Der
öffentliche Raum |
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8. Jg., Heft 1 (September 2003) |
___Robert Kaltenbrunner Bonn |
Öffentlichkeit - zwischen Ort, Funktion und Erscheinungsbild |
Der amerikanische Regisseur und Komiker Woody Allen hat einmal gesagt: „Ganz ohne Frage gibt es eine Welt des Unsichtbaren. Das Problem ist, wie weit ist sie vom Stadtzentrum weg, und wie lange hat sie offen?“ Auf das Thema dieses Heftes bezogen, ist dieser Satz durchaus recht hintergründig, weil er zwei vermeintlich unvereinbare Aspekte zueinander in Beziehung setzt. Sind es m. E. doch gerade Unvereinbarkeiten, die den öffentlichen Raum letztlich ausmachen.
Zwar ist es heute in kritischen (Fach-)Kreisen opportun, bei jeder Gelegenheit den Verlust an „öffentlichem Raum“ zu beklagen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob man es sich nicht zu einfach macht, dessen vermeintlichen Schwund zu thematisieren. Und ob man bei einer solchen Kritik nicht stillschweigend einige zentrale Aspekte beiseite lässt - beispielsweise unsere eigene Anspruchshaltung betreffend: Welchen öffentlichen Raum nutzen wir selbst, wie nutzen wir ihn? Oder im Konjunktiv: Wie hätten wir ihn gerne, wann und wo? Ein einhelliges Meinungsbild wird es dazu wohl kaum geben.
Was der „öffentliche Raum“ heute genau ist und was er - vielleicht - einmal war, was er „zu leisten“ vermag und was nicht, welchen Zwängen er unterliegt und wodurch, welche Potenziale er birgt und wie diese zur Geltung gebracht werden können: Kaum je ist es gelungen, Fragen wie diese erschöpfend zu beantworten. Das kann auch ich mir nicht anmaßen. Gleichwohl möchte ich eine Annäherung versuchen, und das in Form von zehn Aspekten oder Thesen.
1. Ein Verständnis von Öffentlichkeit, gerade ein soziologisches, ist Voraussetzung, um sich Fragen des öffentlichen Raums anzunähern.
Diese These auszuführen, ginge hier sicherlich zu weit. Nur auf einen zentralen Aspekt möchte ich kurz hinweisen: Hans Paul Bahrdt zufolge entsteht Öffentlichkeit dort, wo durch bestimmte Stilisierungen des Verhaltens dennoch Kommunikation und Arrangement zu Stande kommen. In seinem Grund legenden Aufsatz „Öffentlichkeit und Privatheit“ beschreibt und fixiert er jenes spezifische Spannungsverhältnis, aus dem sich erst entwickeln kann, was gemeinhin Urbanität genannt wird. Diese Polarität ist gleichsam eine Bedingung für die Res publica. Das heißt einerseits, dass soziale Distanz geschichtlich aus den Konstitutionsprinzipien der bürgerlichen Gesellschaft heraus zu verstehen (und insofern von positiver Bedeutung) ist. Und das heißt andererseits, die Chance zu Distanzierungen als Voraussetzung für urbanes Leben generell zu thematisieren.
Womit lediglich angedeutet ist, dass (positiv besetzte) Begriffe wie Identifikation, Aneignung usw. allein noch keine Verständigungsgrundlage abgeben können.
2. Öffentlichkeit ist ohne Gesellschaft nicht zu haben, unterliegt aber wie diese einem steten Wandel.
Die heutige Gesellschaft ist eine andere als die der unmittelbaren Nachkriegszeit, und die hiesige unterscheidet sich von derjenigen Singapurs oder der in Gambia. Das gilt analog für den Begriff der Öffentlichkeit.
Auch hier nur eine kurze Illustration:
Namhafte Soziologen haben für unsere zeitgenössische Gesellschaft Begriffe wie
„Erlebnisgesellschaft“ oder „Multi-Optionsgesellschaft“ geprägt. Einkaufen und
„Spaß haben“ sind gängige Leitbilder urbaner Lebensweise, Einkaufen und „Spaß
haben“ sind zugleich Teil unserer Selbstinszenierung im öffentlichen Raum. Doch
so einleuchtend dies auch ist: Ein solcher Begriff erklärt eine Gesellschaft
nicht als Ganzes. Und das leitet nahtlos über zur dritten These.
3. Die eine Öffentlichkeit gibt es nicht (mehr), dafür einen Kosmos von Teilöffentlichkeiten.
Was Jürgen Habermas vor geraumer Zeit den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ genannt hat, ist auch ein Strukturwandel der Teilöffentlichkeiten. Diese definieren sich immer weniger über Politik, Diskurse, Bildung oder Soziales, dafür immer mehr über Bilder und Rituale: über Moden, Konsumverhalten, Lifestyles, Sport und Musik. Die bürgerlichen Formen mit ihrem erzieherischen Duktus verwandeln sich allmählich in eine virulente, stark heterogene Öffentlichkeit, die wiederum einem ständigen Druck von vielen Seiten ausgesetzt ist, von Märkten, Moden, von Subversivem, Zufälligem, von Einschaltquoten.
4. Die mediatisierte Öffentlichkeit scheint die räumlich erfahrbare nicht einfach zu ersetzen; und sie wird auch nicht als Ersatz empfunden.
Vielfach ist prophezeit worden, dass die Menschen in Zukunft vorwiegend vor Bildschirmen und unter Datenhelmen hocken, um sich in einer bloß virtuellen Realität, auf Daten-Autobahnen und im Cyberspace, nicht mehr körperlich, sondern nur noch fiktiv zu tummeln. Nun, diese Prophezeiung hat sich bislang als wenig tragfähig erwiesen.
Die Repräsentation verschiedener
gesellschaftlicher Gruppen vollzieht sich zwar weit gehend in Innenräumen, man
nutzt die modernen Massenmedien, und in jüngster Zeit etabliert sich eine neue
Öffentlichkeit im Netz der elektronischen Medien, doch nicht nur Ansprachen,
Konzerte, Feste usw. finden noch draußen statt. Auch bestimmte Ansprüche auf
öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung verlangen geradezu nach auffälliger
Kundgabe im öffentlichen Raum, z. B. durch Demonstrationen, Streikversammlungen,
Umzüge, Lichterketten, Ausstellungen und dergleichen. Der öffentliche Raum ist
nach wie vor eine Bühne, auf der gesellschaftliche Konflikte artikuliert und
vorgetragen werden. Plätze, Fußgängerzonen, Straßen und Parks sind Orte, an
denen soziale Probleme sichtbar werden, aber auch Orte personaler
Selbstdarstellung und Inszenierung.
Das hat
natürlich handfeste Gründe: Wir leben in einer institutionell hochgradig
verregelten Welt, einer Welt, die so mit Vorschriften, Normen, Richtsätzen,
Geboten und Verboten zugestellt ist, dass Straße und Platz fast die einzigen
Orte sind, die jedermann zur Verfügung stehen, um sich (mehr oder weniger)
außerhalb dieses Regelwerks zu verhalten und zu äußern, um frei gewählten und
spontanen Handlungen nachzugehen. Das zur Schau stellen von Luxus und
Extravaganz gehört genauso dazu wie das Bekenntnis zu einer vom Mainstream
abweichenden Lebensweise, ob als Skinhead oder Hippie. Städtischer Raum ist
heute wie in der Vergangenheit Freizeit-Raum, und offensichtlich befriedigt man
in ihm das Bedürfnis, zu sehen und gesehen zu werden. Und natürlich: Der
Konsumgüterindustrie und Gastronomie ist's recht so.
Der reale Raum ist von ungebrochener Bedeutung. Wir alle kennen das Bild jener
älteren Frau, die, ein Kissen untergeschoben, sich im offenen Fenster
hinauslehnt, um am Leben im öffentlichen Raum wenigstens beobachtend teilzuhaben
- und dieses Bild hat nach wie vor Bestand, zumal sich viele - ob nun aus
gesundheitlichen oder finanziellen Gründen - Mobilität kaum mehr leisten können.
5. Unsere Vorstellung vom „öffentlichen Raum“ ist in der Regel zu einseitig.
Zu Recht hat Lucius Burckhardt einmal behauptet, dass das Stadtbild eines Bewohners eine Vorstellung sei, ein durch Lernprozess in einer gesellschaftlichen Umwelt erzeugtes Wahrnehmungsbild. Das gilt gerade für den öffentlichen Raum. Das diesbezügliche Bild in unseren Köpfen wird beherrscht von jenen Piazzas und Plätzen, die wir aus Italien oder Spanien kennen. Klare räumliche Fassung, erkennbar historisch und gewachsen, immer etwas los, das Wetter stets warm und sonnig. Allein, unsere Wirklichkeit sieht anders aus. Müssen wir, wenn wir vom öffentlichen Raum reden, doch zumindest unterscheiden zwischen „grünen“ und „grauen“, also Parks und Grünanlagen auf der einen, Straßen und Plätzen auf der anderen Seite. Aber augenscheinlich hat sich die Aufmerksamkeit schon unnötig beschränkt: Zum einen bleiben die diffusen Stadträume außer Betracht, d. h. der öffentliche Raum in Gewerbegebieten, in Einfamilienhaussiedlungen usw., der wohl eher eine Art Restraum ist. Zum anderen blenden wir den Verkehr aus, der die meisten Räume dominiert. Womit wir zu akzeptieren scheinen, dass der öffentliche Raum – Beispiel Ausfallstraßen – in weiten Teilen nur Transitzone ist, um von einem Ort zum anderen zu kommen. Oder der Raum, in dem all die Autos abgestellt werden, die für unser Leben unabkömmlich scheinen.
Insofern ist wohl auch die Frage berechtigt, ob wir uns nicht ein Zuviel an öffentlichem Raum leisten - zumindest an einem öffentlichen Raum fragwürdiger Qualität.
6. Der öffentliche Raum lebt von und in dem Paradox gleichzeitiger Differenzierung und Integration.
Gerade weil viele Berufe heute in Innenräumen und ohne ausgeprägt körperliche Tätigkeiten ausgeübt werden, ziehen Sonne, Luft, Wärme und Grün die Menschen wie eh und je an. Je umfangreicher die fiktionalen Angebote werden, umso mehr scheint das Bedürfnis nach realem städtischen und landschaftlichen Lebens-Raum zuzunehmen.
Die historische Stadt europäischen
Zuschnitts erfand dafür Parks, Grünanlagen und Stadtplätze. Letztere werden hier
und da noch als Märkte und zur Schaustellerei genutzt, doch die meisten von
ihnen dienen nicht mehr den Zwecken, denen sie ihr Entstehen verdanken. Namen
wie „Holzmarkt“, „Gänsemarkt“ oder „Pferdemarkt“ bezeugen das. Was sich heute
auf Plätzen zuträgt, hat auch in anderer Hinsicht nicht mehr viel mit dem zu
tun, was sich dort in der Vergangenheit abspielte. Denn Änderungen der
menschlichen Lebens-, Arbeits-, Wohn-, Verkehrs- und Kommunikationsformen haben
im Lauf der Zeit die Nutzung des städtischen Raumes ganz allgemein verändert.
Die Omnipräsenz des Mobiltelefons hat
beispielsweise das Telefonieren annähernd zu einer Sache der Res publica
gemacht, wenn Ehezwistigkeiten oder Intimitäten freiwillig ins Publikum posaunt
werden. Das Private ist längst nicht mehr das Refugium, wie es so oft seit der
Romantik beschworen wurde. Auch der private Raum wird mehr und mehr zu einem
Zwitter. Ich verweise nur auf die Sport- und Fitness-Studios mit ihrer
ostentativen Präsenz in manchen Straßen.
Trotzdem gilt: Der öffentliche Raum ist ein
Multioptionsraum, und wie er genutzt wird, ist nicht mit wenigen Begriffen zu
klassifizieren. Er ist Erlebnisraum, der vielerlei Formen des Freizeitverhaltens
ermöglicht. Auch wenn der Ausdruck „Fun-Gesellschaft“ die Wirklichkeit nicht
trifft - viele öffentliche Räume werden als „fun-places“ genutzt, für „events“
aller Art. Durchaus genussvoll, so scheint es, werden diese Räume öffentlich
konsumiert. Und damit offenkundig auch als etwas Eigenes akzeptiert. Das
wiederum setzt eine gewisse Vertrautheit mit dem Ort voraus. Die Vertrautheit
mit einem Ort erzeugt Sicherheit. Man kann Verhalten prognostizieren und hat in
gewisser Hinsicht einen Anspruch darauf, dass sich der andere gemäß dieser
Prognose verhält. Allerdings: Der öffentliche Raum liegt inmitten eines
Spannungsfeldes zwischen Liberalität und Toleranz einerseits und
gesellschaftlicher Konvention und öffentlicher Ordnung andererseits, wobei die
Grenzen immer fließende sind.
Es kann hier nur angedeutet werden: Der
Aspekt Sicherheit spielt im Kontext des öffentlichen Raums eine ganz zentrale
Rolle. Abgesehen davon, dass Unsicherheit meist eine subjektiv empfundene, nicht
eine objektiv vorhandene ist: Es gibt auch eine gewisse Entpersonalisierung des
öffentlichen Raums im Sinne einer Technisierung. Dass in der U-Bahn keine
öffentliche Person mehr anwesend ist, die man auch nur nach einer Auskunft
fragen könnte, halte ich für ein Problem. Dem (Un-)Sicherheitsempfinden in
öffentlichen Räumen, das u. a. bedingt ist durch den Aufenthalt von Randgruppen,
muss konzeptionell begegnet werden, wenngleich vielleicht mit anderen Mitteln
als der starken Präsenz von privaten Ordnungsdiensten, Videoüberwachungen etc.
7. Ein öffentlicher Raum wird weniger durch seine Zugänglichkeit bestimmt als durch das Selbstverständnis, dass er einer ist (wie immer er auch gestaltet sein oder aussehen mag).
Ansprüche und Bedürfnisse sind nicht statisch, nicht ein für allemal fest geschrieben. Somit ändert sich auch das Verständnis eines Raums. Ich will kurz ein Beispiel bemühen, den Alexanderplatz in Berlin: Wie sehr haben sich Verhaltens- und Aneignungsformen dieses Platzes verändert seit den „Weltfestspielen der Jugend“ 1973. Der „Brunnen der Völkerfreundschaft“ war der zentrale Treffpunkt; das aber ist er längst nicht mehr. Wie man heute ohnehin ganz andere Möglichkeiten hat, etwas zu tun oder irgendwohin zu gehen, als seinerzeit. Rufen wir uns nur einmal in Erinnerung, was vor zwanzig oder dreißig Jahren das Bild des öffentlichen Raums prägte und damals völlig hip war: Musikschüler stellen sich in eine Nische und klimperten mit der Gitarre oder spielten Saxophon, selbst berufene Künstler fertigen Skizzen und Zeichnungen, Kunsthandwerker verkaufen selbst gefertigten Schmuck, in den Wohngebieten wurden die ersten Straßenfeste durchgeführt. Heute dagegen dominieren Inline-Skates oder andere In-Sportarten, Grillen im Park, es gibt einen gewissen Exhibitionismus, mit dem unübliche Kleidungspräferenzen oder Tattoos, Schweine oder Krokodile als Haustiere vorgeführt werden. Die Handy-Manie habe ich bereits erwähnt. Und wer weiß, was wir in Zukunft nicht noch alles im öffentlichen Raum machen werden.
Früher, so meint Richard Sennett, hätte Architektur sichtbar gemacht, was öffentlich ist und was nicht. Diese Zeichensprache ist heute stumm geworden. Damit komme ich zu einer weiteren Veränderung: Der innerstädtische Einzelhandel, der seine Standorte heute noch oft entlang der Straßen und an Plätzen hat, verlagert sich zunehmend in Passagen; offene Marktplätze werden überdacht und abgeschlossen. Erlebnisräume werden „künstlich“ geschaffen, Freizeitgestaltungen in abgekapselte Binnenwelten transponiert, Bahnhöfe mutieren zu Shopping-Centern. Es entstehen Bereiche in den Städten, aus denen alle negativen Erscheinungen des städtischen Lebens ausgesperrt werden: die Witterung und der Straßenverkehr, aber auch bestimmte Bevölkerungsgruppen. Diese Bereiche „gehören“ also nicht mehr allen, können nicht mehr von allen genutzt werden, weil es Zugangsbeschränkungen gibt, weil Hausregeln, Videokameras und private Sicherheitskräfte für den Schutz und die Sicherheit der Besucher sorgen.
Privatgebäude verleiben sich öffentlichen Raum ein und werden zu Miniaturstädten eigenen Rechts. Es entsteht eine Urbanität in neuer Form: Mikro-Urbanität. Paradoxerweise tragen diese Räume (gerade in den USA) zur Wiederbelebung darnieder liegender Stadtzentren bei und spielen zugleich eine aktive Rolle bei deren Zerstörung. Denn was nun in privater Bauherrenschaft erstellt wird, bemüht zwar gern das Bild des öffentlichen Raums - und wird von vielen auch unkritisch so erlebt -, gleichwohl aber dominieren bei Konzeption und Betrieb kommerzielle Interessen. Der Charakter öffentlicher Räume und die urbane Vielfalt werden durch die Wahrnehmung privaten Hausrechtes letztlich in Frage gestellt. Aber: Ist das wirklich Ausschlag gebend? Um Hanno Rauterberg zu zitieren: „Entscheidend ist, wie ein Raum genutzt und empfunden wird. Auch wenn er de jure öffentlich sein mag, kann die gefühlte Öffentlichkeit doch schwach entwickelt sein, auf Parkplätzen etwa oder in zugigen Trabantenstädten. Umgekehrt kann ein de jure privater Raum höchst urbane Gefühle erzeugen. Der Alltag ist eben weniger von Idealen geprägt als von Konflikten um Sauberkeit und Sicherheit. Der Streit zwischen Hundehaltern und Familien mit Kleinkindern um die Hoheit über Spielplätze oder Ballwiesen kann prägender für das Verhältnis eines Städters zu einer Stadt sein als alle Glanz- und Glasprojekte der Innenstadt.“
8. Wenn der
„öffentliche Raum“ bedroht ist, dann liegt die Bedrohung nicht allein in
Privatisierungstendenzen und im allgegenwärtigen Vandalismus, sondern auch in
seiner ästhetischen Funktionalisierung und Überinstrumentierung. Oder ganz kurz
gefasst: „Öffentliche Plätze sehen oft so aus, wie Heino singt.“
Rufen wir uns das Sony-Center am Potsdamer Platz ins Gedächtnis. Malls und Einkaufsgalerien in privater Hand geben hinsichtlich Ausstattung, Materialien und Pflege einen Standard vor, dem man für den öffentlichen Raum zu folgen sucht. Was zunächst einmal positiv klingt, birgt jedoch die Gefahr, dass indirekt der Funktionsverlust des verbleibenden öffentlichen Raums verstärkt wird. Denn dieser kann mit den privatisierten Bereichen – ob seiner schieren Menge – nicht konkurrieren: Es sinkt das Interesse, sich in ihm aufzuhalten; er verliert als Kommunikationsraum an Bedeutung, wird schleichend hässlich und unattraktiv, verkommt zum Rückzugsort für ausgeschlossene Bevölkerungsgruppen. Diese Entwicklungen schaukeln sich gegenseitig auf. Je unattraktiver der klassische Stadtraum wird, desto eher wird er gemieden, desto größer wird die Nachfrage nach geschützten, geschlossenen oder inszeniert öffentlichen Räumen. Was manchmal das Gleiche ist.
Diesen Verlust scheint man nun mit einer
obsessiven Gestaltung auffangen zu wollen. Um sich in der Konkurrenz mit den
privatisierten Räumen zu behaupten, greift eine zunehmende „Verkunstung“ so
manchen öffentlichen Raumes Platz, und zwar fast ausschließlich in den
Stadtzentren. All die modischen Aufkantungen und Reliefverschiebungen, das Spiel
mit Pflastertexturen, auch die traditionellen Essentials wie Brunnen, Bänke und
Blumenkübel können zwar nützlich und manchmal auch ein erfreulicher Anblick
sein, aber nur dann und dort, wo sie nicht in der Überzahl auftreten und die
Möglichkeit, sich frei zu bewegen und zu verhalten, wieder zunichte machen.
Indessen, kühl und gekonnt, bis ins Detail durchkomponiert, scheint das Konzept
der Animateure aufzugehen. Die Besucher honorieren den Mix aus Unterhaltung,
Shopping und Vergnügen - jedenfalls bis Ladenschluss.
Hier scheint mir der Blick auf den größeren
Zusammenhang angebracht: Einer Stadt, die noch keine Marke ist, die noch kein
„Branding“ hat, fällt es schwer, ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle
Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Image und Ruf bekommen so einen bedeutenden
Anteil an ihrer strategischen Konkurrenzfähigkeit. Das Stadtmarketing geht immer
häufiger den Weg zur „Ereigniskultur“. In der breiten Palette dieser temporären
Ereignisse hat die Inszenierung der öffentlichen Räume inzwischen einen festen
Platz. So weit, so gut. Fatal jedoch ist eines: Im Bestreben, ihr Marken-Image
zu verbessern, konzentrieren sich viele Städte mehr auf die Werte und Emotionen,
die die Kunden und Bürger mit dem „Produkt“ verbinden, als auf deren Qualität
selbst. Da alle Orte mit ununterscheidbaren Massenprodukten überschwemmt werden,
versuchen Städte, gleichsam sich selbst zu individualisieren – aber eben alle
auf die (fast) gleiche Weise, in bewährten Schablonen. Hauptsache, damit wird
ein bestimmter Lifestyle befördert oder ein - wahlweise cooles, vorzugsweise
behagliches - Image propagiert. Wohlfeile Sitzgelegenheiten, stählerne Kioske,
ausgreifende Wasserspiele und opulente Plastiken reüssieren. Abgezielt wird auf
ein Prestige, das durch Exklusivität entsteht.
Berthold Brecht hat einmal gesagt: „Wenn
Städte, die nach Plänen gebaut sind, scheußlich sind, so nicht, weil sie nach
Plänen, sondern weil sie nach scheußlichen Plänen gebaut sind.“ Wenn aber
Architekten und Planer zu (bloßen) Szenographen mutieren, die mit Emotionen
jonglieren, dann haben wir ein Problem. Wenn der öffentliche Raum, wenn
insbesondere Plätze nur noch als „gute Stube“ der Stadt betrachtet und
entsprechend möbliert und herausgeputzt werden, dann läuft das den eigentlichen
Zwecken zuwider.
9. Zwar ist Architektur für den öffentlichen Raum eine Vermittlungsinstanz, sie übt aber auch Zwang aus.
Wir reden von öffentlichem Raum, also müssen wir auch mal einen Blick auf die „Produktion“ desselben werfen. Architekten können sich bei ihren Gestaltungen an Zwecken orientieren, die sie sich selbst setzen oder sich vorgeben lassen. Doch wie Architektur genutzt wird, ist Sache der Nutzer. Die tatsächlichen Nutzungen von Architektur sind unter Umständen ganz andere als die, denen sie nach der Absicht der Architekten dienen soll. Trotzdem bleibt den Architekten nur, sich Zwecke vorzustellen. Fraglich ist indes - paradox gesagt -, welchen Zweck der Zweckbegriff für die Architektur des öffentlichen Raums eigentlich hat. Im Titel des berühmten Buches „Kunst als Erfahrung“ von John Dewey wird auf eine mögliche Antwort hingewiesen. Dewey schreibt, solches Produzieren sei „von der Absicht bestimmt, etwas herzustellen, das durch unmittelbare, sinnliche Erfahrung erfreuen soll“. Damit ist der allgemeinste Zweck der Kunst benannt, durch den sich ihre Produkte von anderen menschlichen Artefakten unterscheiden lassen: durch die Erfahrung sinnlich wahrnehmbarer Gestaltungen zu erfreuen.
Wenn man von
Gestaltung spricht, wird man schnell dem Vorwurf begegnen, man rede der
Ästhetisierung der Alltagswelt das Wort. Es lenke ab von sozialen, ökonomischen,
politischen, ökologischen und anderen Problemen und verschleiere und verstärke
kritikwürdige Strukturen. Hartmut Häußermann und Walter Siebel haben, wie viele
andere auch, solche Einwände formuliert. Doch die beiden Stadtsoziologen stellen
auch fest: „Dass Architektur Herrschaft ästhetisiert, ist eine Plattheit, und
würde man daraus die Konsequenz ziehen, es dürfe solange nur hässlich gebaut
werden, wie das Elend und die Ungerechtigkeit dieser Welt nicht beseitigt sind,
so wäre es obendrein Barbarei (...) Stadtgestaltung ist mehr und grundsätzlich
anderes als das Spielen mit Räumen, Licht und Farbe. Sie ist immer auch
konkreter Eingriff in Lebensweisen von Menschen.“
Man kann nicht nicht gestalten. Wohl aber
ignorieren, welche Auswirkungen Gestaltung auf die Lebensweisen von Menschen
haben kann. Besonders, wenn Architektur mehr und mehr die Sache von Investoren,
von ihren Spekulationen und Gewinnabsichten ist, stellt sich die Frage, wie sie
die Lebensbedingungen derer prägt, die nicht von ihr profitieren. Und man muss
heute sicherlich sehen: Indem die öffentliche Hand immer stärker in eine Rolle
gleitet, die sie einem privaten Investor oder Developer ähneln lässt,
verschieben sich die Gewichte. Auch hier.
Um diese These noch einmal mit anderen
Worten zu verdeutlichen: Raum konstituiert ein Zwischenreich zwischen Individuum
und Gesellschaft. Architektur ist dabei eine Vermittlungsinstanz; sie trifft
sich hier mit dem öffentlich geäußerten freien Wort und der freien Presse. Ein
gewichtiger Unterschied zur freien Meinungsäußerung besteht jedoch: Denn der
öffentliche Raum entfaltet in doppeltem Sinn Zwangswirkung: Der Einzelne hat nur
sehr eingeschränkte Möglichkeiten der Wahl; zudem ist er in ihnen meist intensiv
biographisch verwurzelt. Und von ähnlicher Bedeutung ist, dass Raumgestaltungen
und Bauwerke im Verhältnis zueinander in existenzieller Konkurrenz stehen: An
einem Ort lässt sich – jedenfalls zu einem gegebenem Zeitpunkt – nur eine
einzige Raumgestalt verwirklichen.
10. Die Dialektik von öffentlichem und privatem Raum geht über in eine Dialektik wechselhaft besetzter Orte.
Mit Blick auf die Konsequenzen fordistischer Modernisierung und auf jene Gebiete und Gegenden bezogen, die in den letzten sechzig Jahren besiedelt oder infrastrukturell überbaut wurden, hat der französische Ethnologe Marc Augé von einer Verwandlung von Orten in „Nicht-Orte“ gesprochen. Nicht-Orte sind Räume, die den Verlust von Ortsqualitäten an und durch sich selbst zum Ausdruck bringen. Es sind Orte ohne Eigenschaften. Sie sind überall gleich – bzw. ihre Verschiedenheit ist nur mehr äußerlich. Man findet diese Nicht-Orte vorzugsweise in der Peripherie, an Autobahnabfahrten, Ausfallstraßen, Flughäfen, Haltepunkten von Hochgeschwindigkeitsbahnen etc.
Gerade an solche Orte (oder Nicht-Orte) hat
sich beispielsweise die Techno-Szene gerne begeben. Als Untergrundbewegung
reklamierte sie eine eigene Öffentlichkeit. Sie spürte Niemandsländer auf, die
semantisch unbelastet sind: Durchgangsräume, Brachen, Autobahnunterführungen,
aufgelassene Industrieareale - Orte des Nichts. Offensichtlich gibt es neue
Aneignungsformen, die nicht einen öffentlichen Ort besetzen, sondern ein
Niemandsland in einen öffentlichen Ort verwandeln, und sei es temporär.
Attraktiv sind solche Orte vermutlich, weil
sie nichts und niemanden repräsentieren, keine Macht, keinen Besitz: Es sind,
wie es Ernst Hubeli einmal genannt hat, Orte, die von der Austauschbarkeit der
Symbole leben, Orte eines „Dazwischen“, Orte, die die Möglichkeit bieten,
besetzt und geprägt zu werden, Orte, wo offizielle Kultur fehlt und neue
Aneignungsrituale erfunden werden können (wenn auch nur vorübergehend). Aber
sicherlich braucht es dafür auch eine kritische Masse, funktioniert das eher in
der Großstadt als im Dorf.
Soweit meine Annäherung an das Thema. Welche
Konsequenzen könnten diese Thesen - oder besser: die genannten Gesichtspunkte –
für Architektur und Planung haben? Es wäre illusorisch zu erwarten, dass sich
daraus konkrete Handlungsanleitungen ergeben. Immerhin, als vorläufiges Fazit
wären drei Punkte zur Diskussion zu stellen, die sich vornehmlich an die
Fachgemeinde richten:
A Der öffentliche Raum hat keine zeitlose
Bedeutung. Insofern muss er nicht auf Dauer angelegt sein. Langlebigkeit,
Sicherheit und Stabilität mögen als Werte gelten, an denen sich Stadtplanung und
Architektur auch weiterhin orientieren. Aber sie sind es nicht allein, und sie
können schnell zu verlogenen Mythen werden, zu einer kitschigen Illusion von
Identität und Gemeinschaft.
B Den kausalen Konnex zwischen
Öffentlichkeit und Gestaltung, es gibt ihn nicht. Im Begriff der Offenheit und
Transparenz, wie ihn moderne Architekten verstanden, steckt ein Widerstreit
zwischen Architektur als Realität und Architektur als Symbol. Offene Grundrisse
und Raumgrenzen sind eine Sache - doch die Offenheit sozialer Strukturen ist
etwas völlig anderes. Die aktuellen Beschwörungen des öffentlichen Raums sind
zunächst einmal idealistisch-normative Setzungen, die in der Regel aus
theoretischen Überlegungen der Profession resultieren und nicht unbedingt mit
dem praktischen Alltagsverhalten der Menschen übereinstimmen.
In diesem Zusammenhang sei auf jenes Dilemma
verwiesen, das André Corboz dem Städtebau in toto zuschreibt: „Es ist die Idee
der Rationalisierung, im Sinne einer absoluten Kontrolle, der Ausschaltung des
Unvorhersehbaren und der gleichzeitigen Errichtung einer ebenso perfekten wie
definitiven Ordnung. (...) Der Städtebau ist aber der Spieltheorie zugehörig,
der zufolge die Spieler sich entscheiden, ohne die einzelnen Gegebenheiten des
Problems zu kennen, von denen einige bekannt sind, andere zufallsbedingt, wieder
andere unbestimmbar.“
C Um den multifunktionalen oder
nutzungsoffenen Charakter der öffentlichen Räume zu gewährleisten, ist ein
Bemühen um verträgliches Nebeneinander verschiedener Nutzungsarten ganz zentral.
So prosaisch und bieder das klingen mag, so wenig hat dieser altehrwürdige
Grundsatz an Gültigkeit verloren.
Die beliebte Klage um den Verlust des
öffentlichen Raums will ins Bewusstsein rufen, was als unverzichtbarer
Bestandteil der städtischen Kultur mal vernachlässigt, mal in hypertrophe
Künstlichkeit gesteigert wird. Doch weder das eine, noch das andere kann das
Probate sein. Wenn Adornos Diktum – „Menschenwürdige Architektur denkt besser
von den Menschen, als sie sind“ – tatsächlich Gültigkeit beanspruchen kann, dann
sind plakative Versprechen von Öffentlichkeit und event-fixierte Inszenierungen
ihrer Räume inadäquat, weil sie stets in der Gefahr schweben, den Ort zur
touristischen Sonntagsöffentlichkeit zu verurteilen. Gleichwohl bleibt
festzuhalten, dass auf einem Platz und zur gleichen Zeit nicht alles möglich
ist. Denn der öffentliche Raum der Stadt als Bühne aller kann nicht gleichzeitig
ihre Kinderstube sein.
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