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0. Architektur: Plan, Ausführung, Produkt
Die
klassische Handlungstheorie untersucht das Verhältnis von Vorhaben und
Ausführungen. Sie unterscheidet zufällige Vorgänge von Handlungen, indem sie
diese als Vollzug von Intentionen begreift. Auf der Vorstellung, dass sich
ein Subjekt durch die Ausführung von Intentionen auszeichnet, beruht auch
die Idee der Architektur als Plan und Ausführung. Kennzeichnet der Plan die
Architektur? Oder ist Architektur das, was das Planen als Arbeit allererst
ermöglicht?
Durch ihre Privilegierung des planvoll eingreifenden Subjekts
vernachlässigen die klassischen Handlungstheorien nicht nur die materiellen
Grundlagen, die das Handeln bedingen bzw. überhaupt erst ermöglichen,
sondern schränken darüber hinaus das Handeln auf die außengerichtete
penetrante Aktivität ein.
Die ganze Bandbreite des Handelns umfasst aber auch die Passivität
und die Selbstveränderung. Die Architektur besteht nicht nur aus dem
Demolieren und triumphalen Errichten, aus Berechnung und Konstruktion,
sondern auch aus dem Erleiden, Sich-Einfügen, Sich-Zurückziehen und Erdulden.
Sie besteht nicht nur aus der Repräsentation eines unbedingten Willens,
sondern auch aus Transformationen, aus Flüssigkeit und Bewegung, aus
Verwandlung und Übertragung.
Will man über die Planungsideologie der
Architektur hinauskommen, so ist ein Handlungsbegriff erforderlich, der
nicht die Kognitionen, das Pläneschmieden und Durchsetzen eines Subjektes
zum Kriterium für eine gelungene Ausführung nimmt, sondern vielmehr die
Frage, wie und woraufhin eine Welt überhaupt erschaffen und verändert wird.
1. Situation
Die Suche nach den Grundlagen des Handelns sollte sich daher auf die
Performativität als wirklichkeitsstiftendes und kulturprägendes Potential
eines (Vollzugs-) Prozesses richten. Ein solcher Prozess entsteht in einer
Situation, in der eine Aktion nahe liegt, aber nicht erzwungen wird.
Performativität hängt von offenen Situationen ab.
Die Einheit einer Handlung mag als Katastrophe, als Unfall, als Ereignis
oder Widerfahrnis, als große Tat oder als dummer Zufall wahrgenommen werden,
sie erschöpft sich jedoch weder in der Wahrnehmung, die sie prägt, noch in
der Bewegung, die sie auslöst oder auf die sie eingeht. Die Handlung ist ein
Prozess, eine Transformation, eine Veränderung, ein Fließen, ein ’rasender
Stillstand’, immer zugleich geprägt von Ruhe und Wandel, das heißt von der
Spannung, die eine Situation von einem Zustand unterscheidet. In einem
Zustand gibt es keinen Raum für Handlungen, keine Strukturveränderung,
keinen Platz für unvorhergesehene Entwicklungen, für Stufen, Schwellen,
Übergänge, wie sie für Situationen kennzeichnend ist.
2. Spielstätte, Schauraum
Was diese Spannung einer offenen Situation hervorruft und auszulösen vermag,
ist nicht erst das menschliche Handlungssubjekt. Vielmehr zählen in einer
Situation die performativen Eigenschaften von Kräften, Dingen und Lebewesen
gleichermaßen.
Dass materielle Grundlagen Situationen gestalten, zeigt sich besonders in
der Architektur des öffentlichen Raums. Denn einerseits muss diese
Architektur darauf ausgerichtet sein, Kräften, Dingen oder Lebewesen
Aktionen zu entlocken und zur Schnittstelle von Interaktionen zu werden.
Dazu muss sie ihre Offenheit einsichtig machen, damit Personen, Dinge oder
Kräfte sich öffentlich in einer unvorherbestimmten Weise zeigen und zur
Erscheinung kommen können. Andererseits muss sie die Wahrnehmung dieser
Aktionen so organisieren, dass diese sich als wirklichkeitsprägend auswirken.
Die Architektur öffentlicher Räume muss also einen Schauplatz eröffnen, sie
muss Wahrnehmung organisieren als einen Erwartungshorizont, in den eine
Handlung eintritt und den sie doch zugleich überrascht. Handlungen
unterscheiden sich nämlich genau darin von Tätigkeiten, dass sie nicht
erwartbar sind, dass sie nicht regelkonform sind.
Diese Organisation kann nicht, wie viele im Anschluss an die moderne
Phänomenologie oder die philosophische Anthropologie meinen, der Körper oder
die Verschlingung von Teilhabe und Distanz in der Zwischenleiblichkeit
leisten, denn deren Wahrnehmungsvollzüge basieren schon auf den kontingenten
Bedingungen einer Situation, die zunächst einmal Handlungsvollzüge, und also
Aktivität und Passivität, Aktion und Reaktion zulassen, einräumen und sogar
evozieren muss. Welche Sinne und welche Aktivationsmuster wir ausprägen, ist
eine biologische Antwort auf die Eigenschaften der Welt, in der wir uns
befinden. Diese biologische Antwort, die Organbildung, ist daher abhängig
von Freiräumen, die als Ressource der Veränderung genutzt werden können. Die
Architektur sollte als Gestaltung der Sinnlichkeit verstanden werden.
Im Zentrum des öffentlichen Raumes steht eine Handlung in dem Sinne, dass
die Architektur dem Ding, der Kraft oder dem Lebewesen einen Spielraum, sich
anders oder auch gar nicht zu verhalten, zu allererst einräumt. Architektur
ist folglich keine starre Voraussetzung, sondern situativ und prozessual.
Sie ist keine Strukturvorgabe, sondern das, was eine Handlung zur
Erscheinung bringt – keineswegs ausschließlich als Gebäude, sondern
beispielsweise als Sich-Versammeln und Aufeinander-Beziehen von Akteuren.
Sie wird ihrerseits von jeder Handlung modifiziert. Das Entwerfen, das
Erbauen, Benutzen und das Verändern des öffentlichen Raumes sind
gleichermaßen Weisen des Handelns. Handlungen antworten aufeinander und
verändern dadurch den Zwischenraum, in dem sie sich abspielen.
Die
Architektur dieses Spielraums macht das, was in einer solchen performativen
Situation entsteht, zu einem Ereignis.
Wenn man
Performativität von der Architektur her analysiert, so ergibt sich erstens,
dass Handlungen von situativen Rahmenbedingungen abhängig sind, die
Unterscheidungen zwischen Abläufen, Vorkommnissen und Vollzügen ermöglichen.
Diese
Rahmenbedingungen legen die Modalitäten solcher Unterscheidungen durch
Verkörperungen fest. Zweitens folgt daraus, dass diesen Unterscheidungen
spezifische Interaktionsmuster entsprechen. Diese Muster kristallisieren
sich aus den Verkörperungen heraus und legen fest, wer handeln kann und was
als Handlung zählt.
Drittens folgt aus
diesem Handlungsbegriff mit Blick auf das Ereignen die These, dass es
situativer Antizipationen bedarf, wenn sich das Unvorhergesehene beobachtbar
einstellen soll.
Die Möglichkeit, absichtsvoll zu handeln, ist lediglich das Derivat einer
performativen Architektur. Aus dieser Infragestellung des Planens folgt,
dass Orte, in dem Maße, wie sie der Planung eines Einzelnen entsprechen,
kaum eine Chance haben, als öffentliche Räume zu wirken. Die Handlung im
Sinne der Planausführung ist der Versuch, der Wirklichkeit Absichten,
Zwecke, Sinnstrukturen aufzuoktroyieren, so dass die situativ generierte
Wirklichkeit nur noch als Erfüllungskriterium der Zwecke eines Einzelnen
oder einer Gesellschaft zählt. Die Performativität des Architekten ist nicht
umsonst bis hin zu Leibniz das Modell des Demiurgen, des Schöpfergottes; es
ist aber auch zugleich das Modell einer politischen Diktatur, in der nur der
eine Wille zählt.
3. Architektur als Zwecksetzung
Aristoteles beschreibt in seiner “Physik”,
dass die Architektonik die Kunst des Arbeitens an einem Material ist, um ein
zweckvolles Objekt herzustellen. Jemand, der dieses Objekt gebraucht, muss
mit seiner Form vertraut sein, der Produzent dieses Objektes aber, als
Architekt, muss die Eigenschaften des Materials im Hinblick auf einen
gewissen Zweck kennen. Der Architekt ist also nicht derjenige, welcher
tatsächlich das Produkt herstellt oder es gebraucht, sondern derjenige,
welcher die Form/Inhalts-Einheit eines Produktes entwickelt, indem er seinen
Existenzgrund projiziert, bevor es überhaupt da ist. Doch das Entwerfen ist
nur eine Variante der Architektur.
Architektur meint zunächst das Bauen (tektainomai) eines
Grundes (Anfang/Ordnung: archè).
Der Ausdruck Archè geht auf Anaximander zurück, von dem es heißt, er
habe auch das Modell seiner Vorstellung von “Archè” konstruiert. Anaximander
scheint zugleich der Erfinder des Begriffs Archè wie auch des Uhrwerkes, des
Gnomons, welches diese Archè darstellt und ins Werk setzt, zu sein.
Die Fähigkeit zur Vorhersage, die er dadurch erreichte, geht einher mit der
Transformation der menschlichen Sphäre in ein großes Uhrwerk. Geht es uns
allerdings nicht um die Zeit, die wir berechnen können, sondern die Zeit, in
der wir leben, so benötigen wir ganz andere architektonische Modelle, um
diese sichtbar zu machen.
4. Archein
Ein anderes Modell für die Errichtung eines Anfangs ist allerdings
die Überlegung des Ursprungs der Handlung durch die Geburtsszene.
Handeln zeigt sich Hannah Arendt zufolge nicht in der Verwirklichung
vorgefasster Ziele, sondern wie bei der Geburt durch unabsichtliche
Geschichten, die sich ergeben. Lebensgeschichten sind Muster, die in ein
Bezugsgewebe von Lebensfäden geschlagen werden und den Menschen enthüllen.
Aus der Situtation des Geborenwerdens rührt die Gleichheit der Menschen als
Akteure. Die Kohärenz der Einzelereignisse wird nicht durch eine innere
Logik, sondern durch den Akt der Erzählung hergestellt. Die Einheit der
Handlung ergibt sich daher, wie beim Akt der Geburt, von Außen, durch das
Erlebnis, das sich anderen mitteilt.
Eine bestimmte Struktur mitmenschlicher Beziehungen, eine künstliche
Welt ist die Bedingung dessen, dass es überhaupt so etwas wie Handlungen
gibt.
Sie ist die äußere Bedingung für die Geburt, für das Auftreten von etwas.
Naturvorgänge kennzeichnet ein unermüdlicher Kreislauf, dessen Kreisen und
Schwingen keinen Platz für Geburt und Tod lässt. So ist Handeln im
Besonderen diejenige menschliche Tätigkeit, die dem Politischen entspricht
und sich wesentlich zwischen Menschen an einem gemeinsamen Ort abspielt.
Handeln heißt etwas Neues Anfangen. „Jede Aktion setzt vorerst etwas in
Bewegung, (…) sie beginnt und führt etwas an im Sinne des griechischen αρχειν.“
Das Handeln ist zwar eine Tätigkeit, es unterscheidet sich aber vom
körperlichen Arbeiten und vom zweckhaften Herstellen. Das Handeln ist
flüchtig und muss, um in die Welt einzugehen und sich als Tatsache in der
Welt anzusiedeln, (erst) gesehen, gehört, erinnert und dann verwandelt,
nämlich verdinglicht werden.
Die Faktizität dieses Bereichs hängt also zum einen von der Gegenwart
anderer Menschen ab, von ihren Sinnen, von ihrer Erinnerung, und zum anderen
von der Verdinglichung, von Verkörperungsakten. Das bedeutet, dass die Dinge
jeder Handlung antworten müssen, sie aufnehmen und anverwandeln. Hierin
zumindest muss Arendts Ansatz ergänzt werden: Die Dinge sind Teil des
Theatralitätsgefüges, das öffentliche Räume stiften, damit sich Handlungen
verkörpern können.
5. Erscheinungsraum
Als Ereignisse, abhängig von Gegenwärtigung und Verkörperung, sind
Handlungen im Wesentlichen unbestimmt. Das Vermögen eines Menschen
anzufangen heißt, dass er sich aller Berechenbarkeit entzieht. Dieses
Vermögen kommt dem Menschen durch den öffentlichen Raum zu, in dem das
Unwahrscheinliche selbst noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit hat. Und diese
Begabung für das schlechthin Unvorhersehbare wiederum beruht ausschließlich
auf der Einzigartigkeit der Erscheinung in diesem Raum.
Der Individualismus hängt weder vom Willen noch von einem genetischen
Fingerabdruck ab, sondern von der äußeren Szenerie der Erscheinung. Die
Geburt ist kein Akt des Individuums, sondern gründet im menschlichen
Zusammensein, das heißt in der Fabrik des politischen Handelns, dem Gewebe,
das alle Akteure zueinander situiert.
Das Handeln bedarf einer Bühne. Dort erst zeigt sich die kollektive
Macht, die etwas Neues anfangen kann, anstatt der Gewalt, die immer nur
bestehenden Zwecken gehorcht. Eigenschaften können kontrolliert, nämlich
verborgen bleiben, wohingegen das, was sich im kollektiven Handeln äußert,
nicht verborgen werden kann.
Bisher stand in der Architekturphilosophie die Analyse der Zustände
im Vordergrund. Raumstrukturen wurden als Macht der Ausrichtung, Anordnung
und der Hervorbringung erörtert. Gegenüber den Setzungen des souveränen
Architekten blieb in dieser Perspektive nur mehr die Subversion durch den
Gebrauch oder die Durchkreuzung einer Setzung durch eine nächste übrig. Mir
scheint es daher geboten, den Blick auf die Situation zu lenken, wie sie
besonders in der Architektur des öffentlichen Raumes zur Geltung kommt. Die
Architektur des öffentlichen Raumes macht nämlich performative Prozesse
jeder Art – und nicht nur die Demonstration von Macht oder die Transgression
von Ordnung – möglich.
In öffentlichen Räumen können sich unterschiedlichste experimentelle
Situationen ergeben. Hier können Parcours kollektivbildender
Erfahrungsproduktion inszeniert werden. Als Muster eines öffentlichen Raumes
ist daher der Stadtplatz anzusehen, für den nicht das Gebaute, sondern
gerade das Ungebaute, nicht die materiellen Rahmungen, sondern die
immateriellen Bewegungs-, Einfluss- und Entzugsmöglichkeiten kennzeichnend
sind, in denen neue Wahrnehmungskonfigurationen entstehen können.
6. Moderne Missverständnisse
Wenn man öffentliche Räume in diesem Sinne nicht als Randzonen oder
städtische Brachen, sondern geradezu als architektonische Höhepunkte
kreativer Anarchie begreift, so muss man sich von einer ganzen Reihe
moderner Missverständnisse verabschieden. Fasst man öffentliche Räume in
diesem Sinne zugleich als Grundlage, als Gegenstand und als Antizipation von
Handlungsvollzügen auf, so wird deutlich, dass traditionelle Kennzeichnungen
ihrer Architektur zu kurz greifen, die lediglich auf Zugänglichkeit,
Multifunktionalität und eine statische Gemeinschaftlichkeit abheben.
Wesentlich ist ihnen nämlich, dass sie experimentelle Konfigurationen
eröffnen. Und diese können durchaus unzugänglich, funktionslos und
antagonistisch sein.
Die Skizze der Architektur des öffentlichen Raumes, die ich bis jetzt
vorgestellt habe, legt den Akzent auf die Gestaltungsbedingungen von
Herrschaftsfreiheit und auf experimentelle Öffnungen, das heißt auf das
Wahrnehmbarmachen und Verkörpern von Qualitäten.
7. Kritik am Raumbegriff
Ziel dieser Begriffsbestimmung ist es einerseits, einen Begriff des
öffentlichen Raumes vorzuschlagen, der weder vom Gegensatz zum Privaten
ausgeht noch von einer Raumauffassung, die lediglich die Repräsentation oder
aber die Subversion von Macht erklären kann. Auch wenn man ihn als
rhythmische Periodisierung fasst, lässt der Raum nur das Durchkreuzen
hegemonialer Wahrnehmungsordnungen zu.
Das Entscheidende beim öffentlichen Raum ist nicht die Frage, ob er dem
Staat oder Privatleuten oder keinem gehört, es ist auch nicht die Frage, wie
er sich zum Geheimnis oder zur Intimität oder zu einer Machtstruktur
verhält, sondern: inwiefern er Grundlage für ereignishafte Interaktionen
werden kann. Der öffentliche Raum entsteht erst aus einer aufgebrochenen
Wahrnehmungsordnung, er ist dynamisch, performativ und anarchisch.
Daher ist es notwendig, einen Begriff des Raumes zu verwenden, der diesen
nicht mehr nur als Strukturvorgabe, Bewegungsanordnung oder Syntheseleistung
auffasst. Denn auch in den jüngsten Debatten herrscht ausgehend von Foucault
und Deleuze immer noch die Auffassung vor, Raum müsse als System, als
Ensemble von Relationen gedacht werden. Auch ein Raumbegriff, der quasi das
Außen der räumlichen Machtdistribution noch mit zu erfassen versucht, und
dabei auf Strategien der Bewegung, der Dauer oder der Deterritorialisierung
zurückgreift, unterstellt die Geschlossenheit dessen, wogegen diese sich
richten, eine Geschlossenheit, die letztlich auf den Handlungs- und
Kognitionskategorien eines humanen Subjekts fußen.
Zumindest der öffentliche Raum aber lässt sich nicht unabhängig von
emergenter Materialität und Performativität konzipieren. Er geht nicht aus
den Ordnungsmustern der Erfahrungs- und der Erkenntnissysteme hervor,
sondern stimuliert auf unsystematische Weise eine Vielzahl sinnlicher
Prozesse, von denen die Erfahrung nur eine Variante ist. Dieser Raum muss
daher als Weite oder Tiefe, als Wirbel oder als Gleiten, als Brechung, als
Streuung, als Strömung begriffen werden, denn er geht aus einer qualitativen
Vielheit hervor.
8. Spannung
Typisch für Stadtplätze ist nämlich gerade die Spannung zwischen den
verschiedenen Bewegungszentren und geometrischen Steuerungsinstrumenten zum
Material, zu den sie umgebenden Häusern, zum Straßenbelag, zum freien
Himmel, zu den Pflanzen und Tieren, zur Ubiquität der Geräusche, zur
Vielzahl möglicher Blickrichtungen, zur ausfransenden Unübersichtlichkeit
der Straßen, Gassen, Tore, Fenster, und zum Unterirdischen. Nicht ein alles
beherrschender Blick, sondern das Risiko der Interaktion, die
Unvorhersehbarkeit des Klimas, das Ausstellen des Organischen, die blinden
Flecken der Gegenseitigkeit prägen die Gestalt der Plätze.
All diese Spannungsphänomene sind nämlich nicht das Andere, das Gegenüber
der klaren und distinkten Platzgestalt, sondern bringen seine Erfahrbarkeit
erst hervor und sind zugleich Teil seiner Erfahrung. Auch vom alltäglichen
Straßenverkehr lassen sich diese Phänomene nicht abstrahieren.
Die kollektive Produktion von Erfahrungen in öffentlichen Räumen
entsteht aus der experimentellen Interaktion von Menschen, Tieren, Dingen,
Kräften usw. Bei solchen Interaktionen sind nicht nur menschliche
Intentionen ausschlaggebend beteiligt. Auch sind sie nicht nur für ein
interpretationsfähiges Bewusstsein relevant, sondern für alle daran
beteiligten Akteure. Humane und nichthumane Aktionen werden von situativen
Auftrittsbedingungen einander zugeordnet. Das Offene einer experimentellen
Situation besteht folglich gerade nicht in den Ordnungskategorien eines
Theatralitätsgefüges, das alle Bewegungen, Wahrnehmungen und Zeichen
einander zuordnet, sondern in der Einräumung der Ausnahme, des
Unabsichtlichen und Unbeherrschbaren.
9. Experimentelle Konfiguration
Daher darf die Verkörperungsfunktion des Handelns nicht nur als
Widerstand oder Anpassung,
Erduldung oder Erfüllung in den Blick kommen, denn sonst bliebe unsere
Analyse den inhaltlichen Vorgaben der aggressiv-penetranten Seite
verpflichtet. Experimentellen Konfigurationen vorgelagert sind Techniken der
Kollektivierung, die grundsätzlich die Unterscheidung von Personen und
Sachen aufzubrechen und neu anzulegen vermögen. Die Inszenierung des
Experiments in der Architektur des öffentlichen Raumes ordnet immer mehrere
mögliche Akteure einander so zu, dass ein Ereignis im Zusammenwirken
mehrerer voneinander unabhängiger Kräfte emergiert, wobei das „Zusammen“
dieser Handlungskräfte wesentlich darin besteht, weitere Handlungen
auszulösen und folglich nicht das Ereignis zu verursachen. Der möglichen
Offenheit und Unberechenbarkeit experimenteller Konfigurationen und der
Singularität dabei entstehender Situationen, die nicht immer von
Instrumenten oder Aufzeichnungsmedien zu stabilisieren sind, entspricht eine
Versammlung außerhalb kulturell und sozial festgelegter Orte. Genau diese
Versammlung leistet der öffentliche Raum. Die Versammlung ist zugleich eine
Desorganisation, bei der Ordnungskategorien einer virtuell unendlichen
Rekombination unterworfen werden. Die Versammlung kann neue experimentelle
Situationen hervorbringen, sie kann aber auch ein abwartendes Sein-Lassen
entstehen lassen, das auch die distanzierteste Beobachtung stets nur stört
und verzerrt.
10. Ereignis ist Handlung
Dieser auf humane Handlungsspielräume zielenden Freiheit des Experiments
entgegen inszeniert der öffentliche Raum jedoch auch unabhängig von
menschlichen Registrationsapparaturen dem Ereignis einen Erscheinungsraum.
Der
öffentliche Raum führt folglich nicht nur die Beherrschbarkeit des
Erlebnisses vor, sondern schafft eine offene Stelle für die „Möglichkeit der
Entmenschung“,
für Erscheinung von etwas in seiner Unähnlichkeit, in seiner Singularität
und Fremdheit. Diese offene Stelle vollzieht daher die Aufhebung von
Unterscheidungen, sie ist die Gelegenheit neuer Entscheidung, die
Gelegenheit zur Hinwendung zu dem, was bislang ausgegrenzt und unmöglich
war. Damit zielt das Ereignis auf eine Freiheit von der Beherrschung (durch
den Menschen).
Schnittpunkt der beiden Schichten des öffentlichen Raumes ist demnach der
Platz für Entscheidungen als Vollzugsform der Freiheit.
Daraus folgt, dass öffentliche Räume Experimente als kollektivbildende
Erfahrungsproduktionen einräumen, bei denen sich Ereignisse als
Entscheidungen in dynamischen Spielräumen einstellen.
Derartige
Ereignisse sind mit Blick auf ihre heteronome Erscheinungsweise weder als
Effekt einer Aktion noch als Signal innerhalb einer symbolischen Ordnung
aufzufassen. Was sich im Ereignis zeigt, besitzt vielmehr selbst eine
Handlungsqualität. Das Ereignis antwortet nicht nur, sondern ist selbst eine
Verkörperung, ein Eingriff, der die experimentelle Situation neu
konfiguriert, auch wenn er als Widerstand, Erduldung oder Erfüllung zu
bewerten ist. Das so verstandene Ereignis liefert daher ein brauchbares
Kriterium, um Handlungen von bloßen Vorkommnissen, von bloßem Tun oder von
physiologischen Funktionen zu unterscheiden: Das Ereignis handelt im Rahmen
des Spielraums, der durch die kollektive Experimentalarchitektur
konfiguriert worden ist. Es ermöglicht dadurch weitere Spielzüge, dass es
von anderen Handelnden in diesem Raum nicht durch einen bloßen Beschluss
hätte herbeigeführt werden können.
Es verändert daher die
Architektur und erweitert den Kreis des Entscheidbaren.
11. Die Leerstelle im Zentrum
Öffentliche Räume setzen sich daher einerseits zusammen aus experimentellen
Konfigurationen, in denen die konkreten Umstände des Erfahrens und die
lokalen Bedingungen der Beobachtbarkeit ausgehandelt werden, und
andererseits aus Zonen der Unverfügbarkeit, aus Fremdkörpern und Schatten,
aus jenem Möglichkeitsraum, der als Ressource der „Verkörperung“ und der „Wahrnehmbarmachung“
genutzt aber nicht funktionalisiert werden kann.
Verkörperung bezeichnet den Vorgang und das Resultat
einer Handlung, die sich aus einer situativen Konfiguration herauslöst.
Diese Verkörperung wird wahrnehmbar in dem Maße, wie der Raum als Medium den
Verkörperungsvorgang inszeniert und in Bezug auf eine bestimmte
Konfiguration der Sinne qualifiziert.
Der Raum vermittelt dann
das Spiel der Veränderung mit den Profilen der Erfahrbarkeit.
Die Architektur des öffentlichen Raumes ist dasjenige, was die Konfiguration
von Schauplätzen und Spielstätten ermöglicht.
Denn das
wirklichkeitsstiftende Potential performativer Prozesse tritt nur dann auf,
wenn Dinge, Kräfte oder Lebewesen sich öffentlich in einer
unvorherbestimmten Weise zeigen. Das Zeigen ereignet sich notwendigerweise
in einem Kollektiv, denn die Wahrnehmbarkeit eines derartigen Prozesses als
Vollzug hängt von der Architektur eines kollektiven Experiments ab, in dem
sich das, was als Handlung gilt, erst herausstellen muss. Dieses
Herausstellen gelingt durch die Figuration von Schichten und Zwischenräumen,
von Impulsen und Oberflächen, von Aufnahme und Vergegenständlichung
innerhalb einer Vielzahl von Schattierungen, sie gelingt durch die
Figuration der Gegenseitigkeit, in der sich Wahrnehmung in einer Zone der
Kontingenz (über jedes Reiz-Reaktions-Schema hinaus) vollziehen kann.
Aus der Verdichtung,
Intensivierung und Abstimmung dieser Figuration entsteht eine Architektur,
die den Zufall erfahrbar und gestaltbar macht.
Durch diese Konfiguration wird die Möglichkeit eröffnet, dass sich
Wahrnehmungsakte verdinglichen, ohne dass sie zugleich schematisiert oder
funktionalisiert würden.
So bringen sie selbst ihrerseits Bedingungen hervor, in denen
eine Handlung auf eine andere antworten kann, ohne dass die
Handlungsereignisse kausal verknüpft wären, denn Handlungsereignisse
bestehen genau in der Wahrnehmung dieses Spielraums. Diese Rahmenbedingungen
machen Handlungen (ganz unabhängig vom Gutdünken der Individuen, denen diese
zugeschrieben werden) als solche sichtbar. Sie können auf viele erweitert
oder auf wenige eingeengt, sie können verflüssigt, verstetigt oder
unterbunden werden. Dass wir überhaupt handeln können, hängt nicht von
unserem Willen, sondern von dieser Architektur ab.
Wo auch immer experimentelle Versammlungen stattfinden, liegt Öffentlichkeit
in diesem Sinne vor. Doch sie kann auch zur Grundlage kultureller Prozesse
werden, wenn die Leerstelle der Versammlung ins Zentrum der Interaktion
gestellt wird.
Wenn
Öffentlichkeit aufgesucht, gestaltet und gesteigert werden kann, wenn sie
zur Emergenz von Handlungsspielräumen führen soll, so lässt sie sich
letztlich nicht auf die Gestaltungskategorien Offenheit, Transparenz,
Unbegrenztheit, Zugänglichkeit oder Nachbarschaft reduzieren, sondern im
Zufall, in der Herrschaftsfreiheit, im Einräumen von Entscheidbarkeit.
Die Architektur des öffentlichen Raumes situiert die Peripherie, die Umwelt,
das Fremde im Zentrum eines urbanen Systems.
Sie entsteht aus raumgreifenden Impulsen, aus Spuren und Sonden, die sich
aus Ordnungen, Herrschaftsformen und Ontologien herauslösen, Kontraste
bilden und neue Möglichkeiten erspüren, insbesondere Möglichkeiten der
freien Assoziation und der Selbstdarstellung des Einzigartigen. So emergiert
aus einer Architektur des Zufalls die Möglichkeit herrschaftsfreier
Entscheidungsprozesse und wünschbarer Interaktionsregeln. Durch diese
Spannng schafft sie einen Freiraum der Erfahrung, eine Reflexionsfläche und
eine Schwelle der Selbstveränderung.
Anmerkungen:
Wie
beispielsweise in dem viel beachteten wissenschaftsphilosophischen
Entwurf von Andrew Pickering, The Mangle of Practice, Time, Agency and
Science, Chicago 1995.
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