Zur Sprache bringen |
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7. Jg., Heft 2, (Januar 2003) |
___Claudia Schwartz Zürich/Berlin |
Architekturkritik im Kontext – Berlin nach der Wende |
In relativ
kurzer Zeit entstand in Berlin nach dem Mauerfall viel neue Architektur. Zudem
ordnete die Stadt ihren historischen Bestand im Hinblick auf den
Regierungsumzug teilweise neu oder baute ihn um. Man bezeichnete Berlin gerne
als "eine große Baustelle". Wo so viel Neues entsteht, wird auch viel
über Planungen, Projekte und ausgeführte Architektur geschrieben. Für die
Architekturkritik, so könnte man meinen, bedeutete die spezifische Umbruchsituation
Berlins eine außergewöhnliche Chance, eine Spielwiese mit einer Vielfalt an
Möglichkeiten, eine intellektuelle Herausforderung. Die spezifische historische
Situation der neuen alten Hauptstadt führte zu einem großen Diskussionsbedarf,
was die zukünftige Bedeutung Berlins anbelangt. Damit ging die Reichweite der
Kritik oft weit über die engere Auffassung eines Schreibens über Architektur
hinaus. Viele Planungen sind mittlerweile realisiert. Die Heftigkeit und
Emotionalität, die den Berliner Architekturstreit Mitte der neunziger Jahre
begleiteten, mag heute erstaunen. Im Rückblick liest sich die öffentliche
Auseinandersetzung über das Bauen in Berlin nach der Wende weniger als
kritische Betrachtung von Architektur im engeren Sinne. Vielmehr scheint sie den
Stellenwert einer urbanen Erfahrung einzunehmen, mittels derer sich eine über
vier Jahrzehnte getrennt lebende und nun wiedervereinigte Stadtgesellschaft
annäherte in der Frage, was ihre Stadt sein könnte, oder was sie werden soll.
Lässt man die Projektionen Revue
passieren, die Deutschland nach der Wiedervereinigung von 1990 auf seine neue
alte Hauptstadt Berlin warf, dann begegnet man einer Reihe von beachtlichen
Erwartungen und hochfliegenden Visionen. In Berlins Mitte, wo die deutsche
Bundesregierung sich neu einrichtete, wähnte man das zukünftige Herz der
Berliner Republik. Dieses sollte sich bevölkern mit einem jüngeren
intellektuellen Personal, als "Generation Berlin" aus der Taufe
gehoben. Von ihr erwartete man jenen gesellschaftspolitischen Aufwind, den man
nach den sechzehn Jahren von Helmut Kohls Kanzlerschaft vermisste. Berlin
sollte das Laboratorium der deutschen Einheit werden, die Brücke zum Osten, die
kulturelle Repräsentation des wiedervereinigten Deutschland, eine Drehscheibe
der bundesrepublikanischen Gesellschaft, die Modellstadt des 21. Jahrhunderts.
Man kann sich fragen, was diese
Berliner Ideale nach der Wende mit der kritischen Betrachtung von Architektur
zu tun haben. Wenn man den Blick allerdings etwas weiter zurück wirft, so findet
man Aussagen über die Architektur und die Stadtentwicklung Berlins, die sich
leicht mit den eingangs erwähnten Ansprüchen zu Beginn der neunziger Jahre
verschränken lassen. Le Corbusier schrieb beispielsweise zu Beginn des 20.
Jahrhunderts, dass Frankreich zwar das Land der hohen Kunst bleibe, Deutschland
aber der "Werkplatz des Neuen" sei. Den Blick richtete er dabei auf
Berlin, auf das Atelier von Peter Behrens, dessen AEG-Turbinenhalle in
Berlin-Moabit gerade fertig gestellt war. Der frühe Industriebau gab, wie man
heute weiß, entscheidende Impulse zur Entwicklung der Architektur im 20.
Jahrhundert.
Eine "Stadt der
Architektur" als Projektionsfläche
Le Corbusiers Aussage illustriert,
dass die Geschichte Berlins als ein Ort des Aufbruchs und des Experiments
traditionell mit jener als einer "Stadt der Architektur" eng
verknüpft ist. Städtebauliche und architektonische Ideologien haben sich hier
stärker eingeschrieben als in anderen Großstädten. Der Charakter Berlins äußert
sich auch als ein Kontext der Baugeschichte. Umgekehrt bot die Stadt des steten
Wandels, wie sie gerne genannt wird, der Architektur im Lauf ihrer Geschichte
scheinbar unendliche Projektionsflächen für Visionen und Utopien. So kann man
in Berlin trotz der massiven Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg
Architekturgeschichte nachvollziehen: von der gotischen Heiliggeistkapelle über
den Klassizismus Schinkels und die expressionistischen, formalistischen und
rationalistischen Ideen von Mendelsohn, Taut, Mies van der Rohe bis hin zu den
städtebaulichen Entwürfen des Ostens (in Gestalt der Stalinallee, heute:
Karl-Marx-Allee) und des Westens (in Gestalt des Hansaviertels).
Schon diese kleine namhafte Auswahl illustriert den architekturgeschichtlichen
Reichtum, den Berlin zu bieten hat.
Diese Qualität einer Stadt der
baulichen Sehenswürdigkeiten und Besonderheiten rückte durch den Fall der Mauer
schlagartig ins öffentliche Blickfeld. Die lange ersehnte Möglichkeit, die
Stadt in ihrer Gesamtheit einmal wieder begehen und besichtigen zu können, war über
Nacht Realität geworden. Berlin wurde buchstäblich zur unbekannten Größe, der
Osten für den Westen und der Westen für den Osten. Das machte selbst die
Berliner zu unermüdlichen Touristen in der eigenen Stadt.
Berlin entwickelte mit dem Mauerfall
seine Strahlkraft als ein Symbol – für das Ende des Kalten Krieges und für die
Annäherung von Ost und West. Nach der Entscheidung, den Sitz der
Bundesregierung an die Spree zu verlegen, wurde Berlin gleichzeitig auch mit
Misstrauen beäugt, da es eine unliebsame Vergangenheit wach rief. Es erinnerte
als neue Hauptstadt der Deutschen zuerst einmal an die alte, von der aus im
Dritten Reich die Vernichtung der europäischen Juden organisiert worden war.
Zudem war die Mauer noch präsent und stand für den Schauplatz der deutschen
Teilung, den Berlin vierzig Jahre lang verkörperte. Berlin konnte nach dem
Mauerfall nicht viele Traditionen vorweisen, an die es unbelastet hätte
anknüpfen können. Das Erbe, eine Stadt der Architektur zu sein, war eine der
wenigen leuchtenden, sprich: historisch unbelasteten Traditionen. Einmal
abgesehen von den historischen Hinterlassenschaften zweier Diktaturen, die vor
allem im Zusammenhang mit den konkreten Planungen des Regierungsumzuges zur
Debatte standen.
Die Exegese einer Hauptstadt
Zuerst einmal ging es um die
Neuentdeckung einer Stadt in ihrer gesamten Erscheinung. Eine besondere
Qualität Berlins trat dabei zu Tage, die in einer hohen physischen Präsenz,
einer starken ikonographischen Ausstrahlung liegt.
Sie stellt eine hervorstechende Eigenschaft dieser Stadt dar und ist ein
Resultat der zahlreichen historischen Umbrüche, die den Stilpluralismus
der baulichen Substanz hervorriefen. Berlins Topographie inspirierte einst den
klassischen Großstadtflaneur nach 1900, der die Stadt als Landschaft las wie Hessel, Benjamin oder Kracauer.
Nach der Wende stellte die Schriftstellerin Monika Maron
einmal fest, dass der Kalte Krieg in Berlin einen anderen Aggregatzustand
gehabt habe als im übrigen Europa. Gleich einem Festkörper konnte hier die
Teilung Europas besichtigt und angefasst werden – so, wie später auch seine
Vereinigung. Heute ist die deutsch-deutsche Geschichte in Berlins Stadtbild omnipräsent. Dieser vielfältige architektonische,
historische und gesellschaftspolitische Text, die Lesarten, welche die Stadt
nach ihrer Wiedervereinigung bot, konnte jeder, der das wollte, selbst erfahren
und nachvollziehen. Sie brachten Berlin eine hohe Aufmerksamkeit ein und
machten es weit über die Landesgrenzen hinaus zum Thema.
Die
Hauptstadt-Exegese blühte. Über keine Stadt wurde in den neunziger Jahren so
viel geschrieben. Über keine Stadt erschienen so viele
Bücher. Es handelte sich um alle Arten von Textsorten, aber kaum einer nahm
nicht auf das Bild der Stadt Bezug. Das Schreiben oder Reden über Architektur
war plötzlich nicht mehr nur Sache einer professionellen Zunft, sondern Thema
von Politikern und Historikern. Schriftsteller, Essayisten, Philosophen,
Museumsdirektoren gaben ihre Stadterfahrungen zum
Besten und beanspruchten das Recht auf eine subjektive Betrachtungsweise. Es
handelte sich dabei in erster Linie um die Erschließung des Stadtkörpers im
Geiste des Flaneurs und weniger im Sinne des Architekturkritikers.
Die Fragen darüber, woher diese
Stadt kommt und wohin sie sich entwickeln wird, schienen fast wichtiger zu sein
als das Nachdenken darüber, wie sich zwei Stadthälften mit zwei Mentalitäten zu
einem Ganzen finden. Vielleicht könnte man auch sagen, dass sich eine
Bürgergesellschaft hier, im Nachdenken über die eigene Stadt, im gemeinsamen
Abtasten ihrer Beschaffenheit einzuüben begann.
Eine Bevölkerung, die hüben wie
drüben gelernt hatte, im "Anderen" den Feind zu sehen, war im Begriff,
ein gemeinsames Gefühl von Stadt zu entwickeln. Und sei es nur, dass man
verschiedene Meinungen kundtat, dass man sich im buchstäblichen Sinn
zusammenraufte. Diese Bewusstwerdung einer Gesellschaft, was ihre Stadt sein
könnte oder werden soll, gestaltete sich als öffentliche Auseinandersetzung
über Architektur. Sie war auch eine Form der Architekturkritik im weiteren
Sinne.
Ernst Bloch schrieb in seinem
Hauptwerk "Das Prinzip Hoffnung", dass Architektur immer der Versuch
sei, "menschliche Heimat" herzustellen. So könnte man sagen, dass es
im spezifischen Fall von Berlin nach der Wende in den Diskussionen um die
Stadt, im Rückblick betrachtet, weniger um ein formales Ergebnis ging, sondern
um den Prozess der Aneignung einer Stadt. Darüber hinaus war hier ganz konkret
der Nachholbedarf einer Debatte zu beobachten, die andere deutsche Städte in
den Jahrzehnten der Nachkriegszeit führten: über die zukünftige Stadtgestalt,
über den Umgang mit dem historischen baulichen Erbe, über die Frage nach
Rekonstruktion oder Wiederaufbau. Die Berliner Debatten befreiten nicht zuletzt
von einem Vakuum in der einst geteilten Stadt, die sich vier Jahrzehnte in
einer Art Warteposition mit ungewissem Ausgang befunden hatte. Wenn Urbanität
nicht nur bedeutet, sich theoretisch über Gestalt und Strukturen zu äußern,
sondern wenn sie im ganz konkreten Sinne ein Sich-Annähern
an die Stadt meint – im Sinne einer Kategorie des sozialen Verhaltens, dann
hatte dieser Aspekt von Urbanität im Berlin der neunziger Jahre einen sehr
hohen Stellenwert.
Ansichten einer Stadt – Urbane Erfahrungen und Vorverurteilung
Norman Fosters Reichstagskuppel
lässt so manche Interpretation zu. In diesem Kontext ist man indes versucht,
sie als ein Kind jenes Geistes der Nachwendezeit zu sehen, der sich die
wiedervereinigte Stadt in der unmittelbaren Erfahrung zu Eigen machte.
Betrachtet man die Kuppel von der Stadt her, so sieht man die Menschen, die sie
begehen als ein ständiges Fließen, als eine Schlaufe - einem Perpetuum mobile
gleich. Man könnte hierin eine Aufforderung lesen, die Erfahrung von Stadt
immer wieder neu zu suchen. Eine ähnliche Aussage bietet die gläserne Kuppel
auch jenem, der sich in ihr bewegt und das Panorama der Stadt betrachtet. Die
Begehung durch den Menschen hält den Reichstag weit herum sichtbar in Bewegung.– Ein sinnfälliges Bild für den Stellenwert, den die Topographie
Berlins nach der Wende für die Menschen hatte.
Professionelle Kritik und die
Meinung des Bürgers schienen für einen Moment eins. Dabei drängte die
Betrachtung der "Signale", die ein Bau aussendet, die
innerarchitektonischen Aspekte in den Hintergrund. Mancher Kritiker sah darin
einen Verrat am architekturtheoretischen Wertekanon. Zu fragen wäre indes, ob
und inwiefern ein spezifischer Kontext wie der
Die Debatte entzündete sich an der
Frage nach den politischen Implikationen eines Baustils und weitete sich zum
Flächenbrand. Er spaltete die deutsche Kulturszene in Traditionalisten, die das
steinerne Berlin weiterbauen wollten, und in die Verfechter einer zukünftigen
Stadt aus Stahl und Glas. Der Glaubenskrieg – der Architekturkritiker Michael Mönninger verglich ihn einmal mit dem Historikerstreit –
führte nicht nur zu einer für Berlin mittlerweile beinahe charakteristisch
gewordenen Politisierung von Diskussion über Architektur, sondern auch zu einer
Polarisierung, die Altes und Neues gegeneinander auszuspielen pflegt.
Die Literarisierung der
Stadtauslegung trug zu einer Überhöhung der Bedeutung Berlins bei und beförderte
irrationale Planspiele, was die Wirkkraft seiner Architektur betraf. Berliner
Filme erklärten schon in ihrem Titel das Leben zu einer Baustelle. Man sprach
vom Zusammenwachsen der Stadt und von Gebäuden, die Wunden heilen sollten. Das
Attribut der "größten Baustelle Europas" zeigt, wie man die
Erwartungen an die Stadt im Umbruch hoch schraubte, so dass die Wirklichkeit
zwangsläufig dahinter zurückbleiben musste. Mit der Metaphorisierung wuchs der
Mythos. Berlin war – ganz im Sinne des eingangs erwähnten Diktums von Le
Corbusier – einmal mehr zum "Werkplatz des Neuen" erklärt. Und dieses
so genannte neue Berlin sollte unter anderem die Architekturgeschichte des
alten ruhm- und glanzvoll fortschreiben.
Für die nachfolgenden Diskussionen
über das zukünftige Stadtbild Berlins jedenfalls war das einmalige Interesse an
dieser Stadt von großer Bedeutung. Ihre symbolische Aufladung als diejenige
einer "Zukunftsmetropole" fand Eingang in die Debatten, nachdem die
konkreten Bauprojekte und die Pläne für den Regierungsumzug begonnen hatten. So
ging das Phänomen der Auslegung der spezifischen Textur Berlins schnell über in
explizite Forderungen an seine zukünftige Gestalt. Nur die besten Architekten
der Welt sollten in Berlin ihre Marksteine setzen. Ein Schauplatz der
architektonischen Innovation an der Schwelle zum 21. Jahrhundert sollte Berlin
werden. An diesen hohen Maßstab konnte die gebaute Wirklichkeit nicht
heranreichen. Als die Gebäude eines nach dem anderen fertig waren, machte sich
auf der einen Seite Ernüchterung breit. Auf der anderen Seite wurde eine
Erschöpfung auf Grund der vorangegangenen Diskussionen deutlich, die keine
neuen Perspektiven in der Betrachtung mehr zuließ. Der Blick war verstellt vom
Mythos, den man genährt hatte, oder durch die Befürchtungen, die man hegte. Die
angebliche Massivität des Bundeskanzleramtes beispielsweise war ein dauerndes
Thema, als der Bau heranwuchs. Mit dem Ergebnis, dass man Erleichterung
verspürte, als er endlich nicht mehr wuchs. Kaum einer fragte aber jetzt noch
danach, ob das Haus wirklich so groß sei, wie zuvor behauptet worden war.
Neue Leitbilder
Die Superlative, was die Hauptstadt
alles werden könnte, türmten sich zum geistigen Überbau. Die Architektur sollte
das historische Ereignis der deutsch-deutschen Einheit sichtbar machen. Am Tag
des Hauptstadtbeschlusses 1991, bedachte man den Ausbau der Kapitale mit dem
Attribut der "Vollendung der Einheit Deutschlands". Neben Berlins
historischen Baukörper, der an die unliebsame deutsche Geschichte erinnerte,
sollte nun eine neue Staatsarchitektur treten, welche die alte sinnbildlich
entmachtete, ohne selbst mächtig zu sein. Damit musste in Deutschland die
Architektur von Anfang an unter Ideologieverdacht stehen. Die neuen
Bundesbauten wurden zum Maßstab für das Selbstverständnis der Berliner
Republik. Man formulierte gesellschaftspolitische Werte, die den Bauwerken –
den historischen wie den neu zu entstehenden – eingeschrieben wurden. Heute
kann man sagen, dass die neue Architektur im Spreebogen wohl wie nichts anderes,
was seit der Wende in Berlin gebaut wurde, ein Ausdruck der damaligen
Diskussionen um die zukünftige Gestalt der deutschen Hauptstadt ist.
Die Forderungen der Kritik waren
ideelle Vorwegnahmen, auf die man offenbar als Architekt am wirkungsvollsten reagierte,
indem man den bildhaften Gegenbeweis antrat. Das neue Bundeskanzleramt ist ein
schönes Beispiel, wie die Kritik, die im Hinblick auf das neue
Regierungsviertel im Spreebogen mit Begriffen wie "Neuteutonia"
operierte, die ikonographischen Mittel der Negation
auf den Plan rief. Es reagiert auf sie, indem es zum Beispiel die Würdeform der
Säule in allen Variationen zerfließen und aus der Reihe tanzen lässt. Im
Masterplan der Architekten
Man schuf also Leitbilder, von denen
man sich nur mehr schwer lösen konnte. In diesem Sinne nahm das Schreiben, die
öffentliche Rede über Architektur stärker Einfluss auf die architektonischen
Entwürfe, als es unter "normalen" Umständen der Fall gewesen wäre. Wo
es nicht um Staatsbauten ging, drehten sich die Diskussionen um historische
Stadtgrundrisse, um Fassadengestaltung, um Materialität von Gebäuden – also
ebenfalls um die Erscheinung von Architekturen und nicht um die Frage, wie man
bauen sollte, um den Menschen in der Stadt ein gutes Leben zu ermöglichen. Die
"Stadt als Bild" war das vorherrschende Thema, wie der Kritiker
Architekturkritik als Gesellschaftskritik
Etwa zur gleichen Zeit von Le
Corbusiers Diktum formulierte der Publizist Karl Scheffler seinen berühmten
Satz, dass Berlin dazu verdammt sei, "immerfort zu werden und niemals zu
sein". Nie konnte man dieses Bonmot öfter lesen als in den neunziger Jahren.
Der Rückgriff auf den Aufklärer Scheffler und seine klassische Großstadtanalyse
erfolgte freilich eher verklärend. Man zitierte ihn als Beweis für den
baukünstlerisch fruchtbaren Boden, für den Genius loci Berlins, der wie von
selbst Neues und Großartiges hervorbringt. Scheffler beklagte in seiner Schrift
"Berlin, ein Stadtschicksal" aber vielmehr die Heterogenität, die Parvenühaftigkeit
dieser Stadt. Interessant erscheint im Zusammenhang der unablässigen
Beschwörung der Hauptstadtwerdung Schefflers Feststellung, dass Berlin
"niemals ein natürliches Zentrum, niemals die vorbestimmte deutsche
Hauptstadt" gewesen ist.
Ebenso wenig war es Berlin durch
seine disparate Entstehungsgeschichte vergönnt, sich von einem Stadtzentrum aus
zu entwickeln. Spätestens seit den zwanziger Jahren, als sich die umliegenden
Gemeinden und Dörfer zur Riesengemeinde Berlin zusammenschlossen, konkurrieren
hier durch die schiere Fläche das örtliche Viertel und die alles umfassende
Urbanität. Von dieser dialogischen Struktur geht vieles aus, was man allgemein
als die Anziehungskraft Berlins bezeichnet, die verschiedenste Milieus
vereinigt und Spannung erzeugt.
Seltsamerweise konterkarierte eine
der lautesten Forderungen der Architekturkritik dieses Charakteristikum
Berlins. Die Zeitschriften und Zeitungen titelten damals sehr ähnlich, als sie
schrieben: "Eine Stadt sucht ihre Mitte". Man fragte, in Anlehnung an
Alfred Kerr: "Wo liegt Berlin?" – und suchte nach dem einen Zentrum.
Neu aus Zürich zugezogen, nahm ich
diese Fokussierung auf einen zentralen Punkt der Stadt erst mit Erstaunen zur
Kenntnis. Und je konsequenter sie andauerte, irgendwann auch mit Irritation. Es
wurde mir bewusst, dass ich noch nie darüber nachgedacht hatte, wo die Mitte
jener Stadt liegt, in der ich den größten Teil meines bisherigen Lebens
verbracht hatte. Nachfragen in der Heimat brachten keinen Aufschluss. Im
Gegenteil. Ich erntete Verwunderung. Für das Selbstverständnis von Zürich und
seinen Bewohnern scheint es keine Rolle zu spielen, wo der Mittelpunkt der Stadt
liegt. Und ich sage bewusst: Mittelpunkt, und nicht: historisches Zentrum. Eine
der ersten Ausführungen eines deutschen Kollegen war nämlich, mir bei einem
Abendessen zu versichern, dass nach den Koordinaten die tatsächliche
geographische Mitte Berlins auf dem Schlossplatz liege. Diese Seelengeographie
ist eine spezifische Eigenart der Berliner. Bei der Suche "nach dem Herzen
Berlins", wie man so schön sagt, geht es natürlich – und historisch
nachvollziehbar – nicht zuletzt um die Deutungshoheit über die Stadt. Denn die
viel beschworene Mitte fällt nun ausgerechnet mit jenem Platz zusammen, auf dem
die DDR das Hohenzollernschloss sprengen ließ, um einen Aufmarschplatz im Namen
von Marx und Engels zu schaffen.
In der Diskussion um den Berliner
Schlossplatz nimmt die Debatte über Architektur bis heute einen polemisierten
und unversöhnlichen Fortgang. Es lässt sich hier eine Einflussnahme der Medien
beobachten, der es längst nicht mehr um ein sachliches Abwägen von Argumenten,
um eine Vermittlung von Architektur geht. Man versucht vielmehr, Werte
durchzusetzen – jene der zeitgenössischen Architektur gegen jene der
historischen.
Hinter den ästhetischen
Diskussionen, die Berlin in den vergangenen Jahren führte, verbarg sich oft
eine ideologische Auseinandersetzung. Sie entsprach einer allgemeinen
Stimmungslage der Stadt auf der Suche nach einer Identität und der Suche ihrer
Bewohner nach einem Selbstverständnis. Wie schnell sich die Gefühlslage ändert,
konnte man jüngst an der feierlichen Enthüllung des Brandenburger Tors nach
abgeschlossener Sanierung sehen. Zwar wurde dieses Ereignis gekoppelt mit dem
Nationalfeiertag der Deutschen. Aber die Frage, was das Wahrzeichen mit seiner
Vergangenheit versinnbildlicht, war kein Thema. Das Ganze war ein Spektakel im
Stil einer TV-Unterhaltungssendung. Die Frage nach der nationalen Bedeutung des
berühmten Symbols in der deutschen Hauptstadt bewegt wenige Jahre nach all den
Debatten um die symbolische Bedeutung von Architektur offenbar niemanden mehr.
Jede Beschreibung von Stadt trägt in
unserem Zeitalter der Beschleunigung auch das Moment der Vergänglichkeit, die
Melancholie in sich. Walter Benjamin zitierte in diesem Sinne Baudelaire, der
sagte, dass die Stadt "schneller als ein Menschenherz sich wandle".
So können an den Veränderungen der Architektur die Veränderungen der
Gesellschaft festgemacht werden. Die rasant sich wandelnden sozialen und
medialen Bedingungen werden also auch der Kritik, so sie denn nicht in
Melancholie versinken will, immer wieder neu ein Überdenken der eigenen
Werturteile abfordern.