Lefèbvre eine seiner Kernaussagen, indem er postuliert, dass die Grundlagen zur Bildung gesellschaftlicher Verhältnisse nicht mehr auf einige zu lokalisierende Produktionsverhältnisse einer Gesellschaft zu suchen sind, sondern vielmehr in der Produktion des räumliches Umfeldes, also der Stadt als Ganzes. Sein Postulat entsteht aus der Einsicht, dass wir zunehmend einer Kommodifizierung aller Aspekte unseres Lebens ausgesetzt sind. Weil die ‚Produktion des Raumes zum prägenden Faktor der spät industriellen Gesellschaft wird, muss der ganze städtische Raum an sich von nun an als das zentrale Feld der Austragung und Lösung gesellschaftlicher Konflikte gesehen werden.[41]
 

 

 

Abb.1: Lefèbvres Konzept des sozialen Raumes (bearbeitet durch den Autor)

 

Worauf gründet sich aber die Aktualität von Lefèbvres Raumtheorie? Lässt sich sein Modell auch auf die Formen unserer Konsumgesellschaft übertragen? Welche Formen z. B. des Abstrakten Raumes finden wir heute und wie beeinflussen sie das Gesamtgefüge?

 

Geht es nach Kritikern wie Frederic Jameson oder David Harvey, dann ist Lefèbvres Raummodell heute aktueller denn je. Beide vertreten die These, dass das Postmoderne Zeitalter keinesfalls eine radikale Abwendung von der Moderne bedeutet, sondern eher seine Fortführung mit anderen und differenzierteren Mitteln. Sie sehen in der neo-liberalen Marktwirtschaft nach wie vor einen Motor, der nach den fundamentalen Grundregeln des Kapitalismus funktioniert. Übertragen auf das Raummodell von Lefèbvre, könnte man extrapolieren: Bis heute hat sich nichts an der Dominanz der abstrakten Ebene geändert. Diese dominiert heute immer noch das Gefüge des ‚sozialen Raumes’. Allerdings nun vorwiegend über die Akteure der Wirtschaft und durch die Logik neuer Technologien.

 

Im Grunde repräsentiert der ‚globale Raum der Flüsse‘, wie ihn Castells (1996) beschreibt, eine solche neuartige Ebene des abstrakten Raumes. Und die neue Dichotomie von “Global” und “Lokal” im Sinne eines Ungleichgewichtes des Abstrakten und des Realen deuten, das in einer Krise des Repräsentativen mündet. Mit anderen Worten: Die heutige städtische Bühne wird beherrscht von den Konflikten multipler Lebensmodelle und charakterisiert von den Ausprägungen eines globalen ‘Raumes der Flüsse’ und eines traditionellen ‘Raumes der Orte’.

 

Die räumlichen Modelle von Kevin Lynch, Maurice Merleau-Ponty und Henri Lefèbvre präsentieren uns eine Stadt, in der individuelle und gemeinschaftliche Körper und ihre räumliche Wahrnehmung eine Hauptrolle spielen. Alle drei Modelle postulieren im Grunde, dass Raum heute vor allem aus der Perspektive des Körpers her verstanden werden kann. Sie zeichnen sich durch die Charakterisierung von Raum und Körper durch ein dialektisches und reziprokes Verhältnis aus. Raum und Körper werden hier als aufeinander–bezogene, offene und relative Systeme verstanden. Diese relative Eigenschaft des Systems Raum-Körper, wird schließlich zu der Grundvoraussetzung des Räumlichen und Zeitlichen. Körper können nur in – und mit – Raum und Zeit existieren. Orte können so als die Brennpunkte in einem Netz verstanden werden, das durch Beziehungen aufgespannt wird. Zu sein in diesem Sinne bedeutet also räumlich zu sein und sich im Gleichgewicht dieses ‚Dazwischen‘ zu befinden.

 

Fazit und Perspektiven

 

Zusammenfassung: Der Raum der informationellen Stadt

 

Der zeitgenössische Raum erfährt eine zunehmende Polarisierung, Fragmentierung und Homogenisierung durch eine Kombination ökonomischer und technologischer Einflussfaktoren. Weil diese Entwicklungen schwerwiegende Eingriffe in den traditionellen Raum darstellen, einschließlich der persönlichen Räume unserer Körper, entwickeln wir eine Krise der Orientierung.[42] Gewohnte Werte und Vorstellungen verlieren zunehmend an Gültigkeit. Wir fallen in diesen orientierungslosen Zustand, weil die Welt, welche wir durch unsere fünf Sinne erleben, und die Realität der Bilder, welche wir wahrnehmen, zu weit auseinander klaffen.

 

Um unsere Situation besser zu verstehen, ist eine Betrachtung des Raumes, in dem wir leben, und seiner Produktion notwendig. Der Raum der informationellen Stadt kann charakterisiert werden als etwas, das zwischen dem traditionellen ‘Raum der Orte’ und dem virtuellen ‘Raum der Flüsse’ liegt. Dennoch transformiert der letztere uns und die Gesamtheit unserer Beziehungen (ob politisch, sozial, kulturell oder physisch) heute auf eine neue und radikale Art und Weise. Es wird in diesem Zusammenhang entscheidend, den so genannten virtuellen Raum als eine neue Ebene des informationellen Raumes zu verstehen und nicht als eine alternative Wirklichkeit. Dieser Raum entspringt auch aus den Vorstellungen unserer Sinne und der Räumlichkeit unserer Körper und unserer Kulturen, wenngleich er eine neuartige Ebene der Produktion, des Konsums und der Erfahrung darstellt. Gleichzeitig revolutioniert dieser telematische Raum die ökonomische, kulturelle und soziale Produktion des reellen Raumes. Es gibt aber keine Gründe (außer ideologischen), warum seine Konstruktion, Reproduktion und Repräsentation nicht auf den traditionellen Pfaden von Macht und Kontrolle passieren soll. Auch der telematische Raum ist demnach politisch und ideologisch. Es bleibt festzuhalten, dass die Modelle des kognitiven, körperlichen und sozialen Raumes, samt ihrer Implikationen ebenfalls auf diese neue räumliche Ebene anzuwenden sind.

 

 

Entwurfstrategien der Wahrnehmung

 

Wie aber können wir als eine Berufsgruppe, die sich mit der Planung und dem Entwurf von Räumen beschäftigt, konstruktiv auf die oben beschriebene Krise der Orientierung und die neuartigen Eigenschaften des informationellen Raumes reagieren? Die Formen des traditionellen Raumes (Raum der Plätze) und des virtuellen Raumes (Raum der Flüsse) können und müssen im Bild des sozialen Raumes verankert werden. Die heutige Dominanz der Abstraktion muss in diesem Zusammenhang aufgefangen werden. Dafür brauchen wir Bilder und Modelle von Räumen, denen Kriterien wie vielschichtig, komplex, dialektisch, topologisch und flexibel entsprechen und die Tausende individuelle Stadtbilder repräsentieren können. In diesem Zusammenhang muss es verstärkt die Aufgabe der Planung sein, ihre Projekte aus den Bildern des Einzelnen heraus zu entwickeln und diese räumlich in neue Bedeutungen und Projekte umzusetzen.

 

Zu den aktuellen Themen dieser Projekte gehört eine Neudefinition der Beziehungen von Bedeutung und Identität, Informationsraum und physischem Raum, Medienrealität und Erfahrung, gemeinschaftlichem Bewusstsein und individuellem Denken sowie trainierter und automatischer Wahrnehmung. Die Aufgabe einer neuen Entwurfspraxis sollte also in einem neuen Verständnis des Raumes münden und Wege aufzeigen, wie sich unsere Körper in den komplexen Umwelten des Heute repräsentieren könnten. ‚Raum-Planung‘ wörtlich genommen hieße die Bedeutung von Räumen zu analysieren, zu interpretieren und zu gestalten.

 

”Etwas eine Bedeutung geben, sich um etwas kümmern -  übertragen auf das Universum kann das nur heißen, dass man alles, was man verändern will, auch wirklich wahrnimmt, das heißt, man muss es interpretieren und ihm eine Form geben. Die Form ist zunächst der Anker, dann wird sie zum allumfassenden Kristall, der Weltstruktur”.[43]

 

 

Fünf Praktiken

 

Zum Schluss möchte ich fünf planerische Praktiken vorschlagen, die als Grundlage einer heutigen Auseinandersetzung mit Raum dienen können.

 

a. Technologische Praxis

Die Untersuchung der Kapazität neuer Technologien und neuer Räume als Werkzeuge für den Entwurf von Vorstellungen (Imagination und Projektion) sollte eine unbedingte Voraussetzung sein, um ein neues Raumverständnis zu entwickeln.

 

b. Ästhetische Praxis

Es ist heute notwendig, rein ökonomische, wissenschaftliche und rationale Praktiken mit einer Kultur des Ästhetischen zu ergänzen. Dabei wäre es die Aufgabe dieser ästhetischen Ebene, den topologischen Raum der Beziehungen zu kartieren, welcher charakteristisch für das Informationszeitalter ist. Von hier aus sind neue Repräsentationsformen zu finden, welche dem menschlichen Bedarf nach Orientierung und Geborgenheit entsprechen. Im Grunde müsste dafür der Ansatz von Kevin Lynch auf die Bedingungen der informationellen Stadt transferiert werden. Eine ästhetische Praxis muss auch das Bedürfnis überwinden, das Alte als Form rekonstruieren zu wollen. Vielmehr muss sie sich um die Bedürfnisse, die Inhalte und um programmatische Anforderungen kümmern.

 

c. Soziale Praxis

Wir müssen heute eine neue, allgegenwärtige, subtile räumliche Logik wahrnehmen und thematisieren. Diese ist eine Logik der Polarisierung, Homogenisierung und Fragmentierung, die auch differenzierte Formen von Macht und Disziplinierung mit sich bringt. Die Stadt muss erneut als soziales Umfeld interpretiert werden. Dieses Umfeld soll Möglichkeiten eröffnen und soziale Potentiale aufbauen. Vor allem muss aber eine soziale Praxis heute dem ‘anderen’, marginalisierten Teil der Bevölkerung, der im Hauptstrom unserer Ökonomie namenlos bleibt, besondere Aufmerksamkeit und Beachtung schenken.

 

d. Traditionelle Praxis

In dem Sinne, dass viele unserer heutigen Probleme durch die Dominanz eines abstrakten, virtuellen Raumes (space of flows) über ein traditionelles Raumgefüge (space of places) entstehen, müssen wir Partei für einige traditionelle Werte des Ortes und des Kontextes ergreifen. Dazu zählt zum Beispiel eine neue Auseinandersetzung mit den Themen Langsamkeit, Sinnlichkeit, Beständigkeit und Nachhaltigkeit.

 

e.   Politische Praxis

Nicht zuletzt muss Planung ein kritisches räumliches Bewusstsein kultivieren[44]. Erst wenn Räume nicht als neutrale Behälter, sondern als die Ergebnisse ideologischer und politischer Verhältnisse, die durch verschiedene Kräfte und Akteure produziert, kolonialisiert, angeeignet und transformiert werden, verstanden werden, kann es gelingen, die dominanten Trends unserer Zeit zu verstehen, aufzufangen und besser zu steuern.

 

 

Imagine a city! + imaginacity = “Imagine-a-city”

 

Die Kultur der Vorstellung (Imagination) hat sich zu einem Schlüsselelement meiner Betrachtung des zeitgenössischen Raumes entwickelt. Die Vorstellungsebene wird als das Schlüsselelement identifiziert, das uns in der Erkenntnis und der Interpretation der versteckten Bedeutungsebenen und Realitäten der heutigen Stadtlandschaft weiterhelfen kann. Die Vorstellbarkeit (Imagination) könnte daher zum einen als ein Konzept und eine Strategie verstanden werden, um der informationellen Stadt zu begegnen und zum anderen als ein Weg, diese zu transformieren. Imagine-a-City, als Proposition und Adjektiv in einem, vereint die Aufforderung, sich die neue Stadt vorzustellen (“imagine a city, please!”), mit einer deskriptiven Ebene der Stadt der Bilder. Gibt es noch einen Weg zurück?

 

Oh, I'd give anything to get out of Oz altogether; but which is the way back to Kansas? 

(Dorothy in “The Wizard of Oz”)

 

Literatur

Appleyard, David; Lynch, Kevin; Mayer, John R.; 1963: The View from the Road; Cambridge.

Baudrillard, Jean; 1988: ”The Ecstasy of Communication”; In Selected Writings; ed. Mark Poster, Sanford.

Bollnow, Otto; 1963: Mensch und Raum; Stuttgart.

Benedikt,Michael; 1993: ”Unreal Estates”; In der Zeitschrift: ANY Nr.3; S.57 ff.; New York

Boyd Whyte, Ian; Schneider Romana (eds.); 1986: Die Briefe der Gläsernen Kette; Berlin.

Castells, Manuel; 1989: The Informational City; Cambridge; MA.

Crary, Jonathan; 1984: “Eclipse of the Spectacle”; In Wallis, Brian (ed.); (1984) Art after Modernism; Boston.

Davis, Mike; 1992: City of Quartz ; Los Angeles.

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Anmerkungen

 

[1] Vgl. K. Lynch, 1960

[2] Vgl. M. Castells (´89), M. Mc Luhan (´64), P. Virillio (´94), R. Sennett (´94)

[3] Ich berufe mich hier auf das postmoderne Konzept des versammelten ”Anderen” (amalgamated other). So verwendet z.B. Saskia Sassen ´96 dieses ”Andere”, um die marginale, informelle und vergessene Seite der Globalisierung darzustellen.

[4] Ich möchte diesen Begriff vorschlagen als Kombination von Castells‘ (´89) Stadt der Informationen (“informational City”) und dem Begriff der Informalität. Beides sind charakterisierende und neue Merkmale der kontemporären Stadt.

[5] Dieses Bild des Aufeinandertreffens des ‚globalen‘ und des ‚lokalen‘ Raumes, auf das ich immer wieder Bezug nehme, lässt sich im Großen und Ganzen aus den Auseinandersetzungen von Castells (´89) und Harvey (´89) ableiten. Die Diskussion seiner Implikationen ist eine Aufgabe, die über diese Präsentation hinausgeht.

[6] Lefèbvre beschreibt die neue Dimension wie folgt: “Today our concern must be with a space on a world’s scale, as well as with all spaces subsidiary to it. (Cosmological and Quantum space) The forces that shape this space – basically forces of production: market of commodities, labor, capital, technology, science and demographic trends – are of a power, scope, and effectiveness hitherto unknown and unimaginable.” (Lefèbvre, 1974, S. 307)

[7] Häußermann, 2000

[8] Die Untersuchung der technologischen und ökonomischen Kräfte, die den heutigen Raum formen, ist von einem vorrangigen Interesse. Dennoch geht sie über diese Präsentation hinaus. Für eine nähere Betrachtung möchte ich u. a. auf M. Castells (´89) oder D. Harvey (´89) hinweisen. Für die Beschreibung der Polarisierung, Fragmentierung und Homogenisierung siehe auch, E. Soja (´89), M. Davis (´89).

[9] An die drei viertel der heutigen Stadtlandschaft ist in den letzten 50 Jahren entstanden. Vgl. Ganser, 2000.

[10] The ether is humming – no, roaring – and not the signals of dying stars, but the radio and television stations and cellular telephones; the air is alive with plumbers, policemen, pilots, and spies; with data streams from fax machines, with uplinks and downlinks from stock-markets, news-services, and vehicle navigation devices. The electromagnetic spectrum is quivering at every scale, like an infinitely fine, space- filing spiders web shimmering with a billion messages in transit from somewhere to someone, but always and permanently there, and invisible like the light that passes by your nose.”; M. Benedikt, 1993; “Unreal Estates”; ANY Nr.3; New York ; S.57

[11] Vgl. V. Flusser; “Die Stadt als Wellental in der Bilderflut”; in Arch+; Nr.111; 1991; S. 58 und S.84

[12] Erik W. Ellison; “Portable Phones in the Park: A New Approach to Understanding Planning Urban Space”; In der Ph.D.-Konferenz: Cyberspace, Public Space and the Hyperghetto, New Conceptions of Urban Space; Columbia University; New York; Okt. 1994

[13] In diesem Zusammenhang wäre es eine sehr interessante Frage, inwieweit sich eine Korrelation finden ließe zwischen dieser ‚vertikalen‘ Durchmischung von Privat, Öffentlich und Sakral und der zunehmenden ‚horizontalen‘ sozialen Polarisierung unserer Stadtlandschaften.

[14] V. Flusser, (1991), Betonung durch den Autor

[15] H. Lefébvre beschreibt die Objektifizierung des Körpers im abstrakten Raum:

“In abstract space, and whenever its influence is felt, the demise of the body has a dual character, for it is at once symbolic and concrete. Concrete, as a result of the aggression to which the body is subject and symbolic on an account of the fragmentation of the body’s unity. This is especially true of the female body, a transformed into exchange value, into a sign of the commodity and indeed into a commodity per se.” Lefèbvre, (1974), S. 310. Vgl. auch Houellebecqs “Ausweitung der Kampfzone” (´00), oder Sennetts ”Corrosion of Character” (´98).

[16] Man betrachte z. B. die ‚Behandlung‘ des Körpers durch bio- oder gentechnologische Verfahren.

[17] Vgl. Foucault (82), Debord (67), Deleuze Guattari (80); Aus Crary, J.; (1994); Eclipse of the Spectacle

[18] U. Beck (u. a. in Arch+ 158)

[19] Über das Expertentum als Werkzeug für Abstraktion und Entfremdung vgl. M. Weber (1930)

[20] R. Sennett (1995) theorisiert den Begriff des Komforts im Bezug zu einem Verlust des Taktilen (Tastsinn) und einer Entwurzelung des modernen Körpers.

[21] Vgl. P. Virillio, 1994

[22] Vgl. Harvey ´89, Jameson ´91, Baudrillard ´88

[23] Die Öffentlichkeit aus einer demokratischen Kultur freier Rede und gedruckter Medien. Vgl. z.B. Habermas, 1962

[24] Vgl. W.J. Mitchell, 1989

[25] Vgl. A. Kluge,1985, S.53

[26] Vgl. Baudrillard, 1988

[27] Vgl. F. Jameson, “Postmodernism, or The Cultural Logic of Late Capitalism”, 1991

[28] Die Modelle der Relativitätstheorie (Einstein) oder die Quantentheorie (Heisenberg) wären da schon eher verfolgenswert, sind aber nicht das Thema dieser Abhandlung.

[29] Er untersucht die Metropolen Boston, New Jersey und Los Angeles.

[30] Dabei verfolgt Lynch einen interdisziplinären Ansatz. Wie in dem Appendix von “Image of the City” zu sehen, war Lynch von Disziplinen wie der Umweltpsychologie und Ethologie (Wissenschaft über das Verhalten der Lebewesen) stark beeinflusst, die den Körper als einen Navigationsmechanismus beschreiben.

[31] Aplleyard, Lynch, Mayer, 1963, S.54. (Eine Untersuchung der stadtgestalterischen Potentiale neuer Autobahnsysteme in Boston)

[32] Ebenda

[33] Vgl. Virillio ´94, Baudrillard ´88, Ito ´93

[34] Die Disziplin der Phänomenologie der Wahrnehmung entsteht aus einem Dialog von Umweltpsychologie und phänomenologischem Denken. Im frühen 20. Jahrhundert verlassen Denker wie Husserl, Bergson, Freud und Proust ein lineares, abstraktes und mechanisches Verständnis von Raum und Zeit und entwickeln ein neues Bild des menschlichen Bewusstseins, Wahrnehmung und Handlung. Eine detaillierte Beschreibung dieser Geschichte findet sich in Bollnow (´63).

[35] Merleau-Ponty, 1973, S.286 und 243

[36] Merleau-Ponty ist nicht der Einzige, der dieses Bild verwendet: So kann man es ebenfalls in den 20er Jahren bei R. Park an der Chicago School oder 50 Jahre danach in W. Flussers, oder K. Kellys (1993, Out of Control) Gedankengut finden.

[37] Vgl. einige kommunikationsbasierte Gesellschaftsutopien N. Tesla, M. Mc Luhan, W. Gibson, K. Kelly .

[38] Lefèbvre, 1976, S.31, (Übersetzung durch den Autor)

[39] Mit Webers Worten könnte man den gelebten Raum einer moralischen Sphäre, den abstrakten einer wissenschaftlichen und den repräsentierten einer ästhetischen Sphäre zuordnen. Auch Lacan setzt das Individuum in drei Register, das Reale, das Symbolische und das Imaginäre, die weitgehend den Raumkategorien des sozialen Raumes entsprechen. Für Lacan allerdings ist die Unvereinbarkeit dieser Sphären grundlegend.

[40] Verhältnisse, die z. B. in den Filmen Godards oder Tatis thematisiert werden, so z. B. in “Alphaville” oder “Mon Oncle”.

[41] Lefèbvres Gleichsetzung der Bedeutung des Raumes mit der Zeit und damit eine Hinterfragung des historischen Materialismus bedeutete auch seinen Bruch mit der kommunistischen Partei.

[42] Diese Krise ist keine Krankheit, sondern eher ein konzeptionelles Werkzeug, um unseren postmodernen Zustand der Gleichzeitigkeit, Komplexität und scheinbaren Richtungslosigkeit zu beschreiben.

[43] Vgl. B. Taut in Boyd White, 1986

[44] The development of a radical political culture of postmodernism will accordingly require moving beyond rigorous empirical descriptions which imply scientific understanding but too often hide political meaning... . A new 'cognitive mapping' must be developed, a new way of seeing through the gratuitous veils of both reactionary postmodernism and late modern historicism to encourage the creation of a political spatial consciousness and a radical spatial praxis. E. Soja, 1989, S.75



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