Gebaute Räume
Zur kulturellen Formung von Architektur und Stadt

9. Jg., Heft 1
November 2004
   

 

___Turit Fröbe
Weimar / Amsterdam
  Weg und Bewegung in der Architektur Le Corbusiers

 

   

„Architektur wird durchwandert, durchschritten. […] Ausgestattet mit seinen zwei Augen, vor sich blickend, geht unser Mensch, bewegt er sich vorwärts, handelt, geht einer Beschäftigung nach und registriert auf seinem Weg zugleich alle nacheinander auftauchenden architektonischen Manifestationen und ihre Einzelheiten. Er empfindet innere Bewegung, das Ergebnis einander folgender Erschütterungen. Das geht so weit, daß die Architekturen sich in tote und lebendige einteilen lassen, je nachdem ob das Gesetz des Durchwanderns nicht beachtet oder ob es im Gegenteil glänzend befolgt wurde."[1] (Le Corbusier, 1942)

Bereits in "Vers une Architecture", der Aufsatzsammlung, mit der Le Corbusier 1923 die internationale Architekturbühne betreten hatte, finden sich vergleichbare Äußerungen  zum Thema Weg, Bewegung und Wahrnehmung. Es handelt sich um ein Thema, mit dem sich Le Corbusier Zeit seines schöpferischen Lebens beschäftigte
[2]. Schon in "Vers une Architecture" koppelte er seine Beobachtung an eine pointierte Polemik gegen die so genannten „graphischen Planungsgepflogenheiten“ der akademischen Tradition, gegen sternförmige Grundrisskonfigurationen aus dem Barock oder Klassizismus, die ihre Wirkung lediglich auf dem Papier entfalten. In der Realität, so Le Corbusier, lösen sich diese Grundrisse auf, da immer nur einzelne Bruchstücke oder Ausschnitte wahrnehmbar seien. „Man darf beim Zeichnen eines Grundrisses nie vergessen, dass es das menschliche Auge ist, welches die Wirkung aufnimmt“[3], und das befinde sich in einer Höhe von 1,70 m und sei ständig in Bewegung[4].
Als Referenz für eine lebendige Architektur, die der Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen Rechnung trägt, diente ihm stets die Akropolis von Athen. In „Vers une Architecture“ heißt es in dem Zusammenhang:
„Das Auge sieht weit und als unbestechliches Objektiv sieht es alles, selbst das, was über das Gewollte und Beabsichtigte hinaus geht. Die Achse der Akropolis geht vom Piräus zum Pentelikon, vom Meer zum Gebirge. Von den Propyläen, die rechtwinklig zur Achse stehen, bis zum fernen Horizont des Meeres. Eine Waagerechte im rechten Winkel zu der Richtung, die einem die Architektur, in der man sich befindet, aufzwingt: ein Eindruck von rechtwinklig verlaufenden Kraftlinien, der wichtig ist. Es ist große Architektur. Die Akropolis sendet ihre Wirkung bis weit zum Horizont aus."[5]
Später in „An die Studenten“ rief Le Corbusier dazu auf, sich an diesen Prinzipien zu orientieren:
„Architekten, in eurer Hand liegt es […] das Reich dieser engen, viereckigen Zimmer auszudehnen bis zu den Grenzen der Horizonte, soweit ihr nur vordringen könnt. Der Mensch, dem ihr durch eure Pläne und Entwürfe dient, besitzt Augen, und hinter ihrem Spiegel eine Gefühlswelt, eine Seele, ein Herz. Außen wird euer architektonisches Werk der Landschaft etwas zufügen. Aber innen nimmt es diese auf."[6]

Lebendige Architektur besitzt laut Le Corbusier wie ein lebendiges Wesen einen inneren Kreislauf. Dieser dient nicht allein funktionellen Erfordernissen, sondern basiert auch auf emotionalen Beweggründen. In „An die Studenten“ heißt es:
„Innerer Kreislauf deshalb, weil die verschiedenen Wirkungen des Bauwerks – die Sinfonie, die hier erklingt – nur in dem Maße greifbar werden, wie uns unsere Schritte hindurchtragen, wie sie uns hinstellen, uns weiterführen und unseren Blicken die Weite der Mauern und Perspektiven darbieten, das Erwartete oder das Unerwartete hinter den Türen, die das Geheimnis neuer Räume preisgeben, das Spiel der Schatten, der Halbschatten oder des Lichts, das die Sonne durch Fenster und Türen wirft. Jeder einzelne Schritt bietet dem Auge ein neues Klangelement der architektonischen Komposition, sei es den Ausblick auf die bebauten oder grünen Fernen oder die Ansicht der anmutig geordneten nahen Umgebung. […] Gute Architektur wird durchwandert, durchschritten, innen wie außen."[7]
 


Abbildung 1
„Drei Mahnungen an die Herren Architekten“, Le Corbusier


Abbildung 2
Optische Korrekturen:
Säulenneigungen, Choisy


Abbildung 3
Optische Korrekturen:
Kurvaturen, Choisy


Abbildung 4
Optische Korrekturen:
Kurvaturen am Parthenon, Choisy


Abbildung 5
Propyläen, Choisy


Abbildung 6
Akropolisplateau, Choisy


Abbildung 7
Parthenon, Choisy


Abbildung 8
Erechtheion, Choisy


Abbildung 9
Appia, “Rhythmic design of 1909, ‘Moonbeam’”


Abbildung 10
Appia, 1909


Abbildung 11
Villa Savoye, Rampe


Abbildung 12
Villa Savoye


Abbildung 13
La Tourette, Wohntrakt


Abbildung 14
La Tourette, Ausblick Speisesaal

 

In „Vers une Architecture“ sind dem Thema Grundriss und  promenade architecturale gleich zwei Kapitel eingeräumt: „Drei Mahnungen an die Herren Architekten III. Der Grundriss“ und das Kapitel „Baukunst II. Das Blendwerk der Grundrisse“. In beiden kommt der berühmten Akropolis-Interpretation von Auguste Choisy aus dem Jahr 1899 eine unübersehbare Schlüsselrolle zu (Abbildung 1). Le Corbusier verwendete Choisys Rekonstruktionsgraphik, in der er Betrachterperspektive und Grundriss des Akropolis-Plateaus miteinander verschränkte, in beiden Kapiteln. In „Drei Mahnungen an die Herren Architekten III. Der Grundriss“ setzte er die Grafik sogar als Titelfrontispiz ein, so dass sie sich - und mit ihr die Interpretation Choisys - geradezu emblematisch mit dem Thema Grundriss in Le Corbusiers Architekturphilosophie verbindet[8].

Choisy hatte die revolutionäre Entdeckung gemacht, dass der scheinbaren Unordnung, die sich im Grundriss der Akropolis spiegelt, eine Ordnung zugrunde liegt, die auf eine bewusste schließen lässt[9]. Choisy erkannte die Akropolis als dynamische Architektur, die der Wahrnehmungsfähigkeit des Betrachters angepasst ist und die die Bewegung des Betrachters voraussetzt. Detailliert zeichnete er den Weg des Akropolisbesuchers nach, die Sichtweise, die sich dem Vorangehenden auf dem Plateau eröffnet, die Art und Weise, wie sich Schritt für Schritt Verdecktes erschließt, sich wiederum anderes dem Blick entzieht.
Dass sich die alten Griechen bei der Errichtung ihrer Tempel optischer Korrekturen bedienten, um eine harmonische Erscheinungsweise hervorzurufen, war zum Teil schon aus den Schriften Platons und Vitruvs bekannt[10]: Man wusste, dass durch die Entasis, die Schwellung der Säulen, ein optischer Ausgleich zwischen tragenden und lastenden Architekturteilen geschaffen wurde und dass ein verjüngter Durchmesser der 2. Säulenreihe eine größere Tiefenwirkung evozierte. Die Ecksäulen wurden verstärkt, da diese sich nicht vor der Cellawand, sondern vor dem Blau des Himmels abzeichnen mussten. Und ebenfalls bekannt war, dass Säulen leicht nach innen, die Giebelfelder im Gegensatz dazu nach außen geneigt waren und dass die Skulpturen der Giebelfelder asymmetrisch geformt waren, um vom Betrachterstandpunkt aus symmetrisch zu erscheinen [11] (Abbildung 2).
Erst in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts entdeckten englische und deutsche Archäologenarchitekten zeitgleich die Kurvaturen der horizontalen Architekturglieder[12] (Abbildung 3). Diese leichten, für das Auge fast unmerklichen Krümmungen hatten optischen Täuschungen entgegenzuwirken, die bei gerader Linienführung den Eindruck hätten entstehen lassen, dass sich die waagerechten Architekturteile unter der Last biegen. Choisy folgerte aus der Tatsache, dass die Erbauer der Akropolis auf die Wahrnehmungsfähigkeit des Betrachters reagierten, dass es demnach intendierte Schauseiten gegeben haben muss, die beim Wiederaufbau nach den Perserkriegen gezielt angelegt wurden. Diese Theorie fand er in den Kurvaturen des Parthenonstylobats und der vorgelagerten Treppe bestätigt: Der Scheitelpunkt  der Kurvatur ist um 7,50 m aus der Mittelachse verschoben, woraus sich ein idealer Betrachterstandpunkt ergibt, der den Tempel in der Übereckansicht in seiner vollen Plastizität zeigt[13] (Abbildung 4).
Choisy entdeckte, dass die Akropolis als Abfolge kontrollierter Bilder angelegt wurde, die die Bewegung des Betrachters voraussetzt und beschrieb das antike Ensemble anhand einer promenade architecturale, wie Le Corbusier das Phänomen später nennen sollte. Mindestens vier Standpunkte muss der Betrachter einnehmen, um das Gesamtensemble Akropolis zu erfassen. In jedem dieser vier Bilder sind Gebäude oder Statuen unterschiedlicher Größen und Distanzen asymmetrisch um ein zentrales Objekt balanciert[14].
Den ersten Standpunkt nimmt der Betrachter vor den Propyläen ein, dem einzigen Bau der Anlage, der sich ihm frontal entgegenstellt (Abbildung 5). Nachdem er die Propyläen durchschritten hat, überblickt er die Gesamtanlage. Dominierendes Motiv ist aus diesem Blickwinkel die Kolossalstatue der Athena Promachos (Abbildung 6). Dahinter verborgen und nur ausschnitthaft sichtbar befindet sich das Erechtheion. Auch der Parthenon erscheint aus dieser Position betrachtet zunächst mehr oder weniger im Hintergrund und tritt erst im näheren Herantreten vollständig in Erscheinung, wenn die Athenastatue nicht mehr das Blickfeld dominiert (Abbildung 7). Der Tempel ist auf dem höchsten Punkt des Plateaus errichtet und erscheint durch seine Schrägstellung, die ihn in seiner vollständigen Plastizität zeigt, majestätischer und größer. Ist die Athena-Statue vollständig aus dem Sichtfeld verschwunden, befindet sich der Betrachter bereits neben dem Parthenon in einer Position, von der aus er nicht mehr die nötige Distanz hat, um die Formen wirklich zu überblicken. Das Erechtheion wird nun zum Hauptmotiv – es erscheint ebenfalls in der Übereckansicht, in der die Korenhalle praktisch die leere Wand „möbliert“ (Abbildung 8).
Choisy stellte fest, dass auf dem Plateau jeder dieser drei Standpunkte von einem Monument dominiert wird, während andere verdeckt werden. Nötig war das laut Choisy, da zu viele Kontraste gegeben waren, die nebeneinander gestellt die Wirkung des Einzelnen stark beeinträchtigt hätten. Um beispielsweise den Kontrast zwischen den Karyatiden des Erechtheions und der Kolossalstatue zu vermeiden, ist die Korenhalle zunächst hinter dem Sockel der Athena verborgen. Sie gerät erst in den Fokus des Betrachters, wenn dieser unüberwindbare Gegensatz nur noch in der Erinnerung existiert[15].

Diese Akropolis-Interpretation von Choisy, die die pittoresken Eigenschaften der klassischen Architektur in den Vordergrund stellt, fand tiefen Widerhall bei Le Corbusier und schlug sich in seiner Architekturphilosophie und in seinen eigenen Werken nieder. Mit Hilfe von Choisys Interpretation gelang es ihm, seinen eigenen Besuch auf der Akropolis im Jahr 1911, aber auch frühere Auseinandersetzungen mit dem Thema Weg und Bewegung zu verarbeiten und zu subsumieren.
Zu Le Corbusiers[16] frühen Auseinandersetzungen mit dem Thema gehörte die Beschäftigung mit Camillo Sittes 1889 erschienener Publikation „Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen"[17]. Sittes Beschreibungen pittoresker Raumabfolgen und Straßensequenzen im mittelalterlichen Städtebau können sicherlich auch als Ursache dafür angenommen werden, dass Le Corbusier rückwirkend behauptete, erstmals in Istanbul mit dem Phänomen der promenade architecturale in Berührung gekommen zu sein.

Ebenfalls prägend waren die Begegnungen mit dem Musikpädagogen Emile Jaques-Dalcroze und dem Theatertheoretiker Adolphe Appia zwischen 1910 und 1913 in Hellerau. Sie hatten auch maßgeblichen Einfluss auf Le Corbusiers frühe Akropolis-Rezeption und gehörten sicherlich zu den entscheidenden Impulsgebern, die im Winter 1910/11 sein Interesse an der griechischen Klassik und einem modernen Klassizismus weckten (Abbildungen 10, 11).

Le Corbusier kam am Institut Jaques Dalcroze in Hellerau mit einer für den Mikrokosmos Bühne entworfenen Architektur in Berührung, die auf die „plastische“ Bewegung des Schauspielers oder Tänzers reagiert und diese gleichzeitig herausfordert. Maßstabslieferant dieser Architektur waren der Mensch und die Bewegung des Menschen.
Dalcroze hatte eine musikpädagogische Methode entwickelt, mit der sich die musikalische Komposition durch den Körper in den Raum übertragen ließ – er bezeichnete den menschlichen Körper auch als „bewegte Plastik"[18]. Appia hatte dem visuellen ‚Chaos’ der Theaterkultur den Kampf erklärt und strebte nach strenger Stilisierung, Abstraktion und Einfachheit. Seine 1909 für Dalcroze entwickelten Bühnenentwürfe, die „espaces rythmics“ zeigen weite Horizonte, vor denen sich Mauern, Pfeiler, Treppen und Rampen aus mächtigen Quadern erheben. Sie erinnern an Bildausschnitte antiker Paläste in mediterranem Licht mit tiefen Schattenwürfen. Später in Hellerau entwarf Appia ein System aus „genormten Formen“ – das Würfel, Blöcke, Stufen, Wandschirme umfasste, die sich je nach Anforderung frei kombinieren ließen[19].
Le Corbusier erlebte in Hellerau, wie diese kargen, strengen Schauplätze mit ihren scharfen Linien und Winkeln zum Leben erweckt wurden, indem sie mit der Bewegung des menschlichen Körpers kontrastiert wurden. Seinen Schülern soll Appia den Rat gegeben haben, nicht mit den Augen, sondern mit den Beinen zu zeichnen[20].
Wie stark Le Corbusier durch diese Bühnenentwürfe beeinflusst war, spiegelt sich in seinen eigenen Reiseskizzen und auch in seinen Korrespondenzen aus der Zeit. In einem in Pisa, am Ende der Orientreise an seinen Mentor William Ritter verfassten Brief heißt es:
„Ich bin verrückt nach der weißen Farbe, nach dem Würfel, dem Kreis, dem Zylinder und der Pyramide und der Scheibe und den großen leeren Räumen. Die Prismen erheben sich, gleichen sich aus, rhythmisieren sich, fangen an zu gehen, während ein großer schwarzer Drache am Horizont erscheint, um sie an der Basis zusammenzuschließen. Über sich haben sie nur den weißen Himmel, sie stützen sich auf ein Pflaster aus poliertem Marmor und haben ein monolythisches Aussehen, das von keiner Farbe unterbrochen wird.“
Es folgt eine Beschreibung über das sich im Laufe der Tageszeiten wandelnde Licht- und Schattenspiel. Und schließlich heißt es:
„Es wäre so schön, wenn unser Gang rhythmisiert würde, unsere Gesten plastisch würden und alles zu Farbe würde. […] Hört ihr nicht die Musik in alledem? Seht Ihr nicht, wie sie die Architektur in ein Schauspiel verwandelt? [...] „Da und dort wird es einen Tempel geben, einen Zylinder, eine Halbkugel, ein Würfel oder ein Polyeder. Inmitten von leeren Räumen, um atmen zu können. Auf den Dächern werden wir wie ein wenig verrückte Leute sein.“[21]
In dieser stark durch Appia und Dalcroze inspirierten Vision aus dem Jahr 1911 am Ende der Orientreise sind im Prinzip schon viele Grundzüge Le Corbusiers späterer Architekturphilosophie enthalten: freie Gruppierung von Bauvolumen im Raum, das Spiel der Volumen im Licht, die Horizonte, selbst die Dachgärten erscheinen schon in dieser Vision und natürlich die Bewegung des Betrachters im Raum.
Zentrales Element Le Corbusiers eigener architektonischer und städtebaulicher Entwürfen wurde die promenade architecturale - der auf den Betrachter ausgerichtete Weg durch den gebauten Raum. Sie ist die Bildabfolge, die sich vor dem Auge des schrittweise vorangehenden Betrachters entrollt. Sie ist das Rückgrat der Komposition, die Hierarchisierung der architektonischen Ereignisse, die Leseanweisung - der „innere Kreislauf“ der Architektur. Mit Hilfe der promenade architecturale kreierte Le Corbusier virtuose Verschränkungen von Innen- und Außenraum, fließende Räume, die sich im Voranschreiten erschließen – eine Aneinanderreihung selbstständiger Stillleben, wie es scheint.

In der Villa Savoye in Poissy (1929) beginnt die promenade architecturale bereits mit der Autofahrt, die im Erdgeschossbereich des Gebäudes endet, der dem Wendekreis des Autos angepasst wurde. Im Inneren des Gebäudes wird die fließende Bewegung der Autofahrt durch die Rampe aufgenommen und lenkt den Besucher durch das Zentrum des Hauses hinauf zur Dachterrasse. Die Rampe – ein Mittel, dessen sich Le Corbusier zur Formulierung der promenade architecturale  gern bediente – erschließt und verbindet die unterschiedlichen Räume, sorgt für einen homogenen Bewegungsablauf und führt dazu, dass sich der Raum in seiner Plastizität exakter wahrnehmen lässt. Der Besucher wird über die Rampe vom Erdgeschoss nach einer Richtungsänderung von 180 Grad zum Salon im „piano nobile“ geleitet. Nach einer erneuten Kehrtwende führt die Rampe im Außenraum von der in den Baukörper integrierten Freiterrasse im ersten Geschoss zum Dachgarten. Der Betrachter läuft hier auf eine in die Blendmauer eingelassene Fensteraussparung zu, die einen gerahmten, sich stetig mit jedem Schritt verändernden Ausblick in den Außenraum freigibt (Abbildungen 12, 13).
Mittels der promenade architecturale verbindet Le Corbusier im Falle der Villa Savoye nicht nur Räume und Raumvolumen – er verschränkt auch Innen- und Außenraum miteinander. Die promenade architecturale  beginnt im offenen Raum, wird über die halboffenen Erdgeschosszone in den geschlossenen Wohnbereich geführt, von wo aus sie über die halboffene Terrasse zum offenen Solarium leitet. Im Inneren produzieren die Bandfenster, die selbst ein Motiv der Bewegung darstellen, im Vorangehen fließende, gerahmte Ausblicke in die Landschaft.

Auch im Kloster La Tourette in Eveux (1953-57) ist die promenade architecturale Rückgrat der architektonischen Komposition. Hauptthema ist hier die Beziehung zum Außenraum, die Wechselwirkung zwischen Architektur und Landschaft. Licht und Ausblicke in die Umgebung werden, gut dosiert und sehr sparsam, in die Architektur einbezogen. Das Kloster ist ein introvertierter Block, dessen Innenhof von dem kreuzförmigen angelegten Kreuzgang durchschnitten wird. Auf Augenhöhe angelegte Lichtschlitze, die die Gänge der Wohntrakte flankieren, sind auf den Innenhof ausgerichtet (Abbildung 14). Die an den Enden der Gänge platzierten Fenster, die den Blick nach außen in die Landschaft freigeben würden, sind mit Betonplatten verschlossen, die lediglich seitlich Licht einfallen lassen. Die Weggestaltung ist so angelegt, dass der Mönch nicht durch äußere Einflüsse abgelenkt wird, nicht abschweifen kann, sondern im Gegenteil in seiner Meditation oder seinem Gebet unterstützt wird. In einem der ersten Planungsschritte, sah Le Corbusier den Kreuzgang auf dem Dach des Klosters vor. Um die Mönche durch den Panoramablick nicht zu zerstreuen und zu überfordern, verlegte er ihn in den Hof, wo er über kreuzförmigem Grundriss angelegt wurde. Zu dem Dach führt in dem realisierten Bau nur eine schmale Stiege, die bewirkt, dass sie nur jenen Mönch zum Hinaufsteigen animiert, der das Gefühl hat, durch die Weite und den Ausblick nicht abgelenkt zu werden. Entscheidet er sich dann dafür, hoch zu gehen, steht er nicht dem gesamten Landschaftspanorama gegenüber, sondern lediglich einem Ausschnitt. Eine in Augenhöhe eingezogene Umfassungsmauer tritt wie eine künstlich eingezogene Horizontlinie in den Dialog mit dem echten Horizont und blendet den umgebenden Nahbereich vollständig aus. Der Himmel wird auf diese Weise klar umrissen und in die Komposition einbezogen.

Allein von den Loggien der einzelnen Wohnzellen aus bietet sich dem Mönch der unverstellte Blick in die Landschaft. Alle anderen Ausblicke nach außen wie auch in den Innenhof sind gelenkt, untergliedert, determiniert. Die großen Glaswände in den Korridoren der Studiengeschosse, der Bibliothek, dem Hörsaal, dem Refektorium, dem Kreuzgang und dem Atrium, sind so gestaltet, dass der Außenraum in kleine übersichtliche Abschnitte gegliedert erscheint (Abbildung 15). Grundsätzlich, nicht nur im Kloster La Tourette, achtete Le Corbusier darauf, niemals einen undosierten Blick in den Außenraum freizugeben. Er hatte - möglicherweise auf der Akropolis - die Erfahrung gemacht, dass die Weite des Außenraumes erst zum sinnlichen Erlebnis wird, "wenn die Nähe greifbar ist, wenn dem Auge Hindernisse in den Weg gelegt werden, die es überwinden muß, um in die Ferne zu schweifen." Für Le Corbusier "ist die Landschaft nicht etwas, das von allen Seiten hineinflutet und im Haus überall gegenwärtig ist [...]. Die Landschaft ist klug bemessen, ein Faktor der Überraschung; plötzliche Ausblicke holen die Landschaft herein wie ein Bild, das auf die Staffelei gestellt wird.”
[22]

Auch im Kapitolbezirk von Chandigarh stellen sich dem Auge des sich nähernden Besuchers Hindernisse in den Weg, die es überwinden muss, um einen Eindruck der gesamträumlichen Situation erhalten zu können. Da Stadtkörper und Kapitol durch ein System künstlicher Hügel und Wälle voneinander separiert sind, bewegt sich der Besucher geraume Zeit auf einen fast unsichtbaren Kapitolkomplex zu, den er mehr oder weniger nur erahnen kann. Hin und wieder wird ein Stück Fassade, ein Dachaufbau ausschnitthaft zwischen oder über den künstlichen Hügeln sichtbar, um sich dann wieder dem Blick zu entziehen. Auch der mächtige Block des Sekretariats, der parallel zur Ankunftstrasse gelagert ist, tritt nie als Ganzes, sondern hinter Hügeln und Vegetation verborgen, nur in Ausschnitten in Erscheinung. Erst wenn der Betrachter sich in etwa auf Höhe der Mittelachse des Sekretariats befindet, wird hinter Hügeln und Sträuchern erstmals für einen Moment die vollplastische ¾-Ansicht des Parlaments erahnbar, um kurz darauf von der monumentalen Rampe, dem so genannten „Geometrischen Hügel“ wieder verborgen zu werden. Parallel dazu gerät, während das Parlament nur noch in der Erinnerung existiert, im Vorangehen erstmals das Monument der Offenen Hand in den Fokus des Besuchers und kurz darauf, parallel zu Ankunftsachse gelagert, der Oberste Gerichtshof. Zuvor wäre vermutlich noch der Blick auf den nicht realisierten Gouverneurspalast freigegeben worden, der zusammen mit dem „Geometrischen Hügel“ die Mittelachse hätte besetzen sollen. Da der Besucher das Kapitol nicht auf der zentralen Mittelachse betritt, sondern schräg nach rechts versetzt dazu, bleibt die Mittelachse leer, und der Blick wird in das Himalaja-Vorgebirge gelenkt. Erst mit dem Betreten der schmalen gepflasterten Esplanade, die die Verbindung zwischen Parlament und Obersten Gerichtshof herstellt, wird dem Betrachter erstmals der Eindruck einer Platzsituation vermittelt. Die beiden Großbauten rechts und links erscheinen nun in der Frontalansicht, der Gouverneurspalast wäre leicht aus der Achse verschoben erschienen. Der lang gestreckte Riegel des Sekretariats ist aus dieser Perspektive wiederum in Ausschnitten wahrnehmbar, die sich wiederum mit jeder Schrittfolge verändern, da er teilweise durch das Parlament, in erster Linie aber durch den „Geometrischen Hügel“ verborgen wird.

Auch auf dem eigentlichen Kapitolplatz ist der Besucher aufgrund der überdimensionierten Distanzen förmlich gezwungen sich zu bewegen, immer wieder die Richtung zu ändern, die Architekturen aus der Bewegung heraus als dreidimensionale Phänomene zu erleben. Und ähnlich wie in seinen Einzelbauten, überlässt es Le Corbusier nicht dem Zufall, wie sich der Betrachter im Kapitol von Chandigarh bewegt, wie er sich den einzelnen Architekturen annähert, sondern führt fast unbemerkt Regie:
„Alle Straßen und Wege auf dem Kapitol verlaufen parallel oder rechtwinklig zueinander. Aber es gibt keine durchgehende Achse. So liegen Parlament und Justizgebäude zwar gegenüber; der Fußgänger aber kann diese direkte Verbindung nicht beschreiten, sondern wird veranlasst, die Diagonale zu nehmen. Kleine Plätze durchbrechen die geraden Linien, so dass beim Begehen der Wege ständig Richtungswechsel vorgenommen werden müssen. Auf diese Weise hat der Betrachter beim Durchschreiten des Kapitols eine Fülle räumlicher Erlebnisse.“[23]



Literatur:

 

         Bablet, Denis u. Marie-Louise: Adolphe Appia 1862-1928. Darsteller - Raum - Licht. Ausstellungskatalog der Kulturstiftung Pro Helvetia, Zürich 1982

         Beacham, Richard C.: Adolphe Appia. Theatre Artist, Cambridge, NY, Sidney 1989

         Beacham, Richard C.: Adolphe Appia. Artiste and Visonary of the modern Theatre, Boston 1994

        Choisy, Auguste: Histoire de l’architecture, 2 Bde. (1899), Paris 1954

        Etlin, Richard A.: Frank Loyd Wright and Le Corbusier: The romantic legacy, Manchester 1994

        Giertz, Gernot: Kultus ohne Götter: Emile Jaques Dalcroze und Adolphe Appia: Der Versuch einer Theaterreform auf der Grundlage der rhythmischen Gymnastik, München 1975

        Gresleri, Giuliano: Le Corbusier. Reise nach dem Orient. Unveröffentlichte Briefe und z. T. noch nicht veröffentlichte Texte und Photographien von Edouard Jeanneret, Venedig/ Paris 1984; Zürich 1991

        Le Corbusier: An die Studenten. Die `Charte d`Athènes´ (1942), Hamburg 1962

        Le Corbusier: Unité, in: Architecture d’Aujourd’hui, 2éme numéro spécial Le Corbusier, Paris 1948

        Le Corbusier: Ausblick auf eine Architektur (1923); Hrsg. H. Hildebrandt, H. Gütersloh 1995

        Joedicke, Jürgen: Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart/ Zürich 1990

        Moos, Stanislaus v.:Le Corbusier. Elemente einer Synthese; Frauenfeld 1968

        Sitte, Camillo: Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen (1901), Wien 1965
 


Abbildungsverzeichnis:

Abbildung 1:

„Drei Mahnungen an die Herren Architekten. III. Der Grundriss“, Le Corbusier, 1995, S. 47

Abbildung 2:

Optische Korrekturen: Säulenneigungen, Choisy, 1954, S. 322

Abbildung 3:

Optische Korrekturen: Kurvaturen, Choisy, 1954, S. 323

Abbildung 4:

Optische Korrekturen: Kurvaturen am Parthenon, Choisy, 1954, S. 332

Abbildung 5:

Propyläen, Choisy, 1954, S. 329

Abbildung 6:

Akropolisplateau, Choisy, 1954, S. 330

Abbildung 7:

Parthenon, Choisy, 1954, S. 331

Abbildung 8:

Erechtheion, Choisy, 1995, S. 332

Abbildung 9:

Appia, “Rhythmic design of 1909, ‘Moonbeam’”, Beacham, 1994, S.76

Abbildung 10:

Appia, 1909, Beacham, 1989, S. 51

Abbildung 11:

Villa Savoye, Rampe, Foto: Turit Fröbe

Abbildung 12:

Villa Savoye, Foto: Turit Fröbe

Abbildung 13:

La Tourette Wohntrakt, Foto: Turit Fröbe

Abbildung 14:

La Tourette Ausblick Speisesaal, Foto: Turit Fröbe
 


Anmerkungen:

[1] Le Corbusier, 1962, S. 29

[2] Vgl.: Le Corbusier, 1995, S. 141, 143, 147 und Le Corbusier : Unité, 1948, S. 44

[3] Le Corbusier, 1995, S. 148

[4] Vgl.: Le Corbusier, 1995, S. 143

[5] Le Corbusier, 1995, S. 141

[6] Le Corbusier, 1962, S. 27

[7] Le Corbusier, 1962, S. 30

[8] vgl.: Le Corbusier, 1995, S. 47, S. 142

[9] vgl.: Choisy, 1954, S. 325-334 Kapitel: Le Pittoresque dans l'Art Grec: Partis Dissymétriques, Ponderations des masses. Vgl. dazu: Le Corbusier in "Vers une Architecture", 1995, S. 53: „Die scheinbare Regellosigkeit des Grundrisses kann nur den Laien täuschen. Das Gleichgewicht ist nicht kleinlich berechnet. Es wird bestimmt durch die berühmte Landschaft, die sich vom Piräus bis zum  Pentelikongebirge erstreckt. Der Grundriß ist auf Fernsicht zugeschnitten: Die Achsen folgen der Talsohle, und ihre Verschiebungen sind Kunstgriffe eines großen Regisseurs."

[10] Vgl.: Choisy, 1954, S. 319

[11] Vgl.: Choisy, 1954, vgl.: Kapitel "La Compensation des Erreurs visuelles", S. 319-324

[12] Vgl.: Etlin, 1994, S. 87ff. Kapitel: "Curved lines en inclined planes"

[13] Choisy, 1954, S. 330-332

[14] Vgl.: Choisy, 1954, S. 327 -333, Kapitel: Pittoresque - La Ponderation des Masses: Exemple de l'Acropole d'Athène"

[15] Vgl.: Choisy, 1954, S. 333

[16] Le Corbusier hieß mit bürgerlichem Namen Charles  Edouard Jeanneret und nahm das Pseudonym Le Corbusier erst 1920 anlässlich des Erscheinens des Magazins "Esprit Nouveau" an. Ich sehe in diesem Zusammenhang der Einfachheit halber davon ab, zwischen Le Corbusier und Jeanneret zu differenzieren. 

[17] Vgl. dazu auch Etlin, 1994, S. 106
In der Zeit von 1910 bis 1915 arbeitete er an einer stark durch Sitte inspirierten Publikation "La construction des villes".

[18] Vgl.: Giertz, 1975, S. 82 ff.

[19] Vgl.: Beacham, 1994, S. 12

[20] Vgl.: Bablet, 1982, S. 13

[21] Le Corbusier in: Gresleri, 1991, S. 440

[22] Moos, 1968, S. 363

[23] Joedicke, 1990, S. 26

 

 
 
 
 

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November 2004