8. Jg., Heft 2 (März  2004)    

 

___Jürgen Hasse
Frankfurt am Main
  >Landschaftskultur<
Integrales Moment von Bau-, Stadt- und Lebenskultur

 

   

Landschaft gilt spätestens seit Georg Simmel als Konstruktion stimmungs­schwange­rer Seelen. Sie gehört damit in den Bereich von Kultur und Kunst, und in diesem Rahmen handelt Simmel sie auch ab. Landschaft ist – so gedacht – ein ästhetisches Gebilde purer Innerlichkeit, Produkt eines schauenden und eines fühlenden Aktes, dessen beide Hälften nur in der nachträglichen Reflexion zerspalten werden können.[1] Das statische Rückrat dieses Verständnisses hat konstruktivistischen Charakter. Landschaft ist nämlich nach Simmel ein geistiges Gebilde, das nur "durch die Vereinheitlichungskraft der Seele" lebt.[2] Bezeichnend an diesem Denken ist die Radikalität, mit der die Gefühle zu einer Angelegenheit diffus-innerlicher Geistigkeit gemacht werden und das die Gefühle ansprechende Erscheinen von Dingen und Sachverhalten negiert wird. Und schließlich werden die in kollektivem Erleben objektivierbaren Atmosphären auf die Individualität der Stimmung reduziert. Simmels bis heute in sozialwissenschaftlicher Hinsicht aktuelles Landschafts-Denken charakterisiert einen szientistisch–re­duktionistischen Umgang mit Landschaft wie gefühlsmäßig erlebten Umgebungseindrücken insgesamt. Mit der Verpflanzung des Erlebens in eine konstruktivistisch-projektionistisch, ominös seelenhaft gedachte Innenwelt weiht sich Wissenschaft selbst als weltbeherrschende Metainstanz a priori gelingender Erkenntnis: alles kommt aus dem Kopf, und was nicht da zu sein scheint, keimt mindestens dort. So sichert der Konstruktivismus den sozialwissenschaftlichen Erkenntnisprozess gegen seine Erschütterung durch die Virulenz der Ereignisse des gelebten Lebens. Die Menschen werden als restlos verschaltete und daher beherrschbare Individuen gedacht.

Nicht genug damit! Dieser Verfügungsobsession wird auch das Denken der Dinge einverleibt. Sie h
aben nichts Flüchtiges und nichts Diffuses, von dem mannigfaltige Eindrücke ausgehen könnten. Mit anderen Worten: von den Dingen wird ihr situativ wechselhaftes Erscheinen abgezogen. Zwar zählen Materialität und messbare Eigenschaften – das, was sie planbar, berechenbar und verfügbar macht. Aber dem Leben – die Lehre der Psychoanalyse verlachend – wird jedes Rätsel genommen und die Subjekte werden auf ein rationalistisch vermessenes Reißbrett des Nur-so-Möglichen gespannt.[3]



1. Landschaften – atmosphärisch erlebte Umgebungen

Ich werde im Folgenden ein Landschafts-Denken skizzieren, das von der Seite der Phänomenologie solchem szientistischen Beherrschungswahn Einhalt gebietet. Landschaft werde ich dabei als atmosphärisch erlebte Umgebung definieren, deren mannigfaltige Eindrücke von Situation zu Situation wechseln. Ihre Wirklichkeit soll als eine phänomenale Wirklichkeit des Erscheinens verstanden werden, die im Spiegel gesellschaftlicher Gravuren erlebt wird. Wenn die Konzepte, mit deren Hilfe wir die Welt verstehen, auch aus einem Prozess der Kommunikation mit dieser Welt stammen, so geht doch nicht alles in gesellschaftlich Gemachtem auf, was uns in dieser Welt begegnet. Das Licht der Sonne ist nicht von Menschen hergestellt, und auch die schattige Kühle eines Tales oder die schneidende Kälte eines winterlichen Windes h
aben ihren eigentlichen Grund nicht in irgendeinem menschlichen Entwerfen. Neben dem konstruktivistischen Charakter von Welterkenntnis werde ich deshalb auch den Dingen in ihrem Sein gerecht, den Dingen, die Kraft ihrer Existenz da sind und in ihrem Erscheinen mehr in der Dynamik der Elemente der Natur unverfügbar sind, als dass sie am Faden der Ariádne hingen. Landschaft ist eine gemeinsame Wirklichkeit. Sie ist eine Gleichzeitigkeit, in der das situative Erscheinen und das menschliche Begegnen zusammenkommen.

Wo der zivilisierte Mensch hinzutritt, ist er als Kulturwesen tätig. Damit soll zunächst nicht mehr gesagt sein, als dass der Mensch wissentlich gestaltend und zur Selbstreflexion fähig auftritt. Mag er mit dem Pflug sein Naturverhältnis materiell gestalten oder mit gedanklichen Konzepten sein Welt- und Selbstverhältnis „nur“ be-denken. Mit dem Begriff der >Landschaftskultur< möchte ich auf die Kultivierung eines dreifachen Verhältnisses hinaus: erstens auf die in größeren Teilen reflektierten wissenschaftlichen beziehungsweise verwissenschaftlichten Verhältnisse zu den Umgebungen unseres Lebens, zweitens auf die überwiegend nicht reflektierten gefühlsmäßigen Verhältnisse zu den Umgebungen unseres Lebens sowie drittens auf die zwischen beiden >Landschaften< bestehenden Spannungsverhältnisse. >Landschaftskultur< werde ich so als ein ethisches Projekt des Redigierens umgebungsbezogener Selbst- und Weltverhältnisse verstehen. Schon bestehende Selbst- und Weltverhältnisse sind damit immer schon vorausgesetzt. In der urbanen Gesellschaft sind das insbesondere gebaute Verhältnisse. Städte sind solche gebauten Verhältnisse, hergestellt durch Bauwerke mit utilitären Funktionen – Wohnhäusern, Straßen, Kraftwerken, Kläranlagen, Schienennetzen –
aber auch hergestellt durch landschaftliche Gegebenheiten mit ästhetischen Funktionen – Wälder, Strände, Gebirgsrücken …

Zur wissenschaftlich-funktionalen Gestaltung von Umgebungen des Menschen[4] kommt also eine ethische Aufg
abe hinzu, indem Menschen bestimmte Funktionen zugemutet werden. Martin Heidegger sah diese ethische Aufgabe als eine der  Schonung.[5] >Schonung< verstand er in einem existentialistischen Sinn. Weit vor ökologistisch reduziertem naturwissenschaftlichem Denken kommt jedem Existierenden (Ding wie Lebewesen) Schonung zu. "Was in die Hut genommen wird, muss geborgen werden", sagt Heidegger.[6] Damit ist die ethische Aufgabe als kulturelle Aufgabe angesprochen: Schonung ist Hut durch Einfriedung. Solche Kultur der Schonung kann nur auf dem Boden ganzheitlichen Denkens gedeihen. Der aktuelle Mangel hieran mag ein wichtiger Grund für das strukturelle Scheitern zeitgemäßer Ökologie und Ökopolitik sein, die sich als maschinistische „Naturtechnologie“ immer mehr von erlebbarer Natur distanziert. Eine ganzheitlich praktizierte Kultur der Schonung brächte dagegen nicht nur die systemtheoretisch analysierbaren Funktionskreisläufe von Kultur, Politik, Technologie und Ökonomie zusammen. Ganzheitlichkeit schließt mehr ein. Sie verlangt eine transversale Praxis[7], eine Überlagerung und produktive Durchdringung von Dimensionen, die sich in ihrer Fundamentalität und Elementarität letzter menschlicher Verfügung entziehen. Das in seiner Wasserqualität kontrollierte Meer und das in seiner Endlosigkeit als archaisch-numinoser Raum erlebte Meer gehören hier zusammen. Beide Meere, das Meer der toxikologischen Realitäten und das Meer der sprachlos machenden Wirklichkeit, müssen sich im Denken des Einen Meeres berühren können und dürfen. Kultur der Schonung[8] kann als nicht-technokratische nur unter dem Zeichen einer dem Nicht-Erklärbaren geschuldeten Demut gelingen. >Landschaftskultur< kann solche Demut nur verbürgen, wenn sie auch auf dem Boden einer transversalen Sensibilität steht, die das in pragmatischer Absicht Gebaute wie insgesamt das Gemachte, im Spiegel der Gefühle bewertet. So gerinnen in der Landschaft zwei Seiten ein und desselben Umgebungsraumes: Die kartographierbare Realität von Dingen und die von ihnen intonierte Erlebniswirklichkeit. Wo die verortete Ordnung der Dinge zum >gelebten Raum<[9] und zur Zumutung von räumlichen Funktionen wird, entsteht Landschaft.



2. Landschaftskultur – eine Aufg
abe des Wohnens

>Landschaftskultur<, die auf Schonung hinaus will, setzt eine sie ermöglichende Kultur des Lebens voraus. Ihren tiefsten und für das gelebte Leben der Individuen verbindlichsten Grund findet sie im Wohnen, in einer Wohnkultur, die eine Bau- und Stadtkultur schon deshalb umschließt, weil jedes Bauen wie jede daraus entstehende Stadt letztlich dem Wohnen dient. Im Wohnen finden die Bezüge des Menschen zu Orten eine gelebte räumliche Ordnung. Dies ist kein geodätischer, kartographischer oder gedachter Raum; es ist ein befindlicher Raum. In diesem Sinne sagt Heidegger: "Die Welt ist nicht im Raum vorhanden; dieser lässt sich nur innerhalb einer Welt entdecken."[10] Solche Welt ist biographisch erschlossener Raum, gefühlter Raum existenzieller Lebensbezüge. Wohnen konstituiert deshalb Landschaft par excellence. Im atmosphärischen Raum des Wohnens gären die Herde, aus denen eine Kultur der Schonung ihre Verpflichtungen erfährt.[11]

Zur Schonung gehört nicht nur ein materielles Ver-schonen vor Verbrauch und Zerstörung. Schonung setzt bereits im Denken an, das das Spüren be-denkt. Das "zwingende Wissen der Wissenschaft" vernichtet die Dinge schon,[12] indem sie sie – bevor sie in einer Welt des Erlebens zu lebendiger Wirklichkeit werden können – zu abständigen Gegen-ständen macht. Im Fühlen, Denken und Tun stellt der Mensch sich von Orten aus in einen Raum. Durch die bedeutende Verknüpfung von Orten konstituiert er Raum, durch die Bewegung des Ortes, den er in seiner Leiblichkeit stets mitnimmt.[13] An diesem "absoluten Ort" der eigenen Leiblichkeit werden in einer "Vibration der Sinne" begriffliches Denken, einzelsinnliches Wahrnehmen und alles Tun gleichsam unterlaufen.[14] Dieser Raum ist weniger >Umwelt< als >Herumwirklichkeit< (Dürckheim). Im Wohnen findet dieser Raum seine größte Intensität und Dichte. "Das Verhältnis von Mensch und Raum ist nichts anderes als das wesentlich gedachte Wohnen."[15] Heidegger setzt das Wohnen deshalb auch in eine Beziehung zu Heimat und Heimatlosigkeit, dehnt es räumlich über die Wohnung im üblichen Sinne hinaus ins Offene, das da endet, wo die in ihren mannigfaltigen Bedeutungen geknüpften räumlichen Beziehungen des (post-modernen) Menschen aufhören, wo seine Welt aufhört. Der räumliche Maßstab des Wohnens spiegelt so die (subkulturell) variierenden Praxen des Lebens. Erlebnis- und Handlungswelt werden am Faden lokalen bis globalen Wohnens ineinander geknüpft.

Die gefühlsmäßig erlebte Herumwirklichkeit wird außerhalb der Wohnung zur Landschaft im engeren Sinne. Das Wohnen, dessen Grundzug das Schonen ist, schließt eine Landschaftskultur ein, die das Machen und Lassen am Maß einer Verantwortlichkeit gegenüber anderen lotet. Schonung kommt als Nicht-Verfügen neben den anderen auch dem Anderen möglicher Verhältnisse zu. Ein Haus, einen Fluss, einen Strauch oder einen durchziehenden Nebel kann man (be-)denken und begrifflich de-fin-ieren. Wenn auch im Definieren noch nichts Verfügendes und schon gar nichts Ausschließendes zu liegen scheint, so erdrückt
aber, wer nur definiert, schon der Möglichkeit nach lebbare pathische Beziehungen unter der Last des Gnostischen. Schonung verdient deshalb – vor dem profanen Schutz der Objekte – das pathische Mitsein in der Welt der Dinge und Erscheinungen. Das bedeutet eine Relativierung theoretischer Welterklärungsansprüche zugunsten offener Prozesse der Erfahrung. Ganzheitlichkeit bedeutet aber noch mehr: Einheit des Gnostischen und des Pathischen, woraus ein transversales >Spiel< der Rationalitäten erwüchse – im offenen Geschehen eines mimetischen Prozesses, in dessen Metamorphosen die Erfahrung im Metier des Leiblichen ebenso stünde wie im Metier des (theoretischen) Denkens. In der Mimesis laufen das Denken und Fühlen als gelebte und sich verflechtende Verhältnisse in einer Ökologie des Lebens zusammen.[16] Was bedeutet das für ein zeitgemäßes Verständnis von Landschaftskultur?



3. Landschaftskultur – eine Aufg
abe der Schonung

Phänomenologen dürften darin einig sein, dass die Schonung von Landschaft zweier komplementärer Kompetenzen bedarf: rationaler Erkenntnis wie schwingungsfähiger Sensibilität der Wahrnehmung. Erwin Straus gebraucht für diese beiden Vermögen die Begriffe des >Gnostischen< und des >Pathischen<. Damit richtete er seine Aufmerksamkeit neben dem >Was< auch auf das die Dinge miterlebende >Wie<.[17] Schonung von Landschaft bedarf beider Vermögen, von denen keines vor oder nach dem anderen kommt. Das eine ist in dem je anderen in Einfalt mitzudenken, wie die vier Dimensionen des Gevierts erst in der Einheit aufgehen. Die Sprache steht damit in einer Spannung zum Tun, und das Tun in einer Spannung von Herstellen und Lassen. Die begrifflich redende Sprache ist das Andere jenes leiblich fundierten Umgebungserlebens, das das System der Begriffe unterläuft und umströmt.

Zugleich bewegt sich das Erleben
aber immer auch auf dem Treibsand der Denotationen. Wenn Heidegger sagt, "die Sprache ist das Haus des Seins", so steckt darin die ganze Ambivalenz der Situation. "Die Sprache auf der Rennbahn in die Information, die Sprache unterwegs in die Sage des Ereignisses."[18] Was Heidegger für die Technik feststellt, ist im Bereich der Sprache nicht anders: "Die Gefahr ist das Rettende, insofern sie aus ihrem verborgen kehrigen Wesen das Rettende bringt."[19] Schonung von Landschaft wird zur Landschaftskultur, wo sie sich ihrer Ver- und Einbindungen, ihrer Möglichkeiten und Verhexungen bewusst ist. Als solche bedarf sie einer doppelten Sprache: einer pathischen Sprache, die das Umgebungserleben dem Nach-Denken zuarbeitet, und einer gnostischen Sprache, die – diesem Nach-Denken gerechtwerdend – spricht. Dies zunächst in einer Sprache, die anstatt sich in Worten zu erschöpfen, sich ins Spüren einlässt.

Eine Praxis der Schonung bedürfte auch einer Sprache der Schonung, die sich an Stelle der Aussage „fertiger“ Definitionen in nicht feststellender Offenheit und dennoch etwas aussagend, zu chaotisch-mannigfaltigen Ganzheiten in Beziehung setzen würde. Wo Schonung von Landschaft als gesellschaftliche Aufg
abe gefüllt werden soll, muss auch eine Sprache sein. Während in der Gegenwart eine wortreiche und differenzierte Machbarkeitssprache expandiert, verkümmert die pathische Seite erlebnisbezogenen, existenziellen Sprechen-Könnens. Landschaftskultur muss sich als sprechende und handelnde Praxis im Spielraum zwischen strukturellem Defizit und potentieller Möglichkeit entfalten.

Im Sinne kritischer Bestandsaufnahme ist deshalb zunächst zu fragen, welche Sprache unserer Aufmerksamkeit was entzieht? Sodann schließt sich die Frage an, wie dieses Entzogene mit sprachlichen Mitteln zur Aussage gebracht werden könnte?



4. Wie und als was erleben wir Landschaft?

Landschaften werden gefühlsräumlich als Umgebungen erlebt. Wenn das für das Landschaftserleben charakteristische rahmende Sehen auch schon in der Villenarchitektur der Antike die Baukultur bestimmte, so hat es sich doch massenhaft erst im 18./19. Jahrhundert mit der Architektur des Englischen Gartens durchgesetzt. Die für die räumliche Organisation der Gefühle konstitutive (rahmende) Umfriedung, wie man sie aus der Begrenzung der Wohnung und der Umzäunung oder Umpflanzung des Gartens kennt, löst sich im Landschaftserleben von ihrer Materialität. Der Blick ist es, der nun einzäunt, umfriedet, einhegt und begrenzt. Die Landschaft wird zum realen Bild, dessen Rahmen in einem vorstellenden Herstellen vom Blick verspannt wird.

Landschaften sind ästhetische Gebilde. Nicht, weil sie kunsttheoretische Beachtung finden, sondern weil sie unsere sinnliche Wahrnehmung in Aufruhr versetzen und leiblich berühren. Das gilt insbesondere für die von Menschen gemachten Landschaften, weil man sich in ihnen im Spiegel seiner kulturellen Schöpfungen erlebt, die eine Selbstpositionierung verlangen. Diese vollzieht sich weniger als kognitiv reflektierende Bewertung nach rationalen Maßstäben denn als gefühlsmäßige Bewertung eines leiblich treffenden Eindruckserlebens. Innerhalb aller möglichen ästhetischen Bewertungen findet das Schönheitsempfinden besondere Beachtung.

Das Schöne ist es auch, das den Schutz von Landschaft in besonderem Maße rechtfertigen soll. Neben Eigenart und Vielfalt ist landschaftliche Schönheit nach § 1 des Bundesnaturschutzgesetzes ein besonderes Rechtsgut. Während >Eigenart< und >Vielfalt< auf der Grundlage fachgutachterlicher Bewertung und Experten-Begründung bedarf, gründet >Schönheit< eher im Empfinden >der Leute<. Dies kommt auch in einem Gerichtsurteil aus dem Jahre 1956 zum Ausdruck, das bis heute immer wieder von den Gerichten zitiert wird. Danach ist „der Stand­punkt des gebildeten, für den Ge­danken des Natur- und Landschaftsschutzes auf­ge­schlossenen Betrach­ters“[20] für die Beurteilung maßgebend, ob eine Landschaft als „schön“ gelten könne.

Wenn Schonung verdient, was an einer Gegend schön ist, kann mit Schönheit nichts im engeren Sinne „objektiv“ an Gegenständen Hängendes gemeint sein, das sich an objektivierbaren Merkmalen definieren ließe. Eine >schöne< Landschaft hängt vielmehr am positiven Erleben einer Gegend, die über Eigenschaften verfügen muss, welche einen Grund für solch positives Erleben abgeben. Diese Eigenschaften gehen aber nicht in der Materialität der Artefakte einer Gegend auf. Für diesen Fall bräuchte man den Begriff der Schönheit gar nicht. Man  könnte mit einer Quersumme aus Eigenart und Vielfalt auskommen, wie das pragmatisch für die Arbeit der Naturschutzbehörden im Niedersächsischen Landesamt für Ökologie auch schon einmal vorgeschlagen worden ist.[21] Schönheit ist
aber mehr als diese Quersumme, weshalb der Gesetzgeber sie als dritte Kategorie der Landschaftsbewertung ja auch genannt hat.

Zur >schönen< Eigenschaft einer Gegend gehört deren atmosphärisch angenehmes Erleben. Atmosphären übersteigen schon wegen ihrer situativen Wechselhaftigkeit die nur objektiv benennbaren Merkmale der physischen Stofflichkeit einer Gegend. Für das atmosphärische Erleben sind Licht und Schatten wichtig, ebenso Geräusche, Gerüche, Temperaturen, Blickachsen, die Bewegungsdynamik von Wolken, sich im Wind neigende Gräser und vieles andere. Atmosphärisch wird in diesem Sinne ebenso die „natürliche“ Kulturlandschaft einer „Waldgegend mit romantischem See“ wie eine bäuerliche Kulturlandschaft erlebt, die noch als Idylle süffiger Heimatlichkeit mit Wurzeln im 19. Jahrhundert gelesen werden kann. Atmosphärisch werden in demselben Sinne
aber auch industrie-agrarische Produktionsflächen erlebt, auf denen gentechnisch generierte Sorten gedeihen oder ein städtebaulich völlig missratenes und ein wegen seiner Geruchsemissionen gemiedenes Gewerbegebiet an der Grenze zu einem heruntergekommenen Wohnviertel. Aber >schön< wären diese Eindrücke im Empfinden der Leute nicht. Mit der Bedeutung der Atmosphären im Umgebungserleben werden die Grenzen des Schönen als Grund der Schonung deutlich. Auch nicht-schöne Gegenden könnten ja Schonung verdienen, weil sie ein Sein unter bestimmten Bedingungen nicht nur thematisch >ansprechen<, sondern es auch erlebbar machen und dem kritischen Nach-Denken öffnen.

Das Schöne steht in einer Spannung zum Hässlichen. Abgesehen vom Denkmalschutzrecht verdient das Hässliche aber weder Schutz noch Schonung. Die Differenz zwischen dem Natur- und Denkmalschutzrecht dokumentiert deshalb auch eine Paradoxie. Wo das beispielhaft misslungene Bauensemble in seiner Hässlichkeit Schonung verdienen kann, kommt die Schonung einer Landschaft nur in Betracht, wenn sie >schön< ist. Das riecht nach Romantisierung, nach Anästhesie gegen die immer wieder und in jeder Zeit begangene Verwundung >schönen< Empfindens – in der Stadt wie auf dem Lande.

Ihrer Struktur nach sind architektonische Ensembles und Kulturlandschaften eher maßstabsspezifisch als strukturell verschieden. Gebaute Ensembles sind die Objekte, die in einer Kulturlandschaft stehen. Als Gegenden sind beide in Ganzheiten situativen Erscheinens gleichsam eingewickelt. Architektonische Gestalten dürfen die Fratze des Hässlichen als inaugurierte Denkmäler zeigen, während Landschaften schön sein müssen, um vom Schutz des Gesetzes eingefriedet werden zu können. Hier dokumentiert sich ein asymmetrisches ästhetisches Denken, das in einem spezifischen Gegenstandsbezug des Ästhetischen begründet ist. Als schön oder hässlich gilt >etwas< jeweils aufgrund anhaftender Merkmale. Das schutz- oder schonungsorientierte Denken gründet also allein in einer Perspektive des Gnostischen. Es geht von Kategorien aus, die aus einer imaginären menschlichen „Kopfwelt“ kommen.

Während die gegenstandsbezogene Komplexität von Landschaften die Zuerkennung von Schönheit nur über den „Umweg“ des subjektiven Erlebens gestattet, sind bauliche Ensembles in ihrem Wert eher aufgrund von Eigenart und gerade nicht von Schönheit schonungsbedürftig. Die Baukultur bedient sich damit einer anderen erkenntnistheoretischen Methode als die Landschaftskultur des Naturschutzes. Während im Naturschutz Vielfalt, Eigenart und Schönheit für Schonung maßgebend sind, fehlt im Denkmalschutz das ästhetisch-affektive Moment des Schönen. Da aber auch bauliche Ensembles ähnlich wie Landschaften gefühlsmäßig und atmosphärisch erlebt werden, fragt sich auch von der Seite des Denkmalschutzes, inwieweit die quasi-objektive Bewertung nicht reduktionistisch ist.

Eine gänzlich andere Sicht auf das im Wohnen sich vollziehende Schonen ergibt sich, wenn man das ästhetische Umgebungsverhältnis nicht von der Seite der Objekteigenschaften (einer Kulturlandschaft wie eines architektonischen Ensembles), sondern von der Seite des leiblichen Erlebens betrachtet. Hermann Schmitz geht diesen Weg und beschreibt Schönheit als Grundtyp leiblicher Regung, "wobei Weite von der Engung freigelassen wird und der Enge des Leibes so entkommt, dass der Mensch sich "frei und leicht" fühlt."[22] Schönheit wurzelt danach weniger in Objekteigenschaften als in der Leiblichkeit, in der man die erscheinenden Objekte erlebt. Entsprechendes ergibt sich für das Hässliche, das "engend zurückschaudern lässt und insofern abschreckt, als es so mit einer gewissen Krassheit privative Engung des Leibes induziert."[23] Die mit dem Schönen geweckte Weite wie die mit dem Hässlichen verbundene Enge vermittelt sich durch Gestaltverläufe und synästhetische Charaktere, von denen die Bewegungssuggestion am wichtigsten ist. Schmitz versteht darunter eine Bewegung, Form oder Gestalt, die sich über die Wahrnehmung in ein komplementäres Empfinden überträgt – wie der seichte Schwung einer sich dem Blick öffnenden Talsenke in ein Harmonieempfinden übergeht.[24] [25]

Was für die Schonung von Bauwerken gilt, ist im Schutz von Landschaften grundlegend anders. Der Schutz von Landschaften wird in seiner ästhetischen Fixierung aufs Schöne der ganzen Breite des ästhetischen Spektrums landschaftlichen Erlebens nicht gerecht. Am ästhetisch Herausragenden gilt nur das Schöne als relevant. Deshalb verbindet sich mit hässlichen Landschaften auch wenig Aussicht auf Schonung. Nun erscheinen (Stadt-) Landschaften aber nicht nur als schön, wenn sie anziehend wirken und als hässlich, wenn sie Ablehnung hervorrufen. Landschaften wie Bauwerke stehen auch unter dem Eindruck des Erh
abenen, das die Merkmale des Schönen und des Hässlichen als unaufhebbare Ambivalenz in einem (singulären) Erleben zusammenschnurren lässt. Das Erhabene ist das zugleich lustvolle und schreckhafte Gefühl, es ist Hingezogensein und Abgestoßensein zugleich. Hermann Schmitz führt so auch das Erhabene auf leibliche Rhythmen zurück. Während er das Schöne am Gefühl der Weitung, die sich über einen eindrucksvollen Sachverhalt synästhetisch vermittelt, festmachte und das Hässliche komplementär dazu an der Engung, so sieht er im Erhabenen eine rhythmische Konkurrenz von Engung und Weitung integriert.[26] [27]

Die Rückführung des Erh
abenen auf ein Fundament des Ästhetischen, in dem eine Beziehung zum Schönen wie zum Hässlichen besteht, hätte ihren Vorteil darin, dass das Erhabene an der Wurzel leiblich nachvollziehbaren Erlebens konkreter Situationen orientiert und in Erweiterung der Polarität von >schön< und >hässlich< in die ästhetische Bewertung von Umgebungen eingeführt würde.



5. Landschaftskultur und die Grenze des Schönen im Ästhetischen

Die Fundierung des Ästhetischen im leiblichen Empfinden, dem, was Erwin Straus das Pathische nannte, zieht die Frage nach sich, weshalb nur die Herstellung und Sicherung des Schönen eine gelingende Landschaftskultur verbürgen soll. Innerhalb der bewertungsspezifisch differenzierten menschlichen Erlebensweisen vermag die Schonung allein schöner Umgebungen bestenfalls eine harmonisierende und idealisierende ästhetische Aufmerksamkeit zu kultivieren. Heidegger meinte mit >Schonung< nicht dies. Das Definieren schutzwürdiger Landschaften wie architektonischer Ensembles geht als Moment praktischer Landschaftskultur an ihrem Ziel vorbei, wenn sie die realitätsbezogene Dimension der Dinge und Sachverhalte ontologisch nicht in die der Wirklichkeit ihres Erscheinens zu überschreiten vermag.

Ästhetische Qualitäten sind Weisen des Erlebens und so verfugen sie atmosphärisch schwingungsvolles Erleben auf der einen Seite und wechselhaftes Erscheinen von Dingen auf der anderen Seite. Die Beispiele zum Erhabenen haben darauf hingewiesen, dass das Ästhetische in seiner spezifischen Spannung des Widersprüchlichen weniger an den Dingen (und schon gar nicht an begrifflich distanzierten Gegenständen) hängt, als vielmehr in spezifischen, situativen Erscheinungsweisen zur Geltung kommt. Bei diesem Erscheinen geht es infolge subjektiv unterschiedlicher (
aber nicht beliebiger) Variation stimmungsmäßigen Empfinden-Könnens nie um einen singulären Eindruck, sondern um Kohorten gleicher oder ähnlicher Eindrücke.

Wenn Schonung vor oder neben dem Schutz materieller Dinge der Wahrung pluraler Wahrnehmungs-, Erlebens- und Denkweisen gilt, dann liegt eine erste Aufg
abe von Schonung als philosophisches Leitmotiv von Landschaftskultur darin, seiende und Dasein spiegelnde Wirklichkeiten in ihrer Mannigfaltigkeit dem Nach-Empfinden und Nach-Denken zu erhalten. Gegen die Obsession des Machens dient die Schonung ästhetisch herausragender Landschaften (schöner, hässlicher, erhabener) jenem Erlebnisbereich, dem Heidegger mit dem Seinlassen und dem Ereignis diesseits verfügenden Machens eine Wirklichkeit reservieren will. Im Spiegel des Schönen erscheint das utopische Bild gesellschaftlicher Realität, im Spiegel des Hässlichen das mahnende Zerrbild verfügenden Misslingens und im Spiegel des Erhabenen das schlechterdings Unverfügbare. Erst in dieser Spannung ermöglichten Erlebens kommt Landschaftskultur (in der Stadt wie auf dem Lande) auf ihren Kern. Ihre vornehmste Aufgabe findet sie, wo sie über ihre Reduktion aufs Schöne hinausschießt und die ganze Bandbreite des Ästhetischen offenkundig werden lässt. Landschaftskultur vermag letztlich auch erst so das Wohnen als Leben im Heideggerschen Geviert von Erde, Himmel, Göttlichen und Sterblichen zu verbürgen, gehört zum Wohnen doch die zumindest mögliche Mannigfaltigkeit der Beziehungen zu einem mehrdimensionalen Raum.



6. Landschaftskultur als Moment des Wohnens in einem mehrdimensionalen Raum

Aus der Perspektive des Wohnens, die ich mit Hermann Schmitz als phänomenologische öffnen werde, will ich die Frage nach Form und Inhalt von Schonung durch Landschaftskultur auf den Punkt zuspitzen, an dem sich Schonung von Kulturlandschaft daran wird messen lassen müssen, wozu sie im konkreten Leben führt – im Rahmen erweiterten Erleben-Könnens und im Rahmen erweiterten Sprechen-Könnens.

Das Wohnen zeichnet sich nach Schmitz durch das räumliche Merkmal der Umfriedung aus. Dies müssen keine festen Wände sein, wie sie üblicherweise den Raum der Wohnung von der Außenwelt trennen. Bei der Umfriedung kommt es weder auf Materialität an. Umfriedung sucht vielmehr ein Inneres herzustellen, "in dem namentlich den Gefühlen trotz ihrer Abgründigkeit und uferlosen Ergossenheit mehr oder weniger eine Heimstatt angewiesen ist, die sich menschlichem Verfügen eher zugänglich macht."[28] Im Wohnen öffnet sich eine Umgebung gefühlsräumlicher Kommunikation, die im Gegensatz zu öffentlich geführtem Leben außerhalb von Räumen des Wohnens nicht hinter
abstrakter Rede verborgen werden muss. Beim Wohnen kommt es weniger auf einen bestimmten oder gar singulären Ort an, sondern auf eine Umgebung, in der man sich atmosphärisch zu Hause fühlt. Das Wohnen kann also – in der mobilen Gesellschaft immer häufiger – ohne Konkurrenz in mehreren Wohnungen gleichzeitig stattfinden.

Wohnen setzt
aber nicht nur eine Wohnung voraus. Insbesondere kommt es auf die Möglichkeit des Spielraumes an, der ein umfriedeter Bezirk für eine Kultur der Gefühle atmosphärisch gewährt.[29] Weil das Wohnen in seiner schonenden Funktion nur in der Umfriedung gelingen kann, ist es gegenüber Durchkreuzungen anfällig. Die Tür stellt eine solche poröse Stelle im Raum des Wohnens dar – eine problematische Öffnung und Schließung. Der Umfriedung eines Raumes zum Zwecke des Wohnens diente in mittelalterlichen Zeiten auch die Stadtmauer. Sie schützte den gemeinsamen Raum vor unerwünschter Durchquerung, natürlich in erster Linie vor ungebetenen Gästen im eigenen Raum der Stadt.[30] So macht auch die Verteidigung (materialisierter wie imaginärer) lebensweltlich >errichteter< Grenzen darauf aufmerksam, dass es sich dabei um einen Schutz des >Wohnens< in einem weiteren Sinne handelt. Unerbittlich werden neben Strandburgen auch eingehegte Vorgärten in Einfamilienhaussiedlungen schon gegen das minimalste Betreten gesichert. Im Wohnen wird stets ein räumliches Verhältnis zwischen einem vertrauten Innen und einem abgründigen Draußen symbolisch und praktisch geregelt.[31]

Im Wohnen, worin mit den Gärten auch die räumlich distanziertere Umgebung –  indem sie eben Landschaft wird – einbezogen werden kann, herrscht ein "intensives und nuacenreiches Klima der Gefühle".[32] Die aus solcher räumlichen Staffelung von Wohnräumen unterschiedlichster atmosphärischer Art resultierende Verschachtelung der Umfriedung[33] regelt auch eine Ordnung der Gefühle unterschiedlicher Intensität der Vertrautheit und Bindung in die Bedeutungsnetze der persönlichen Situation.

Der Aufweis des Wohnens als räumliche Pflege und Kultur von Gefühlen macht auch noch einmal deutlich, was Heideggers Metapher vom Wohnen als Grundzug des Schonens schon andeutet. Gelingendes, beherbergendes und in gewisser Weise das gelebte Leben schützende Wohnen kann nur als Schonung möglich sein, die nicht zuletzt den Dingen zuteil werden muss, damit sie atmosphärisch erscheinen und einen gefühlsräumlichen Rahmen als Spielraum sich gestaltenden Lebens öffnen können, bevor sie zu objektivierten Gegenständen werden. Die nähere bis weitere,
aber auch die fernere Umgebung gehört über ihr atmosphärisches Erleben zu einer Landschaft, die sich im Wohnen ineinander verschachtelt. Schon die Tatsache der Unterschiedlichkeit der (pathisch und distanziell) verschachtelten Wohnlandschaft setzt Differenz im ästhetischen Erleben voraus. Ohne das im Raum des Wohnens vorkommende Hässliche gäbe es nichts Schönes, und ohne die Spannung zwischen dem Hässlichen und dem Schönen nichts Erhabenes.

Die administrativ (mitunter auch politisch) in konkreten Einzelfällen zu entscheidende Schonung von Kulturlandschaft setzt voraus, dass über die Kriterien gesprochen wird, mit deren analytischer Hilfe einer Landschaft die Schutzwürdigkeit zuerkannt wird. Situationsbezogenes Sprechen entscheidet somit über Art und Umfang von Schonung. Der Rechtsrahmen formatiert die Diskurse
aber eher formal als dezidiert materiell. Aber er hält auch ein thematisch offenes Feld für Auslegungen noch frei. Wenn das Denken in ontologischen Ding-Kategorien sowohl für den Diskurs über die Erhaltung von Landschaften (Naturschutzrecht) als auch die Erhaltung von Kulturdenkmalen (Denkmalschutzrecht) aufgrund kulturell tradierter Objektivierungsroutinen auch nahe liegen mag, so impliziert das Naturschutzrecht wie das Denkmalschutzrecht doch auch die zweite Ontologie des Erscheinens der Dinge. Im Naturschutzrecht ist es unter anderem der Begriff des >Landschaftsbildes<, der – wenn auch visualistisch reduziert – aufs Erscheinen abhebt. Im Denkmalschutzrecht ist das >Erscheinungsbild des Denkmals< ausdrücklich angesprochen. [34]



7. Schutz der Dinge im Raum – Schonung der Halbdinge

>Erscheinen< muss vom >Schein< begrifflich unterschieden werden. Seit Platon trennen beide Kategorien Wahrheit und Täuschung. Insbesondere die Verbreitung der neuen Medien legt es
aber nahe, den erkenntnistheoretischen Wert dieser relationalen Begriffe stark in Frage zu stellen, konstituiert doch eine ganze und exponentiell sich ausdehnende Domäne in ihrem Scheincharakter eine ganz eigene mediale Seinswirklichkeit.[35] Der Begriff des Erscheinens umschifft diese relationale Logik. Im Erscheinen drückt sich die phänomenale Wirklichkeit von Dingen aus. Martin Seel spricht vom "phänomenalen Sein von Objekten", das der sinnlichen Wahrnehmung erst dann zugänglich werden kann, wenn sich die Wahrnehmung einer erkennenden und benutzenden Behandlung ihres Gegenüber zugunsten zweckfreien Verweilens öffnet.[36]

Mit Heidegger ließe sich
abermals die Schonung als Bedingung der Erlebbarkeit einer Wirklichkeit ausmachen, die sich erst im nicht-berechnenden Wahrnehmen konstituiert. Berechnend und wollend auf etwas gerichtet, ist die gnostische Wahrnehmung, die sich erst im Pathischen von ihrem instrumentellen Rahmen befreit. Mit dem Erscheinen wird die phänomenale Seite der Dinge in ihrem Wirklich-Werden angesprochen. Es geht damit um etwas der Welt der Dinge Zugehöriges, das erst im Modus des Pathischen erlebbar wird. Dieses >Etwas< setzt sich nicht aus der Eigenschaft von Dingen zusammen. Das Erscheinen hängt an den Dingen, konstituiert aber doch eine eigene Wirklichkeit. Die atmosphärische Zudringlichkeit ästhetisch herausragend erlebter Landschaften verdankt sich solchem Erscheinen.[37] Jedes Erscheinen wird über Atmosphären, Synästhesien oder Bewegungssuggestionen in der Resonanz leiblicher Regungen gespürt.[38] Am Spüren solchen Erscheinens ist ganz ausschlaggebend beteiligt, was sich der klassischen Dingontologie entzieht.

Schmitz hat dafür den Begriff der >Halbdinge< eingeführt. Zu den Halbdingen gehört das Licht, die Wärme, der Wind, die Frische oder die Stille. Halbdinge unterscheiden sich von Dingen dadurch, dass man nicht sagen kann, wo sie sind, wenn sie nicht mehr da sind und dass für sie das Kausalitätsdenken nicht gilt, in dessen Logik die Dinge stehen. Bei den Halbdingen fallen Ursache und Einwirkung zusammen.[39] Es liegt nun auf der Hand, dass sich Landschaften im Erscheinen als affizierende Situationen konstituieren und dieses Erscheinen gleichsam am Faden der Halbdinge hängt. Landschaftliches Erleben durchzieht unmittelbar diese phänomenale Schicht des durch die Halbdinge sich vermittelnden Erlebens. Das Sprechen über (stadt-) landschaftliches Erleben bedarf daher auch keiner Fachsprache im objektivistischen Sinne, sehr wohl aber einer genauen Sprache, die direkten Bezug auf das eigene leibliche Erleben nimmt. Hermann Schmitz hat dieses Sprechen-Können auf dem Niveau seiner Phänomenologie begrifflich systematisiert.[40] Im Gegensatz zur Möglichkeit von Aussagen, die einem eigenen Empfinden Ausdruck verleihen, stehen
abstrahierende Sprachkulturen. Auf der wissenschaftlichen Seite ist das Sprechen über Landschaften durch Fachterminologien auf ein begriffliches Raster festgelegt, dessen Abstraktionsbasis weit oberhalb leiblichen Befindens und landschaftlichen Erlebens ansetzt. Auf der lebensweltlichen Seite „unterbindet“ ein Reflex konventionellen Sprechens den hörbaren und darin tatsächlichen Ausspruch subjektiven Betroffenseins gleichsam von selbst. Öffentliches Sprechen über Gefühle, die landschaftliche Atmosphären sind, ist tabuisiert. Es gilt im wissenschaftlichen Diskurs als unsachlich, irrational und Zeichen zweifelhafter fachlicher Kompetenz. Über dem lebensweltlichen Diskurs schwebt das Verdikt der Verkitschung, das seinerseits für eine abstraktionistische Sprachkultur sorgt.[41] [42]

Sache einer Landschaftskultur im Sinne der Heideggerschen >Schonung< wäre es dagegen, ein situationsbezogenes Sprechen auch im öffentlichen Diskurs zuzulassen und mit der Absicht der thematischen Erweiterung von Sachlichkeit insbesondere im Konfliktdiskurs zu fördern. Erst wenn das unwillkürliche Sprechen-Können und Sprechen-Wollen der Menschen Schonung gegenüber der Abhebung der Abstraktionsbasis öffentlichen Sprechens erführe, könnte auch die Ausgangsbasis für schonungsorientierte Diskurse über die Entwicklung von Kulturlandschaft erweitert werden. Heidegger hatte die weitreichenden Folgen von Sprache und Sprachpraktiken im Allgemeinen erkannt: "Die Sprache gibt allem Überlegen-Wollen erst Weg und Steg."[43] [44]

Landschaftskultur stellt sich nicht zuletzt der Aufgabe, die Technik zu bedenken, kraft derer Landschaft einem permanenten Wandel unterworfen ist. Dieser Aufgabe kann sie nur gerecht werden, wenn sie das Sprechen auf verschiedenen Abstraktionsbasen ermöglicht und moderiert. Die Schonung unwillkürlichen Sprechens ist der Möglichkeit erweiterten Sprechen-Könnens schon von der Pluralität der Sache her geschuldet. Die Praxis der Schonung konkreter Umgebungen kann nur gelingen, wenn sie sich an den verschiedenen Polen des Ästhetischen orientiert – am Schönen, am Hässlichen, am Erhabenen.



8. Der technologische Imperativ als methodischer Reduktionismus

Die interdisziplinär insbesondere in den Geo- und Umweltwissenschaften sowie in der Geographie betriebene Kulturlandschaftsforschung setzt zum großen Teil ganz andere Akzente. Eine immer wichtiger werdende Rolle spielt jener anwendungsbezogene Strang, der die Entwicklung computergestützter Instrumente für eine so genannte "Inventarisation der Kulturlandschaft" auf der Grundlage geographischer Informationssysteme (GIS) anstrebt. Die „Inventarisation der Kulturlandschaft“ ist das Gegenteil dessen, was ich hier als >Landschaftskultur< in Umrissen begründet habe. Inventarisation der Kulturlandschaft bedeutet ja Isolierung von Kulturlandschaftselementen nach einem vordefinierten Objektklassenkatalog. Beziehungen zwischen Objekten werden auf dem Niveau von Sachdaten mit der Absicht der "vollständigen und eindeutigen" Darstellung festgehalten. Diesem Zweck dienen "relationale Sachdaten-Tabellen", die für die Herstellung spezifischer GIS-Kartensysteme genutzt werden können.[45] In einem SFB über "Landnutzungskonzepte für periphere Regionen" an der Universität Gießen werden GIS-gestützte Szenarien von Kulturlandschaftsentwicklungen auf der Grundlage bestimmter Nutzungspräferenzen und -formen erstellt.[46] Genau genommen stehen hier wie dort gar keine Kultur-Landschaften zur Debatte, sondern theoretisch verortete ökologische Funktionen, ökonomische Nutzungen, synthetisierende Objekt- und Systemmerkmale, die einem geodätischen (Sandwich-) Flächenraum zugewiesen werden.

So unentbehrlich und nützlich prognostische Modelle heute für die politische Steuerung gesellschaftlicher und ökonomischer Prozesse auch sein mögen, so bestätigen sie doch Heideggers Bewertung der Eigendynamik des Technischen in der modernen Gesellschaft. Während im Erleben von Kulturlandschaften Eindrücke atmosphärisch wahrgenommen werden und emotional berühren, steht bei der computierenden Inventarisation von Kulturlandschaften das be- und verrechnende Denken von Informationen im Vordergrund. Das Verhältnis des Menschen zum >Ge-stell< der Technik dreht sich herum: Der Mensch wird zum Ge-stell seiner technischen Schöpfungen, die eine "sekundäre Realität" schaffen.[47] Wir umstellen uns mit medial ermöglichten Vorstellungen, stellen uns in einen spezifischen Imaginationsraum, der ein reiner Denk-Raum ist. Wir verstellen uns damit aber auch den Weg des Erlebens, der nicht in erster Linie ein denkender ist. „Kulturlandschaftsinventarisation“ führt in ein zeitgemäßes Dilemma, das Heidegger schon in >Sein und Zeit< beschrieben hat, lässt sich die Arbeit mit GIS doch auch beschreiben als "eine Aufzählung von solchem, was es >in< der Welt gibt: Häuser, Bäume, Menschen, Berge, Gestirne". Die Kritik Heideggers spielt mit einer Differenz: "Wir können das >Aussehen< dieses Seienden
abschildern und die Vorkommnisse an und mit ihm erzählen. (...) Die Beschreibung bleibt am Seienden haften. Sie ist ontisch. Gesucht wird aber doch das Sein, (...) was sich als Sein und Seinsstruktur zeigt."[48]

Weil die Abstraktionsbasis des Landschaftsdenkens in der GIS-Logik ungleich höher liegt als im Erleben zur Erscheinung kommender Dinge und Halbdinge in der Herumwirklichkeit menschlicher Umgebungen, ist die inventarisierte Kulturlandschaft eine ganz andere als ("dieselbe") erlebte Kulturlandschaft. >Landschaftskultur< fiele auch die Aufgabe zu, die strukturelle Verschiedenheit beider Ebenen bewusst zu machen und diskursiv zu redigieren. Die Differenz drückt eine Entfernung aus, die schon auf Grund des technologischen Entwicklungsstandes zivilisationsgeschichtlich unhintergehbar ist. Diese Abhängigkeit von der Welt des Technischen schneidet
aber nicht jeden anders denkbaren und begehbaren Weg zu den Dingen und dem Wirken der Halbdinge ab. Vielleicht könnte eine anthropologische Aufgabe jenes Redigierens zunächst den Weg in einen Moderationsprozess ebnen: in eine Schule des Landschaftserlebens, die sich allerdings klar und deutlich dadurch von jeder Erleb-NIS-Programmatik unterscheiden müsste, dass es nicht auf den exzessiven Konsum eventistischer Entitäten ankäme, sondern auf eine progressive Regression der Wahrnehmung[49], auf ein Üben im Sprechen über das Erleben von Umgebungen. Ein differenziertes Sprechen-Können spänne den Faden des Denkbaren sodann von sich aus weiter.
 



Literatur
 

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Anmerkungen

[1] Vgl. Simmel 1913, S. 152.

[2] Ebd. S. 150.

[3] Nach Anthony Giddens heißt ein menschliches Wesen zu sein, "ein zweckgerichtet Handelnder zu sein, der sowohl Gründe für seine Handlungen hat, als auch fähig ist, diese Gründe auf Befragung hin diskursiv darzulegen (oder auch - sie zu verbergen)." (Giddens 1988, S. 53).

[4] Ich kann an dieser Stelle und in diesem Rahmen der Problematik nicht weiter nachgehen, die sich aus dem Sachverhalt ergibt, dass diese Umgebungen nie allein spezifisch menschliche Umwelten sind, sondern auch von anderen als menschlichen Arten belebt werden.

[5] Vgl. Heidegger 1951.

[6] Ebd., S. 37.

[7] Im Rahmen seiner philosophischen Postmoderne-Position entwirft Wolfgang Welsch mit dem Begriff der >transversalen Vernunft< ein Vermögen der Vernunft, das sich durch Übergänge und Phasensprünge zwischen verschiedenen Modalitäten des Denkens und Erlebens auszeichnet. Dieses Neudenken der Vernunft wird u. a. mit der Auffassung begründet, die menschliche Subjektivität müsse entgegen aller ihr widerfahrenen szientistischen Diskreditierungen als Ressource des Erkenntnisprozesses nobilitiert werden. >Transversalität< soll das Verschiedene der Rationalitäten nicht trennen, sondern durch Überbrückungen verknüpfen (vgl. Welsch 1987, S. 295 ff.).

[8] Hans Martin Schönherr setzt dieses Heideggersche Programm der Schonung in ein Ökologie-Verständnis um, das an die Stelle technischen Produzierens ein Verstehen der Natur wie ein Nachspüren dessen setzt, was uns mit Natur verbindet (vgl. Schönherr 1989).

[9] Vgl. Dürckheim 1932.

[10] Heidegger 1927, S. 369.

[11] Schonung heißt nach Heidegger: "Das Geviert in seinem Wesen hüten." (Heidegger 1951, S. 37). Das Geviert ist die Einfalt der Vier: Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen; es ist der dimensionale Zusammenhang der Welt. Die Erde ist "die dienend Tragende, die blühend Fruchtende, hingebreitet in Gestein und Gewässer, aufgehend zu Gewächs und Getier." (ebd., S. 36). Erde ist damit mehr als nur Boden, eher das Walten der Natur in ihren Gestalten. Natur ist aber auch der Himmel als das das Walten der Natur atmosphärisch Durchziehende. Himmel "ist der wölbende Sonnengang, der gestaltwechselnde Mondlauf, der wandernde Glanz der Gestirne (...) Dunkel und Helle der Nacht (...)." (ebd.). Mit dem Göttlichen ist die Seite der menschlichen Naturbeziehung angesprochen, von der aus Natur als Rätsel erscheint. Aus dem heiligen Walten der wirkenden Boten der Gottheit erscheint "der Gott in seine Gegenwart oder er entzieht sich in seine Verhüllung." (ebd.). Gott ist keine personifizierbare Glaubens- und Anbetungsinstanz, sondern das Numinose im Sinne des Unheimlichen, das die menschliche Vorstellungskraft übersteigt. Das Göttliche ist – mit Hermann Schmitz – die ergreifende Macht einer Atmosphäre. Das Gefühl des Unheimlichen und Ungeheuren ist durch eine Überlegenheit seiner Autorität gegenüber subjektiver Reflektierbarkeit gekennzeichnet. Was als Göttliches und Numinoses erscheint, überfordert das subjektive Distanzierungsvermögen (vgl. Schmitz 1977, S. 91 f.). Das Göttliche ist die reine Unverfügbarkeit (vgl. Biella 2000, S. 63). Als solche lässt sich auch in der dritten Dimension des Gevierts Natur ausmachen; eine der menschlichen Verfügung entzogene Natur, die zum Wesen der Erde, des Himmels, des Menschen selbst gehört, der als Sterblicher in seine Zeit und Endlichkeit gebunden ist. In landschaftlichen Umgebungen erscheint es uns in den Windgestalten des Himmels, in der Weite des Meeres, in einem aufziehenden Gewitter, aber auch in der Stille. Der Mensch vermag diese Wirklichkeiten zu erleben, weil er durch das eigene Sein in ihre Natur eingebettet ist.

Natur ist der Mensch in zweifacher Hinsicht: als physischer Körper und als sich darin spürender Leib. Als Körper ist er auf der Erde. Als Leib ist er unter dem Himmel und bei den Göttlichen. Heideggers Geviert ist als Einheit gedacht. Darin ist sie utopischer Entwurf ganzheitlichen Denkens und Kritik fragmentierten Denkens zugleich. "Sagen wir Erde, dann denken wir schon die anderen Drei mit, doch denken wir nicht die Einheit der Vier." (Heidegger 1951, S. 36). Dies sagt Heidegger so auch für den Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen. Damit ist er der ihm historisch folgenden Ökologie-Debatte weit voraus. Er denkt ökologisch nämlich nicht in einem reduktionistisch-ökologistischen Sinne, sondern aus der Metapher des Hauses: "Die Sterblichen sind im Geviert, in dem sie wohnen." (ebd.). Im Wohnen vollzieht sich ein existenzielles Schonen, das allem in der Einfalt des Gevierts zuteil wird; den Dingen wie deren Erscheinen.

[12] Vgl. Schwarz 2000, S. 132.

[13] Vgl. Biella 2000, S. 64.

[14] Vgl. Picht 1986, S. 438.

[15] Heidegger 1962, S.45.

[16] Für diese Ökologie des Lebens steht bei Heidegger die Metapher des >Gevierts< (vgl. auch Fußnote 11). Einen an den ökologischen Gedanken der Metapher des Gevierts anschließenden Entwurf findet man in Guattaris "Ökosophie" und in Virilios "Grauer Ökologie" (vgl. Guattari 1989 sowie Virilio 1995).

[17] Vgl. Straus 1930, S. 150 ff.

[18] Heidegger, zitiert bei Baruzzi 1999, S. 24.

[19] Heidegger 1962, S. 41.

[20] BVerwGE 4, 57 = NJW 1956, 1810 und BVerwGE 67, 84 = NVwZ 1985, 42; zit. in NVwZ 1997, H. 10, S. 1011.

[21] Vgl. Breuer 1991.

[22] Schmitz 1977, S. 662 f.

[23] Ebd., S. 666.

[24] In einem Bericht über die Erlebnisweise einer französischen Gartenanlage schreiben zwei Studentinnen, die beschnittenen Hecken und Bäume vermitteln ein Gefühl des Perfekten, so dass man sich in dieser entfremdeten Natur nicht einfach "gehen lassen" kann. Die wenig vorgegebene Struktur des englischen Gartenbereichs lasse ein Gefühl der Leichtigkeit aufkommen, das zum Träumen anrege und eine seichte, gute Stimmung entstehen lasse.

[25] Was der große Landschaftsgärtner Hirschfeld einst über die ästhetische Gestaltung von Friedhöfen sagte, zeigt, dass Bewegungssuggestionen Gegenstand strenger Planung sein können. "Friedhöfe sollen nach seiner Forderung melancholische Gärten mit nur halbhoher Umfriedung sein; finster angrenzender Tannenwald und dumpfes Wassergemurmel sind günstig für sie. Die Farbe der Bäume soll zu Trauer stimmen." (Schmitz 1977, S. 301). Schon dieses Beispiel zeigt, dass sich Kulturlandschaft, zu denen Friedhöfe in ihrer herausgehobenen gefühlsräumlichen Aufladung gehören, nicht nur am Rande, sondern essentiell über atmosphärische Eindruckspotentiale konstituiert. Das Beispiel zeigt aber auch, dass, was man an einer schönen Gegend empfindet, Amalgam einer mannigfaltigen Bewertung ist. In ihr wirkt archaisches Gestalterleben, das frei von  kulturellen Codierungen ist, mit symbolisch vermittelten Objekt-Bedeutungen zusammen, die sich ihrerseits wieder zwischen Enge- und Weiteempfindungen ins leibliche Empfinden ein-prägen (nach Alfred Lorenzer [vgl. 2002, S. 209 f] hinterlässt szenisches Praxiserleben nicht nur eine kognitive, sondern auch eine leibliche Spur. In ihr sind nicht „objektive“ Merkmale eines wahrgenommenen Gegenstandes notiert, sondern qua Wahrnehmung hergestellte Verhältnisse. Erstens das Verhältnis von Mensch und wahrgenommenem Gegenstand, zweitens das Verhältnis von aktueller Erfahrung und Vorerfahrung und drittens das Verhältnis zu den detaillierten Sachvorstellungen eines Gegenstandes [vgl. ebd., S. 136f]).

Vor jedem aktuellen Situationserleben ist das leibliche Sinnsystem aber auch biographisch qua Sozialisation schon fundiert. Lorenzer spricht mit Freud vom szenischen Charakter der Einverleibung (vor allem frühkindlich) erlebter Praxisfiguren. Auf diesem Niveau wird sinnlich-leibliches Erleben – eben szenisch – mit >Namen< (Sprache) verbunden (vgl. Lorenzer 2002, S 164). Damit sickern alle sprachlich und/oder szenisch kollektiven Erfahrungen, wozu auch der eingeleibte kulturelle Gebrauch moralischer Bewertungen gehört, ins ästhetische Erleben und Empfinden von komplexen Landschaften, wie einzelnen (aber nicht weniger komplexen!) Bauwerken ein.

[26] Vgl. Schmitz 1977, S. 678.

[27] Mit Johannes Volkelt gliedert er das Erhabene in drei Typen. Danach kann die intensive und rhythmische Konkurrenz auf der Seite der Weitung, der Engung aber auch gleichsam dazwischen, der erhabenen Ruhe, ihren Schwerpunkt haben (vgl. ebd., S. 678 ff.). Schmitz differenziert wie folgt: (a) Er nennt das Erhabene strenger Art, in dem die Schwellung gegenüber der Spannung dominiert. Diese Form der Weite offenbart sich mit Volkelt als siegreiches Herrschen. Schmitz nennt diesen Typ des Erhabenen den "expansiven Typ". Daneben nennt er (b) das Erhabene der strengen Art. In ihm ergebe sich ein Eindruck geheimen Wühlens antagonistischer Kräfte, die sich nicht entladen können." (Schmitz 1977, S. 680). Man ahnt dann einen "hintergründigen Vorrat drängender Kräfte, die mit ungeheurer Gewalt ausbrechen könnten ...." (ebd.). Schließlich nennt er (c) "erhabene Ruhe", die bei Volkelt auch als "freie Erhabenheit" angesprochen wird. Die aus dem Rhythmus von Enge und Weite resultierende Unruhe (durch die Konkurrenz von Spannung und Schwellung angelegt) ist in diesen Fällen ausgeglichen, ohne an Erhabenheit einzubüßen. Für den Typ a führt er das Beispiel der Bauformen der Barockarchitektur an, für den Typ b den seit Jahrhunderten dargestellten ruhenden männlichen Löwen und für den Typ c Tizians Himmelfahrt Mariae (vgl. ebd. S. 679-682). So komme zum Beispiel einer landschaftlich akuten Gewittersituation ein anderer (strenger) Erhabenheitstyp zu, als der (expansiven) Erhabenheit eines sich zusammenbrauenden Gewitters, wovon abermals die (ruhige) Erhabenheit der Weite des ruhig in endlose Ferne sich ausbreitenden Meeresspiegels abzuheben wäre.

[28] Ebd., S. 213.

[29] Atmosphärisch gerahmt ist auch Heideggers >Einfalt der Vier<, die darin Quelle der Autorität jedweder ökosophischen Schonung ist. Schmitz sieht die von Heidegger verwendete Metapher des Gevierts anders. Ihm kommt Heidegger gerade dieser die ortlos ergossener Atmosphären einsammelnden Funktion des Wohnens nicht nahe genug (vgl. Schmitz 1977, S. 223).

[30] Deshalb galt bei den Römern das Ersteigen der Stadtmauer mit einer Leiter oder auf einem nicht dafür vorgesehenen Wege als Verbrechen. In solchem Übersteigen muss ein symbolischer Verstoß gegen die Atmosphäre im Inneren des Gemäuers gesehen worden sein (vgl. Schmitz 1977, S. 229).

[31] Schmitz macht darauf aufmerksam, dass schon der die Landschaft rahmende Blick als Ausdruck solcher Organisation verstanden werden kann. Der Friedhof ist schließlich ein besonders eindrucksvolles Beispiel für eine Umfriedung (nun eher im materiellen als allein im symbolischen oder gestischen Sinne), die der räumlichen Organisation von Gefühlen gilt. Im Falle des Friedhofs kehrt das Prinzip der Umfriedung im Maßstab der einzelnen Gräber – die früher oft selbst noch einmal umzäunt waren – wieder. Die doppelte Umfriedung organisiert in diesem Typ der Kulturlandschaft ein allgemeines, atmosphärisches Erinnerungs- und Gedenkklima der Gefühle und am Ort des einzelnen Grabes die Stimmung des konkret Betroffenen im größeren (Friedhofs-) Raum der abgründigen Atmosphären, die hier als Merkmal dieses Typs Kulturlandschaft "dämpfend und züchtend verfügbar gemacht und menschlicher Aneignung nahe gelegt werden ..." (ebd., S. 302).

[32] Ebd., S. 247.

[33] Dieses Verhältnis drückt sich in aller Deutlichkeit in der doppelten Umfriedung von Friedhof und Grab aus.

[34] Vgl. z.B. § 10 Abs. 1, Ziff. 4 Niedersächsisches Denkmalschutzgesetz.

[35] Vgl. Seel 1996, S. 104 ff.

[36] Vgl. Seel 2000, S. 84 f.

[37] Vgl. auch Böhme 1999.

[38] Dabei stellen beide Sichtweisen auf ein und dieselbe Gegend je eigene und nur bedingt kommensurable Existenzweisen dar. Wolfgang Welsch hat i. d. S. am Beispiel des Erlebens der offenen See (Pazifik) zwischen >city view< und >cosmic view< unterschieden (vgl. Welsch 2003). Die Erfahrung eines Sich-Einlassens und Übergehens in eine nicht vom Denken kolonisierte Wirklichkeit ist nach Welsch die Voraussetzung dafür, routinierte (terminologisch gestützte) Erfahrung überhaupt erst kritisch reflektieren zu können und damit auch das diesem Denken vorausliegende Menschenbild einer Revision zu unterziehen. Am Beispiel des Erlebens von Küsten habe ich an anderer Stelle die Polarität dieser grundverschiedenen Annäherungen beschrieben (vgl. Hasse 2002).

[39] Zum Begriff der >Halbdinge< vgl. Schmitz 1989, § 245.

[40] Hier ist insbesondere an die begriffliche Systematik zu denken, die er in seinem System der Philosophie detailreich entfaltet und immer wieder erläutert und differenziert hat (vgl. zusammenfassend Schmitz 1994 und kommentierend auch Ders. 1999).

[41] Meier-Seethaler wendet gegen solch diskreditierendes und diskriminierendes Denken ein, dass die kommunikative Unterlaufung des Emotionalen dazu führe, dass empfindungsbezogene Urzeit-Kategorien durch Verdrängung gerade erst Irrationalität hervorbringen (vgl. Meier-Seethaler 1997, S. 306).

[42] In solche Hygiene des Sprechens schleichen sich Macht- und Herrschaftsinteressen ein. Wo die Aussage von Gefühlen gesellschaftlichen Normvorstellungen zuwider läuft, tritt an die Stelle einer inhaltlichen Rede über den Gegenstand bestimmten Empfindens die Verdrängung der Aussage (vgl. dazu z. B. Erdheim, der der Logik der Unbewusstmachung von Gefühlen in psychoanalytischer Sicht nachgeht; Erdheim 1988). In Konflikten um unterschiedliche Wege kulturlandschaftlicher Gestaltung stoßen nicht selten unvereinbare Ansprüche aufeinander. Einer der brennendsten Dauerkonflikte dieser Art dreht sich um die Zumutbarkeit von Windkraftanlagen in der unmittelbaren Umgebung von Wohnungen. Im Rahmen einer Voruntersuchung über das Erleben der Drehbewegung der Großrotoren von Windkraftanlagen, die sich in der näheren und mittleren Umgebung zur eigenen Wohnung befinden, konnte ich folgende Beschreibungen zusammentragen. Personen, die in einem Abstand von 1 bis 3 Kilometer zu WKA wohnen, beklagen übereinstimmend und unabhängig von einander Unruhe, die sich von der Drehbewegung der Rotoren auf das eigene Befinden überträgt. Die Aufmerksamkeit komme nicht mehr zu Ruhe, die permanente Drehbewegung wirke irritierend, mache nervös, erzeuge eine innere Unruhe und beeinträchtige das psychische und physische Wohlbefinden. Es wird auch davon berichtet, dass man sich immer wieder zum Hinschauen gezwungen fühle und dass man die Drehbewegung in gewisser Weise "speichere", das heißt, sie mitunter auch dann vor Augen habe, wenn man an etwas ganz anderes denken möchte.

[43] Heidegger 1962, S. 40.

[44] In das Denken des Denkwürdigen mischt sich Politik ein. Die drängenden Ansprüche einer ins Pragmatische gestellten „Normalität“ tendieren danach, politisch dysfunktionale Gefühle durch ethisch-ästhetischen Appell und Disziplinierung umzuformatieren. In der politischen Verfremdung der Rede über das Erleben von Landschaft zeigt sich im Falle der Errichtung von Windkraftanlagen als Moment einer ökologistischen Politik der Sprech- und Diskursverbote das Entbergen als Wesen der Technik. Hier – und in zahlreichen der Art nach anders gelagerten Technisierungen der Kulturlandschaft – wird die Herrschaft des >Ge-stells< dominanter, die mit der Möglichkeit droht, "daß dem Menschen versagt sein könnte, in ein ursprünglicheres Entbergen einzukehren und so den Zustand einer anfänglicheren Wahrheit zu erfahren." (Heidegger 1954, S. 28).

[45] Vgl. Plöger 2003.

[46] Vgl. Frede u. a. 2002.

[47] Vgl. Baruzzi 1999, S. 59.

[48] Heidegger 1927, S. 63.

[49] Vgl. zur Lippe 1987.
 


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8. Jg., Heft 2 (März 2004)