Zur Sprache bringen
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7. Jg., Heft 2, (Januar 2003) |
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Yelena Remizova Kharkov |
Architekturkritik und Architektur der Kritik |
Gibt
es eine professionelle Architekturkritik? Ich denke, in der Ukraine gibt es
keine – aber nicht deshalb, weil sie jemand verboten hätte, sondern weil sie
niemand entwickelt hat. Illustriert werden kann diese Situation durch eine
Szene aus Ryasanovs Film „Die Garage“, in welcher der Held fragt, womit sich
die Heldin beruflich befasst und auf ihre Antwort – „Mit Kritik.“ – konstatiert,
dass das ja eigentlich etwas sei, was es nicht gibt.
Gibt
es nun Architekturkritik oder nicht? Wie existiert sie: innerhalb der
Architekturtheorie, oder aber überhaupt nicht? Vielleicht gibt es sie ja
außerhalb der Architektursphäre, und sie wird von den Nutzern der Architektur
getragen: von den Bewohnern der Häuser, der Öffentlichkeit, der Gesellschaft
zum Denkmalschutz, den Journalisten und Schriftstellern und noch anderen?
Zum
gegenwärtigen Zeitpunkt kommen wir offensichtlich nicht umhin zuzugeben, dass
es bei uns keine professionelle Kritik gibt. Die einzige Form, in der sie
derzeit sichtbar wird, ist, dass dieses oder jenes architektonische Werk mit
stilistischen Etiketten versehen und zaghaft bewertet wird. Als Beispiel dafür
kann eine Erscheinung dienen, die von der sowjetischen Presse ohne jegliche
Analyse unverhüllt negativ als „Papierarchitektur“ abgestempelt wurde. Es ist bekannt,
dass in den 1920-1930-er Jahren in der UdSSR avantgardistische Projekte wegen
ihrer Losgelöstheit von den praktischen und ideologischen Aufgaben des
kommunistischen Aufbaus missbilligt wurden. Einer analogen Kritik mussten sich
auch die konzeptionellen Projekte der jungen Architekten der 1980-er Jahre
beugen, die nicht zu einer praktischen Umsetzung kamen. Die Papierarchitektur
vereinte die Generation der „Erbauer des Nichts“ – Romantiker, Utopisten und
Futuristen (Yu. Avvakumov, Ye. Ass, M. Belov, A. Brodski, I. Utkin u. v. a. Heutzutage, da diese Erscheinung der
architektonischen Idee zu internationaler Anerkennung gelangt ist (über 50
Auszeichnungen auf internationalen Wettbewerben der Zeitschriften JA, AD,
Arkhitektura SSSR u. a., sowie zahlreiche Ausstellungen in Paris, Frankfurt,
Köln, Zürich, Mailand, London u. a.), begreifen wir die Relativität und Symbolhaftigkeit
der Ansichten.
Aber kann uns eine solche – ich würde sagen „bewertende“ – Existenzform der
Kritik zufrieden stellen? Liegt ihre Aufgabe darin, und war sie schon immer so?
Die Kunst zu „urteilen“
In der Tat geht das Wort „Kritik“ auf
das griechische „bewerten“ zurück. Die historischen Erfahrungen der Kunstkritik
zeigen jedoch, dass eine ästhetische Bewertung nicht nur auf der Basis von
Intuition, Geschmack, dogmatischen oder konjunkturellen ‚Richtlinien’ erfolgen
kann und darf. In der Regel führt ein solcher Weg zur Erzeugung von Stempeln
und Schablonen, die als Maßstab an Werke mit mittlerem und niederem
künstlerischen Niveau angelegt werden. Kunstwerke hingegen fallen aus dem
Blickfeld dieser Kritik heraus und werden aus dem Werte-Kreis ausgeschlossen.
Aus der Geschichte der Kritik
Die Geschichte der architektonischen
Idee zeigt uns ein qualitativ anderes Vorgehen. Jede Epoche hat ihren
besonderen Kreis von Begriffen und Vorstellungen hervorgebracht, womit eine
argumentierte Analyse und Bewertung eines Kunstwerkes von den jeweiligen
ideellen, sozialen und kulturhistorischen Positionen her möglich war. Die
berühmten Kritiker des 17.-19. Jahrhunderts, wie zum Beispiel Nicolas Boileau
und Pierre Corneille, Denis Diderot und Jean d’Alembert, Vissarion Belinskij
und Nikolai Chernyshevskij, entwickelten die Grundlagen ihrer kritischen
Ansichten nicht nur für die eigene Arbeit, sondern überließen sie dem Urteil
der künstlerischen Öffentlichkeit, um sie besprechen, ‚abschleifen’ und weiter
verbreiten zu lassen.
Somit wurde die Kritik zu einer
besonderen Form der professionellen und gesellschaftlichen Arbeit, die ihren
Gegenstand, die Arbeitsmethode und den Begriffsapparat festlegte.
Beispielsweise hat Nicolas Boileau bereits im 17. Jahrhundert eine umfassende
Idee von der Theorie der Kritik entwickelt. Er hat ein ganzheitliches
harmonisches und nach unseren Begriffen sehr strenges System für die kritische
Analyse eines poetischen Werkes geschaffen, das auf normativen Vorstellungen
und Regeln beruhte, die in der kartesianischen Philosophie und Wissenschaft
entwickelt wurden. Die Vorstellung von der Vernunft war der Schlüssel für
sämtliche Wissens- und Arbeitsgebiete des frühen französischen Klassizismus.
Das hat Boileau nicht als Erster entdeckt. Gemeinsam mit ihm wurde diese Idee
von René Descartes, François Blondel, Pierre Corneille, F. de Chambret, André
Felibien und anderen entwickelt. Am wertvollsten in seiner „Poetischen Kunst“
war, dass er die Kritik als eine besondere Form des Denkens darstellte, die
über ein strenges System von Methoden, Vorschriften und Begriffen verfügt.
Boileau schrieb:
„Es gibt nicht wenig Geister, deren verwirrte Gedanken
gleich einer sich verdichtenden Wolke hängen bleiben,
und die Sonne kann die Vernunft nicht vertreiben.
Lernt zu denken und erst danach zu schreiben.
Die Rede kommt nach der Idee – klarer oder undeutlicher;
und die Phrase entsteht nach der Idee Gestalt;
was klar zu verstehen ist, klingt auch klar,
und das genaue Wort läuft unverzüglich los.“
Er führte eine rationale Methode des
Denkens ein und schlug diese als Lehrfach vor. Er konnte sich keine Kritik
vorstellen, die losgelöst von der Theorie und von der Ausbildung zur
künstlerischen Meisterschaft wäre. So kam ein gewisses Konglomerat von Theorie,
Ausbildung und Kritik zustande. Analog dazu gab es im Klassizismus viele
Verfechter: Blondel entwickelte die Regeln für die geordnete Struktur eines
Werkes und parallel dazu auch die Kriterien für dessen Bewertung; Charles
Lebrun schlug seine Kriterien für die Bewertung eines Gemäldes vor; Corneille
führte das „Regelwerk zur Einheit von Handlung, Zeit und Ort“ für dramatische
Werke ein. Und diese Regeln wurden in den berühmten „Streitgesprächen der Alten
und der Neuen“ (Querelle des Anciens et de Modernes) in den Sälen der
französischen Akademie aktiv angewendet. Die Wege zur Entwicklung des
kritischen Denkens änderten sich im 18. Jahrhundert. Gemeinsam mit Koautoren
bringen Diderot und d´Alembert neue kritische Anschauungen über die
„Enzyklopädie“ ein, d. h. über den Weg der Aufklärung. Herzen, Belinskij und
Chernyshevskij verfolgen ihre Linie des kritischen Denkens, und diese hat auch
ihre Grundlagen. In der sowjetischen und post-sowjetischen Architektur-Sphäre
wurde aus bekannten Gründen nicht an der Entwicklung einer eigenen Theorie für
die Kritik gearbeitet, obgleich Kritik ohne Theorie nicht existieren kann. Sehr
häufig ist die sowjetische Kritik abgerutscht auf das Aufzeigen von
„Unzulänglichkeiten“; sie wurde zu einer „Geißelung“, was wir beispielsweise in
der Zeit des „sozialistischen Realismus“ beobachtet haben. Im Gegensatz zu
einem demokratischen Staat kann die Kritik in einem totalitären Staat nicht
unabhängig sein. Die Kritik ist konfrontiert mit der „Entfremdung“ der Kunst
und Architektur von einem breiten Publikum; ihre Erscheinung und Entwicklung
zeugen von einer Demokratisierung des künstlerischen Lebens. Eine Aufzählung
von Beispielen ließe sich noch lange fortsetzen. Sicher wird aber auch so klar,
dass Kritik in unserer Situation nicht wie eine Venus aus dem Meeresschaum
geboren werden kann, sondern speziell geschaffen und entwickelt werden muss,
ausgehend von den kreativen Aufgaben, vor denen wir jetzt stehen.
Die Kunst „zu verstehen“
An dieser Stelle erhebt sich
allerdings die Frage: Worin besteht der Unterschied der Architekturkritik von
der Architekturtheorie? Wird sie nicht die Funktionen der Theorie erfüllen oder
sie an sich reißen?
Kritik grenzt sehr dicht an Theorie an. Ihr zu Grunde liegt nicht nur die Kunst
„zu urteilen“, sondern auch die Kunst „zu verstehen“. Eine Auseinandersetzung
erfordert keine wissenschaftliche Analyse einer Erscheinung, sondern eine
Analyse, die uns zu einer Bewertung und Einschätzung der zu betrachtenden
Erscheinung führt.
Im Vordergrund dabei steht der
Begriff des „Bewertungskriteriums“ – eines Mittels zur Beurteilung, eines
Kriteriums, auf dessen Grundlage eine Bewertung, Bestimmung oder
Klassifizierung erfolgt, eines Maßstabs für die Bewertung. Sowohl die Theorie,
als auch die Kritik neigen zur Reflexion, d. h. zu einer externen Betrachtung
des jeweiligen Gegenstandes. Theorie im Allgemeinen und Architekturtheorie im
Besonderen beruhen auf Analyse und Untersuchung. Im Gegensatz zur Kritik, die
fragmentarische Urteile zulässt, erhebt die Theorie Anspruch auf eine stringente
Struktur der eigenen Ansichten, auf die Entwicklung einer ganzheitlichen
Vorstellung von der zu betrachtenden Erscheinung. Während die Theorie nach
wissenschaftlichen Analyse-Methoden vorgeht, stützt sich die Kritik auf
wertende Urteile und Verallgemeinerungen. So lassen sich Kritik und Theorie als
zwei unterschiedliche Wissens- und Kommunikationsformen zwischen Experten und
Laien vergleichen, wobei Erstere eine bewertende Rolle übernimmt und Letztere
die Rolle auf dem Gebiet der Wissenschaft und Forschung. Vor diesem Hintergrund
ist die Theorie näher an der Wissenschaft, und die Kritik an der Aufklärung.
Kritik ist eine Sonderform
professioneller und gesellschaftlicher Tätigkeit, die über ihren eigenen
Gegenstand, ihre Arbeitsmethode und ihren Begriffsapparat verfügt. Im Gegensatz
zur Architekturkritik erhebt Kritik im Allgemeinen keinen Anspruch auf
Systemhaftigkeit und Ganzheitlichkeit.
Kritik, wie auch Theorie, entwickelt
und verändert sich, hat Höhen und Tiefen. Sie ist eine besondere Form der
Selbsterkenntnis der Gesellschaft, zeigt Wendungen in der Bewertung von Werken
auf, diskutiert neue Kriterien. In gewissem Maße setzt Kritik die Gegenwart in
ein Verhältnis zur Vergangenheit.
Die Entwicklung der Kritik ist nicht
nur von innen heraus aus der professionellen Sphäre der Architektur zu sehen,
sondern auch von außen, auf der Basis von Aufklärung, Bildung, Kommunikation
und Veränderung der gesellschaftlichen Meinung. Gibt es derzeit eine Geschichte
der Kritik und der kritischen Ansichten sowie eine Theorie der Kritik? Ich
glaube nicht. Deshalb haben wir auch keine Kritik der Geschichte, keine Kritik
der Theorie, keine Kritik der Architekturpraxis. Sie müssen aber sein, denn
ohne sie ist der Bereich der architektonischen Tätigkeit unvollständig. Diese
Sachlage impliziert die Allesfresserei unserer Architektur und demzufolge das
Analphabetentum und die Niveaulosigkeit unserer Urteile. Kritik ist ein Teil
des künstlerischen Prozesses. Sie bestimmt die „Kunstpolitik“ und beeinflusst
damit die Verbreitung und Umsetzung künstlerischer Ideen, deren Verankerung in
der Kultur.
Uns scheint, dass für eine moderne
Kritik ein destruktiver Weg effektiver ist als ein bewertender. Kritik ist eine
besondere Art des Denkens, die auf der Destruktion der künstlerischen Tätigkeit
beruht. Die post-moderne Kultur ist im Prinzip destruktiv und mehrdeutig, und
das heißt, dass es derzeit nicht möglich und auch nicht nötig ist, einheitliche
Bewertungskriterien oder einheitliche Kritikprinzipien zu entwickeln. Eine
Vielfalt an Positionen auf künstlerischem Gebiet setzt auch eine Vielfalt an
kritischen Ansichten voraus, die in einen Dialog miteinander treten.