Gebaute Räume |
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9.
Jg., Heft 1
November 2004 |
___Eduard
Führ Cottbus |
Ja, kann man denn Räume überhaupt bauen? |
Der Lattenzaun Morgenstern
Unbaubarer Raum
1. Der Raum ist unabhängig vom ihn wahrnehmenden Subjekt. 2. Kein Punkt ist vor dem anderen ausgezeichnet. Dieser Raum hat keinen natürlichen Koordinaten-Mittelpunkt. 3. Keine Richtung ist vor einer anderen ausgezeichnet. man kann durch eine einfache Drehung jede beliebige Richtung im Raum zur Koordinaten-Achse machen. 4. Der Raum ist in sich ungegliedert und durch und durch gleichmäßig und erstreckt sich in dieser Weise nach allen Seiten hin in die Unendlichkeit. (dazu siehe Bollnow 1984, S. 18ff)
- einen Mittelpunkt (der den Raum habende Mensch); - ein ausgezeichnetes Achsensystem (durch den aufrechten Gang ergibt sich eine Körperachse, die eine ‚oben – unten’ Dimension aufspannt. Durch den Blick nach vorne gibt sich eine Achse in die Tiefe, die neben seiner Richtungsdimension auch eine temporale Konnotation hat, denn was vor mir ist, ist in gewisser Weise Zukunft (ich werde dorthin gelangen), was hinter mir ist, Vergangenheit. Wie man sagt: ‚das habe ich hinter mir’ und dabei nicht meint, dass etwas im Rücken ist, sondern dass es nun vorbei ist; - Gegenden und Orte sind qualitativ unterschieden (etwa die rechte und linke Seite des Menschen); - Bedeutungen und Bewertungen (darauf wird in den anderen Artikeln hingewiesen: etwa, dass rechts auch richtig meint).
- wo dieser Mittelpunkt konkret ist, ob es vielleicht der Augpunkt in den Perspektiven, damit also ein virtuelles drittes Auge ist; ob es überhaupt der Kopf ist, oder der Bauch, oder der ganze Körper, mit meiner Brille, mit meinen Schuhen; - wenn denn der aufrechte Gang das Achsensystem bildet, ob dann Kleinkind, gelähmter Rollstuhlfahrer, die ans Bett gefesselte alte Frau einen anderen Raum haben; - wie aufrecht und preußisch (preußisch = als ob man einen Ladestock verschluckt habe) man gehen muss, um die Achse zu bilden; dann
wird man feststellen, dass diesen Theorien – auch wenn ‚Mensch’ als ‚Leib’
verstanden wird – von einem abstrakten Ideal ausgehen und das konkrete Sein
eines Individuum keine Rolle spielt.
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Dies möchte ich erläutern: Im 20. Jahrhundert wird das Sehen zumeist mit dem Funktionieren eines Fotoapparates verglichen, hier eine Abbildung aus einem psychologischen Fachbuch: (Abbildung 1) Sehen ist dabei ein optischer Abbildungsprozess, ein technischer Vorgang, der ohne Willkür eines Subjekts, also ohne seine Ausdeutung, Interpretation, Konstruktion, abläuft. Das Sehen ist erfolgt indem das Abbild auf die Retina fällt. Dieses Verständnis geht bis in die Renaissance zurück, es liegt im Grunde im Verständnis von Perspektive. (Abbildung 2) |
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Abbildung 1: Abbildung aus einem psychologischen Fachbuch
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Abbildung 2: Dürer Underweysung 1525 |
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Wenn man etwa eine Abbildung aus Dürers Abhandlung über die Perspektive aus
der ‚Underweysung’ von 1525 nimmt, so sehen wir einen Tisch in einem
Atelier, der durch einen Rahmen mit einem aufgezogenen Raster unterteilt
ist, durch das ein Künstler, dessen Auge auf der Spitze eines
Miniaturobelisken fixiert ist, auf ein auf diesem Tisch in klassischer Weise
da liegendes weibliches Modell sieht. Die Frau ist entblößt, liegt aber auf
einem Tuch, in das ihr rechter Arm und ihr linkes Knie gewickelt sind, mit
dem sie zudem ihre Scham bedeckt. Ihr Kopf ruht auf zwei Kissen. Der
Künstler hat sich das Raster des Rahmens noch ein zweites Mal auf den Tisch
gezeichnet und trägt nun – wie wir aus dem Text der ‚Underweysung’ wissen –
die Werte von dem vor ihm aufgespannten Raster ab. Der Tisch steht vor einer Wand mit zwei Fenstern, durch die man nach draußen schauen kann. Durch das Fenster hinter der Frau sieht man eine Landschaft, die sich in ihren Rundungen auf den Körper der Frau bezieht. Durch das andere Fenster sieht man einen Horizont in einer nicht näher bestimmten Landschaft. In diesem Fenster stehen eine kleine Amphore und ein Blumentopf mit einer rund geschnittenen Pflanze, der wegen seiner Form eine ästhetische Beziehung zum Kopf des Künstlers aufnimmt. Wieweit mit der Amphore auf die Frau angespielt wird, sei dahin gestellt. Der Sinn des Bildes ist es, ein technisches Hilfsmittel zu zeigen, wie man empirisch ein richtiges Abbild eines Körpers erlangen kann. Das ist doch banal, sagen Sie jetzt. Das sehe ich doch, warum beschreibt er das denn noch? In der Tat, wir sind es, die das sehen. Wir sehen das schöne Modell in ihrer klassischen Haltung und ihrer Sinnlichkeit. Wir sehen die Beziehungen zur Landschaft und zu den Dingen im Fenster. Der Künstler sieht zwei Unterschenkel, zwei immense Knie und ein zusammengeknülltes Tuch; ansonsten ein paar hinter den Knien hervorlugende Reste des weiblichen Körpers, wahrscheinlich nicht einmal das Gesicht der Frau. So wie dem abgebildeten Künstler aus der Sicht der ersten Person die Frau nicht gegeben ist, sondern nur uns als (Quer-)Betrachter des Bildes, so auch der Raum. |
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Abbildung 3: aus Descartes |
Nur ein "Dritter Mann" (natürlich
Frau oder Mann) sieht das Modell und den Raum,
nicht der im Bild abgebildete Künstler. Der ‚Dritte Mann’ allein – und es war Descartes, der einmal das Geheimnis seiner Existenz verriet (Abbildung 3) – sieht die dritte Dimension des Raumes. Er sieht quer auf die Tiefendimension des die Frau abzeichnenden Künstlers. Er ist es auch, der die im Fotoapparat eingezeichneten Tiefenlinien sieht. Allerdings sieht er sie nicht als Tiefe, sondern als Querdimension. Dies wird gerade in der ersten 'richtigen' Beschreibung der Konstruktion einer Zentralperspektive bei Alberti deutlich. Um die Tiefendimension eines vorgegebenen und abzubildenden Raumes zu erfassen, stellt er sich neben sich, sieht so quer auf die Tiefe und addiert sie dann zu der (zweidimensionalen) Fläche von Breite und Höhe, um daraus dann den abgebildeten Raum zu konstruieren. Seine Perspektivkonstruktion beruht im Kern auf der Annahme eines ‚Dritten Mannes’ (siehe L. B. Alberti, de pictura; in: C. Grayson; L. B. Alberti. On Painting and on Sculpture...; London 1972).
Nehmen wir noch einmal Dürers Darstellung. Sie besteht eigentlich aus zwei
Teilen, der rechte Teil des Bildes zeigt die linearperspektivische
Wahrnehmung des Künstlers, der linke Teil das linearperspektivisch
abzubildende räumliche Modell. Genauer: im rechten Teil des Gesamtbildes
betrachtet der Betrachter den Künstler bei der Betrachtung (des Modells), im
linken betrachtet der Betrachter das Modell direkt. |
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Nun verzwickt sich das Problem noch weiter,
denn während der Künstler - in der innerbildlichen Realität - tatsächlich
ein dreidimensionales Modell hat, hat der Betrachter nur ein
zweidimensionales Muster. Der Betrachter hat also eigentlich gar nicht das
Modell vor Augen, sondern den Rahmen mit der gerasterten Gaze, der sich
zwischen Künstler und Modell befindet. |
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Wieso sehen wir eine Frau? Da hilft es auch nicht
weiter, dass wir heute ins Spiel bringen können, dass wir ja akkomodieren
und zudem zwei Augen haben, und so Tiefe ‚berechnen’ können. Denn das
Verfahren hilft zum einen nur in einem Nahbereich weiter, impliziert zudem
ein Rechenverfahren (wie auch immer das geht und was auch immer mit
‚Berechnung’ gemeint ist), das eine Unbekannte zu viel hat (siehe noch
einmal Anmerkung 1) und geht bereits
von einer Objektidentität aus.
Eine sinnvolle und
überzeugende Alternative zu dieser Vorstellung gibt uns J. J. Gibson, der im
2. Weltkrieg im Auftrag der amerikanischen Armee (aus dem nahe liegenden
Grund der Flüge der Luftwaffe über den Atlantik) die Raumwahrnehmung
erforscht und 1950 dann als neuen Ansatz publiziert hat. |
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Abbildung 5a: Wasseroberfläche Abbildung 5b: Bodenoberfläche |
Seine These besagt, dass jeder Körper aufgrund seiner Materialität eine
detaillierte Oberfläche hat. Bei gleichem Material sind diese Details – mehr
oder weniger – gleich groß. Sieht man im rechten Winkel auf diese
Oberfläche, so bildet sich ein Muster mit durchgehend gleich großen
optischen Details ab. Verwinkele ich diese Oberfläche zu meiner Sichtachse,
so verändert sich das Verhältnis dieser Details auf meiner Retina in einer
bestimmten, algorithmischen Weise, aus der ich dann – wie bei der homogenen
Abbildung - kognitiv die Lage im Raum konstruiere. Gibson spricht in diesem Zusammenhang von Gradienten, seine Wahrnehmungstheorie wird Gradienten- oder Oberflächentheorie genannt. Die Gradienten ermöglichen es, in Umwelten, in denen es keine geraden Linien, Parallelen und Rechte Winkel gibt, Tiefe und Raum zu konstruieren. |
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Abbildung 6: modifiziert (Anmerkung 2) nach Gibson, S. 182 |
Mit dem Beispiel
Wahrnehmung eines Zaunes thematisiert Gibson zudem ein bis zu seinen
Untersuchungen nahezu völlig übersehenen Aspekt des Zusammenhang von
Körperbewegung des wahrnehmenden Subjekts und seiner Wahrnehmung. (Abbildung
6) Die fünf Zeichnungen sind Momentaufnahmen beim Passieren eines einzelnen Zaunes; die erste Zeichnung zeigt den Anblick des Zaunes, wenn ich mich ihm von links nähere, die nächste Zeichnung dann, wenn ich etwas näher bin, dann wiederum wenn ich ihn gerade passiert habe und dann zwei Zeichnungen, wenn ich mich nach rechts von ihm entferne und zurückblicke. Jede einzelne Zeichnung zeigt das entsprechende Wahrnehmungsbild (damit meine ich das Bild, das am Ende der Wahrnehmung als Bewusstseinsinhalt entstanden ist), wobei die den Zeichnungen zugehörigen fünf Wahrnehmungsbilder nur Momente in einer fortlaufenden Reihe sind; jedes nächste Wahrnehmungsbild ist eine geringfügige Modifikation des vorhergehenden. |
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Abbildung 7a: Bewegungsperspektive bei Fixierung einer bestimmten Stelle; Abb. nach Gibson S. 192 Abbildung 7b: Bewegungsperspektive mit einer Wolkendecke; Abb. nach Gibson S. 191 Abbildung 7c: Verformungsgradienten bei einem Landeanflug; Abb. nach Gibson S. 195 |
Da im Zentrum seiner
Untersuchungen – wie eingangs hervorgehoben – die Wahrnehmung von Raum und
die Verortung in diesem beim Fliegen stand, also bei einer schnellen
Eigenbewegung des wahrnehmenden Subjekts, untersucht er besonders das
Vorbeifliegen, Anfliegen und Landen. (Abbildung 7) Wie bereits bei dem Zaun dargestellt, verschieben sich die Differenzierungen zueinander, wenn das wahrnehmende Subjekt sich bewegt. Fixiert es dabei einen bestimmten Punkt, so bewegen sich die vor diesem virtuellen Punkt in der Landschaft befindlichen Gegenstände in einem bestimmten Algorithmus in Richtung der Bewegung des wahrnehmenden Subjekts, während sich die hinter dem virtuellen Punkt befindlichen Gegenstände sich in einem bestimmten Algorithmus in Gegenrichtung bewegen. Fliege ich unter einer Wolkendecke und schaue unfixiert in die Ferne, so bewegen sich die visuellen Details auf mich zu und dann über mich hinweg bzw. unter mir hindurch. Fixiere ich wiederum einen bestimmten Punkt, wie beim Landanflug den Aufsetzpunkt meines Flugzeuges auf der Landebahn, so bewegen sich die davor liegenden Spots auf mich zu, die dahinter liegenden sowohl vom fixierten Punkt wie von mir als Fliegendem weg. Die Bewegung der Elemente hängt also vom sich bei der Wahrnehmung bewegenden Subjekt ab. Sie verschieben sich in Abhängigkeit von der Bewegung und vom Ort des wahrnehmenden Subjekts. Dies sind Veränderungen, die einerseits durch die äußeren optischen Gegebenheiten bestimmt werden, insofern also nicht willkürlich sind, andererseits aber auch durch die willkürliche Fixierung des wahrnehmenden Subjektes bestimmt werden können. Gleichwohl gibt es durch die Transformationsalgorithmen der Gradienten eine nahezu eindeutige Ordnung, die zur Rekonstruktion des Raumes, meines Ortes im Raum und meiner Geschwindigkeit benutzt wird. Wahrgenommener Raum ist bei Gibson also nicht objektive dreidimensionale Abbildung eines gegenständlichen Raumes, sondern Ergebnis subjektiver Generierung von Raum. Raumwahrnehmung meint bei ihm nicht Wahrnehmung mit dem Endprodukt Raum, sondern fließende Erkenntnisarbeit. Raumwahrnehmung meint bei ihm nicht Wahrnehmung des Gegenstandes Raum, sondern Verortung im Raum. Raum generiert sich bei Gibson durch die (Oberfläche der) Dinge, Es gibt weder (spezifischen) Raum ohne Dinge, noch Dinge ohne Raum. Der Raum ist nicht leer. Gibsons Theorie der Wahrnehmung erklärt , wieso die Architektur eine Rolle spielt. Nicht als Anzeiger von Raum aufgrund Ablesbarkeit der Tiefenlinien, sondern als Basis der Generierung von Raum aufgrund von Oberflächen, also aufgrund der Existenz von Dingen. Gibsons Theorie ist bestens geeignet, die Generierung von Raum durch zweidimensionale Vorlagen wie Fotografien und oder Film zu erklären. Gibsons Theorie der Wahrnehmung ermöglicht es, die Wahrnehmung von Raum in der ersten Person als eine objektive Ebene der Kommunikation zu finden. Sie muss deshalb – endlich (Anmerkung 3) – die Erklärung von Raum mit Hilfe einer dritten Person ablösen. Hinzu kommen aber noch Farbe und Form, die teilweise auch von Gibson angesprochen werden, die ich hier zumindest noch erwähnen möchte. Die Farbe der Elemente auf der Retina führt dazu, Raum zu konstruieren. Bereits Leonardo hatte darauf hingewiesen, die moderne Malerei - siehe etwa Joseph Albers, Mark Rothko oder James Turell - arbeitet damit. Die Form der Elemente auf der Retina ist in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts intensiv von der sogenannten 'Gestalt'psychologie untersucht worden. Dabei stand vor allem die Frage im Vordergrund, wie Formen als Gegenstände wahrgenommen werden. Damit verbunden waren aber auch Untersuchungen zur Lage der Gegenstände im Raum, bzw. zur Konstruktion von Raum. Alle diese Erklärungen beinhalten, daß sie die Wahrnehmung von Raum nicht als technische Abbildung eines vorgegebenen Raumes verstehen, sondern als Konstruktion von Raum aufgrund einer zweidimensionalen Abbildung auf der Retina. Wahrnehmung ist für sie nicht das wahre Nehmen eines außen Vorgegebenen, sondern ein innerer kognitiver Konstruktionsvorgang. Wahrnehmen ist für sie nicht optische Spiegelung, sondern Sehen, d. h. kein Vorgang auf der Retina als Spiegelung vor-retinaler Gegenstände, wie in einem Fotoapparat, sondern ein zentraler kognitiver Verarbeitungsvorgang (hinter der Retina) eines Lebewesens auf der Basis ursprünglich optischer Informationen auf der Retina. Auch hier ist der Mensch in seiner
Körperlichkeit als solcher, also als Gattungswesen, verstanden, und damit
wäre der Ansatz mit einer phänomenologistischen Theorie vergleichbar.. Hier
allerdings ist der konkrete Körper in seiner spezifischen physiologischen
und psychischen Konstitution genommen. Im Gegensatz zu der weiter vorne
dargestellten Theorie hat er den Raum nicht und nimmt ihn nicht mit sich.
Wichtig ist mir abschließend hervorzuheben,
daß in allen den hier aufgeführtenWahrnehmungstheorien davon ausgegangen
wird, dass man sich täuschen kann.
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Abbildung 8: Visuelles Feld (Ernst Machs Abbildung, hier gedreht) Abbildung 9: Visuelle Welt (Ernst Machs Abbildung, zurückgedreht) |
Raum Sehen als Entwurf
einer Welt Die zuletzt angesprochenen Theorien der Wahrnehmung basieren auf der Visualität der Welt; und das ist richtig und zur Erklärung der Generierung von Raum sehr hilfreich. Sie gehen aber kaum über die Visualität der Welt hinaus.
Lange vor ihnen hat Ernst Mach den Unterschied zwischen einem
vorgegebenen optischen Muster, das er das visuelle Feld nennt, als
Wahrnehmungsprozeßbeginn und der visuellen Welt, als das Arbeitsergebnis der
Wahrnehmung artikuliert. (Abbildung 8)
Welt meint nicht, wie im Weltbegriff der
klassischen Phänomenologie, All, d. h. die eine und ganze Welt, hinter und
über der es nichts weiter gibt. Welt meint hier das spezifische Für-uns-Sein
eines material und örtlich bestimmten Raumes. Deshalb gibt es Welten.
Deshalb kann ich beim Betreten eines neuen Raumes auch in eine neue Welt
treten. Raum Sehen als Situierung Das Umschlagen des visuellen Feldes in eine visuelle Welt ist nicht nur ein Vorgang, der sich auf unsere UmWelt bezieht. Er verortet uns in dieser Welt und macht sie zu einem Aspekt unserer selbst. Damit macht sie unser Selbst zu einem Aspekt der Welt.
Dies kann man mit
Jean-Paul Sartre als Situierung verstehen. Sartre hat diesen Begriff im vierten Teil seines 1943 veröffentlichten und dann 1952 ins Deutsche
übersetzten ‚Versuchs einer phänomenologischen Ontologie’, (Das Sein und das
Nichts’) eingebracht. Er erläutert ihn am Beispiel eines Kindes, das von der
Eingangshalle eines Hauses aus durch ein Schlüsselloch in einen anderen Raum
sieht und plötzlich das Gefühl hat, dabei beobachtet zu werden.
In dem Moment, in dem er dies empfindet, macht er das Zimmer hinter sich zu
seiner Welt, er verortet sich in diesem
Raum und sieht
(mental) auf sich. Zugleich macht sich das Kind zum Objekt in diesem Raum,
bestimmt sich in seiner Identität und
in seinen Handlungsmöglichkeiten durch den Raum, durch die Dinge und die
Menschen, die in ihm sind. Es nimmt den Raum als Situation. Um mit einem Zitat zusammenzufassen und abzuschließen: Nunmehr können wir den Sinn dieses Sachverhaltes verstehen: wir sind von den Dingen durch nichts, außer durch unsere Freiheit getrennt; sie bewirkt es, daß es Dinge mitsamt ihrer Indifferenz, ihrer Unberechenbarkeit und ihrer Feindseligkeit gibt und daß wir unvermeidlich von ihnen getrennt sind, denn auf dem Untergrunde von Nichtung erscheinen sie und enthüllen sie sich als miteinander verbunden. So fügt der Entwurf meiner Freiheit den Dingen nichts hinzu: er bewirkt, daß es Dinge gibt, das heißt eben, Realitäten gibt, die mit einem Feindseligkeits- oder Benutzbarkeitskoeffizienten versehen sind; er bewirkt, daß diese Dinge in der Erfahrung entdeckt werden, das heißt sich nach und nach auf dem Hintergrund der Welt im Verlauf eines Zeitigungsprozesses abheben; er bewirkt endlich, daß diese Dinge sich als unerreichbar erweisen, als unabhängig, als von mir gerade durch das Nichts getrennt, das ich aus mir absondere und das ich bin. Weil die Freiheit dazu verurteilt ist, frei zu sein, das heißt, weil sie sich nicht als Freiheit erwählen kann, gibt es Dinge, das heißt eine Fülle von Kontingenz, in deren Innerem sie selbst Kontingenz ist; durch Übernahme dieser Kontingenz und durch das sie Überschreiten kann es gleichzeitig eine Wahl und eine Zusammenordnung von Dingen zur Situation geben; und die Kontingenz der Freiheit sowie die des An-sich drücken sich in Situation durch die Unberechenbarkeit und die Feindseligkeit der Umgebung aus. So bin ich also völlig frei und für meine Situation verantwortlich. Aber ich bin auch niemals frei, außer in Situation. (Sartre 1943, S. 643/644)
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Anmerkungen: |
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Abbildung 10 |
Anmerkung 1: In den Fachbüchern der Psychologie wird dies mit Hilfe folgender Abbildung verdeutlicht, die wiederum deutlich macht, dass wir in einer perspektivischen Erklärung des Raums zur eindeutigen räumlichen Identifikation die Quersicht durch eine dritte Person benötigen. (Abbildung 10) Anmerkung 2: Meines Erachtens ist die entsprechende Abbildung in der Publikation von Gibson für das, was er sagen will, falsch, bzw. sie ist nicht in seiner Intention lesbar. Ich habe sie deshalb verändert. Anmerkung 3: Ich sage hier ‚endlich’, weil Gibsons Theorie der Wahrnehmung immerhin 50 Jahre alt ist und trotzdem in die Darstellungslehre an den Hochschulen bisher noch keinen Eingang gefunden hat. |
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A. Dürer: Underweysung 1525, zitiert nach A. D.; Schriften und Briefe; Leipzig 1978 R. Descartes: Discourse on method, geometry, and meteorology (1637); Indianapolis 1965 J. J. Gibson: Die Wahrnehmung der visuellen Welt (1950); Weinheim 1973 J. P. Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie (1952); Reinbek 1966 E. Mach: Beiträge zur Analyse der Empfindungen; Jena 1886
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