Zur Sprache bringen
Eine Kritik der Architekturkritik
7. Jg., Heft 2 (Januar 2003)    

 

___Eduard Führ
Cottbus
  Architekturkritik als Architekturvermittlung



 

0. Einleitung

 

Historisch und strukturell – das sei einleitend kurz skizziert – lassen sich bei der Kritik syllogistische, epistemologische und kommunikative Aspekte unterscheiden:

 

Kritik als Kunsturteil

Seit Beginn der abendländischen Philosophie war das Konkrete ein kognitives Problem. Man konnte es nur in Bezug zum Allgemeinen fassen, mal als Abschattung, mal als Defizienz oder als Abweichung. Bis in die Neuzeit hinein konnte man vom Konkreten her kein Allgemeines finden. Es musste in einem Urteil einem Allgemeinen zugeordnet werden.

Das Kunsturteil bezieht ein singuläres Werk als Fall auf ein vorgegebenes Reglement und beurteilt das Konkrete im Grad des Bezugs zum Allgemeinen. Das Urteil ist doppelt, es weist das Konkrete qualitativ einem Allgemeinen zu und prüft den Grad der Übereinstimmung.

 

Kritik als epistemologische Methode

Bevor man urteilt, d. h. ein Konkretes auf ein Gesetz, eine Regel, eine Konvention, eine Norm bezieht, muss man das Konkrete soweit erkennen, dass man weiß, auf welches Allgemeine man es beziehen muss. Auch hier spricht man von Kritik; gemeint ist hier das Erfassen des Soseins eines Konkreten, der Vorgang, etwas auseinander zu legen. Es ist die Fähigkeit, intrinsisch, also nicht von externen Maßstäben her, auszudifferenzieren.

Auch Kunstkritik muss vom Kunsturteil unterschieden werden; sie entsteht als Literatur-, Musik-, Kunst- oder Architekturkritik im 18. Jahrhundert. Mit dem Verlust von naturgesetzlichen, historisch legitimierten oder allgemeinverbindlichen sowie offenbaren Kunstregeln seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und mit der Fundierung von Kunst im Subjektiven waren Kunsturteile problematisch und als Kunstrichterei diskriminiert worden. An ihre Stelle tritt die Kunstkritik, die eine intrinsische Bewertung der Qualitäten und Mängel eines konkreten Werkes zu bewerkstelligen hat.

 

Kritik als Kommunikation des Werkes

Bereits bei Homer gibt es eine Passage (18. Gesang der Ilias), in der eine Sache (der Schild des Achilleus) sprachlich einem Publikum präsentiert und vermittelt wird (dazu Simon 1995). In den antiken Rhetoriken wird dies dann zur ‚Ekphrasis’ entwickelt und in einem gewissen Maße reguliert und formalisiert (siehe hierzu etwa Graf 1995). Ekphrasis ist dabei einmal als Präsentierung und  Veranschaulichung einer abwesenden Sache verstanden, aber auch als Deskription oder als Lobrede (hierzu siehe Kruft 1991, S. 33), indem dem Volk durch Lob eines Gebäudes die historische Größe des Herrschers und Auftraggebers vermittelt wird. Dem Herrscher, dem potenziellen Bauherrn, einem Publikum sollen seit Vitruv auch die Architekturbücher die Leistungen der Architekten vermitteln. Sie sind Bewerbung um Job und Auftrag. Zugleich sind sie Präskription, sie dienen sowohl der Legitimierung des eigenen Tuns, wie vor allem der regelkonstituierenden Vermittlung des eigenen Architekturverständnisses, das dann in Kunsturteilen als Referenzallgemeines genommen werden soll.

Anfang des 17. Jahrhunderts benutzt Francis Bacon für die Vermittlung bereits den Begriff 'Kritik' [1]; sie impliziert über die Sache hinaus eine philologische Prüfung des Textes und dessen Auslegung, die Erläuterung im historischen Kontext, sowie eine Bewertung und Einordnung in ein wissenschaftliches System.

 

Ich möchte mich im Folgenden auf die Architekturvermittlung beschränken. Sie findet nicht nur in Fachzeitschriften und Feuilletons statt. Vielmehr gibt es eine ganze Reihe weiterer Verstehen und Verständnis von Architektur bestimmender Vermittlungen: Architekturausstellungen in Museen und Galerien, Dokumentarfilme und Features, Buchpublikationen sowie Vorträge, akademische Vorlesungen und Seminare, etwa im Rahmen der Kunstgeschichte, der Baugeschichte oder der Architekturtheorie in Schulen aller Art.

 

Weil es mir nicht um eine Sekundärkritik des praktischen Geschäfts des Architekturjournalismus aus der sicheren Distanz der Universität geht, sondern um grundsätzliche Überlegungen zu Basis und Ziel der Architekturver­mittlung, beziehe ich mich auf meine eigene Disziplin, die Hochschullehre.

 

1. Strukturen klassischer Architekturvermittlung

 

Wenn man eine architekturwissenschaftliche Vorlesung im Rahmen der Architekturlehre macht, fängt man wohl stets so an:

 

Meine Damen und Herren,

bitte das erste Dia!

Vielleicht können wir das Licht etwas abdunkeln!

 

Wenn ich ein historisches Gebäude zum Gegenstand meiner Vorlesung hätte, würde ich jetzt eine schwarz-weiß Reproduktion von Foto-Marburg zeigen, hätte ich ein zeitgenössisches Gebäude, nähme ich eine durch den Architekten des Gebäudes beigesteuerte Abbildung aus der aktuellen Fachzeitschrift oder aus einer ebenfalls durch ihn ausgestatteten Monographie. Dann würde ich etwas über den Architekten sagen, seine Äußerungen zu seinem Gebäude zusammenfassen und sein architektonisches Konzept herausstellen.

 

Man könnte sich Architekturkritik aber auch so vorstellen:

 

Liebe Konferenzteilnehmer,

jetzt sind wir ja nun seit einiger Zeit in den Räumen der ‚Brandenburgischen Kunstsammlungen’. Wobei ich nun eigentlich ganz froh bin, dass ich hier vorne auch mal stehen und ein wenig auf- und abgehen kann, denn ich konnte bald nicht mehr auf diesen unbequemen Klappstühlen sitzen. Natürlich sind sie für ein Museum ganz praktisch, wie P. N. heute Mittag zu mir sagte, eigentlich auch für eine Konferenz ideal, da man sowohl einigermaßen darauf sitzen kann, wie man ebenso, da sie eben doch auch unbequem sind, hellwach bleibt und der Veranstaltung mit durch die Sitzgelegenheit geförderter Aufmerksamkeit folgt.

Aber sie sind eben auch unbequem. Jedenfalls für meine Körpergröße. Wie sehen Sie das?...

Das Rednerpult ist etwas zu niedrig für mich, ich glaube, ich stehe auch ein bisschen ungünstig zu Ihnen! Wie ist es von Ihnen aus gesehen?

Ist die Lautstärke des Mikrofons für Sie richtig eingestellt? …

 

Ich möchte nun nicht im O-Ton fortfahren. Wir könnten nun aber in den Diskurs einsteigen und zusammen auf der Basis der gemeinsamen Erfahrung der Nutzung dieser Räume in den vergangenen Tagen herausarbeiten, worauf das Museum achten sollte, wenn es das ‚Dieselkraftwerk’,  sein neues Haus, um- und ausbaut.

 

Mit diesen beiden unterschiedlichen Herangehensweisen an Architektur stehen sich zwei unterschiedliche Verständnisse von Architekturkritik gegenüber. Zum einen ist Architekturkritik distanzierter, begrifflich geklärter und sprachlich elaborierter Monolog über einen abwesenden Gegenstand und zum anderen dialogische Reflexion über die Ausstattung des eigenen Alltags.

 

Ich möchte genauer untersuchen, in welchen Kommunikationsmodellen dabei gedacht wird, wer es ist, der wohnt, baut und vermittelt.

 

 

Die klassische architekturwissenschaftliche und -kritische Kommunikation

 

Die klassische Weise der Architekturwissenschaftler und -kritiker, Architektur zu vermitteln und zu kritisieren, impliziert ein spezifisches Kommunikationsmodell.

 

Architektur als Bauwerk

Der Architekt baut und erzeugt dabei ein Produkt, der Bewohner eignet sich dieses Produkt an.

 

Zuerst wird gebaut und dann gewohnt. Das Bauen geschieht durch einen Architekten, der sich als Künstler und Autor versteht: er ist kreativ und hebt etwas in die Existenz, er schöpft ein Werk, das es vorher nicht gab.

Das Wohnen geschieht durch Nutzer, Bewohner, Passanten, im Nachhinein. Sie stehen im Gegensatz zu Künstler und Autor, sie sind nicht kreativ; sie stellen nicht her, sondern nehmen hin. Letztlich vernichten sie das Bau- und Kunstwerk im Gebrauchen.

 

Der Architekturvermittler hat das Gebäude zwischen Architekt und Nutzer zu vermitteln. Was aber genau ist seine Aufgabe, wo ist seine Position?

 

Die Rollen scheinen klar aufgeteilt: Die Architekten produzieren, die Bewohner rezipieren, die Architekturwissenschaftler und -kritiker vermitteln und kritisieren. Der Bewohner kritisiert nicht, der Architekt vermittelt nicht, der Architekturwissenschafter und -kritiker baut nicht, noch wohnt er. (Er wohnt schon, aber nicht als Vermittler, er baut schon, aber nicht als Kritiker.)

 

Das Kommunikationsmodel scheint einigermaßen schlüssig, wenn man Architektur als eine solitäre Sache versteht. Nicht anders sieht es aus, wenn man ihr Bedeutung zugesteht.

 

 

Architektur als Bedeutungswerk

Während es klar ist, dass der Architekt das Gebäude als materielles Ding herstellt, konkurrieren Architekten und Architekturwissenschaftler und -kritiker in der Herstellung der Bedeutung der Architektur.

 

Bis ins 20. Jahrhunderts wird die Bedeutungskonstitution noch dem Architekten zugesprochen, wie es etwa Bandmann hervorhebt. Dem Kritiker obliegt es, diese vorgegebene Bedeutung aufzufinden und an den interessierten Laien weiterzugeben.

Mit dem ‚Tod des Autoren’ (Foucault) springt der Interpret an dessen Stelle, er stellt nun vermittels seiner Interpretationsarbeit das Bedeutungswerk her.

 

So weist etwa Juan Pablo Bonta, den ich zitiere, weil er eines der wenigen Standardwerke über das Interpretieren von Architektur geschrieben hat, dem Architekten im Produktionsprozess der Architektur als Bedeutungswerk nur eine untergeordnete Rolle zu. „Sie schaffen zwar die Dinge, doch ist es der Interpret, der sie klassifiziert und deutet. … Die Wirkung eines Gebäudes (hängt; E. F.) … weniger vom Entwurf als von seiner Interpretation ab.“ (Bonta 1977, S. 249) Semiotik und Postmoderne stehen ihm dabei zur Seite.

 

Das wiederum lässt die Architekten nicht ruhen, die von ihnen selber produzierte Bedeutung wird im ‚Buch zum Bau’ oder aber – wie in einem neuen Museum in Berlin – an allen Wänden des Baus mittels großer Poster präsentiert, um so die Bedeutungsproduktions­hoheit zurückzuerobern.

 

Architektur als Gebrauchswerk

Architektur wird angeeignet und gebraucht, Kunst in intellektueller Weise, das Ästhetische sinnlich, die Funktion praktisch, wobei die drei Bereiche nicht voneinander isolierbar sind.

 

Der Architekturkritiker vermittelt die einzelnen Gebrauchsebenen. Kritiker nehmen eine klassifizierende, abstrakt-begriffliche Zuordnung vor, sie geben keine Gebrauchsanweisung; sie vermitteln nicht, wie man sich die Kunst der Architektur in intellektueller Weise, in actu, erschließt, wie man das Ästhetische wahrnimmt und wie man wohnt. Die künstlerische, ästhetische und praktische Gebrauchswerte vermittelnden Architekturkritiker verstehen sich als Vordenker für ein Publikum, nicht als Berater der Nutzer.


 

 

2.  Die Kritik der klassischen architekturwissenschaftlichen und -kritischen Kommunikation

 

Im Verständnis von Architektur als Bauwerk liest der Kritiker das Werk und macht eine Nacherzählung für ein Publikum.

Ist dem Kritiker bewusst, dass er nicht das Bauwerk vermittelt, sondern eine Abschattung? Dass ein Text von zwei / drei Seiten – auch ein Buch – medial etwas anderes ist als ein Bauwerk? Vermitteln muss doch heißen, den Nutzer ins Bauwerk zu bringen und nicht das Bauwerk in einen Text, den man dann einem Publikum zuträgt.

Warum leitet er das Publikum nicht beim Selberlesen? Warum vermitteln die universitären Architekturvermittler, also Bauhistoriker oder Architekturtheoretiker, ihren Studenten ein Bauwerk, statt sie ins Werk zu vermitteln? So dass sie es selber lesen?

 

-          Warum gibt es die personale Trennung in Entwerfer, Kritiker (Vermittler) und Nutzer?

-          Warum vermittelt nicht der Architekt sein Bauwerk an den Nutzer? Warum vermittelt er sich nicht die Nutzung? Etwa durch Befragungen, durch empirische Erhebungen, durch Post-Occupancy-Evaluations?

-          Warum versteht der Kritiker sich nicht als Nutzer und vermittelt sein Verständnis vom Bauwerk rückmeldend dem Architekten? Warum zieht der Architekt den Stellvertreter des Nutzers nicht bereits beim Entwerfen ein? So dass die Rückmeldung tatsächlich zu einer Überarbeitung, zu einer Evaluation seines Entwurfes führen kann?

-          Warum vermittelt der Nutzer seine Erfahrung mit dem Bauwerk nicht dem Architekten, wird also zum Kritiker? Kann ein Architekt entwerfen, ohne sich den Gebrauch zu vermitteln? Warum wird der Architekt nicht als Nutzer gesehen, bzw. auch der Nutzer als Architekt, die so ihre Erfahrung mit Bauwerken ins Entwerfen vermitteln?

-          Warum betreuen die universitären Architekturvermittler, die Kunst- und die Bauhistoriker sowie die Architekturtheoretiker nicht das Entwerfen? Warum gibt es für Architekturstudenten keine Vorlesungen über das Gebrauchen und Nutzen von Architektur? Warum sind Architekten nicht zugleich Entwurfskünstler und Gebrauchswissenschaftler?

 

Im Verständnis als Bedeutungswerk gibt der Architekt die Bedeutung ins Werk. Der Kritiker holt sie sich dort und gibt sie weiter oder entwirft sie selber und gibt sie dann weiter.

Zerstört nicht – was Susan Sontag in ihrem Artikel ‚Against Interpretation’ (1964) sagt –  jede Bedeutungseingabe die konkrete, sinnliche und sinnvolle Gegebenheit eines Werkes? Enteignet man nicht die Nutzer von ihren eigenen (Sinn-)Produktionsmitteln?

Ist nicht ein Bedeutungswerk erst einmal es selbst, in seiner Materialität und Sinnlichkeit?

Müssen wir dem Bedeutungswerk nicht Eigensinn zubilligen, der sich selber und sich selbst vermittelt?

Muss nicht vermittelt werden, die eigenen Sinne zur Exploration des Sinns zu benutzen? Brauchen wir nicht “…statt einer Hermeneutik … eine Erotik der Kunst“ (Sontag 1964, S. 18), statt einer Vermittlung des Baus die Vermittlung in den Bau?

 

 

Im Verständnis von Architektur als Gebrauchswerk gibt es im Gebrauchen zwar eine Aktivität des Nutzers, inhaltlich aber – so wird oft gedacht – nimmt der Nutzer das Vorgegebene hin. Gebrauchen ist eine Aktivität zur passiven Hinnahme, Wohnen eine Aktivität zur Realisierung des Gebauten.

 

Hier scheint mir die größte Schwäche des klassischen Vermittlungsmodells zu liegen. Sie wird bereits weiter oben in den Ausdifferenzierungen der Funktionen und Orte der Vermittler eines Bauwerkes ersichtlich.

Bereits der sinnliche Gebrauch des Baues, die Wahrnehmung, ist eine konstruktive Aktivität des Nutzers. Passive Rezeption wäre ein Glotzen, bei dem das Gebäude nicht zum wahrnehmenden Subjekt gelangt. Nur ein Sehen, in dem das Subjektiv konstitutiv wird und konstruiert, vermittelt Bau und Nutzer.

Der Architekt kann den Bau dem Nutzer sinnlich nur vermitteln, wenn er die Vorgänge des Wahrnehmens der Nutzer bedenkt. Der Architekt kann sogar nur entwerfen, wenn er den Vorgang des Sehens in das Entwerfen integriert. Er muss während seines Entwerfens prüfen, wie denn das jeweils gerade Entworfene aussieht, und zwar nicht als Linie auf dem Papier, sondern als Wand (wenn es denn eine Wand ist) im Raum. Erst indem ein Entwerfer aus einer Linie eine Mauer sieht, aus einer Mauer eine gesehene Mauer wird, entwirft er. Sehen und Machen müssen bereits im Vorgang des Entwerfens vermittelt sein.

Der Nutzer kann sehen nur, wenn er im Sehen den Bau exploriert; wenn er sich bewegend Blicke nimmt und manuell und körperlich Ausdeutungen ausprobiert. Wenn er sich – er für sich – kumulativ ein Gebäude generiert, in der Perspektive eines Subjekts also auch entwirft.

 

Die sinnliche Vielfalt eines Bauwerkes ist im Grunde eine Dingqualität. Sie will aber wahrgenommen sein. Ästhetische Wahrnehmung, die Wahrnehmung der sinnlichen Qualitäten ist ein Prozess ohne Ende, sie kommt nicht zur Vollendung. Sie ist aus und wegen der perspektivischen Sicht des Wahrnehmenden ein Prozess eigener Narrativität.

Wahrnehmen kann man nicht delegieren, man hätte dann weder sinnliche Fülle mehr als Grundlage der eigenen Erkenntnisarbeit, noch subjektive Narration.

 

Architektur ist ein Werk, das wahrgenommen, in seiner Sinnlichkeit stets aufgeführt werden will, stets also Vermitteltheit von Bau und Nutzer ist.

 

Die Vermittlung des Bauens und Wohnens wird besonders von Martin Heidegger (‚Bauen Wohnen Denken’ 1951, s. auch Heft 2/98) dargestellt. Das Bauen ist für ihn eine Weise des Wohnens. Im Wohnen richtet sich der Mensch sowohl in der Welt ein, wie er dabei auch die Welt einrichtet, er entwirft die Welt und dabei sich selbst. Die Menschen verwirklichen sich, indem sie wohnen. Wohnen ist eine Weise der Aneignung und des praktischen Vollzugs von Welt. Im Bauen richtet er das Wohnen ein. Das Bauen geht nicht dem Wohnen voraus, sondern ist eine Weise des Wohnens, der Präsenzierung des menschlichen Seins.

 

Das Bauen als praktischer Vorgang ist kein Ent-Wurf, wenn man darunter nimmt, was im Wort steckt: eine Schöpfung aus dem Nichts. Das Bauen setzt eine Welt, eine angeeignete, eine bewohnte, eine gewohnte und eine erwohnte Welt voraus.

 

Bauen und Wohnen gebrauchen den Bau; das Gebrauchen vermittelt Bau und Nutzer und über den Bau auch Architekt und Nutzer bzw. zuerst einmal Nutzer und Architekten (beim Entwerfen) und dann Architekten und Nutzer (beim Wohnen) miteinander.

Das Gebrauchen ist nicht ein passives Anpassen an das Vorgegebene, sondern zuerst einmal der Entwurf des Gegebenen zu einer Situation, zuerst einmal Transformation einer Sache zu einem Handlungsfeld und zu einem Handlungsinstrument. Der Gebrauch von Architektur ist Entwurf neuer Handlungen, neuer Strukturen, neuer Narrationen. Architektur soll helfen, neue Narrationen zu entwerfen (zum Gebrauchen siehe Führ 2002).

 

 

3. Schluss

 

Eingangs hatte ich auseinandergelegt, dass Kritik Vermittlung, Erkenntnis und Urteil enthält. Im Urteil wird ein konkretes Werk auf ein Allgemeines bezogen. Was ein konkretes Werk aber ist – auch um es auf ein Allgemeines zu beziehen – ist in ihm selbst zu erkennen. Die Vermitteltheit des Werkes im Wohnen und Bauen, mit Architekt und Nutzer ist eine grundsätzliche Erkenntnis von der Architektur. Dahinter kann in der konkreten Erkenntnisarbeit am Werk nicht zurückgegangen werden. 

 

Ein Architekturkritiker kann durch intellektuelle Pirouetten vermitteln, sich der Vermitteltheit zu entziehen. Er kann ein Bauwerk isolieren, das dann jeder Vermitteltheit entbehrt.

 

Er soll aber vermitteln, was vermittelt ist. Er soll vermitteln, sich der Vermittlung bewusst zu werden, er kann anregen, kann initiieren, kann provozieren, sich auf diese Vermitteltheit einzulassen, die Vermittlung aufzuführen und in ihr zu spielen.

 

Walter Benjamin hat es Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre in seinen Rundfunkvorträgen zur Aufklärung für Kinder vorgemacht. Und Max Frisch macht es liebevoll abstrus und paradigmatisch in den 60er Jahren beim Selbstentwurf von ‚Gantenbein‘ deutlich, der für sich –sich in der Story gerade als Blinder entwerfend – den Beruf eines Reiseführers für sehr geeignet hält:

 „...- er sagt den Leuten nicht, was sie jetzt sehen links und rechts, sondern er fragt sie danach, und sie müssen es ihm mit Worten schildern, was sie selbst sehen, von seinen Fragen genötigt. ... und es genügt, daß Gantenbein sich immer wieder in die verkehrte Richtung stellt, um ihnen die Sehenswürdigkei­ten nahezubringen: Einzelne empfinden ein solches Erbarmen mit ihm, daß sie, um Worte zu finden, die ihm eine Vorstellung geben von der Weihe des Ortes, selber zu sehen anfangen. Ihre Worte sind hilflos, aber ihre Augen werden lebendig ...“

(Frisch 1964, S. 181f)


[1]  “XIX. 1. There remain two appendices touching the tradition of knowledge, the one critical, the other pedantical. For all knowledge is either delivered by teachers, or attained by men's proper endeavours: and therefore as the principal part of tradition of knowledge concerneth chiefly writing of books, so the relative part thereof concerneth reading of books; whereunto appertain incidently these considerations. The first is concerning the true correction and edition of authors; wherein nevertheless rash diligence hath done great prejudice. For these critics have often presumed, that that which they understand not is false set down: as the priest that, where he found it written of St. Paul, DEMISSUS EST PER SPORTAM mended his book, and made it DEMISSUS EST PER PORTAM; because SPORTA was a hard word, and out of his reading: and surely their errors, though they be not so palpable and ridiculous, are yet of the same kind. And therefore, as it hath been wisely noted, the most corrected copies are commonly the least correct.
The second is concerning the exposition and explication of authors, which resteth in annotations and commentaries: wherein it is over usual to blanch the obscure places, and discourse upon the plain.
The third is concerning the times, which in many cases give great light to true interpretations.
The fourth is concerning some brief censure and judgment of the authors; that men thereby may make some election unto themselves what books to read.
And the fifth is concerning the syntax and disposition of studies; that men may know in what order or pursuit to read.”


 


 

Literatur

 

Francis Bacon; The Two Books of the Proficience and Advancement of Learning, Divine and Human (1605); http://www.uoregon.edu/~rbear/adv1.htm)

Walter Benjamin; Aufklärung für Kinder, Rundfunkvorträge (Hg. von Rolf Tiedemann) (1929/1932); Frankfurt/Main 1985

Juan Pablo Bonta; Über Interpretation von Architektur. Vom Auf und Ab der Formen und die Rolle der Kritik (1977); Berlin 1982 

Max Frisch; Mein Name sei Gantenbein; Frankfurt/M 1964
Eduard Führ; ‚Frankfurter Küche‘ und Spaghetti carbonara. Funktionalität von Architektur und Kunst des Gebrauchens; in: Ausdruck und Gebrauch 1, (2002) Heft 1

Martin Heidegger; Bauen Wohnen Denken (1951); in: Eduard Führ (Hg); Martin Heideggers Grundlegung einer Phänomenologie der Architektur; Münster,  New York 2000

Fritz Graf; Ekphrasis: Die Entstehung der Gattung in der Antike; in: Gottfried Boehm, Helmut Pfotenhauer (Hg); Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung; München 1995; S. 143 - 155
Erika
Simon; Der Schild des Achilleus; in: Gottfried Boehm, Helmut Pfotenhauer (Hg); Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung; München 1995; S. 123 - 141
Susan Sontag; Gegen Interpretation (1964); in: dieselbe; Kunst und Antikunst; Reinbek 1968, S. 9-18
 



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