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1. Alltags- vs. Hochkultur
Es steht außer Zweifel, dass Architektur Bestandteil der Kultur einer
Gesellschaft, einer Region, eines Landes oder einer Epoche ist. Es steht
ebenfalls außer Zweifel, dass es nicht die Kultur gibt, sondern ebenso viele
Teil- oder Sub- oder Sonder-Kulturen, wie es gesellschaftliche Gruppen,
geografische Regionen, Länder oder Epochen gibt. Der Wandel der Kulturen im
historischen Ablauf, sowohl innerhalb der wie zwischen den Kulturen, findet
permanent statt und führt nicht selten zu Gleichzeitigkeiten des
Ungleichzeitigen. Vermischungen, Überlappungen, und Durchdringungen führen zu
pluralen oder multivalenten Erscheinungsformen, zugleich aber auch immer wieder
zu Vereinheitlichungen, Dominanzen und Präferenzen kultureller Phänomene. Beide
Tendenzen rufen wachsame Beobachter auf den Plan, die teils kritisch, teils
apologetisch ihre Stimme erheben und in Zeiten allgemeiner Verunsicherung durch
wirtschaftliche oder ideologische Krisen viel Gehör finden.
Die Frage nach der Baukultur kann unter diesen Gesichtspunkten heute keine mehr
sein, die einfach normativ oder zumindest regulativ zu beantworten wäre, weil
dazu die Kriterien und die Erkenntnisse fehlen, die der komplexen Wirklichkeit
angemessen wären (wenn man nicht bei einem reduktionistischen Rigorismus
Zuflucht nehmen möchte, wie bei der "Leitkultur", der Tradition, der Geschichte,
dem Ortsbezug, den ästhetischen Leitbildern). Ich möchte deshalb einen
Teilaspekt dieser Frage herausgreifen, der sich auf ein auffallendes Phänomen
gegenwärtiger Baukultur bezieht und im Anschluss an eine vorhandene
Architekturtheorie Gesichtspunkte zur Bestimmung von Kultur im Bauen auch über
regionale und zeitliche Grenzen hinweg beisteuern kann.
Auffallend ist, dass es in der Vielfalt des gegenwärtigen alltäglichen
Baugeschehens prominente Gebäude gibt, die vorzugsweise von den immer gleichen
illustren Architekten entworfen werden, oder anders herum, dass bei bedeutenden
Bauaufgaben immer wieder die gleichen internationalen Architekten eingeladen
werden, ihre Lösungen zu entwickeln (z. B. Libeskind, Nouvel, Eisenman,
Koolhaas, Gehry, Foster, Hadid). Die Aufgaben, um die es hier in der Regel geht,
sind von herausgehobener Art und erfüllen oft eine öffentliche Funktion: Museen,
Konzert- oder Theatergebäude, Bahnhöfe, Flugplätze, aber auch Einkaufszentren,
Büros und Wohnungen - alles Aufgaben, die im Prinzip auch von "normalen" Architekten aus der
jeweiligen Region gelöst werden könnten. Durch die quantitative und auch ideelle
Größe der Aufgaben und ihren öffentlichen Charakter, der den Anspruch des
Besonderen verbürgt, ist es
aber gerechtfertigt, von Gebäuden der und für die Hochkultur zu
sprechen, die sich gegen die Vielfalt der kleineren und banaleren (weil
anspruchsloseren) Bauaufgaben des Alltags
absetzen. Während unsere
architektonische Alltagskultur funktional einfach, plural, manchmal
multikulturell, oft kommerziell, häufig regional und formal eher oberflächlich
zeichenhaft orientiert ist, kann unsere architektonische Hochkultur als
künstlerisch und funktional komplex, ideell aufgeladen und international
orientiert angesehen werden und durch formale Abundanz und Prägnanz den Status
"symbolischer Formen" erreichen.
Die Geschichte der Baukunst und Baukultur ist immer wieder unter verschiedenen
theoretischen Perspektiven als eine Geschichte der architektonischen
Verwirklichung von symbolischen Formen interpretiert worden (vgl. Dreyer 2003b),
und es leuchtet ein, dass dabei immer die besonders herausgehobenen Bauten der
politischen Macht, der religiösen Ideen und der kulturellen Werte im Vordergrund
standen, eben Bauten der Ausprägung und Konkretisierung der jeweiligen
Hochkultur. Meine These, die ich im Weiteren verfolgen und prüfen will, ist die,
dass auch unsere gegenwärtige internationale architektonische Hochkultur ein
Ensemble symbolischer Formen anbietet, das den Geist unserer Zeit repräsentiert
und auch in seiner Problematik und Widersprüchlichkeit als Ausdruck
gegenwärtiger Baukultur zu begreifen ist (vgl. zur Krise der Repräsentation:
Abs. 3). Es wird zu fragen sein, was diese symbolischen Formen gegenwärtiger
Baukultur bedeuten und zu welchem Umgang sie uns auffordern können.
2. Architektonische Hochkultur als Symbolsystem
Wenn Hegel in seiner Ästhetik Architektur als die symbolische Kunstform par
excellence darstellt, sieht er den Symbolismus noch als eine mindere Form der
künstlerischen Verwirklichung von Ideen an, aber nach der Karriere des
Symbolbegriffs im 19. Jahrhundert entstehen im 20. Jahrhundert zahlreiche
Ansätze zur Theorie der symbolischen Formen, die gerade im Bereich von Ästhetik
und Kulturwissenschaften ihre Hauptanwendungsgebiete finden (vgl. Pochat 1983).
Im Anschluss an Ernst Cassirers und Susanne K. Langers Philosophie der
symbolischen Formen sowie gestützt auf weitere sozialpsychologische Anwendungen
dieser Theorien hatte Christian Norberg-Schulz in seiner "Logik der Baukunst"
(1963/1968) Architektur als ein zentrales Verkörperungsfeld der "kulturellen
Symbolisierung" einer bestimmten Gesellschaft oder Epoche verstanden.
Norberg-Schulz betrachtet architektonische Formen und Konfigurationen als
Mittel, mit denen kulturelle Gegenstände (z. B. Werte, Ideen, Sitten und
Gebräuche, Phantasien und Utopien) symbolhaft konkretisiert werden. Diese Formen
können ein "Bautyp, ein Grundriss, eine besondere Raumform" (ebenda, 175), aber
auch eine Teilform, eine Schmuckform, ein Material oder sogar die spezielle
Ausbildung einer Wand sein (ebenda, 126), also im Prinzip alle architektonischen
Elemente vom Detail bis zur Großform, soweit sie mit formaler Prägnanz
wahrgenommen und beschrieben werden können.
Wie in den genannten Symboltheorien überhaupt gilt auch bei Norberg-Schulz, dass
Symbole auf gesellschaftlichen Konventionen beruhen müssen, also nicht
willkürlich sein können, und dass diese Konventionen öffentliches Gemeingut sind
(ebenda, 175). Trotz des konventionellen Charakters der Symbole im Allgemeinen
glaubt Norberg-Schulz an Beispielen aus der Sakral- und Feudalarchitektur zeigen
zu können, dass die architektonischen symbolischen Formen zum größten Teil eine
"strukturelle Ähnlichkeit" (ebenda, 175) mit den von ihnen symbolisierten
Gegenständen haben, die aus einer Abstraktion von ehemals abbildenden
("ikonischen") Zeichen entstanden und als "Kürzel einer Strukturbeschreibung"
übrig geblieben sind (ebenda, 175). Darauf beruht ihre Wirksamkeit und ihre
kommunikative Kapazität, die eine lebendige Kultur erst ermöglicht. "Von
Menschen hervorgebracht und von ausgesprochen praktischer Natur, hat das Bauen
die besondere Fähigkeit, zu zeigen, wie kulturelle Werte und Traditionen unser
alltägliches Leben bestimmen. Nur durch kulturelle Symbolisierung kann die
Architektur zeigen, dass der Alltag eine Bedeutung über die unmittelbare
Situation hinaus hat und an der kulturellen und historischen Kontinuität
teilhat" (ebenda, 128).
Weil man nicht das gesamte Baugeschehen einer Zeit oder Region an diesem hohen
Anspruch messen möchte, darf man doch mit Norberg-Schulz fordern, "dass
wenigstens einige Bauaufgaben die Dimension der kulturellen Symbolisierung mit
einschließen" (ebenda, 128), bzw. wird man prominente Gebäude oder Baukomplexe
einer bestimmten Zeit oder Region unter den angeführten Prämissen auf die Art
der Symbolisierung und der Bedeutung der symbolisierten kulturellen Gegenstände
hin analysieren und interpretieren dürfen.
3. Kulturelle Symbolisierung und die Krise der Repräsentation
Wie schon eingangs
konstatiert, gibt es zurzeit eine kleine überschaubare Gruppe prominenter
internationaler Architekten, die bei architektonischen Großprojekten immer
wieder zu Entwürfen eingeladen und oft als Sieger auserkoren werden. Man darf
annehmen (und ich möchte diese These vertreten), dass sich in ihren Entwürfen
eine allgemein verständliche und akzeptierte Symbolisierung von allerseits
hochgeschätzten und verehrten kulturellen Gegenständen ausdrückt, die zumindest
auf der Ebene der gegenwärtigen euro-amerikanischen Hochkultur öffentliches
Allgemeingut ist oder zumindest sein könnte. Um die neue Konzerthalle von Frank
Gehry in Los Angeles, die niederländische Botschaft von Rem Koolhaas in Berlin
oder den Master-Plan für „Ground Zero“ in New York von Daniel Libeskind zu
beschreiben, zu analysieren und zu interpretieren, bedarf es (wie schon den
einschlägigen Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträgen zu entnehmen ist) einiges
begrifflichen Aufwandes, der hier nicht vorgelegt werden soll (vgl. dazu als
Beispiel Dreyer 2001), aber es darf angenommen werden, dass man zeigen kann, wie
hier mit jeweils sehr unterschiedlichen architektonischen symbolischen Formen
Aussagen über das Wesen der Musik (Gehry), der Politik und Diplomatie (Koolhaas)
und der nationalen Ideologie der USA (Libeskind) gemacht werden und damit Kultur
architektonisch konkretisiert wird. Das soll nun keinesfalls heißen, dass die
hier symbolisierten kulturellen Gegenstände kritiklos hingenommen und die Art
und Form ihrer Symbolisierung unbefragt bewundert werden müssten. Ganz im
Gegenteil: erst durch die Konkretisierung derartig anspruchsvoller
architektonischer symbolischer Formen kann der kritische oder affirmative
Diskurs zustande kommen, von dem Kultur erst lebt und sich weiterentwickelt.
Gleichwohl fällt ein Schatten auf dieses Bild einer vitalen architektonischen
Hochkultur. Dass im Laufe der Zeit (manchmal auch sehr schnell) ein Symbolwandel
stattfindet, der Altes entwertet und Neues hervorbringt, der aber auch zu
Symbolverfall und -vernichtung führen kann, ist hinlänglich beschrieben worden
und immer wieder aktuell (vgl. die Kontroverse um den geplanten Abriss des
„Palastes der Republik“ in Berlin). Mit der Beschleunigung des
gesellschaftlichen Wandels beschleunigt sich auch der kulturelle Wandel und sein
Ausdruck in symbolischen Formen; Internationalisierung und Globalisierung
erweitern den Horizont enorm und führen gleichzeitig zu Verunsicherungen der
eigenen kulturellen Identität. So kommt es zu den bekannten antagonistischen
Positionen, wobei die Einen möglichst viel bewahren und eigentlich zurück zu
homogenen, übersichtlichen, regionalen Kulturen wollen, während andererseits die
Avantgarden sich global orientieren und mit den immer gleichen symbolischen
Formen einer „neuen“ Architektur international kommunizieren. Man kann von
einer allgemeinen „Krise der Repräsentation“ sprechen, die alle Ebenen der
Kultur betrifft und auch längst die Architektur erreicht hat (vgl. Dreyer
2003a). In den Konkretisierungen gegenwärtiger anspruchsvoller Architektur
äußert sich diese Krise u. a. folgendermaßen:
1.
Die symbolischen
Formen der architektonischen Avantgarde sind hermetisch und spekulativ; sie
verzichten auf Traditionen und Ortsbezug, der Anschluss an historische Kontexte
wird vermieden oder allenfalls auf hochartifizielle Weise konstruiert (z. B.
Libeskind).
2.
Die
symbolisierten kulturellen Gegenstände bleiben undeutlich und nebulös, sie
korrespondieren mit dem Zeitgeist auf eklektische Weise. Hier gilt, was Dieter
Claessens über den „Abbau der alten symbolischen Wirklichkeit“ am Ende des 19.
Jahrhunderts sagt: „Da der individualistisch arbeitende Architekt, ohne es recht
zu wissen, in die Fußstapfen des Theologen getreten ist – wie der Philosoph und
der Arzt, und als Rechtsphilosoph der Jurist – verbinden sich auch bei ihm
Allmacht-Vorstellungen mit höchst privaten Philosophien“ (Claessens 1984, 129;
z. B. in den neuesten Veröffentlichungen von Koolhaas).
3.
Die
Öffentlichkeit, an die die symbolischen Formen der High-End-Architektur
gerichtet sind und die sie tragen sollte, wird einerseits immer größer, vor
allem durch die zunehmende Publizität in den Massenmedien, und andererseits
immer kleiner, weil es in dieser Öffentlichkeit keine Gemeinsamkeit mehr gibt,
sondern heterogene Individualitäten, Szenen und Netzwerke, die oft nichts
miteinander zu tun haben, aber innerhalb ihrer Strukturen hoch differenziert und
spezialisiert sind (vgl. Archplus166/2003 und 167/ 2003).
4.
Das Verständnis
und die Interpretation der hochkulturellen Architektursymbole kann zunehmend nur
noch von Insidern, Experten und Spezialinstitutionen wie Hochschulen und
Forschungsinstitute geleistet werden. Es müssen immer höhere Anforderungen an
Wissen, Bildung und Erfahrung gestellt werden, um sich am Diskurs durch und über
kulturelle Symbolisierungen beteiligen zu können: darin ähnelt die Lage der
Avantgarde-Architektur der der neuen Musik, die ins gesellschaftlich und
kulturell Elitäre abgewandert ist.
Die hier (nur ausschnitthaft) genannten Krisensymptome sind gewiss ernst zu
nehmen, könnten aber auch geradezu positiv als signifikanter Ausdruck von
architektonischen symbolischen Formen über den gegenwärtigen Zustand einer
speziellen westlichen Hochkultur angesehen werden.
4. Das Unbehagen in Kultur und Kulturindustrie
Dieser dubiose
Zustand unserer gegenwärtigen architektonischen Hochkultur könnte zu tun haben
mit den Widersprüchen, die unserer Kultur zugrunde liegen und die Sigmund Freud
zu seinem „Unbehagen in der Kultur“ (1930) geführt haben. Alle Versuche, durch
Vermehrung von Schönheit, Ordnung, Logik und Reinheit in der Umweltgestaltung
Kultur zu befördern, verstärken nach Freud zugleich deren repressive und
aggressive Tendenzen, die sich nicht nur in manifester Gewalt, sondern auch in
der explosiven Gestik avancierter architektonischer Formen äußern und dabei nur
scheinbar ästhetisch sublimiert werden können: der Zwang zur Unterwerfung unter
kulturelle Normen wird von Architekten symbolisch eindrucksvoll konkretisiert
und vom Betrachter oder Nutzer nachhaltig erfahren. Andererseits drückt sich in
der hermetischen und individualistischen Symbolisierung ein Freiheitsdrang aus,
der sich gegen Normen und Herrschaft wendet und damit verborgene Wünsche und
Motive anspricht und Kultur überhaupt zuträglich macht. Mit Blick auf den
„chaotischen“ Zustand der architektonischen Alltagskultur könnte man sagen, dass
sich in deren widersprüchlicher Vielfalt und Komplexität (vgl. Venturi 1966) ein
ebensolcher anarchistischer Zug ausdrückt, der die symbolische Zwanghaftigkeit
der architektonischen Hochkultur konterkariert und eine primäre vitale Energie
verkörpert, die zwar nicht kulturfördernd, aber lebenserhaltend sein kann.
Helfern mit ihren gut gemeinten Maßnahmen, die diesen Widerspruch in unserer
Kultur überbrücken oder gar auflösen wollen, sei der Rat Freuds ans Herz gelegt:
„Vielleicht machen wir uns ... mit der Idee vertraut, dass es Schwierigkeiten
gibt, die dem Wesen der Kultur anhaften und die keinem Reformversuch weichen
werden“ (Freud 1930/1994, 80).
Das „Unbehagen in der
Kultur“ wird allerdings noch vergrößert, wenn man an die Rolle denkt, die die
Kulturindustrie bei der Etablierung symbolischer Formen in der Gesellschaft
spielt, und die auch die Architektur betrifft. Durch massenhafte Publikation
beispielhafter Architektur in Zeitungen, Zeitschriften und TV-Magazinen wird
erheblich dazu beigetragen, Öffentlichkeit und Gemeinschaft für die Akzeptanz
symbolischer Formen von Architektur herzustellen und zu vertiefen. Das gilt
sowohl für die architektonische Hoch- wie für die Alltagskultur: Beide Sphären
verfügen über ihre eigenen Medien, die sich nur gelegentlich überlappen und sich
an unterschiedliche Adressaten wenden. Was eigentlich zu begrüßen wäre – die
Herstellung von Öffentlichkeit und Gemeinschaft durch Information und
Kommunikation - verfällt nur zu leicht den Aporien dieser von Adorno und
Horkheimer gebrandmarkten Industrie:
„Kultur ist eine
paradoxe Ware. Sie steht so völlig unterm Tauschgesetz, dass sie nicht mehr
getauscht wird; sie geht so blind in Gebrauch auf, dass man sie nicht mehr
gebrauchen kann. Daher verschmilzt sie mit der Reklame“ (Horkheimer/Adorno
1947/86, 170f), die letztlich nichts anderes bedeutet als „reine Darstellung
gesellschaftlicher Macht“ (ebenda, 172). Was es damit auf sich hat, formuliert
Adorno an anderer Stelle: „Der kategorische Imperativ der Kulturindustrie hat,
zum Unterschied vom Kantischen, mit der Freiheit nichts mehr gemein. Er lautet:
du sollst dich fügen, ohne Angabe worein; fügen in das, was ohnehin ist, und in
das, was, als Reflex auf dessen Macht und Allgegenwart, alle ohnehin denken.
Anpassung tritt kraft der Ideologie der Kulturindustrie anstelle von
Bewusstsein“ (Adorno 1967, 67).
Damit wird Freuds
Befund über die Kultur verstärkt: durch die allgegenwärtige Kulturindustrie
(hier in Form der Massenmedien) wird, sowohl auf der Ebene der Hochkultur wie
der Alltagskultur, ein Zwang ausgeübt, der zur Anpassung an das Bestehende,
Etablierte und ohnehin Dominante führen soll und eine aktive Kulturproduktion
und -politik eher behindert als unterstützt.
5. Kulturproduktion und
Kulturpolitik als Aufgabe
Mit diesen Feststellungen können wir noch einmal auf die eingangs gestellte
Frage zurückkommen, zu welchem Umgang (praktisch, theoretisch, politisch) uns
die augenblickliche Baukultur in ihrer widersprüchlichen Vielfalt auffordern
könnte. Es kann nicht verwundern, dass auch die Antworten widersprüchlich
ausfallen.
1.
Die existierende
internationale architektonische Hochkultur wird auch weiterhin opulente
symbolische Formen produzieren und sich dabei auf ihren besonderen kulturellen Auftrag berufen: das
alltägliche Dasein bedeutungsvoll zu überhöhen. Dabei
gilt es, dem Rat von Norberg-Schulz zu folgen: „Die Baukunst muss wieder der
erwünschten sinnfälligen Bedeutung dienen. Diese Bedeutungen aber wirken wieder
auf die Architektur zurück. Indem die Architektur neue Bedeutungen
konkretisiert, trägt sie zur kulturellen Entwicklung bei“ (Norberg-Schulz
1963/68, 128).
2.
Wenn man mit
Freud (und Horkheimer/Adorno u. a.) die Auffassung teilt, dass aller Kultur (und
je höher sie steht, desto mehr) ein repressiver und zwanghafter Zug innewohnt,
dann würde man allen Initiativen zur Förderung von Kultur, sie sei Baukultur,
Wohnkultur, Lebenskultur o. ä., gegenüber kritisch bleiben und immer darauf
beharren, dass es Bereiche gibt, die sich der kulturellen Formung und Normierung
widersetzen und ihr Recht auf Eigenleben, auf Experiment, auf Abweichung und
Andersartigkeit reklamieren. Alfred Lorenzer und Bernhard Görlich haben die
politischen Konsequenzen dieser Haltung hervorgehoben: „Es geht ... um die
Erkundung des kulturellen Spielraums, der Menschen dennoch in die Lage versetzt,
trotz aller konkreten Verletzungen, die sie durchleiden, den Drang zu
entwickeln, sich zu verwirklichen in Auseinandersetzung mit der Welt, den
anderen, in der leiblichen Entfaltung wie in der aktiven Bereitschaft zu
solidarischem Handeln und zu sozialem Kampf“ (Lorenzer/Görlich 1994, 80). Dass
diese Auseinadersetzung auch die Baukultur betrifft, ist selbstverständlich, und
dass sie auch das Menschenrecht auf die „Erfüllung falscher Bedürfnisse“ (Adorno
1967, 121) einschließen muss, ist manchmal schwer zu ertragen, aber unaufgebbar.
Die Mischung und Vielfalt der Kulturen ist eine Chance, das Leben reicher,
sinnvoller und lustvoller zu machen. Mit Freud wäre noch einmal daran zu
erinnern, „dass es Schwierigkeiten gibt, die dem Wesen der Kultur anhaften und
die keinem Reformversuch weichen werden“ (vgl. oben).
3.
Gute
Kulturpolitik müsste alle Bereiche, die Hochkultur, die Alltagskultur und die
Alternativkultur unterstützen und fördern und dabei eine vitale Balance herzustellen versuchen. Dabei
können die Schwerpunkte durchaus mal mehr auf der einen, mal mehr auf der
anderen Seite liegen: ohne diesen Wechsel und Austausch würde Kultur erstarren
und zu einem leeren Ritual verkommen.
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