Gebaute Räume
Zur kulturellen Formung von Architektur und Stadt

9. Jg., Heft 1
November 2004
   

 

___Eduard Führ
Cottbus
  Ja, kann man denn Räume überhaupt bauen?

 

   

 

Der Lattenzaun

Es war einmal ein Lattenzaun
mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.
Ein Architekt, der dieses sah,
stand eines Abends plötzlich da –
und nahm den Zwischenraum heraus
und baute draus ein großes Haus.

Der Zaun indessen stand ganz dumm,
mit Latten ohne was herum.
Ein Anblick gräßlich und gemein.
Drauf zog ihn der Senat auch ein.
Der Architekt jedoch entfloh
nach Afri- od – Ameriko.
 

Morgenstern



Um abzugrenzen: Raum bebauen, also Bauten in einen vorgegebenen Raum stellen, der auch nach dem Bauen der Häuser noch dieser, der bereits vorgegebene, Raum ist, das kann man sicherlich. Aber: Raum bauen?

Wobei ‚Raum’ bei dieser Aussage als spezifischer, subjektiv bestimmter eigenständiger Raum verstanden ist, der sich von anderen gebauten Räumen unterscheidet. Raum in diesem Verständnis ist zudem nicht das Ergebnis einer Kognition allein, sondern ist realisierter Raum, gegenständlicher Raum. Er wird so gedacht, dass er nur dort ist, wo er gebaut wurde. Andere Räume anderer Art können neben ihm bestehen, sie können sich egal sein oder sich gegenseitig beeinflussen. Ein neuer Raum kann an die Stelle eines anderen gestellt werden. Ein Raum kann aber auch dort hin gestellt werden, wo es vorher noch keinen gab.
Das ‚Bauen’ wird so verstanden, dass Raum als Ergebnis individuellen oder gemeinsamen, aber jedenfalls subjektiven Tuns hergestellt und hingestellt ist. ‚Bauen’ meint also subjektiver Entwurf plus konkreter Materialisierung, also Schöpfung einer konkreten Entität.

Es kommt mir im Folgenden nicht darauf an, infrage zu stellen, ob man Raum bauen kann. Ich werde vielmehr untersuchen, wie man Raum und Architektur denken muss, um zu erklären, dass man Raum bauen kann.
(Also eine typische Architekturtheoretikeraufgabe, der stets die Welt erklärt, nachdem sie von anderen hergestellt wurde, der stets erläutert, warum und wie es gelingen muss, nachdem es gelungen ist. – Wenn Sie Architekturtheorie so verstehen.)
Es handelt sich im Folgenden also nicht um eine Diskussion der Wahrnehmung oder Beschreibung konkreter Orte, sondern um die transzendentale Bestimmung einer spezifischen Entität.



 

Unbaubarer Raum


Unbaubarer Raum I: Der objektive Raum der Mathematik

Meine Frage wird – glaube ich - klarer, wenn man sich auf objektive Raumdefinitionen einlässt. Den klassisch verstandenen, euklidisch-mathematischen Raum kann man nicht bauen.
Für ihn gilt – um mit Bollnow, weil ich anschließend auf ihn eingehen werde  – zusammenzufassen:
 

1.    Der Raum ist unabhängig vom ihn wahrnehmenden Subjekt.

2.    Kein Punkt ist vor dem anderen ausgezeichnet. Dieser Raum hat keinen natürlichen Koordinaten-Mittelpunkt.

3.    Keine Richtung ist vor einer anderen ausgezeichnet. man kann durch eine einfache Drehung jede beliebige Richtung im Raum zur Koordinaten-Achse machen.

4.    Der Raum ist in sich ungegliedert und durch und durch gleichmäßig und erstreckt sich in dieser Weise nach allen Seiten hin in die Unendlichkeit.

(dazu siehe Bollnow 1984, S. 18ff)


Der mathematische Raum ist, was er ist. Ich kann noch soviel darin herumbauen, ich werde seine Identität und seine Eigenschaften dadurch nicht ändern. Dies gilt auch für einen nichteuklidisch gedachten mathematischen Raum.
Beide Arten mathematischer Räume sind insofern definiert, als einzelne Operationen in ihm ihre grundsätzliche Definition nicht modifizieren dürfen. Also kann ich ihn nicht bauen, weil das Bauen ein konkretes praktisches Tun ist, die mathematischen Dimensionen aber eben eine ontologische Definition. Ich kann nur in ihm bauen.
Der mathematische Raum steht in der Definition, er entsteht nicht im Bauen.

Der baubare Raum ist singuläres Ereignis. Er ist Ort, er hat einen spezifischen Umfang, eine spezifische Struktur und eine spezifische Identität.



Unbaubarer Raum II: Der objektive Raum der Gattung Mensch

Dem (euklidischen) mathematischen Raum haben Bollnow und andere, etwa Hermann Schmitz, dann einen auf den Menschen und auf seinen Leib bezogenen Raum gegenübergestellt.

Hier gebe es

-          einen Mittelpunkt (der den Raum habende Mensch);

-          ein ausgezeichnetes Achsensystem (durch den aufrechten Gang ergibt sich eine Körperachse, die eine ‚oben – unten’ Dimension aufspannt. Durch den Blick nach vorne gibt sich eine Achse in die Tiefe, die neben seiner Richtungsdimension auch eine temporale Konnotation hat, denn was vor mir ist, ist in gewisser Weise Zukunft (ich werde dorthin gelangen), was hinter mir ist, Vergangenheit. Wie man sagt: ‚das habe ich hinter mir’ und dabei nicht meint, dass etwas im Rücken ist, sondern dass es nun vorbei ist;

-          Gegenden und Orte sind qualitativ unterschieden (etwa die rechte und linke Seite des Menschen);

-          Bedeutungen und Bewertungen (darauf wird in den anderen Artikeln hingewiesen: etwa, dass rechts auch richtig meint).


Soweit die traditionelle Gegenüberstellung.

Ich möchte dies einmal als technologischen Phänomenologismus bezeichnen, wobei in der Bezeichnung auch schon meine Kritik liegt: die Kategorien sind mir zu abstrakt und letztlich nichts anderes als eine Transposition eines objektiven Raumverständnisses in die Phänomenologie.
Denn wenn man nachfragt,

-          wo dieser Mittelpunkt konkret ist, ob es vielleicht der Augpunkt in den Perspektiven, damit also ein virtuelles drittes Auge ist; ob es überhaupt der Kopf ist, oder der Bauch, oder der ganze Körper, mit meiner Brille, mit meinen Schuhen;

-          wenn denn der aufrechte Gang das Achsensystem bildet, ob dann Kleinkind, gelähmter Rollstuhlfahrer, die ans Bett gefesselte alte Frau einen anderen Raum haben;

-          wie aufrecht und preußisch (preußisch = als ob man einen Ladestock verschluckt habe) man gehen muss, um die Achse zu bilden;

dann wird man feststellen, dass diesen Theorien – auch wenn ‚Mensch’ als ‚Leib’ verstanden wird – von einem abstrakten Ideal ausgehen und das konkrete Sein eines Individuum keine Rolle spielt.
‚Mensch’ ist hier nicht der konkrete Mensch, sondern das Abstraktum der Gattung ‚Mensch’.  Der einzelne Mensch kann nur Gattungsraum haben, als konkreter Mensch kann er einen individuell-subjektiven Raum nicht entwerfen und in die Welt stellen, jedenfalls nicht innerhalb der phänomenologistischen Theorie.
Der phänomenologistische Raum konstituiert keinen Ort, sondern eine Welt, das heißt er färbt die Welt als Ganze, er generiert kein Ereignis. Wir führen diesen Raum immer mit uns, er ist durch Gebautes nicht beeinflussbar. Anders formuliert, es handelt sich um die Bestimmung der Räumlichkeit der Welt, aber nicht um die Möglichkeit individuell-subjektiver Räume in der Welt.



Unbaubarer Raum III: Der Raum willkürlicher Bedeutungen

Der phänomenologistische Raum ist in der Fundierung im Menschen gattungsspezifisch und abstrakt, in Bezug auf die Außenwelt ist er völlig willkürlich.
Sei es als soziale Außenwelt, denn wenn, was rechts ist, richtig sein soll und ich deshalb eine Ehrenperson rechts von mir gehen lasse, so ist sie für eine uns entgegenkommende Person links von mir.
Sei es als materiale Außenwelt, denn wenn ich mich drehe, nehme ich meinen Raum mit; was zuerst in der Außenwelt Zukunft war, ist nun auf einmal Vergangenheit, was rechts und richtig war, nun auf einmal links und falsch, ohne dass sich ein Steinchen in der Architektur geändert hat.

Damit gehen die phänomenologistischen Ansätze überein mit anderen willkürlichen Bedeutungen von Raum, etwa diejenigen aus der Semiotik, Semantik, Symbolik, Soziologie, Psychoanalyse und Assoziationspsychologie, die – von den einzelnen Ansätzen, darüber hinweg zu kommen, möchte ich hier absehen – im Grunde Raum als mit Bedeutung besetztes Nichts verstehen.

Räume dieser Art kann man nicht bauen, weil sie nicht vergegenständlicht sind. Sie konstituieren sich allein in den Kognitionen der einzelnen Menschen.

Bedeutetes Nichts ist zudem nicht kommunikabel. Zwar kann man über subjektive Räume sprechen und versuchen, sie einem anderen verbal zu vermitteln. Damit wechselt man aber in ein anderes Medium. Beim gebauten Raum geht es um die Kommunikation im Medium Raum; und nicht um das Ausweichen in ein Ersatzmedium.

Bei der Untersuchung der Frage, ob man Raum bauen kann, geht es also darum, ob man ihn als einzelnen in seiner spezifischen Räumlichkeit vergegenständlichen kann und dann auch, ob man ihn als diesen auch so wahrnehmen kann.





Raum bauen



Raum Sehen in der dritten Person

Es gibt seit der Renaissance die Theorie der perspektivischen Wahrnehmung, die letztendlich impliziert, dass es einen präexistenten Raum gibt, der sich dann als dieser auf der Basis optischer Gesetze (und Optik ist hier als ein naturwissenschaftliches Verfahren zur Garantierung objektiver Wahrheit verstanden) im Menschen abbildet und somit Außenraum im Menschen identisch wiedergibt.

Diese Theorie hat allerdings ein Geheimnis und einen fundamentalen Fehler:
- Der Fehler ist, dass Wahrnehmung so nicht funktioniert.
- Das Geheimnis, das den Fehler bis ins 20. Jahrhundert verdeckt hat, ist der ‚Dritte Mann’.

Dieses Geheimnis muss vorab geklärt werden, weil es eine Grundlage für Erkenntnisse über baubaren Raum ist. Es liegt im Verständnis von Sehen als optischem Abbildungsprozess.
 

 




 
  Dies möchte ich erläutern:
Im 20. Jahrhundert wird das Sehen zumeist mit dem Funktionieren eines Fotoapparates verglichen, hier eine Abbildung aus einem psychologischen Fachbuch: (Abbildung 1)

Sehen ist dabei ein optischer Abbildungsprozess, ein technischer Vorgang, der ohne Willkür eines Subjekts, also ohne seine Ausdeutung, Interpretation, Konstruktion, abläuft. Das Sehen ist erfolgt indem das Abbild auf die Retina fällt.

Dieses Verständnis geht bis in die Renaissance zurück, es liegt im Grunde im Verständnis von Perspektive. (Abbildung 2)
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Abbildung 1:
Abbildung aus einem psychologischen Fachbuch

 

  Abbildung 2:
Dürer Underweysung
1525
    Wenn man etwa eine Abbildung aus Dürers Abhandlung über die Perspektive aus der ‚Underweysung’ von 1525 nimmt, so sehen wir einen Tisch in einem Atelier, der durch einen Rahmen mit einem aufgezogenen Raster unterteilt ist, durch das ein Künstler, dessen Auge auf der Spitze eines Miniaturobelisken fixiert ist, auf ein auf diesem Tisch in klassischer Weise da liegendes weibliches Modell sieht. Die Frau ist entblößt, liegt aber auf einem Tuch, in das ihr rechter Arm und ihr linkes Knie gewickelt sind, mit dem sie zudem ihre Scham bedeckt. Ihr Kopf ruht auf zwei Kissen. Der Künstler hat sich das Raster des Rahmens noch ein zweites Mal auf den Tisch gezeichnet und trägt nun – wie wir aus dem Text der ‚Underweysung’ wissen – die Werte von dem vor ihm aufgespannten Raster ab.
Der Tisch steht vor einer Wand mit zwei Fenstern, durch die man nach draußen schauen kann. Durch das Fenster hinter der Frau sieht man eine Landschaft, die sich in ihren Rundungen auf den Körper der Frau bezieht. Durch das andere Fenster sieht man einen Horizont in einer nicht näher bestimmten Landschaft. In diesem Fenster stehen eine kleine Amphore und ein Blumentopf mit einer rund geschnittenen Pflanze, der wegen seiner Form eine ästhetische Beziehung zum Kopf des Künstlers aufnimmt. Wieweit mit der Amphore auf die Frau angespielt wird, sei dahin gestellt.
Der Sinn des Bildes ist es, ein technisches Hilfsmittel zu zeigen, wie man empirisch ein richtiges Abbild eines Körpers erlangen kann.

Das ist doch banal, sagen Sie jetzt. Das sehe ich doch, warum beschreibt er das denn noch?

In der Tat, wir sind es, die das sehen. Wir sehen das schöne Modell in ihrer klassischen Haltung und ihrer Sinnlichkeit. Wir sehen die Beziehungen zur Landschaft und zu den Dingen im Fenster. Der Künstler sieht zwei Unterschenkel, zwei immense Knie und ein zusammengeknülltes Tuch; ansonsten ein paar hinter den Knien hervorlugende Reste des weiblichen Körpers, wahrscheinlich nicht einmal das Gesicht der Frau.
So wie dem abgebildeten Künstler aus der Sicht der ersten Person die Frau nicht gegeben ist, sondern nur uns als (Quer-)Betrachter des Bildes, so auch der Raum.
 
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Abbildung 3:
aus Descartes
  Nur ein "Dritter Mann" (natürlich Frau oder Mann) sieht das Modell und den Raum, nicht der im Bild abgebildete Künstler.

Der ‚Dritte Mann’ allein – und es war Descartes, der einmal das Geheimnis seiner Existenz verriet (Abbildung 3) – sieht die dritte Dimension des Raumes. Er sieht quer auf die Tiefendimension des die Frau abzeichnenden Künstlers.
Er ist es auch, der die im Fotoapparat eingezeichneten Tiefenlinien sieht. Allerdings sieht er sie nicht als Tiefe, sondern als Querdimension.
Dies wird gerade in der ersten 'richtigen' Beschreibung der Konstruktion einer Zentralperspektive bei Alberti deutlich. Um die Tiefendimension eines vorgegebenen und abzubildenden Raumes zu erfassen, stellt er sich neben sich, sieht so quer auf die Tiefe und addiert sie dann zu der (zweidimensionalen) Fläche von Breite und Höhe, um daraus dann den abgebildeten Raum zu konstruieren. Seine Perspektivkonstruktion beruht im Kern auf der Annahme eines ‚Dritten Mannes’ (siehe L. B. Alberti, de pictura; in: C. Grayson; L. B. Alberti. On Painting and on Sculpture...; London 1972).

Nehmen wir noch einmal Dürers Darstellung. Sie besteht eigentlich aus zwei Teilen, der rechte Teil des Bildes zeigt die linearperspektivische Wahrnehmung des Künstlers, der linke Teil das linearperspektivisch abzubildende räumliche Modell. Genauer: im rechten Teil des Gesamtbildes betrachtet der Betrachter den Künstler bei der Betrachtung (des Modells), im linken betrachtet der Betrachter das Modell direkt.
Der Künstler (im rechten Teil) sieht aus seiner direkten Sicht die (Knie und Unterschenkel der) Frau, in einer Weise, wie wie wir, die Betrachter die Frau sehen; Beide, Künstler und Betrachter sehen die Frau ohne jede Linearperspektive. Der Künstler im Bild ist zum Modell in der gleichen Position, wie der Betrachter des (linken Teils des) Bildes. Im linken Teil des Bildes gibt es keine direkten linearperspektivischen Linien (vielleicht kann man Dürer auch unterstellen, daß er sie bewußt vermieden hat), es handelt sich um einen organischen Körper, geometrische Körper (Tisch, Fensterbank Ecken des Zimmers), die helfen, eine Linearperspektive herzustellen, sind nicht gezeigt. Der Künstler kann den Körper des Modells nur mit Hilfe des 'Dritten Mannes' konstruieren, ohne ihn hat er keine Hinweise über die räumliche Lage und damit verbunden über die Form von Unterschenkels und letztlich des gesamten Modells (Anmerkung 1).


 
 

Nun verzwickt sich das Problem noch weiter, denn während der Künstler - in der innerbildlichen Realität - tatsächlich ein dreidimensionales Modell hat, hat der Betrachter nur ein zweidimensionales Muster. Der Betrachter hat also eigentlich gar nicht das Modell vor Augen, sondern den Rahmen mit der gerasterten Gaze, der sich zwischen Künstler und Modell befindet.
Ohne Frage sehen wir aber das Modell dreidimensional. Die Frage ist aber, wieso? Wieso sehen wir das Vorgegebene falsch, nicht als Abbildung des Vorgegebenen, also als Fläche mit Mustern, was es ja tatsächlich ist, sondern als Person im Raum, also als dreidimensionaler Körper mit einer spezifischen Bedeutung für uns im Raum.


Abbildung 4:
Detail aus Dürer
 

 

Wieso sehen wir eine Frau?
Wieso ist der Körper der Frau dreidimensional?
Oder - um mich auf einen Ausschnitt im Bild zu beziehen (Abbildung 4) - wieso sehe ich die paar Punkte und Striche als Landschaft?

Da hilft es auch nicht weiter, dass wir heute ins Spiel bringen können, dass wir ja akkomodieren und zudem zwei Augen haben, und so Tiefe ‚berechnen’ können. Denn das Verfahren hilft zum einen nur in einem Nahbereich weiter, impliziert zudem ein Rechenverfahren (wie auch immer das geht und was auch immer mit ‚Berechnung’ gemeint ist), das eine Unbekannte zu viel hat (siehe noch einmal Anmerkung 1) und geht bereits von einer Objektidentität aus.
Es klärt nicht, dass man auch mit nur einem Auge die Welt räumlich sieht und dass man das Dürerbild nicht als ein Muster von Flecken auf einer Fläche sieht, sondern als dreidimensionale Personen und Dinge in einem Raum.


Raum Sehen in der ersten Person

Eine sinnvolle und überzeugende Alternative zu dieser Vorstellung gibt uns J. J. Gibson, der im 2. Weltkrieg im Auftrag der amerikanischen Armee (aus dem nahe liegenden Grund der Flüge der Luftwaffe über den Atlantik) die Raumwahrnehmung erforscht und 1950 dann als neuen Ansatz publiziert hat.

Gibson untersucht nicht, wie sich vorgegebener Raum in seiner Dreidimensionalität abbildet, sondern wie aus der zweidimensionalen Abbildung auf der Retina, Raum generiert wird. Zugleich nimmt er den Raum nicht als einen Gegenstand an, der sich vor einem als statisch angenommenen Menschen befindet, sondern als Raum, in dem sich der Mensch bewegt.
In seinen Untersuchungen erkannte er, dass die Oberfläche von Gegenständen und ihre Veränderungen genommen wird, um Raum zu konstruieren (Abbildung 5). Deshalb kann er mit seiner Erklärung auf den Dritten Mann verzichten. Sein „Grundgedanke ist, daß visueller Raum nicht als Gegenstand oder als Ansammlung von Gegenständen in der Luft, sondern als kontinuierliche Oberfläche oder (als; E. F.) eine Abfolge aneinanderstoßender Oberflächen aufzufassen ist.“ (Gibson 1950/73, S. 25)

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Abbildung 5a:
Wasseroberfläche

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Abbildung 5b:
Bodenoberfläche
 
  Seine These besagt, dass jeder Körper aufgrund seiner Materialität eine detaillierte Oberfläche hat. Bei gleichem Material sind diese Details – mehr oder weniger – gleich groß. Sieht man im rechten Winkel auf diese Oberfläche, so bildet sich ein Muster mit durchgehend gleich großen optischen Details ab. Verwinkele ich diese Oberfläche zu meiner Sichtachse, so verändert sich das Verhältnis dieser Details auf meiner Retina in einer bestimmten, algorithmischen Weise, aus der ich dann – wie bei der homogenen Abbildung - kognitiv die Lage im Raum konstruiere.
Gibson spricht in diesem Zusammenhang von Gradienten, seine Wahrnehmungstheorie wird Gradienten- oder Oberflächentheorie genannt.

Die Gradienten ermöglichen es, in Umwelten, in denen es keine geraden Linien, Parallelen und Rechte Winkel gibt, Tiefe und Raum zu konstruieren.
 
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Abbildung 6:
modifiziert (Anmerkung 2)
nach Gibson, S. 182
 
  Mit dem Beispiel Wahrnehmung eines Zaunes thematisiert Gibson zudem ein bis zu seinen Untersuchungen nahezu völlig übersehenen Aspekt des Zusammenhang von Körperbewegung des wahrnehmenden Subjekts und seiner Wahrnehmung. (Abbildung 6)

Die fünf Zeichnungen sind Momentaufnahmen beim Passieren eines einzelnen Zaunes; die erste Zeichnung zeigt den Anblick des Zaunes, wenn ich mich ihm von links nähere, die nächste Zeichnung dann, wenn ich etwas näher bin, dann wiederum wenn ich ihn gerade passiert habe und dann zwei Zeichnungen, wenn ich mich nach rechts von ihm entferne und zurückblicke. Jede einzelne Zeichnung zeigt das entsprechende Wahrnehmungsbild (damit meine ich das Bild, das am Ende der Wahrnehmung als Bewusstseinsinhalt entstanden ist), wobei die den Zeichnungen zugehörigen fünf Wahrnehmungsbilder nur Momente in einer fortlaufenden Reihe sind; jedes nächste Wahrnehmungsbild ist eine geringfügige Modifikation des vorhergehenden.
 
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Abbildung 7a:
Bewegungsperspektive
bei Fixierung einer bestimmten Stelle;
Abb. nach Gibson S. 192

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Abbildung 7b:
Bewegungsperspektive
mit einer Wolkendecke;
Abb. nach Gibson S. 191

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Abbildung 7c:
Verformungsgradienten
bei einem Landeanflug;
Abb. nach Gibson S. 195
 
  Da im Zentrum seiner Untersuchungen – wie eingangs hervorgehoben – die Wahrnehmung von Raum und die Verortung in diesem beim Fliegen stand, also bei einer schnellen Eigenbewegung des wahrnehmenden Subjekts, untersucht er besonders das Vorbeifliegen, Anfliegen und Landen. (Abbildung 7)
Wie bereits bei dem Zaun dargestellt, verschieben sich die Differenzierungen zueinander, wenn das wahrnehmende Subjekt sich bewegt. Fixiert es dabei einen bestimmten Punkt, so bewegen sich die vor diesem virtuellen Punkt in der Landschaft befindlichen Gegenstände in einem bestimmten Algorithmus in Richtung der Bewegung des wahrnehmenden Subjekts, während sich die hinter dem virtuellen Punkt befindlichen Gegenstände sich in einem bestimmten Algorithmus in Gegenrichtung bewegen. Fliege ich unter einer Wolkendecke und schaue unfixiert in die Ferne, so bewegen sich die visuellen Details auf mich zu und dann über mich hinweg bzw. unter mir hindurch. Fixiere ich wiederum einen bestimmten Punkt, wie beim Landanflug den Aufsetzpunkt meines Flugzeuges auf der Landebahn, so bewegen sich die davor liegenden Spots auf mich zu, die dahinter liegenden sowohl vom fixierten Punkt wie von mir als Fliegendem weg.
Die Bewegung der Elemente hängt also vom sich bei der Wahrnehmung bewegenden Subjekt ab. Sie verschieben sich in Abhängigkeit von der Bewegung und vom Ort des wahrnehmenden Subjekts. Dies sind Veränderungen, die einerseits durch die äußeren optischen Gegebenheiten bestimmt werden, insofern also nicht willkürlich sind, andererseits aber auch durch die willkürliche Fixierung des wahrnehmenden Subjektes bestimmt werden können.
Gleichwohl gibt es durch die Transformationsalgorithmen der Gradienten eine nahezu eindeutige Ordnung, die zur Rekonstruktion des Raumes, meines Ortes im Raum und meiner Geschwindigkeit benutzt wird.
Wahrgenommener Raum ist bei Gibson also nicht objektive  dreidimensionale Abbildung eines gegenständlichen Raumes, sondern Ergebnis subjektiver Generierung von Raum. Raumwahrnehmung meint bei ihm nicht Wahrnehmung mit dem Endprodukt Raum, sondern fließende Erkenntnisarbeit. Raumwahrnehmung meint bei ihm nicht Wahrnehmung des Gegenstandes Raum, sondern Verortung im Raum.
Raum generiert sich bei Gibson durch die (Oberfläche der) Dinge, Es gibt weder (spezifischen) Raum ohne Dinge, noch Dinge ohne Raum. Der Raum ist nicht leer.
Gibsons Theorie der Wahrnehmung erklärt , wieso die Architektur eine Rolle spielt. Nicht als Anzeiger von Raum aufgrund Ablesbarkeit der Tiefenlinien, sondern als Basis der Generierung von Raum aufgrund von Oberflächen, also aufgrund der Existenz von Dingen.

Gibsons Theorie ist bestens geeignet, die Generierung von Raum durch zweidimensionale Vorlagen wie Fotografien und oder Film zu erklären. Gibsons Theorie der Wahrnehmung ermöglicht es, die Wahrnehmung von Raum in der ersten Person als eine objektive Ebene der Kommunikation zu finden. Sie muss deshalb – endlich (Anmerkung 3) – die Erklärung von Raum mit Hilfe einer dritten Person ablösen.

Hinzu kommen aber noch Farbe und Form, die teilweise auch von Gibson angesprochen werden, die ich hier zumindest noch erwähnen möchte.
Die Farbe der Elemente auf der Retina führt dazu, Raum zu konstruieren. Bereits Leonardo hatte darauf hingewiesen, die moderne Malerei - siehe etwa Joseph Albers, Mark Rothko oder James Turell - arbeitet damit.
Die Form der Elemente auf der Retina ist in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts intensiv von der sogenannten 'Gestalt'psychologie untersucht worden. Dabei stand vor allem die Frage im Vordergrund,  wie Formen als Gegenstände wahrgenommen werden. Damit verbunden waren aber auch Untersuchungen zur Lage der Gegenstände im Raum, bzw. zur Konstruktion von Raum.

Alle diese Erklärungen beinhalten, daß sie die Wahrnehmung von Raum nicht als technische Abbildung eines vorgegebenen Raumes verstehen, sondern als Konstruktion von Raum aufgrund einer zweidimensionalen Abbildung auf der Retina. Wahrnehmung ist für sie nicht das wahre Nehmen eines außen Vorgegebenen, sondern ein innerer kognitiver Konstruktionsvorgang. Wahrnehmen ist für sie nicht optische Spiegelung, sondern Sehen, d. h. kein Vorgang auf der Retina als Spiegelung vor-retinaler Gegenstände, wie in einem Fotoapparat, sondern ein zentraler kognitiver Verarbeitungsvorgang (hinter der Retina) eines Lebewesens auf der Basis ursprünglich optischer Informationen auf der Retina.

Auch hier ist der Mensch in seiner Körperlichkeit als solcher, also als Gattungswesen, verstanden, und damit wäre der Ansatz mit einer phänomenologistischen Theorie vergleichbar.. Hier allerdings ist der konkrete Körper in seiner spezifischen physiologischen und psychischen Konstitution genommen. Im Gegensatz zu der weiter vorne dargestellten Theorie hat er den Raum nicht und nimmt ihn nicht mit sich.
Hier ist nur das Vermögen der Wahrnehmung gattungstypisch, aber nicht die Inhalte oder die Ergebnisse der Wahrnehmung. Diese hängen von den jeweils vorgegebenen optischen Informationen auf der Retina ab. Ändern sich die Informationen, ändert sich auch das Ergebnis. Er bildet Raum jeweils aus visuell vorgegebenen spezifischen Informationen.
Gegenstandsabhängigkeit, Spezifik und Jeweiligkeit führen dazu, daß es Raum als Orte geben kann.

Wichtig ist mir abschließend hervorzuheben, daß in allen den hier aufgeführtenWahrnehmungstheorien davon ausgegangen wird, dass man sich täuschen kann.
Wobei 'Täuschung' meint, dass es dazu kommen kann, dass man einen anderen Gegenstand und einen anderen Raum konstruiert als er außen vorgegeben ist.
Aber stimmt es wirklich, bzw. inwiefern stimmt es, dass ich mich täusche?
Von 'Täuschung' muß man sprechen, wenn man sich auf das Mißverhältnis der äußeren Wirklichkeit zur wahrgenommenen, d. h. konstruierten Wirklichkeit bezieht.
Von 'Täuschung' wird man kaum sprechen können, wenn man festhält, dass es sich aufgrund der physischen und psychischen Beschaffenheit des Menschen hier um eine individuumsübergreifende, menschheitsadäquate Aneignung handelt.
Ich 'täusche' mich, und das ist gut so. Sonst könnte ich weder einen Film, noch eine Fotografie oder ein Bild sehen und die gemeinten Inhalte und Geschehnisse verstehen. Nur weil der Mensch sich 'täuscht' nimmt er den Papst am Ende der scala regia im Vatikan für größer als er ist.
Nur weil der Mensch sich 'täuscht', kann er Raum bauen.

 

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Abbildung 8:
Visuelles Feld (Ernst Machs Abbildung, hier gedreht)

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Abbildung 9:
Visuelle Welt (Ernst Machs Abbildung, zurückgedreht)
 
  Raum Sehen als Entwurf einer Welt

Die zuletzt angesprochenen Theorien der Wahrnehmung basieren auf der Visualität der Welt; und das ist richtig und zur Erklärung der Generierung von Raum sehr hilfreich. Sie gehen aber kaum über die Visualität der Welt hinaus.

Lange vor ihnen hat Ernst Mach den Unterschied zwischen einem vorgegebenen optischen Muster, das er das visuelle Feld nennt, als Wahrnehmungsprozeßbeginn und der visuellen Welt, als das Arbeitsergebnis der Wahrnehmung artikuliert. (Abbildung 8)

Was wir hier sehen, ist zuerst einmal ein abgezeichnetes ‚visuelles Feld‘. Es ist eine korrigierte (Ausgleich der Konkavität der Retina) Wiedergabe des Retinabildes vor jeder Wahrnehmungsleistung durch das Wahrnehmungssubjekt. Es ist ein zweidimensionales Bild, ohne jede räumliche Tiefe, ohne jede Dingidentifizierung und ohne jegliche Bedeutung. Die optischen Gegebenheiten des visuellen Feldes sind zweidimensional.

Die visuelle Welt hingegen entsteht durch Identifikation der Flecken als bestimmte Dinge und in bestimmtem Raum. (Abbildung 9)

Das visuelle Feld schlägt in die visuelle Welt um, indem ich die Dinge identifiziere, sie als Oberflächen von Dingen nehme und damit zugleich Raum konstituiere und sie in diesem Raum verorte.

Die Elemente der visuellen Welt haben dann Rückseiten und Innenleben, sie haben Funktionen und Bedeutungen, sie haben Geschichte, und sie haben eine intentionale und temporale Potenz.
So erkennt man etwa in dem obigen Bild die längliche optische Gegebenheit in der Hand (wobei ich bereits spezifische optische Flecken als Hand rekonstruiert habe) als Stift. Er ist aber nicht nur Stift, sondern wir erkennen ihn als den Stift, den Ernst Mach benutzt hat, um das visuelle Feld zu zeichnen.
(Wenn wir über den Stift nachdenken – etwa, ob er überhaupt an dieser Stelle sein kann – dann stellen wir fest, dass er entweder auf dem visuellen Feld sein muss, da er zu dessen Zeichnung benutzt wurde oder aber dass er auf einem Blatt Papier in der visuellen Welt sein müsste, auf dem das visuelle Feld abgebildet wäre. So, wie er nun gezeichnet ist, erkennen wir, dass es sich tatsächlich nicht um das visuelle Feld handelt, sondern um eine hyperreale Darstellung des visuellen Feldes für ein Publikum.)
Wir sehen, dass Ernst Mach ein spartanisch eingerichtetes Arbeitszimmer (ohne Teppich und Gardinen) hat, keinen Schreibtisch, aber einen sehr bequemen Sessel. Wir sehen, dass er den Stift bewegen wird, und dass er aufstehen könnte, etwa um das Fenster zu öffnen.
Der Raum (ich meine hier Raum und nicht Zimmer) erhält seine Identität - man könnte auch Gestimmtheit oder Atmosphäre sagen - durch die Dinge, die in bestimmter Weise und in  bestimmter Referenz auf ihre eigene Vergangenheit und Zukunft, sowie auf die anderen Dinge, in ihm sind. Da Dinge in einem Funktions- und Handhabungszusammenhang stehen, ist dieser Raum nicht nur abstrakt Raum, sondern Handlungsraum, Raum der sich aufgrund meiner Handlungsmöglichkeiten in seiner Seinsqualität und der aufgrund seiner Seinsqualität Handlungsmöglichkeiten konstituiert.
Wenn wir also die Abbildung betrachten und die Dinge im Raum verorten, dann nehmen wir die Dinge in ihren Identitäten, in der Logik ihres Zueinander, in ihren mitgebrachten Vergangenheiten und wahrscheinlichen Zukünften. Deshalb hat der so konstruierte Raum eine spezifische Identität. Funktionalität und Raum sind nur dann Gegensätze, wenn man Raum dingleer und Dinge raumlos definiert.

Welt meint nicht, wie im Weltbegriff der klassischen Phänomenologie, All, d. h. die eine und ganze Welt, hinter und über der es nichts weiter gibt. Welt meint hier das spezifische Für-uns-Sein eines material und örtlich bestimmten Raumes. Deshalb gibt es Welten. Deshalb kann ich beim Betreten eines neuen Raumes auch in eine neue Welt treten.
 

Raum Sehen als Situierung

Das Umschlagen des visuellen Feldes in eine visuelle Welt ist nicht nur ein Vorgang, der sich auf unsere UmWelt bezieht. Er verortet uns in dieser Welt und macht sie zu einem Aspekt unserer selbst. Damit macht sie unser Selbst zu einem Aspekt der Welt.

Dies kann man mit Jean-Paul Sartre als Situierung verstehen. Sartre hat diesen Begriff im vierten Teil seines 1943 veröffentlichten und dann 1952 ins Deutsche übersetzten ‚Versuchs einer phänomenologischen Ontologie’, (Das Sein und das Nichts’) eingebracht. Er erläutert ihn am Beispiel eines Kindes, das von der Eingangshalle eines Hauses aus durch ein Schlüsselloch in einen anderen Raum sieht und plötzlich das Gefühl hat, dabei beobachtet zu werden. In dem Moment, in dem er dies empfindet, macht er das Zimmer hinter sich zu seiner Welt, er verortet sich in diesem Raum und sieht (mental) auf sich. Zugleich macht sich das Kind zum Objekt in diesem Raum, bestimmt sich in seiner Identität und in seinen Handlungsmöglichkeiten durch den Raum, durch die Dinge und die Menschen, die in ihm sind. Es nimmt den Raum als Situation.

Zugleich ist das Kind Subjekt, Autor des Raums und der Situation. Es konstruiert den Raum aus dem Vorgegebenen, aber es konstruiert. Es entwirft die Situation auf der Basis seines spezifischen durch eigene Körperlichkeit, Kognitionen, Emotionen und Begehrlichkeiten bestimmten Handlungsvermögens, aber es entwirft.

Um mit einem Zitat zusammenzufassen und abzuschließen:

Nunmehr können wir den Sinn dieses Sachverhaltes verstehen: wir sind von den Dingen durch nichts, außer durch unsere Freiheit getrennt; sie bewirkt es, daß es Dinge mitsamt ihrer Indifferenz, ihrer Unberechenbarkeit und ihrer Feindseligkeit gibt und daß wir unvermeidlich von ihnen getrennt sind, denn auf dem Untergrunde von Nichtung erscheinen sie und enthüllen sie sich als miteinander verbunden. So fügt der Entwurf meiner Freiheit den Dingen nichts hinzu: er bewirkt, daß es Dinge gibt, das heißt eben, Realitäten gibt, die mit einem Feindseligkeits- oder Benutzbarkeitskoeffizienten versehen sind; er bewirkt, daß diese Dinge in der Erfahrung entdeckt werden, das heißt sich nach und nach auf dem Hintergrund der Welt im Verlauf eines Zeitigungsprozesses abheben; er bewirkt endlich, daß diese Dinge sich als unerreichbar erweisen, als unabhängig, als von mir gerade durch das Nichts getrennt, das ich aus mir absondere und das ich bin. Weil die Freiheit dazu verurteilt ist, frei zu sein, das heißt, weil sie sich nicht als Freiheit erwählen kann, gibt es Dinge, das heißt eine Fülle von Kontingenz, in deren Innerem sie selbst Kontingenz ist; durch Übernahme dieser Kontingenz und durch das sie Überschreiten kann es gleichzeitig eine Wahl und eine Zusammenordnung von Dingen zur Situation geben; und die Kontingenz der Freiheit sowie die des An-sich drücken sich in Situation durch die Unberechenbarkeit und die Feindseligkeit der Umgebung aus. So bin ich also völlig frei und für meine Situation verantwortlich. Aber ich bin auch niemals frei, außer in Situation.

(Sartre 1943, S. 643/644)

 



 

   

Anmerkungen:
 

Abbildung 10
 
  Anmerkung 1:
In den Fachbüchern der Psychologie wird dies mit Hilfe folgender Abbildung verdeutlicht, die wiederum deutlich macht, dass wir in einer perspektivischen Erklärung des Raums zur eindeutigen räumlichen Identifikation die Quersicht durch eine dritte Person benötigen. (Abbildung 10)

Anmerkung 2:
Meines Erachtens ist die entsprechende Abbildung in der Publikation von Gibson für das, was er sagen will, falsch, bzw. sie ist nicht in seiner Intention lesbar. Ich habe sie deshalb verändert.

Anmerkung 3:
Ich sage hier ‚endlich’, weil Gibsons Theorie der Wahrnehmung immerhin 50 Jahre alt ist und trotzdem in die Darstellungslehre an den Hochschulen bisher noch keinen Eingang gefunden hat.
 
   


Literatur:


O. Bollnow: Mensch und Raum; Stuttgart 1984

A. Dürer: Underweysung 1525, zitiert nach A. D.; Schriften und Briefe; Leipzig 1978

R. Descartes: Discourse on method, geometry, and meteorology (1637); Indianapolis 1965

J. J. Gibson: Die Wahrnehmung der visuellen Welt (1950); Weinheim 1973

J. P. Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie (1952); Reinbek 1966

E. Mach: Beiträge zur Analyse der Empfindungen; Jena 1886


 


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9. Jg., Heft 1
November 2004