Zur Sprache bringen
Eine Kritik der Architekturkritik

7. Jg., Heft 2, (Januar 2003)    

 

___Claudia
Schwartz

Zürich/Berlin
  Architekturkritik im Kontext –
Berlin nach der Wende

 

  

In relativ kurzer Zeit entstand in Berlin nach dem Mauerfall viel neue Architektur. Zudem ordnete die Stadt ihren historischen Bestand im Hinblick auf den Regierungsumzug teilweise neu oder baute ihn um. Man bezeichnete Berlin gerne als "eine große Baustelle". Wo so viel Neues entsteht, wird auch viel über Planungen, Projekte und ausgeführte Architektur geschrieben. Für die Architekturkritik, so könnte man meinen, bedeutete die spezifische Umbruchsituation Berlins eine außergewöhnliche Chance, eine Spielwiese mit einer Vielfalt an Möglichkeiten, eine intellektuelle Herausforderung. Die spezifische historische Situation der neuen alten Hauptstadt führte zu einem großen Diskussionsbedarf, was die zukünftige Bedeutung Berlins anbelangt. Damit ging die Reichweite der Kritik oft weit über die engere Auffassung eines Schreibens über Architektur hinaus. Viele Planungen sind mittlerweile realisiert. Die Heftigkeit und Emotionalität, die den Berliner Architekturstreit Mitte der neunziger Jahre begleiteten, mag heute erstaunen. Im Rückblick liest sich die öffentliche Auseinandersetzung über das Bauen in Berlin nach der Wende weniger als kritische Betrachtung von Architektur im engeren Sinne. Vielmehr scheint sie den Stellenwert einer urbanen Erfahrung einzunehmen, mittels derer sich eine über vier Jahrzehnte getrennt lebende und nun wiedervereinigte Stadtgesellschaft annäherte in der Frage, was ihre Stadt sein könnte, oder was sie werden soll.

 

Lässt man die Projektionen Revue passieren, die Deutschland nach der Wiedervereinigung von 1990 auf seine neue alte Hauptstadt Berlin warf, dann begegnet man einer Reihe von beachtlichen Erwartungen und hochfliegenden Visionen. In Berlins Mitte, wo die deutsche Bundesregierung sich neu einrichtete, wähnte man das zukünftige Herz der Berliner Republik. Dieses sollte sich bevölkern mit einem jüngeren intellektuellen Personal, als "Generation Berlin" aus der Taufe gehoben. Von ihr erwartete man jenen gesellschaftspolitischen Aufwind, den man nach den sechzehn Jahren von Helmut Kohls Kanzlerschaft vermisste. Berlin sollte das Laboratorium der deutschen Einheit werden, die Brücke zum Osten, die kulturelle Repräsentation des wiedervereinigten Deutschland, eine Drehscheibe der bundesrepublikanischen Gesellschaft, die Modellstadt des 21. Jahrhunderts.

Man kann sich fragen, was diese Berliner Ideale nach der Wende mit der kritischen Betrachtung von Architektur zu tun haben. Wenn man den Blick allerdings etwas weiter zurück wirft, so findet man Aussagen über die Architektur und die Stadtentwicklung Berlins, die sich leicht mit den eingangs erwähnten Ansprüchen zu Beginn der neunziger Jahre verschränken lassen. Le Corbusier schrieb beispielsweise zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass Frankreich zwar das Land der hohen Kunst bleibe, Deutschland aber der "Werkplatz des Neuen" sei. Den Blick richtete er dabei auf Berlin, auf das Atelier von Peter Behrens, dessen AEG-Turbinenhalle in Berlin-Moabit gerade fertig gestellt war. Der frühe Industriebau gab, wie man heute weiß, entscheidende Impulse zur Entwicklung der Architektur im 20. Jahrhundert.

 

Eine "Stadt der Architektur" als Projektionsfläche

 

Le Corbusiers Aussage illustriert, dass die Geschichte Berlins als ein Ort des Aufbruchs und des Experiments traditionell mit jener als einer "Stadt der Architektur" eng verknüpft ist. Städtebauliche und architektonische Ideologien haben sich hier stärker eingeschrieben als in anderen Großstädten. Der Charakter Berlins äußert sich auch als ein Kontext der Baugeschichte. Umgekehrt bot die Stadt des steten Wandels, wie sie gerne genannt wird, der Architektur im Lauf ihrer Geschichte scheinbar unendliche Projektionsflächen für Visionen und Utopien. So kann man in Berlin trotz der massiven Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg Architekturgeschichte nachvollziehen: von der gotischen Heiliggeistkapelle über den Klassizismus Schinkels und die expressionistischen, formalistischen und rationalistischen Ideen von Mendelsohn, Taut, Mies van der Rohe bis hin zu den städtebaulichen Entwürfen des Ostens (in Gestalt der Stalinallee, heute: Karl-Marx-Allee) und des Westens (in Gestalt des Hansaviertels). Schon diese kleine namhafte Auswahl illustriert den architekturgeschichtlichen Reichtum, den Berlin zu bieten hat.

Diese Qualität einer Stadt der baulichen Sehenswürdigkeiten und Besonderheiten rückte durch den Fall der Mauer schlagartig ins öffentliche Blickfeld. Die lange ersehnte Möglichkeit, die Stadt in ihrer Gesamtheit einmal wieder begehen und besichtigen zu können, war über Nacht Realität geworden. Berlin wurde buchstäblich zur unbekannten Größe, der Osten für den Westen und der Westen für den Osten. Das machte selbst die Berliner zu unermüdlichen Touristen in der eigenen Stadt.

Berlin entwickelte mit dem Mauerfall seine Strahlkraft als ein Symbol – für das Ende des Kalten Krieges und für die Annäherung von Ost und West. Nach der Entscheidung, den Sitz der Bundesregierung an die Spree zu verlegen, wurde Berlin gleichzeitig auch mit Misstrauen beäugt, da es eine unliebsame Vergangenheit wach rief. Es erinnerte als neue Hauptstadt der Deutschen zuerst einmal an die alte, von der aus im Dritten Reich die Vernichtung der europäischen Juden organisiert worden war. Zudem war die Mauer noch präsent und stand für den Schauplatz der deutschen Teilung, den Berlin vierzig Jahre lang verkörperte. Berlin konnte nach dem Mauerfall nicht viele Traditionen vorweisen, an die es unbelastet hätte anknüpfen können. Das Erbe, eine Stadt der Architektur zu sein, war eine der wenigen leuchtenden, sprich: historisch unbelasteten Traditionen. Einmal abgesehen von den historischen Hinterlassenschaften zweier Diktaturen, die vor allem im Zusammenhang mit den konkreten Planungen des Regierungsumzuges zur Debatte standen.

 

 

Die Exegese einer Hauptstadt

 

Zuerst einmal ging es um die Neuentdeckung einer Stadt in ihrer gesamten Erscheinung. Eine besondere Qualität Berlins trat dabei zu Tage, die in einer hohen physischen Präsenz, einer starken ikonographischen Ausstrahlung liegt. Sie stellt eine hervorstechende Eigenschaft dieser Stadt dar und ist ein Resultat der zahlreichen historischen Umbrüche, die den Stilpluralismus der baulichen Substanz hervorriefen. Berlins Topographie inspirierte einst den klassischen Großstadtflaneur nach 1900, der die Stadt als Landschaft las wie Hessel, Benjamin oder Kracauer. Nach der Wende stellte die Schriftstellerin Monika Maron einmal fest, dass der Kalte Krieg in Berlin einen anderen Aggregatzustand gehabt habe als im übrigen Europa. Gleich einem Festkörper konnte hier die Teilung Europas besichtigt und angefasst werden – so, wie später auch seine Vereinigung. Heute ist die deutsch-deutsche Geschichte in Berlins Stadtbild omnipräsent. Dieser vielfältige architektonische, historische und gesellschaftspolitische Text, die Lesarten, welche die Stadt nach ihrer Wiedervereinigung bot, konnte jeder, der das wollte, selbst erfahren und nachvollziehen. Sie brachten Berlin eine hohe Aufmerksamkeit ein und machten es weit über die Landesgrenzen hinaus zum Thema.

Die Hauptstadt-Exegese blühte. Über keine Stadt wurde in den neunziger Jahren so viel geschrieben. Über keine Stadt erschienen so viele Bücher. Es handelte sich um alle Arten von Textsorten, aber kaum einer nahm nicht auf das Bild der Stadt Bezug. Das Schreiben oder Reden über Architektur war plötzlich nicht mehr nur Sache einer professionellen Zunft, sondern Thema von Politikern und Historikern. Schriftsteller, Essayisten, Philosophen, Museumsdirektoren gaben ihre Stadterfahrungen zum Besten und beanspruchten das Recht auf eine subjektive Betrachtungsweise. Es handelte sich dabei in erster Linie um die Erschließung des Stadtkörpers im Geiste des Flaneurs und weniger im Sinne des Architekturkritikers.

Die Fragen darüber, woher diese Stadt kommt und wohin sie sich entwickeln wird, schienen fast wichtiger zu sein als das Nachdenken darüber, wie sich zwei Stadthälften mit zwei Mentalitäten zu einem Ganzen finden. Vielleicht könnte man auch sagen, dass sich eine Bürgergesellschaft hier, im Nachdenken über die eigene Stadt, im gemeinsamen Abtasten ihrer Beschaffenheit einzuüben begann.

Eine Bevölkerung, die hüben wie drüben gelernt hatte, im "Anderen" den Feind zu sehen, war im Be­griff, ein gemeinsames Gefühl von Stadt zu entwickeln. Und sei es nur, dass man verschiedene Meinungen kundtat, dass man sich im buchstäblichen Sinn zusammenraufte. Diese Bewusstwerdung einer Gesellschaft, was ihre Stadt sein könnte oder werden soll, gestaltete sich als öffentliche Ausein­andersetzung über Architektur. Sie war auch eine Form der Architekturkritik im weiteren Sinne.

Ernst Bloch schrieb in seinem Hauptwerk "Das Prinzip Hoffnung", dass Architektur immer der Versuch sei, "menschliche Heimat" herzustellen. So könnte man sagen, dass es im spezifischen Fall von Berlin nach der Wende in den Diskussionen um die Stadt, im Rückblick betrachtet, weniger um ein formales Ergebnis ging, sondern um den Prozess der Aneignung einer Stadt. Darüber hinaus war hier ganz konkret der Nachholbedarf einer Debatte zu beobachten, die andere deutsche Städte in den Jahrzehnten der Nachkriegszeit führten: über die zukünftige Stadtgestalt, über den Umgang mit dem historischen baulichen Erbe, über die Frage nach Rekonstruktion oder Wiederaufbau. Die Berliner Debatten befreiten nicht zuletzt von einem Vakuum in der einst geteilten Stadt, die sich vier Jahrzehnte in einer Art Warteposition mit ungewissem Ausgang befunden hatte. Wenn Urbanität nicht nur bedeutet, sich theoretisch über Gestalt und Strukturen zu äußern, sondern wenn sie im ganz konkreten Sinne ein Sich-Annähern an die Stadt meint – im Sinne einer Kategorie des sozialen Verhaltens, dann hatte dieser Aspekt von Urbanität im Berlin der neunziger Jahre einen sehr hohen Stellenwert.

 


Ansichten einer Stadt – Urbane Erfahrungen und Vorverurteilung

 

Norman Fosters Reichstagskuppel lässt so manche Interpretation zu. In diesem Kontext ist man indes versucht, sie als ein Kind jenes Geistes der Nachwendezeit zu sehen, der sich die wiedervereinigte Stadt in der unmittelbaren Erfahrung zu Eigen machte. Betrachtet man die Kuppel von der Stadt her, so sieht man die Menschen, die sie begehen als ein ständiges Fließen, als eine Schlaufe - einem Perpetuum mobile gleich. Man könnte hierin eine Aufforderung lesen, die Erfahrung von Stadt immer wieder neu zu suchen. Eine ähnliche Aussage bietet die gläserne Kuppel auch jenem, der sich in ihr bewegt und das Panorama der Stadt betrachtet. Die Begehung durch den Menschen hält den Reichstag weit herum sichtbar in Bewegung.– Ein sinnfälliges Bild für den Stellenwert, den die Topographie Berlins nach der Wende für die Menschen hatte.

Professionelle Kritik und die Meinung des Bürgers schienen für einen Moment eins. Dabei drängte die Betrachtung der "Signale", die ein Bau aussendet, die innerarchitektonischen Aspekte in den Hintergrund. Mancher Kritiker sah darin einen Verrat am architekturtheoretischen Wertekanon. Zu fragen wäre indes, ob und inwiefern ein spezifischer Kontext wie der berlinische – oder gegenwärtig derjenige von Ground Zero in New York – die professionelle kritische Perspektive erweitern könnte. Die Einblendung außerarchitektonischer Kriterien könnte zumindest dazu dienen, die eigenen fachspezifischen von Zeit zu Zeit zu reflektieren. In Berlin waren es besonders politische und historische Argumente, die zum Auslöser für den so genannten "Berliner Architekturstreit" wurden. Die Annäherung an die neue alte Hauptstadt geschah zuerst über Ansichten, über Chiffren. In Berlin sollte ein Viertel für Parlament und Regierung entstehen, das Staat zeigte und gleichzeitig den demokratischen Willen unterstrich.

Die Debatte entzündete sich an der Frage nach den politischen Implikationen eines Baustils und weitete sich zum Flächenbrand. Er spaltete die deutsche Kulturszene in Traditionalisten, die das steinerne Berlin weiterbauen wollten, und in die Verfechter einer zukünftigen Stadt aus Stahl und Glas. Der Glaubenskrieg – der Architekturkritiker Michael Mönninger verglich ihn einmal mit dem Historikerstreit – führte nicht nur zu einer für Berlin mittlerweile beinahe charakteristisch gewordenen Politisierung von Diskussion über Architektur, sondern auch zu einer Polarisierung, die Altes und Neues gegeneinander auszuspielen pflegt.

Die Literarisierung der Stadtauslegung trug zu einer Überhöhung der Bedeutung Berlins bei und beförderte irrationale Planspiele, was die Wirkkraft seiner Architektur betraf. Berliner Filme erklärten schon in ihrem Titel das Leben zu einer Baustelle. Man sprach vom Zusammenwachsen der Stadt und von Gebäuden, die Wunden heilen sollten. Das Attribut der "größten Baustelle Europas" zeigt, wie man die Erwartungen an die Stadt im Umbruch hoch schraubte, so dass die Wirklichkeit zwangsläufig dahinter zurückbleiben musste. Mit der Metaphorisierung wuchs der Mythos. Berlin war – ganz im Sinne des eingangs erwähnten Diktums von Le Corbusier – einmal mehr zum "Werkplatz des Neuen" erklärt. Und dieses so genannte neue Berlin sollte unter anderem die Architekturgeschichte des alten ruhm- und glanzvoll fortschreiben.

 

Für die nachfolgenden Diskussionen über das zukünftige Stadtbild Berlins jedenfalls war das einmalige Interesse an dieser Stadt von großer Bedeutung. Ihre symbolische Aufladung als diejenige einer "Zukunftsmetropole" fand Eingang in die Debatten, nachdem die konkreten Bauprojekte und die Pläne für den Regierungsumzug begonnen hatten. So ging das Phänomen der Auslegung der spezifischen Textur Berlins schnell über in explizite Forderungen an seine zukünftige Gestalt. Nur die besten Architekten der Welt sollten in Berlin ihre Marksteine setzen. Ein Schauplatz der architektonischen Innovation an der Schwelle zum 21. Jahrhundert sollte Berlin werden. An diesen hohen Maßstab konnte die gebaute Wirklichkeit nicht heranreichen. Als die Gebäude eines nach dem anderen fertig waren, machte sich auf der einen Seite Ernüchterung breit. Auf der anderen Seite wurde eine Erschöpfung auf Grund der vorangegangenen Diskussionen deutlich, die keine neuen Perspektiven in der Betrachtung mehr zuließ. Der Blick war verstellt vom Mythos, den man genährt hatte, oder durch die Befürchtungen, die man hegte. Die angebliche Massivität des Bundeskanzleramtes beispielsweise war ein dauerndes Thema, als der Bau heranwuchs. Mit dem Ergebnis, dass man Erleichterung verspürte, als er endlich nicht mehr wuchs. Kaum einer fragte aber jetzt noch danach, ob das Haus wirklich so groß sei, wie zuvor behauptet worden war.

 


Neue Leitbilder

 

Die Superlative, was die Hauptstadt alles werden könnte, türmten sich zum geistigen Überbau. Die Architektur sollte das historische Ereignis der deutsch-deutschen Einheit sichtbar machen. Am Tag des Hauptstadtbeschlusses 1991, bedachte man den Ausbau der Kapitale mit dem Attribut der "Vollendung der Einheit Deutschlands". Neben Berlins historischen Baukörper, der an die unliebsame deutsche Geschichte erinnerte, sollte nun eine neue Staatsarchitektur treten, welche die alte sinnbildlich entmachtete, ohne selbst mächtig zu sein. Damit musste in Deutschland die Architektur von Anfang an unter Ideologieverdacht stehen. Die neuen Bundesbauten wurden zum Maßstab für das Selbstverständnis der Berliner Republik. Man formulierte gesellschaftspolitische Werte, die den Bauwerken – den historischen wie den neu zu entstehenden – eingeschrieben wurden. Heute kann man sagen, dass die neue Architektur im Spreebogen wohl wie nichts anderes, was seit der Wende in Berlin gebaut wurde, ein Ausdruck der damaligen Diskussionen um die zukünftige Gestalt der deutschen Hauptstadt ist.

Die Forderungen der Kritik waren ideelle Vorwegnahmen, auf die man offenbar als Architekt am wirkungsvollsten reagierte, indem man den bildhaften Gegenbeweis antrat. Das neue Bundeskanzleramt ist ein schönes Beispiel, wie die Kritik, die im Hinblick auf das neue Regierungsviertel im Spreebogen mit Begriffen wie "Neuteutonia" operierte, die ikonographischen Mittel der Negation auf den Plan rief. Es reagiert auf sie, indem es zum Beispiel die Würdeform der Säule in allen Variationen zerfließen und aus der Reihe tanzen lässt. Im Masterplan der Architekten Axel Schultes und Charlotte Frank für das Regierungsviertel im Spreebogen fand die damalige Stimmungslage auch in anderer Hinsicht eine bildhafte Umsetzung. Es zeigt die Erwartung an das neu Entstehende, Bedeutung zu generieren. Das Projekt reiht als so genanntes "Band des Bundes" die Bauten von Parlamentarierhäusern und Kanzleramt vom Westen bis in den Osten hin auf. Die Ausdruckskraft des Entwurfs lag in dem Symbol der Einheit. Es ist ein Beispiel dafür, wie die Architektur auch für die Berliner Republik identitätsstiftend wirken sollte. Wahrscheinlich würde man heute, zwölf Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, diesen Entwurf im Rahmen eines Wettbewerbes anders beurteilen. Die im Vorfeld geführte Diskussion über Architektur zeigte sich hier folgenreich: Der Entwurf reagierte auf die Forderung nach einer demokratischen Architektur, die dem gemeinsamen nationalen Willen des wiedervereinigten Landes Ausdruck verleihen sollte.

Man schuf also Leitbilder, von denen man sich nur mehr schwer lösen konnte. In diesem Sinne nahm das Schreiben, die öffentliche Rede über Architektur stärker Einfluss auf die architektonischen Entwürfe, als es unter "normalen" Umständen der Fall gewesen wäre. Wo es nicht um Staatsbauten ging, drehten sich die Diskussionen um historische Stadtgrundrisse, um Fassadengestaltung, um Materialität von Gebäuden – also ebenfalls um die Erscheinung von Architekturen und nicht um die Frage, wie man bauen sollte, um den Menschen in der Stadt ein gutes Leben zu ermöglichen. Die "Stadt als Bild" war das vorherrschende Thema, wie der Kritiker Wolfgang Kil in diesem Zusammenhang bemerkte. Die ästhetische Diskussion kaprizierte sich auf eine Benutzeroberfläche und redete an den eigentlichen Problemen des sozialen Aufbaus der Stadt vorbei.

 


Architekturkritik als Gesellschaftskritik

 

Etwa zur gleichen Zeit von Le Corbusiers Diktum formulierte der Publizist Karl Scheffler seinen berühmten Satz, dass Berlin dazu verdammt sei, "immerfort zu werden und niemals zu sein". Nie konnte man dieses Bonmot öfter lesen als in den neunziger Jahren. Der Rückgriff auf den Aufklärer Scheffler und seine klassische Großstadtanalyse erfolgte freilich eher verklärend. Man zitierte ihn als Beweis für den baukünstlerisch fruchtbaren Boden, für den Genius loci Berlins, der wie von selbst Neues und Großartiges hervorbringt. Scheffler beklagte in seiner Schrift "Berlin, ein Stadtschicksal" aber vielmehr die Heterogenität, die Parvenühaftigkeit  dieser Stadt. Interessant erscheint im Zusammenhang der unablässigen Beschwörung der Hauptstadtwerdung Schefflers Feststellung, dass Berlin "niemals ein natürliches Zentrum, niemals die vorbestimmte deutsche Hauptstadt" gewesen ist.

Ebenso wenig war es Berlin durch seine disparate Entstehungsgeschichte vergönnt, sich von einem Stadtzentrum aus zu entwickeln. Spätestens seit den zwanziger Jahren, als sich die umliegenden Gemeinden und Dörfer zur Riesengemeinde Berlin zusammenschlossen, konkurrieren hier durch die schiere Fläche das örtliche Viertel und die alles umfassende Urbanität. Von dieser dialogischen Struktur geht vieles aus, was man allgemein als die Anziehungskraft Berlins bezeichnet, die verschiedenste Milieus vereinigt und Spannung erzeugt.

Seltsamerweise konterkarierte eine der lautesten Forderungen der Architekturkritik dieses Charakteristikum Berlins. Die Zeitschriften und Zeitungen titelten damals sehr ähnlich, als sie schrieben: "Eine Stadt sucht ihre Mitte". Man fragte, in Anlehnung an Alfred Kerr: "Wo liegt Berlin?" – und suchte nach dem einen Zentrum.

Neu aus Zürich zugezogen, nahm ich diese Fokussierung auf einen zentralen Punkt der Stadt erst mit Erstaunen zur Kenntnis. Und je konsequenter sie andauerte, irgendwann auch mit Irritation. Es wurde mir bewusst, dass ich noch nie darüber nachgedacht hatte, wo die Mitte jener Stadt liegt, in der ich den größten Teil meines bisherigen Lebens verbracht hatte. Nachfragen in der Heimat brachten keinen Aufschluss. Im Gegenteil. Ich erntete Verwunderung. Für das Selbstverständnis von Zürich und seinen Bewohnern scheint es keine Rolle zu spielen, wo der Mittelpunkt der Stadt liegt. Und ich sage bewusst: Mittelpunkt, und nicht: historisches Zentrum. Eine der ersten Ausführungen eines deutschen Kollegen war nämlich, mir bei einem Abendessen zu versichern, dass nach den Koordinaten die tatsächliche geographische Mitte Berlins auf dem Schlossplatz liege. Diese Seelengeographie ist eine spezifische Eigenart der Berliner. Bei der Suche "nach dem Herzen Berlins", wie man so schön sagt, geht es natürlich – und historisch nachvollziehbar – nicht zuletzt um die Deutungshoheit über die Stadt. Denn die viel beschworene Mitte fällt nun ausgerechnet mit jenem Platz zusammen, auf dem die DDR das Hohenzollernschloss sprengen ließ, um einen Aufmarschplatz im Namen von Marx und Engels zu schaffen.

In der Diskussion um den Berliner Schlossplatz nimmt die Debatte über Architektur bis heute einen polemisierten und unversöhnlichen Fortgang. Es lässt sich hier eine Einflussnahme der Medien beobachten, der es längst nicht mehr um ein sachliches Abwägen von Argumenten, um eine Vermittlung von Architektur geht. Man versucht vielmehr, Werte durchzusetzen – jene der zeitgenössischen Architektur gegen jene der historischen.  

Hinter den ästhetischen Diskussionen, die Berlin in den vergangenen Jahren führte, verbarg sich oft eine ideologische Auseinandersetzung. Sie entsprach einer allgemeinen Stimmungslage der Stadt auf der Suche nach einer Identität und der Suche ihrer Bewohner nach einem Selbstverständnis. Wie schnell sich die Gefühlslage ändert, konnte man jüngst an der feierlichen Enthüllung des Brandenburger Tors nach abgeschlossener Sanierung sehen. Zwar wurde dieses Ereignis gekoppelt mit dem Nationalfeiertag der Deutschen. Aber die Frage, was das Wahrzeichen mit seiner Vergangenheit versinnbildlicht, war kein Thema. Das Ganze war ein Spektakel im Stil einer TV-Unterhaltungssendung. Die Frage nach der nationalen Bedeutung des berühmten Symbols in der deutschen Hauptstadt bewegt wenige Jahre nach all den Debatten um die symbolische Bedeutung von Architektur offenbar niemanden mehr.

Jede Beschreibung von Stadt trägt in unserem Zeitalter der Beschleunigung auch das Moment der Vergänglichkeit, die Melancholie in sich. Walter Benjamin zitierte in diesem Sinne Baudelaire, der sagte, dass die Stadt "schneller als ein Menschenherz sich wandle". So können an den Veränderungen der Architektur die Veränderungen der Gesellschaft festgemacht werden. Die rasant sich wandelnden sozialen und medialen Bedingungen werden also auch der Kritik, so sie denn nicht in Melancholie versinken will, immer wieder neu ein Überdenken der eigenen Werturteile abfordern.
 


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