Zur Sprache bringen
Eine Kritik der Architekturkritik

7. Jg., Heft 2  (Januar 2003)    

 

 

___Jörg
Schnier

Buffalo
  Präzisionsarbeit
Ein Plädoyer für die notwendige Radikalität des wohlbegründeten Urteils

 

Die Person des Kritikers:

Kritik zu üben ist eine schwierige und zudem undankbare Aufgabe. Jeder, der Defizite in der Arbeit Anderer aufzeigt, steht in der Gefahr, als arroganter, böswilliger Besserwisser zu erscheinen. So ist der Kritiker in der allgemeinen Wahrnehmung eine janusköpfige Gestalt. In der wertneutralen Deutung ist jeder ein Kritiker, der ein Urteil über etwas oder jemanden abgibt. Daneben gibt es jedoch auch das weit verbreitete Image des Kritikers als negative Figur. Der Kritiker wird als derjenige gesehen, der etwas bemängelt und aburteilt, als jemand, der Fehler sucht und findet. Besonders im Verb "bekritteln" wird diese negative Sicht auf die Arbeit des Kritikers deutlich.

Für diese etwas einseitige Sicht auf die Person und Arbeit des Kritikers lassen sich verschiedene Gründe feststellen.

Ein Kritiker ist jemand, der stört. Er stört die Sehnsucht nach Harmonie, den schönen Schein, die trügerische Selbstsicherheit. In einer Abwehrreaktion gegen diese Störung wird der Überbringer der schlechten Nachricht mit deren Ursache assoziiert.

Dazu kommt die verständliche Empfindlichkeit des Kritisierten, die zum Teil zu überzogenen Abwehrreaktionen oder gar zu öffentlich ausgetragenen Fehden führt. Obwohl bei einer "Schlammschlacht" sich immer beide Seiten beschmutzen, scheint es doch so, dass der Autor eines Werkes eher als Einzelperson gesehen wird, während die Vorwürfe an die Adresse des Kritikers gleich auf dessen gesamten Berufsstand verallgemeinert werden.

Ein weiterer Grund für die negative Wahrnehmung des Kritikers mag die Tatsache sein, dass es für ihn normalerweise vorteilhafter ist, Verrisse zu schreiben. Mit einem Verriss kann der Kritiker sich und seine Qualifikation deutlicher herausstellen als mit einer positiven Bewertung eines Gebäudes. Lobt der Kritiker, so wird der Autor des gelobten Werkes bewundert, nicht aber der Kritiker, der die hervorragenden Qualitäten des positiv bewerteten Gebäudes herausarbeitet. Verreißt der Kritiker ein Gebäude, so kann er mit seinem Wissen glänzen, ohne diesen Glanz mit dem Autor des kritisierten Werkes teilen zu müssen.

Auch ist es für den Kritiker viel leichter, einen einzelnen Fehler zu bemerken und bloßzustellen als die Qualität eines gelungenen Werkes in all seiner Vielschichtigkeit zu erkennen und entsprechend zu würdigen. Um ein Gebäude verreißen zu können, genügt es, einen relevanten Mangel zu entdecken und diesen als Aufhänger für die Kritik zu benutzen. Um loben zu können, muss das Bauwerk jedoch in seiner komplexen Ganzheit verstanden und vermittelt werden. Dazu ist ein Hintergrundwissen notwendig, das dem des Autors zumindest ähnlich ist, während – um einen Fehler zu entdecken – lediglich das Detailwissen um diese eine Fehlerquelle genügt. Als eine natürliche, sehr menschliche Folge hiervon werden mehr Verrisse als Lobeshymnen geschrieben, was wiederum die öffentliche Wahrnehmung des Kritikers als jemand, der in erster Linie etwas "schlecht macht", verstärkt.

Um diesem problematischen Bild der Person des Kritikers, welches sich nahtlos auf die Kritik als Dialog stiftendes Werkzeug überträgt, entgegenzuwirken, ist es notwendig, sich mit den Grundlagen des kritischen Urteils auseinanderzusetzen.

 

Grundlagen des kritischen Urteils

Die erste Vorbedingung für die kritische Betrachtung eines Objektes ist dessen Identifizierbarkeit und Beschreibbarkeit. Über etwas, dass sich nicht identifizieren lässt und das sich als nicht beschreibbar erweist, kann nicht geurteilt werden. Voraussetzung für die Erkennbarkeit und Beschreibbarkeit eines Objektes ist die Möglichkeit, eine ästhetische oder rationale Beziehung zu diesem aufzubauen.

Die Beschreibung ist an sich wertfrei. Ihr Ziel ist die eindeutige Dokumentation der Beschaffenheit eines Objektes. Die Grenzen der Eindeutigkeit sind dabei fließend und von pragmatischen Erwägungen bestimmt. So macht es nur im seltensten Fall Sinn, ein Objekt bis hin zur subatomaren Ebene zu beschreiben. Der Umfang oder die Genauigkeit der Beschreibung werden von ihrem Verwendungszweck oder ihrer Absicht bestimmt. Im Rahmen dieser pragmatischen Sichtweise können ihre Aussagen jedoch als wahr oder unwahr erkannt werden.

Die Interpretation dagegen setzt den Untersuchungsgegenstand in Beziehung zu einem übergeordneten System. Sie baut auf der möglichst wahren Beschreibung des Objektes auf, stellt Vergleiche an und äußert Mutmaßungen über die Gründe seiner besonderen Beschaffenheit. Die Interpretation muss deshalb mit den eindeutig beschreibbaren Eigenschaften des Untersuchungsgegenstandes vereinbar sein.

Im Gegensatz zur Beschreibung können die Aussagen der Interpretation nicht als wahr oder falsch, sondern lediglich als mehr oder weniger plausibel eingeschätzt werden.
Sie enthält wie die Beschreibung keine Bewertung des untersuchten Objektes.

Es lassen sich drei verschiedene, generelle Urteilsarten der Bewertung von Objekten feststellen:

Das Geschmacksurteil wird von der individuellen Disposition einer Person bestimmt. Es ist in der Regel nicht auf explizit bekannte Normen zurückführbar. Es drückt eine persönliche, informelle, nicht eindeutig erklärbare Wertschätzung in Form einer affektiven Gefühlsbeschreibung aus.
"De gustibus non est disputandum."[1]

Das Faktenurteil basiert auf eindeutig feststellbaren Eigenschaften und ihrer Bewertung. Lässt man die generelle Relativität von allen Werten außer Acht, so können Faktenurteile als wahr oder unwahr eingestuft werden.

Werturteile können sowohl Faktenurteile als auch Geschmacksurteile sein. Werturteile sind abhängig von den explizit bekannten oder implizit empfundenen Normen des Urteilenden. Werturteile, die auf Faktenurteilen basieren, werden auf Basis von rational definierbaren und eindeutig kommunizierbaren Normen gefällt, während die normative Grundlage von Geschmacksurteilen eher persönlich definiert ist und im allgemeinen nicht rational oder eindeutig kommuniziert werden kann.

Der einer Kritik zu Grunde liegende Wertekanon bestimmt ihren Blickwinkel auf den Untersuchungsgegenstand. Ein Denkmalpfleger wird notwendigerweise andere Wertmaßstäbe an ein Bauwerk anlegen als ein Stadtplaner oder Bauingenieur.

Metakritik: Aufgrund der fließenden Grenzen des eindeutig Beschreibbaren und der Notwendigkeit, dass jede Kritik auf dem Identifizierbaren und Beschreibbaren aufbaut, kann jede Kritik mit Verweis auf diese inhärente Unschärfe kritisch hinterfragt werden.

Da diese Metakritik jedoch eher von wissenschaftstheoretischem Interesse ist, scheint es notwendig, für die praktisch orientierte, angewandte Kritik einige pragmatische Richtlinien zu definieren.

 

Pragmatische Richtlinien der Kritik:

Jede seriöse, auf möglichst unmissverständliche Kommunikation einer Reaktion auf ein Werk zielende Kritik benötigt als Kommunikationsbasis eine sowohl vom Kritiker als auch vom Rezipienten der Kritik geteilte Bewertungsgrundlage. Ohne die Möglichkeit, ein Werk in Relation zu einem von beiden Seiten anerkannten Referenzrahmen zu setzen, ist es nur möglich, nicht eindeutig erklärbare Geschmacksurteile zu fällen. Dieser Referenzrahmen kann dazu dienen, das Werk mit einem allgemeinen, prinzipiellen Wertekanon oder im Vergleich mit anderen Werken zu beurteilen.

Prinzipienbasierte Kritik:

Grundlage einer jeden Kritik sollte ein möglichst eindeutig formulierbarer Wertekanon sein.
Dieser Wertekanon sollte auf generalisierbaren, allgemeingültigen Prinzipien beruhen und auf alle Bereiche des jeweiligen Fachgebietes angewendet werden können.
Er sollte dazu dienen, relevante Fragen effektiv zu untersuchen und als Grundlage für ein eindeutiges Urteil dienen.
Darüber hinaus sollte dieser Wertekanon öffentlich zur Diskussion gestellt werden und das Potenzial besitzen, sowohl Fachleute als auch Laien zu überzeugen.

Vergleichende Kritik:

Sollte es nicht möglich sein, einen Wertekanon aufzustellen, so kann der Gegenstand der Kritik stattdessen in Relation zu einzelnen Werken oder Werkgruppen beurteilt werden. Je unumstrittener diese herangezogenen Referenzwerke in einer Kultur sind, desto eher können sie als Maßstab für eine vergleichende Architekturkritik gelten.

Um solch eine vergleichende Bewertung vornehmen zu können, ist es notwendig, die heranzuziehenden Eigenschaften des Referenzwerkes eindeutig zu beschreiben und ihre Auswahl rational zu begründen.

 

Ziel der Architekturkritik:

Beide Kritikformen zielen darauf ab, folgende Fragen nach der inneren Schlüssigkeit und der Einordnung des Werkes in seinen fachlichen Kontext zu beantworten:

Innere Schlüssigkeit des Werkes:

Einordnung des Werkes in seinen fachlichen Kontext:

Aus der zusammenfassenden Übersicht über die Beantwortung dieser Fragen kann die letztendliche Beurteilung des Werkes abgeleitet werten. Dabei ist es selbstverständlich erforderlich, die Gewichtung der einzelnen Teilbereiche klar darzustellen.

 

Formen der Kritik:

Da Kritik auf die verschiedenste Weise ausgedrückt werden und unterschiedlichste Absichten verfolgen kann, ist es notwendig, grundsätzliche Kategorien der Architekturkritik zu unterscheiden.

Der Grad der Öffentlichkeit erfordert unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe, welche an die geübte Kritik anzulegen sind.

Kritik im privaten Kreis und vertrauliche Äußerungen, die nicht zur öffentlichen Weitergabe gedacht sind, können als informelle Kritik gewertet werden. Aufgrund ihrer privaten Natur steht diese hier nicht zur Diskussion.

Im Gegensatz zur informellen Kritik richtet sich die formelle Kritik an eine Öffentlichkeit, die über den privaten Kreis des Kritikers hinausgeht. Medium der formellen Kritik sind alle öffentlich zugänglichen Medien wie Printmedien, Radio, TV, Internet...  Aufgrund ihres öffentlichen Charakters und des damit einhergehenden Anspruchs an Verbindlichkeit sollten ihre Werturteile auf Fakten beruhen und den oben aufgestellten pragmatischen Richtlinien der Kritik genügen. Je offizieller der Charakter der geäußerten Kritik, desto strenger sollten diese Richtlinien eingehalten werden. Dieser offizielle Charakter ist sehr stark vom jeweiligen Kontext, in welchem die Kritik erscheint, abhängig. Ein kontextueller Faktor kann nicht nur die allgemein wahrgenommene Seriosität des Mediums sein, in welchem die Kritik veröffentlicht wird, sondern auch ihre Position innerhalb dieses Mediums. So wird einer Titelstory meist unhinterfragt automatisch mehr Wert beigemessen als einem Beitrag in der Rubrik Vermischtes.

Ein weiterer kontextueller Faktor ist die Position des Kritikers. So sollte an die Kritik des Inhabers einer öffentlichen oder fachlichen Position, ob seines Vorbildcharakters, ein höherer Anspruch gestellt werden dürfen als an einen Laien.

Die Kommunikationsart der Kritik hat einen direkten Einfluss auf ihre Form. Während in einem unmittelbaren Dialog der Austausch der Meinungen zur Klärung der Positionen genutzt werden kann, muss eine eher monologisch angelegte Kritik wie ein Zeitungsartikel in sich möglichst schlüssig und eindeutig sein.

Die Zielgruppe der Kritik bestimmt im Wesentlichen die sprachliche Form und den zu berücksichtigenden Wissenstand des Adressaten der Kritik. Für die Kommunikation innerhalb eines elitären Zirkels von Fachleuten können unbestrittene fachliche Positionen und Fachbegriffe als bekannt vorausgesetzt werden, während diese für den Laien explizit erklärt werden sollten, um der Forderung nach einer nachvollziehbar begründeten Meinung gerecht werden zu können.

Der Grad der inhaltlichen Sachlichkeit ist ein weiteres wichtiges Unterscheidungskriterium verschiedener Formen der Kritik.

Als sachlich kann eine nur auf das Werk bezogene Kritik bezeichnet werden, sofern sie eine nüchterne, unparteiische, objektive Bewertung des Gegenstandes anstrebt. Als Maßstab kann dabei gemäß den weiter oben aufgestellten pragmatischen Richtlinien der Kritik ein explizit formulierter Wertekanon, der Vergleich mit möglichst allgemein akzeptierten Vorbildern und die innere Schlüssigkeit des Werkes dienen. Ihr wesentliches Anliegen ist das belehrende, aufklärerische Ziel des Wissenszuwachses.
Die sachliche Kritik kann in diesem Sinne als produktive Kritik bezeichnet werden.

Im Gegensatz hierzu verletzt die unsachliche Kritik die pragmatischen Regeln der Kritik und bezieht nicht eindeutig mit ihrem Untersuchungsgegenstand zusammenhängende Informationen in ihre Argumentationsstruktur ein. Sie stellt beliebige Wertesysteme auf, um dann ein Werk zu verreißen, weil es diesem nicht entspricht, zieht zweifelhafte Vergleichswerke ohne eine rationale Begründung ihrer Auswahl heran oder greift den Autor des Werkes persönlich an.

Da die Bewertung der unsachlichen Kritik in hohem Maße subjektiv ist und kein allgemein anwendbares Wissen erzeugt, kann sie als unproduktive Kritik bezeichnet werden.

Aufgrund der inhärenten Beliebigkeit ihres Urteils soll die unsachliche Kritik in diesem Rahmen nicht weiter berücksichtigt werden.

 

Motivation der Kritik:

Sachliche, produktive Kritik will im Gegensatz zur unsachlichen Kritik durch die Vermittlung von Erfahrung bewusstseinsbildend wirken. Sie hebt das Gute heraus und warnt vor dem Schlechten. Ihre Motivation ist die Kommunikation von Werten. Sie will Wissenschaft und Alltagserfahrung vermitteln. Im Idealfall schafft es die Kritik dabei, über das einzelne Werk hinaus Beziehungen aufzubauen und einen Bogen vom punktuellen Wissen zu großflächigen Zusammenhängen zu schlagen.

 

Die Qualifikation des Kritikers:

Es scheint offensichtlich, dass aufgrund ihrer natürlichen Befangenheit die Autoren eines Werkes nicht gleichzeitig ihre eigenen Kritiker sein können. Wäre dies möglich, hätten sie ja bereits vor der Fertigstellung ihres Werkes die von ihnen erkannten und beeinflussbaren Mängel behoben.

Auch ein möglichst umfassendes Wissen über den Gegenstand der Kritik scheint nicht unbedingt notwendig zu sein. Dieses ist zwar sicherlich sehr hilfreich, um sich ein Urteil bilden zu können – einen notwendigen Mindestwissensstand zu definieren, ist jedoch unmöglich und würde allen Laien die Kritikfähigkeit grundsätzlich absprechen.

Die einzige wirklich unumgängliche Qualifikation eines Kritikers ist die Fähigkeit, seine Meinung nachvollziehbar zu begründen und artikulieren zu können. Die Bewertung dieser Fähigkeit und somit die fachliche Reputation des Kritikers wird damit durch die Veröffentlichung der Kritik erworben. Nur in der Diskussion der in der Kritik geäußerten und begründeten Meinung kann sich ihr Wert erweisen. Jeder Kritiker muss seine Qualifikation, seine kritische Urteilskraft mit jeder einzelnen Kritik immer wieder aufs Neue unter Beweis stellen.

 

Die notwendige Radikalität des wohlbegründeten Urteils:

Je entschiedener ein Kritiker seine Einschätzung eines Werkes formuliert, desto größer ist sein Berufsrisiko, bei einem Fehlurteil ertappt zu werden. Es ist daher ganz natürlich, dass sich die meisten Kritiker um ein eher vermittelndes, vorsichtiges Urteil bemühen. Man könnte daraus schließen, dass das behutsame, milde Urteil im Sinne der Ermutigungspädagogik das Werkzeug der Wahl des Kritikers sein sollte. Dies ist keineswegs der Fall.

Die inhaltlich sachliche, produktive Kritik muss weder nüchtern und emotionslos, noch höflich und verklausuliert vorgetragen werden.

Selbst die schärfste Polemik und Satire oder der süßeste Lobgesang können, so sie nur in der Sache objektiv bleiben, dazu dienen, durch die Formulierung einer Extremposition das Exemplarische zu analysieren und darzustellen. Diese Provokation und Überspitzung eines Urteils versucht das Gegenüber dazu zu bewegen, seinerseits eine klare Position als Ausgangsbasis für einen kritischen Dialog einzunehmen. So gesehen ist ihre Anwendung durchaus gerechtfertigt, wenn es der Kritik hilft, ihrem Zweck als Dialog stiftendes Werkzeug gerecht zu werden.

Die Formulierung von Extrempositionen als Mittel, um über die Polarisierung zu einer Diskussion zu gelangen, ist ein legitimes Argumentationsmittel – das starrsinnige Festhalten an diesen Extrempositionen ist jedoch wie für jeden, der an einem wirklichen Dialog interessiert ist, nicht akzeptabel. Auch der Kritiker hat die Verpflichtung, sich jederzeit der Kritik zu stellen und gegebenenfalls seine eigenen Positionen zu revidieren.

In jedem Fall sollte die Kritik inhaltlich immer so klar und deutlich wie möglich ausfallen.

Die Höflichkeit des Kritikers grenzt vielfach an grobe Fahrlässigkeit. Sie ist oft nur zu Lasten der Klarheit der Kommunikation des wohlbegründeten Urteils möglich. Gibt es einen Mangel in einer Arbeit, so muss dieser eindeutig beim Namen genannt werden, alles andere ist Unentschlossenheit, Unaufrichtigkeit oder Bequemlichkeit. Es ist die ureigene Aufgabe des Kritikers, sich ein fundiertes, klares wohlbegründetes Urteil über ein Werk zu machen und dieses unmissverständlich mitzuteilen. Ein in vorsichtig verklausulierte Formulierungen verpacktes hochkompliziert ausgedrücktes Urteil wird viel zu leicht missverstanden, in seiner Tragweite unterschätzt oder ignoriert. Diese Art der Schwammigkeit der Ausdrucksweise führt zu einer inhaltlichen Unklarheit und ist mit dem Beruf des Kritikers nicht zu vereinbaren.

Nur durch ein eindeutiges Ansprechen eines Defizits wird der Kritiker seines aufklärerischen Auftrages gegenüber der Gesellschaft gerecht. Nur so gibt er dem Autor des kritisierten Werkes die Chance, zu lernen und sein Werk zu verbessern oder sich gegen die Kritik zu verteidigen.

Ein Kritiker kann nicht gleichzeitig ein Diplomat sein.

Kritik ist die Präzisionsarbeit des Denkens, die nicht vor der notwendigen Radikalität des wohlbegründeten und unmissverständlichen Urteils zurückschreckt.



[1] Lat. Sprichwort: Über Geschmack lässt sich nicht streiten.

 


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