Gebaute Räume
Zur kulturellen Formung von Architektur und Stadt

9. Jg., Heft 1
November 2004
   

 

___Cornelia Jöchner
Cottbus
  Wie kommt 'Bewegung' in die Architekturtheorie?
Zur Raum-Debatte am Beginn der Moderne

 

    Kurz vor 1900 ereignet sich in der kunstgeschichtlichen Forschung ein Perspektivwechsel, dessen Bedeutung für die Geschichte der Architekturanalyse gar nicht hoch genug einzuschätzen ist: die Entdeckung des ´Betrachters´[1], und mit ihm, die Entdeckung des Raumes. Gleich zweimal im selben Jahr, 1893, kommt es zu Äußerungen, die sowohl das Nachdenken über Architektur wie auch die Architektur selbst verändern - zum einen die Antrittsvorlesung von August Schmarsow an der Universität Leipzig unter dem Titel „Das Wesen der architektonischen Schöpfung“; zum andern das Buch des Bildhauers Adolf Hildebrand „Das Problem der Form in der bildenden Kunst“[2]. Beide, Schmarsow wie Hildebrand, erreichen rasch ein größeres Publikum. So wird der Vorlesungstext Schmarsows ein Jahr später gedruckt; weitere Vorträge und Aufsätze zu diesem Thema folgen - über die Dimensionen im menschlichen Raumgebilde, das Tiefenerlebnis, den Rhythmus[3]. Eine ähnliche Wirkung kann Adolf Hildebrand für sich verbuchen: 1907 erscheint sein Buch in englischsprachiger Übersetzung, 1913 ist „Das Problem der Form“ in der dritten Auflage[4].

Diese Autoren an den Beginn einer Beschäftigung mit gebauten Räumen zu setzen, ist nicht ungewöhnlich. Schmarsows Bedeutung für eine solche Theorie gilt als unangefochten, auch Hildebrand kann nicht als unbekannt gelten[5]. Was ich hinzufügen möchte, könnte man den Versuch nennen, die Argumente der Raumdebatte um 1900 in Zusammenhang mit der Entwicklung der Architektur zu bringen. Ich denke nicht wie Ákos Moravánszky, dass sich die Raum-Diskussion lediglich in den Fassadenlösungen des Prager Kubismus zeige und ansonsten keine Auswirkung auf den architektonischen Entwurf gehabt habe[6]. Meine These, auf das Moment der Bewegung eingegrenzt, ist folgende: Über die Tatsache hinaus, dass die Fassade durch den Kubismus räumlich aufgebrochen wurde, gab es eine Wirkung der Raum-Debatte, die fundamentaler ansetzte und die Auffassung vom Gebäude selbst veränderte. Der Raum-Begriff bot hier die Vorstellung einer ´bereinigten´ Architektur, wie sie sich aus der Kritik am Historismus zu entwickeln begann[7]. Er hatte den Vorteil, dass es nicht um ´Stil´ ging, sondern um eine ´eigentliche´ Aufgabe der Architektur. Diese Abstraktion, welche die Voraussetzungen für eine neue Formensprache schuf, wurde u. a. vom Begriff des Raumes geleistet. Wenn heute – wie oben angedeutet – die Voraussetzungen für eine erneute Diskussion architektonischer Räume mit Hilfe der frühen Autoren gesucht wird, so ist deren Verflechtung mit der Entwicklung der Moderne zu berücksichtigen. Ziel meines Beitrages ist, hierfür am Beispiel von ´Bewegung´ eine erste Bestandsaufnahme vorzunehmen.

Dabei war der Aspekt der Dreidimensionalität zunächst gar nicht von der Architekturtheorie neu ins Spiel gebracht worden. Zusammen mit der entstehenden Wahrnehmungspsychologie hatte die sogenannte psychologische Ästhetik die Einsicht geliefert, dass die Wirkung des künstlerisch geschaffenen Objekts nicht ohne ein Subjekt zu denken sei, und nahm hier auch die Räumlichkeit ins Visier[8]. Dies übertrug August Schmarsow in die noch junge Kunstwissenschaft, indem er ´Richtung´ im Raum mit der Bewegung des Subjekts verknüpfte. Aus der Gemengelage verschiedener Wissenschaften heraus entstanden zwei unterschiedliche Modelle zur Beziehung von Raum und ästhetischem Betrachter:
1.) die Vorstellung eines sich bewegenden, aktiven Rezipienten als Voraussetzung für Raumbildung überhaupt;
2.) das Konzept einer Erziehung zum ´richtigen´ Raumerleben.
Im Folgenden möchte ich die beiden Modelle gegeneinander kontrastieren – nicht nur, weil sie für die Herausbildung der Moderne interessant sind, sondern auch, weil sie meines Erachtens für die Architekturanalyse und das Architekturschaffen heute von Nutzen sein können.

 
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Abbildung 1
Karibische Hütte
 
  I.          Das Raum'gefühl' als Einführung des Rezipienten in die Architektur
„Was steckt in dieser Aula der Universität, in der wir versammelt sind, ebenso wie in der Klause des Gelehrten, der einsiedlerisch seinen Gedanken lebt? Was hat der Sitz des Reichsgerichtes drüben mit dem Konzerthaus oder der Bibliothek daneben, mit dem Pantheon in Rom und dem Dom zu Köln, der Schneehütte des Eskimo und dem Zelt des Nomaden gemein?“[9] So fragte August Schmarsow bei Antritt des Lehrstuhles für mittelalterliche und neuere Kunstgeschichte in Leipzig, um sogleich anzumerken, dass der von ihm als „genial“ bezeichnete Architekt Gottfried Semper eine „solche Zusammenfassung des Niedrigsten mit dem Höchsten“ ablehne. Die karibische Hütte, von Semper 1878 als Zeichnung veröffentlicht (Abb. 1), diene diesem nur als Typus, nicht aber als Beispiel von Architektur als Kunst: eine einfache Konstruktion von Stützen und Dach, die Seiten mit textilen Matten verhängt. Schmarsow dagegen will den Kern von Architektur nicht in Konstruktion und Materialität  sehen, sondern in dem durch diese gebildeten Raum. Die Architektur als Kunst reduziert sich für ihn nicht auf Planung und Errichtung, sie entsteht vielmehr erst im Moment der Betrachtung: „Ist die aufgeschichtete Masse zweckvoll behauener Steine, wolgefügter Balken und sicher gespannter Wölbungen das architektonische Kunstwerk, oder entsteht dies nur in jedem Augenblick, wo die aesthetische Betrachtung des Menschen beginnt, sich in das Ganze hineinzuversetzen und mit reiner freier Anschauung alle Teile verstehend und geniessend zu durchdringen?“[10]
 
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Abbildung 2
Gestaltungsprinzipien in den Bauformen der Natur
 
  Die ästhetische Anschauung vermittelt also nach Schmarsow einen Sinn des Ganzen. Der Blick auf den Raum macht es möglich, auch sehr einfache Gehäuse mit komplexen Bauten in einen Formenvergleich zu bringen, etwa den Palast des Sultans mit dem Zelt von dessen Vorfahren. Für die frühe Kunstwissenschaft entstand so das Projekt einer Geschichte des „Raumgefühls“[11]. Mit dieser auf das ´Wesen´ von Architektur abzielenden Sichtweise grenzt Schmarsow sich von Gottfried Semper ab, der Einzelteile der Baugestalt als Symbole der Urfunktionen von Architektur verstand (die Wand entspricht dem textilen Behang; der zentrale Innenraum dem Herd). Jedoch gibt es eine Differenz auch in bezug auf die Raumvorstellung. Ausgehend von den Bauformen der Natur (Abb. 2) hatte Semper Symmetrie, Proportion und Richtung als Prinzipien des Bauens verstanden[12], wobei der architektonische Raum den konstruktiven Abschluss des Bauwerkes meinte[13]. Für Schmarsow dagegen ist die wichtigste Voraussetzung einer Raumgestaltung durch den Menschen nicht die Konstruktion, sondern das Subjekt, dieses trägt ein Bewusstsein für die räumlichen Dimensionen der Architektur in sich selbst - Höhe, Seiten, die Tiefe. An die Stelle des fixen Raumprinzips, das Semper gesetzt hatte, tritt so bei Schmarsow ein Rezipient der Architektur, der den Raum jeweils im Moment der Wahrnehmung herstellt.

´Raum´ ist daher eine „Ausstralung“ des gegenwärtigen Menschen[14], gleich, ob Architekt oder Rezipient eines Gebäudes oder auch nur einer architektonischen Zeichnung. Als „Umschliessung eines Subjekts“[15], wie Schmarsow dies nennt, spiegelt ´Raum´ das Körperbewusstsein des Menschen, ist jedoch kein anthropomorphes Abbild wie bei Vitruv, der die Säulenordnungen auf die Proportionen des männlichen und weiblichen Körpers bezog[16]. Für Schmarsow sind die Richtungsachsen des Gebäudes ein „Correlat“ des Menschen: am wichtigsten die Höhenerstreckung, die im Innenraum als Aussparung der architektonischen Massen die aufrechte Stellung des Subjekts repräsentiert. Die Horizontale entspricht dem Ausstrecken und Tasten der Arme und Hände, der Drehung des Kopfes, dem schweifenden Blick. Die Tiefendimension folgt der nach vorne ausgerichteten Position des Augenpaares, sie genießt dadurch gewisse Priorität, ist jedoch letztlich nur durch die Bewegung des Körpers erfahrbar. Das Raumgebilde kann demnach keine „kalte Krystallisation“ sein, sondern wird durch ein Subjekt bestimmt, das
„sofort sein eigenes Gefühl der Bewegung auf die ruhende Raumform überträgt und ihre Beziehungen zu ihm nicht anders ausdrücken kann, als wenn es sich selbst, die Länge, Breite, Tiefe ermessend, in Bewegung vorstellt, oder den starren Linien, Flächen, Körpern die Bewegung andichtet, seine Augen, seine Muskelgefühle ihm anzeigen, auch wenn er stillstehend die Masse absieht.“[17]

Wenn so die eigenen Erfahrungen von Mobilität unwillkürlich auf die Architektur übertragen werden, gilt für die Tiefe, dass sie „die Richtung unserer freien Bewegung“ ist[18]. Damit ersetzt Schmarsow Sempers „direktionelle Gliederung“ des Baukörpers als Raum nun endgültig durch ein ‚Ich’: „Erst mit der freiern Ausdehnung der Tiefenaxe wird das Gehäuse, das Schlupfloch zum Wohnraum, in dem man sich nicht gefangen fühlt, sondern aus eigener Wahl sich aufhält und lebt. Es ist auch ein geistiges Bedürfnis, das befriedigt wird, indem wir genügenden ´Spielraum´ gewinnen.“[19] Die Architektur als räumliches Gebilde repräsentiert nicht nur den Ort des Subjekts (Höhenerstreckung), sondern garantiert mit der ihr eigenen Tiefe die Bewegungsfreiheit des Menschen; gebauter Raum wird so zum Existential. Schmarsow nimmt hier die spätere Phänomenologie vorweg, wonach Bauen immer auch ´Wohnen´, In-der-Welt-sein heißt. An diesen Gedanken knüpfte Oswald Spengler in seiner Universalgeschichte an, die Richtung „von sich aus in die Ferne“ [20] wurde für ihn zum allerdings fragwürdigen ´Ursymbol´ abendländischer Kultur[21].

Dass jedoch die Architektur mit konkreten Rezipienten rechnet und diesen durch ihre Räumlichkeit bestimmte Bewegungen zusichert, stellte Adolf Hildebrand klar. In der dritten  Auflage seines Buches „Das Problem der Form“ (1913) schreibt er: „Unser Verhältnis zum Raum findet in der Architektur seinen direkten Ausdruck, indem an Stelle der Vorstellung von bloßer Bewegungsmöglichkeit im Raum ein bestimmtes Raumgefühl geweckt wird, und indem an Stelle der Orientierungsarbeit, welche wir der Natur gegenüber vollziehen[,] ein Raum derart gegliedert wird, daß wir durch den Eindruck auf das Auge dieser Arbeit enthoben sind.“[22] Hildebrand verbindet mit Schmarsow – wie Mallgrave und Ikonomou feststellten – die Einsicht in „kinesthetic implications“ unserer Raumerfahrung[23]. Diese Bewegungsempfindungen sind bei Schmarsow und Hildebrand jedoch nicht als Folge von optischen Bildern zu verstehen, sondern Bewegung ist Teil der Rezeption. Sie wird damit zur Handlung, d. h. Interaktion zwischen Benutzer und Architekt, die beide über ein Raumgefühl verfügen. Anders gesagt: ´Raum´ ist hier ein kommunikatives Medium, das die Architektur in Gang setzt, ein konzeptueller Berührungspunkt zwischen Erschaffer und Rezipient. Was Schmarsow an der Architektur zeigte, ist das Ergebnis eines interaktiven Kunstbegriffs.  Wolfgang Kemp schreibt dazu: „Wenn der Rezipient zu einem vollwertigen Gegenüber des Kunstwerks aufgebaut wurde, dann war Schmarsow daran nicht ganz unbeteiligt, da sein Betrachter immerhin schon über einen Körper verfügte, und zwar über einen beweglichen. Sein Zentralsinn ist eigentlich nicht das Auge, sondern der synästhetische Effekt, der etwa beim Abschreiten eines Gebäudes, einer urbanistischen Situation, eines Gartens entsteht.“[24]


II
.         Raum'erleben' als „Erziehung“ des Rezipienten
Schmarsow schien als Kunsthistoriker von der Verpflichtung frei, ins praktische Bauen einzugreifen und rief die Architektur nur dazu auf, sie möge als „Raumgestalterin sich selber wiederfinden, und damit auch den Weg zum Herzen des Laienvolks“ freimachen[25]. Das Diktum ‚Architektur ist Raumkunst’ drang jedoch in alle Bereiche ein, die mit Architektur zu tun hatten; es sei, so stellte Paul Zucker 1924 fest, sowohl von schaffenden Künstlern wie auch von Kunstwissenschaftlern und Philosophen fast unwidersprochen[26]. Jedoch ist gleichzeitig zu beobachten, dass der Raum nun theoretisch mehr und mehr zu einer Sache des Architekten wurde.

Eine der Ursachen hierfür lag in der Konstruktion des architektonischen Rezipienten bei Schmarsow und Hildebrand, dieser erschien nicht als soziale Figur. Damit verfügte die ästhetische Raumtheorie nur über den einen Raum als Selbstzweck, es gab hier keine Räume verschiedener Interessen und Aushandlungspotentiale. Die Folge war eine kaum zu überblickende Häufung von Definitionen, die ´den´ Raum immer besser zu fassen suchten und dabei die Rezipientenrolle unablässig verkleinerten. Gleichzeitig spaltete sich der Rezeptionsvorgang selbst in verschiedene Wahrnehmungsebenen auf; das Moment der Bewegung wurde zunehmend durch den abstrakten Begriff der Zeit ersetzt, wodurch die Handlungsqualität aus dem Rezeptionsvorgang verschwand.

Am Beispiel von Paul Zucker in der Mitte der 20er Jahre kann man sehen, dass ´Bewegung´ zwar weiterhin als die der Architektur eigene Rezeptionsform verstanden wurde. Doch geht sie für ihn vollständig im Zweck des Gebäudes auf. „Zweckhafte Bewegung“, so Zucker, ist die Aufgabe der Architektur: „Dieser Zweck (Benutzung) wird stets in der durch Grundriß und Aufriß zwangsläufigen Leitung von Bewegungen einzelner Menschen oder Menschenmassen bestehen.“[27] Da Bewegung als Ablauf geplant sein muss, ist der Raum nun die alleinige Angelegenheit des Architekten. Die Orientierung, welche die Architektur durch ihre Räumlichkeit in der Außenwelt vornimmt, weicht hier zugunsten einer Idee vom Bauwerk; sie vermittelt sich jedoch nicht als gestalterisches Angebot (das unterschiedlich konzipiert sein kann) an einen Rezipienten, sondern lenkt diesen nur. ´Raum´ entsteht somit nicht als Interaktion zwischen Architekt und Rezipient, er wird nur mehr ‚aufgenommen’: Bewegung ist hier Wahrnehmung im Raum, lässt ihn aber nicht als Vorstellung entstehen.

Der Betrachter sollte schließlich durch gezieltes Raum´erleben´ zu einem „neuen Menschen“ werden. Das zeigt das Lehrwerk, das Laszlo Moholy-Nagy für den Vorkurs am Bauhaus schrieb. Wie viele Künstler dieser Zeit faszinierte ihn die Bewegungsform Tanz, weil er ein „elementares mittel zur erfüllung raumgestalterischer wünsche“ sei[28]. Während solche Räume für Moholy eindeutig durch Subjekte zustande kommen und frei gestaltbar sind, ist bei ihm die Architektur als Raumgebilde der „ökonomischste zusammenhang von grundrißorganisation und mensch“.[29] Herauszuhören sind wieder die zu planenden Abläufe, es fällt das Wort „lebensraum“. Diese elementare Disposition des Gebäudes bedeutet jedoch für Moholy interessanterweise nicht „raumgestaltung“; sie ist etwas anderes: Über die Erfüllung leiblicher elementarer Bedürfnisse hinaus soll der Mensch in Zukunft die „tatsache des raumes erleben“ können, „nicht ein zurückweichen vor dem raum soll die wohnung sein, sondern ein leben im raum, in offenem zusammenhang mit ihm.“[30] Die biologischen Grundlagen des Raumerlebnisses seien jedem gegeben, doch hätte der Mensch im Moment „weder ein bewußtsein noch eine gefühlssicherheit zur beurteilung architektonischer werke als raumgestaltung ... das fluktuieren einander durchdringender raumenergien gleitet unbemerkt an ihm vorüber.“[31]

Was bei Moholy-Nagy als Raum´erleben´ gilt, ist die Öffnung der Räume; die Architektur soll so dem Menschen einen neuen „Lebensraum“[32] geben: „d. h. architektur nicht als komplex von innenräumen, nicht nur als schutz vor wetter und gefahren, nicht als starre umhüllung, als unveränderbare raumsituation verstehen, sondern als bewegliches gebilde zur meisterung des lebens, als organischen bestandteil des lebens selbst. Die neue architektur auf ihrem höchstnivo wird berufen sein, den bisherigen gegensatz zwischen organisch und künstlich, zwischen offen und geschlossen, zwischen land und stadt aufzuheben.“[33]
 
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Abbildung 3
Sicht von einem Stellwerk aus

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Abbildung 4
Treppenschacht des Maschinenraumes auf dem Hapag-Dampfer "Albert Ballin"
 
 

Die Abbildungen zeigen Beispiele aus Moholys Buch, die als Imaginationen künftiger Räume dienen sollten (Abb. 3 und 4). Bisherige Raumgrenzen erscheinen transparent, um so einen möglichen neuen Bewegungsfluss anzudeuten: von innen nach außen, oben und unten. Indem eine neue Architektur solche Bewegungsmöglichkeiten zeigt, überwindet sie Distanzen und wird selbst zu einem dynamischen Element: „heutige raumerlebnisse beruhen auf dem ein- und ausströmen räumlicher beziehungen in gleichzeitiger durchdringung von innen und außen, oben und unten, auf der oft unsichtbaren auswirkung von kräfteverhältnissen, die in den materialien gegeben sind.“[34] Der Rezipient wird diesem Beziehungsreichtum ausgesetzt, um sich an neue Lebensformen zu gewöhnen, sich der Möglichkeiten eines unbegrenzten Raums bewusst zu werden – dazu dient Architektur. Das Raum´erleben´ bei Moholy ist so ein Programm zur Beherrschung des Raumes: eine kinetische Architektur, der der Mensch hinterhereilt. Es soll zu einem neuen Verhalten ‚erziehen’ und setzt insofern eine, wenn auch gesteuerte Aktivität voraus. Wie schnell dies in eine Vorführung von Raumeffekten umschlagen kann, mag abschliessend ein Zitat von Walter Gropius zeigen: „Die Einführung des Zeitelementes in die räumliche Komposition“, so schreibt er 1947, „verstärkt ganz offenbar die Erlebnisintensität des Beschauers. Der Künstler sucht ständig nach neuen Anreizen, die den Betrachter aktivieren und anziehen sollen.“[35] Die elementare Hervorrufung von Bewegung durch die Architektur als Richtung, Ort und Möglichkeit von Sozialität ist hier durch einen kinematographischen Effekt ersetzt. Der Rezipient ist zu einem Benutzer geworden, der optisch gefüttert sein soll.
 







 




 

 


Bildlegenden:

Abb. 1: Semper, Gottfried: Karibische Hütte [veröffentlicht in: Der Stil (...), Bd. 2, 2. Aufl. 1878, S. 263].

Abb. 2: Gestaltungsprinzipien in den Bauformen der Natur, veranschaulicht von Gottfried  Semper [Der Stil, Bd. 1, 1860, S. XXV].

Abb. 3: Laszlo Moholy Nagy: Sicht von einem Stellwerk aus [veröffentlicht in: Von Material zu Architektur, 1929, S. 209; Originalunterschrift].

Abb. 4: Laszlo Moholy Nagy: Treppenschacht des Maschinenraumes auf dem Hapagdampfer „Albert Ballin“ (von unten hinauffotografiert) [veröffentlicht in: Von Material zu Architektur, 1929, S. 209; Originalunterschrift].
 



Literaturangaben:


Allesch, Christian G.: Geschichte der psychologischen Ästhetik. Untersuchungen zur historischen Entwicklung eines psychologischen Verständnisses ästhetischer Phänomene, Göttingen / Toronto / Zürich 1987.

Etlin, Richard: Aesthetics and the Spatial Sense of Self, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, Vol. 56, Winter 1998, S. 1-19.

Hildebrand, Adolf [von]: Das Problem der Form in der bildenden Kunst, 3. Aufl., Strassburg 1913.

Gropius, Walter: Gibt es eine Wissenschaft der Gestaltung?, in: Architektur. Wege zu einer optischen Kultur, Frankfurt am Main / Hamburg 1956, S. 36-37 (zuerst veröff. in: Design Topics. Magazine of Art, Dezember 1947).

Kemp, Wolfgang (Hg.): Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Neuausgabe, erweitert und bibliographisch auf den neuesten Stand gebracht, Berlin 1992 (zuerst: Köln 1985).

Mallgrave, Harry Francis; Ikonomou, Eleftherios (Hg.): Empathy, Form, and Space. Problems in German Aesthetics 1873-1893, übersetzt und eingeleitet durch die Herausgeber, Santa Monica 1994.

Moholy-Nagy, Laszlo: Von Material zu Architektur, hg. von Hans M. Wingler, mit einem Aufsatz von Otto Stelzer, Mainz / Berlin 1968 [Erstausgabe: 1929].

Moravánszky, Ákos (Hg.): Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Eine kritische Anthologie, unter Mitarbeit von Katalin M. Gyöngy, Wien / New York 2003.

Neumeyer, Fritz (Hg.): Quellentexte zur Architekturtheorie, unter Mitarbeit von Jasper Cepl, München u. a. 2002.

Ruby, Andreas: Space Time Architecture, in: Umzug ins Offene. Vier Versuche über den Raum, hg. von Tom Fecht und Dietmar Kamper, Wien / New York 2000, S. 141-145.

Schmarsow, August: Das Wesen der architektonischen Schöpfung. Antrittsvorlesung gehalten in der Aula der K. Universität Leipzig am 8. November 1893, Leipzig 1894.

Ders.: Über den Werth der Dimensionen im menschlichen Raumgebilde, in: Berichte über die Verhandlungen der königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse 48 (1896) (gehalten am 23. April 1896), S. 44-61.

Ders.: Raumgestaltung als Wesen der architektonischen Schöpfung, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 9 (1914), S. 66-95.

Ders.: Rhythmus in menschlichen Raumgebilden, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 14 (1920), S. 171-187

Ders.: Zur Bedeutung des Tiefenerlebnisses im Raumgebilde, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 15 (1921), S. 104-109.

Ders.: Zur Lehre vom Rhythmus, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 16 (1922), S. 109-118.

Ders.: August Schmarsow. Rückschau beim Eintritt ins siebzigste Lebensjahr, in: Die Kunstwissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig 1924, S. 135-156.

Semper, Gottfried: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, oder Praktische Aesthetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde, 2 Bde.; Bd. 1: Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst, Frankfurt am Main 1860.

Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, 10. Aufl. [Erstauflage: 1918], München 1991.

van de Ven, Cornelis: Space in Architecture.
The Evolution of a New History of the Modern Movement, 3. Aufl., Assen / Wolfeboro (New Hampshire) 1987.

Waldenfels, Bernhard: Architektur am Leitfaden des Leibes, in: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden, Teil 3, Frankfurt am Main 1999, S. 200-215.

Wölfflin, Heinrich: Renaissance und Barock. Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien [Erstauflage: 1888], 8. Aufl., Basel / Stuttgart 1986.

Zucker, Paul: Der Begriff der Zeit in der Architektur, in: Repertorium für Kunstwissenschaft 44 (1924), S. 237-245
 


Anmerkungen:

[1] Der Begriff des ´Betrachters´ wird hier im rezeptionsästhetischen Sinn gebraucht, d. h. als Rezipient, der in der Architektur nicht nur visuell agiert. Zur Figur des Betrachters in der bildenden Kunst grundlegend: Kemp 1992.

[2] Schmarsow 1894; Hildebrand 1913.

[3] Schmarsow 1896; ders. 1914; ders. 1920; ders. 1921; ders. 1922.

[4] Diese unterscheidet sich durch ihre Ergänzungen zur Architektur von den früheren Auflagen.

[5] Siehe hierzu die Aufnahme des Textes „Das Wesen der architektonischen Schöpfung“ (1894) in: Moravánszky 2003; S. 153-158; sowie Neumeyer 2002, S. 318-334; der Hinweis bei Waldenfels 1999, S. 201; sowie Ruby 2000.

[6] Moravánszky 2003, S. 132.

[7] Vgl. hierzu die Bewertung seiner Antrittsvorlesung durch Schmarsow selbst: „Das befreiende Wort [der Raumgestaltung, CJ] bedeutete eine Erlösung aus dem formalistischen Bann, und die Absicht des nachdrücklich vorgezeichneten Programms, das die schöpferische Seite der Baukunst von der Urform des Innenraums bis zur Ausgestaltung des Baukörpers und von da zu einer Mehrheit solcher Erscheinungen im größeren Zusammenhang – des Platzes, der Straße, bis zur Stadtanlage und ihrer Umgebung – verfolgt, konnte nur dahin zielen, den Architekten, wie ihren Auftraggebern und Gemeinden die Genugtuung des eigenen Schaffens und Erlebens im Raumgebilde wieder zu eröffnen, und durch die Freude an solchem Menschenwerk für Menschen die Künstler wie die Genießer zu neuer Tatenlust aufzurufen. Der Kunsthistoriker erklärte dem Historismus der Stilimitationen den Krieg.“ (Schmarsow 1924, S. 145-146.) 

[8] Vgl. dazu: Allesch 1987; van de Ven 1987; Mallgrave / Ikonomou 1994; Etlin 1998 (freundlicher Hinweis von Wolfgang Kemp).

[9] Schmarsow 1894, S. 6.

[10] Schmarsow 1894, S. 8.

[11] So formuliert Schmarsow am Ende seiner Vorlesung „Die Geschichte der Baukunst ist eine Geschichte des Raumgefühls (...)“ (Schmarsow 1894, S. 29). Vgl. dazu auch Wölfflin 1986, S. 83-86, der hier vom „Lebensgefühl einer Epoche“ spricht.

[12] Semper, Bd. 1, 1860 (Prolegomena), S. XLIII.

[13] Semper, Bd. 1, S. 227-229.

[14] Schmarsow 1894, S. 15.

[15] Schmarsow 1894, S. 15.

[16] Vgl. dazu: Van de Ven 1987, S. 90.

[17] Schmarsow 1894, S. 19.

[18] Schmarsow 1894, S. 16.

[19] Schmarsow 1894, S 17.

[20] Zitiert nach: Schmarsow 1920, S. 105.

[21] Spengler 1991.

[22] Hildebrand 1913, S. 93.

[23] Mallgrave / Ikonomou 1994, S. 39.

[24] Kemp 1992, S. 52.

[25] Schmarsow 1894, S. 29.

[26] Zucker 1924, S. 239.

[27] Zucker 1924, S. 243.

[28] Moholy-Nagy 1968, S. 195.

[29] Moholy-Nagy 1968, S. 196.

[30] Moholy-Nagy 1968, S. 197.

[31] Moholy-Nagy 1968, S. 200.

[32] Moholy-Nagy 1968, S. 199.

[33] Moholy-Nagy 1968, S. 198.

[34] Moholy-Nagy 1968, S. 203.

[35] Gropius 1956, S. 36-37.

     

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