9
. Jg., Heft
November 2004
 

Gebaute Räume
Zur kulturellen Formung von Architektur und Stadt


 

___Ludger Schwarte
Berlin
  Die Architektur des öffentlichen Raumes: Ein handlungstheoretischer Ansatz

 

   

0. Architektur: Plan, Ausführung, Produkt

Die klassische Handlungstheorie untersucht das Verhältnis von Vorhaben und Ausführungen. Sie unterscheidet zufällige Vorgänge von Handlungen, indem sie diese als Vollzug von Intentionen begreift. Auf der Vorstellung, dass sich ein Subjekt durch die Ausführung von Intentionen auszeichnet, beruht auch die Idee der Architektur als Plan und Ausführung. Kennzeichnet der Plan die Architektur?  Oder ist Architektur das, was das Planen als Arbeit allererst ermöglicht?
Durch ihre Privilegierung des planvoll eingreifenden Subjekts vernachlässigen die klassischen Handlungstheorien nicht nur die materiellen Grundlagen, die das Handeln bedingen bzw. überhaupt erst ermöglichen, sondern schränken darüber hinaus das Handeln auf die außengerichtete penetrante Aktivität ein.
Die ganze Bandbreite des Handelns umfasst aber auch die Passivität und die Selbstveränderung. Die Architektur besteht nicht nur aus dem Demolieren und triumphalen Errichten, aus Berechnung und Konstruktion, sondern auch aus dem Erleiden, Sich-Einfügen, Sich-Zurückziehen und Erdulden. Sie besteht nicht nur aus der Repräsentation eines unbedingten Willens, sondern auch aus Transformationen, aus Flüssigkeit und Bewegung, aus Verwandlung und Übertragung.
Will man über die Planungsideologie der Architektur hinauskommen, so ist ein Handlungsbegriff erforderlich, der nicht die Kognitionen, das Pläneschmieden und Durchsetzen eines Subjektes zum Kriterium für eine gelungene Ausführung nimmt, sondern vielmehr die Frage, wie und woraufhin eine Welt überhaupt erschaffen und verändert wird.


1. Situation

Die Suche nach den Grundlagen des Handelns sollte sich daher auf die Performativität als wirklichkeitsstiftendes und kulturprägendes Potential eines (Vollzugs-) Prozesses richten. Ein solcher Prozess entsteht in einer Situation, in der eine Aktion nahe liegt, aber nicht erzwungen wird. Performativität hängt von offenen Situationen ab.[1] Die Einheit einer Handlung mag als Katastrophe, als Unfall, als Ereignis oder Widerfahrnis, als große Tat oder als dummer Zufall wahrgenommen werden, sie erschöpft sich jedoch weder in der Wahrnehmung, die sie prägt, noch in der Bewegung, die sie auslöst oder auf die sie eingeht. Die Handlung ist ein Prozess, eine Transformation, eine Veränderung, ein Fließen, ein ’rasender Stillstand’, immer zugleich geprägt von Ruhe und Wandel, das heißt von der Spannung, die eine Situation von einem Zustand unterscheidet. In einem Zustand gibt es keinen Raum für Handlungen, keine Strukturveränderung, keinen Platz für unvorhergesehene Entwicklungen, für Stufen, Schwellen, Übergänge, wie sie für Situationen kennzeichnend ist.


2. Spielstätte, Schauraum

Was diese Spannung einer offenen Situation hervorruft und auszulösen vermag, ist nicht erst das menschliche Handlungssubjekt. Vielmehr zählen in einer Situation die performativen Eigenschaften von Kräften, Dingen und Lebewesen gleichermaßen.
Dass materielle Grundlagen Situationen gestalten, zeigt sich besonders in der Architektur des öffentlichen Raums. Denn einerseits muss diese Architektur darauf ausgerichtet sein, Kräften, Dingen oder Lebewesen Aktionen zu entlocken und zur Schnittstelle von Interaktionen zu werden. Dazu muss sie ihre Offenheit einsichtig machen, damit Personen, Dinge oder Kräfte sich öffentlich in einer unvorherbestimmten Weise zeigen und zur Erscheinung kommen können. Andererseits muss sie die Wahrnehmung dieser Aktionen so organisieren, dass diese sich als wirklichkeitsprägend auswirken. Die Architektur öffentlicher Räume muss also einen Schauplatz eröffnen, sie muss Wahrnehmung organisieren als einen Erwartungshorizont, in den eine Handlung eintritt und den sie doch zugleich überrascht. Handlungen unterscheiden sich nämlich genau darin von Tätigkeiten, dass sie nicht erwartbar sind, dass sie nicht regelkonform sind.
Diese Organisation kann nicht, wie viele im Anschluss an die moderne Phänomenologie oder die philosophische Anthropologie meinen, der Körper oder die Verschlingung von Teilhabe und Distanz in der Zwischenleiblichkeit leisten, denn deren Wahrnehmungsvollzüge basieren schon auf den kontingenten Bedingungen einer Situation, die zunächst einmal Handlungsvollzüge, und also Aktivität und Passivität, Aktion und Reaktion zulassen, einräumen und sogar evozieren muss. Welche Sinne und welche Aktivationsmuster wir ausprägen, ist eine biologische Antwort auf die Eigenschaften der Welt, in der wir uns befinden. Diese biologische Antwort, die Organbildung, ist daher abhängig von Freiräumen, die als Ressource der Veränderung genutzt werden können. Die Architektur sollte als Gestaltung der Sinnlichkeit verstanden werden.
Im Zentrum des öffentlichen Raumes steht eine Handlung in dem Sinne, dass die Architektur dem Ding, der Kraft oder dem Lebewesen einen Spielraum, sich anders oder auch gar nicht zu verhalten, zu allererst einräumt. Architektur ist folglich keine starre Voraussetzung, sondern situativ und prozessual. Sie ist keine Strukturvorgabe, sondern das, was eine Handlung zur Erscheinung bringt – keineswegs ausschließlich als Gebäude, sondern beispielsweise als Sich-Versammeln und Aufeinander-Beziehen von Akteuren. Sie wird ihrerseits von jeder Handlung modifiziert. Das Entwerfen, das Erbauen, Benutzen und das Verändern des öffentlichen Raumes sind gleichermaßen Weisen des Handelns. Handlungen antworten aufeinander und verändern dadurch den Zwischenraum, in dem sie sich abspielen.
Die Architektur dieses Spielraums macht das, was in einer solchen performativen Situation entsteht, zu einem Ereignis.
Wenn man Performativität von der Architektur her analysiert, so ergibt sich erstens, dass Handlungen von situativen Rahmenbedingungen abhängig sind, die Unterscheidungen zwischen Abläufen, Vorkommnissen und Vollzügen ermöglichen. Diese Rahmenbedingungen legen die Modalitäten solcher Unterscheidungen durch Verkörperungen fest. Zweitens folgt daraus, dass diesen Unterscheidungen spezifische Interaktionsmuster entsprechen. Diese Muster kristallisieren sich aus den Verkörperungen heraus und legen fest, wer handeln kann und was als Handlung zählt. Drittens folgt aus diesem Handlungsbegriff mit Blick auf das Ereignen die These, dass es situativer Antizipationen bedarf, wenn sich das Unvorhergesehene beobachtbar einstellen soll.
Die Möglichkeit, absichtsvoll zu handeln, ist lediglich das Derivat einer performativen Architektur. Aus dieser Infragestellung des Planens folgt, dass Orte, in dem Maße, wie sie der Planung eines Einzelnen entsprechen, kaum eine Chance haben, als öffentliche Räume zu wirken. Die Handlung im Sinne der Planausführung ist der Versuch, der Wirklichkeit Absichten, Zwecke, Sinnstrukturen aufzuoktroyieren, so dass die situativ generierte Wirklichkeit nur noch als Erfüllungskriterium der Zwecke eines Einzelnen oder einer Gesellschaft zählt. Die Performativität des Architekten ist nicht umsonst bis hin zu Leibniz das Modell des Demiurgen, des Schöpfergottes; es ist aber auch zugleich das Modell einer politischen Diktatur, in der nur der eine Wille zählt.


3. Architektur als Zwecksetzung

Aristoteles beschreibt in seiner “Physik”[2], dass die Architektonik die Kunst des Arbeitens an einem Material ist, um ein zweckvolles Objekt herzustellen. Jemand, der dieses Objekt gebraucht, muss mit seiner Form vertraut sein, der Produzent dieses Objektes aber, als Architekt, muss die Eigenschaften des Materials im Hinblick auf einen gewissen Zweck kennen. Der Architekt ist also nicht derjenige, welcher tatsächlich das Produkt herstellt oder es gebraucht, sondern derjenige, welcher die Form/Inhalts-Einheit eines Produktes entwickelt, indem er seinen Existenzgrund projiziert, bevor es überhaupt da ist. Doch das Entwerfen ist nur eine Variante der Architektur.
Architektur meint zunächst das Bauen (tektainomai) eines Grundes (Anfang/Ordnung: archè).
Der Ausdruck Archè geht auf Anaximander zurück, von dem es heißt, er habe auch das Modell seiner Vorstellung von “Archè” konstruiert. Anaximander scheint zugleich der Erfinder des Begriffs Archè wie auch des Uhrwerkes, des Gnomons, welches diese Archè darstellt und ins Werk setzt, zu sein.[3] Die Fähigkeit zur Vorhersage, die er dadurch erreichte, geht einher mit der Transformation der menschlichen Sphäre in ein großes Uhrwerk. Geht es uns allerdings nicht um die Zeit, die wir berechnen können, sondern die Zeit, in der wir leben, so benötigen wir ganz andere architektonische Modelle, um diese sichtbar zu machen.


4. Archein

Ein anderes Modell für die Errichtung eines Anfangs ist allerdings die Überlegung des Ursprungs der Handlung durch die Geburtsszene.
Handeln zeigt sich Hannah Arendt zufolge nicht in der Verwirklichung vorgefasster Ziele, sondern wie bei der Geburt durch unabsichtliche Geschichten, die sich ergeben. Lebensgeschichten sind Muster, die in ein Bezugsgewebe von Lebensfäden geschlagen werden und den Menschen enthüllen.[4] Aus der Situtation des Geborenwerdens rührt die Gleichheit der Menschen als Akteure. Die Kohärenz der Einzelereignisse wird nicht durch eine innere Logik, sondern durch den Akt der Erzählung hergestellt. Die Einheit der Handlung ergibt sich daher, wie beim Akt der Geburt, von Außen, durch das Erlebnis, das sich anderen mitteilt.
Eine bestimmte Struktur mitmenschlicher Beziehungen, eine künstliche Welt ist die Bedingung dessen, dass es überhaupt so etwas wie Handlungen gibt.[5] Sie ist die äußere Bedingung für die Geburt, für das Auftreten von etwas. Naturvorgänge kennzeichnet ein unermüdlicher Kreislauf, dessen Kreisen und Schwingen keinen Platz für Geburt und Tod lässt. So ist Handeln im Besonderen diejenige menschliche Tätigkeit, die dem Politischen entspricht und sich wesentlich zwischen Menschen an einem gemeinsamen Ort abspielt. Handeln heißt etwas Neues Anfangen. „Jede Aktion setzt vorerst etwas in Bewegung, (…) sie beginnt und führt etwas an im Sinne des griechischen αρχειν.“[6]
Das Handeln ist zwar eine Tätigkeit, es unterscheidet sich aber vom körperlichen Arbeiten und vom zweckhaften Herstellen. Das Handeln ist flüchtig und muss, um in die Welt einzugehen und sich als Tatsache in der Welt anzusiedeln, (erst) gesehen, gehört, erinnert und dann verwandelt, nämlich verdinglicht werden.[7] Die Faktizität dieses Bereichs hängt also zum einen von der Gegenwart anderer Menschen ab, von ihren Sinnen, von ihrer Erinnerung, und zum anderen von der Verdinglichung, von Verkörperungsakten. Das bedeutet, dass die Dinge jeder Handlung antworten müssen, sie aufnehmen und anverwandeln. Hierin zumindest muss Arendts Ansatz ergänzt werden: Die Dinge sind Teil des Theatralitätsgefüges, das öffentliche Räume stiften, damit sich Handlungen verkörpern können.


5. Erscheinungsraum

Als Ereignisse, abhängig von Gegenwärtigung und Verkörperung, sind Handlungen im Wesentlichen unbestimmt. Das Vermögen eines Menschen anzufangen heißt, dass er sich aller Berechenbarkeit entzieht. Dieses Vermögen kommt dem Menschen durch den öffentlichen Raum zu, in dem das Unwahrscheinliche selbst noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit hat. Und diese Begabung für das schlechthin Unvorhersehbare wiederum beruht ausschließlich auf der Einzigartigkeit der Erscheinung in diesem Raum.[8] Der Individualismus hängt weder vom Willen noch von einem genetischen Fingerabdruck ab, sondern von der äußeren Szenerie der Erscheinung. Die Geburt ist kein Akt des Individuums, sondern gründet im menschlichen Zusammensein, das heißt in der Fabrik des politischen Handelns, dem Gewebe, das alle Akteure zueinander situiert.
Das Handeln bedarf einer Bühne. Dort erst zeigt sich die kollektive Macht, die etwas Neues anfangen kann, anstatt der Gewalt, die immer nur bestehenden Zwecken gehorcht. Eigenschaften können kontrolliert, nämlich verborgen bleiben, wohingegen das, was sich im kollektiven Handeln äußert, nicht verborgen werden kann.
Bisher stand in der Architekturphilosophie die Analyse der Zustände im Vordergrund. Raumstrukturen wurden als Macht der Ausrichtung, Anordnung und der Hervorbringung erörtert. Gegenüber den Setzungen des souveränen Architekten blieb in dieser Perspektive nur mehr die Subversion durch den Gebrauch oder die Durchkreuzung einer Setzung durch eine nächste übrig. Mir scheint es daher geboten, den Blick auf die Situation zu lenken, wie sie besonders in der Architektur des öffentlichen Raumes zur Geltung kommt. Die Architektur des öffentlichen Raumes macht nämlich performative Prozesse jeder Art – und nicht nur die Demonstration von Macht oder die Transgression von Ordnung – möglich.
In öffentlichen Räumen können sich unterschiedlichste experimentelle Situationen ergeben. Hier können Parcours kollektivbildender Erfahrungsproduktion inszeniert werden. Als Muster eines öffentlichen Raumes ist daher der Stadtplatz anzusehen, für den nicht das Gebaute, sondern gerade das Ungebaute, nicht die materiellen Rahmungen, sondern die immateriellen Bewegungs-, Einfluss- und Entzugsmöglichkeiten kennzeichnend sind, in denen neue Wahrnehmungskonfigurationen entstehen können.


6. Moderne Missverständnisse

Wenn man öffentliche Räume in diesem Sinne nicht als Randzonen oder städtische Brachen, sondern geradezu als architektonische Höhepunkte kreativer Anarchie begreift, so muss man sich von einer ganzen Reihe moderner Missverständnisse verabschieden. Fasst man öffentliche Räume in diesem Sinne zugleich als Grundlage, als Gegenstand und als Antizipation von Handlungsvollzügen auf, so wird deutlich, dass traditionelle Kennzeichnungen ihrer Architektur zu kurz greifen, die lediglich auf Zugänglichkeit, Multifunktionalität und eine statische Gemeinschaftlichkeit abheben. Wesentlich ist ihnen nämlich, dass sie experimentelle Konfigurationen eröffnen. Und diese können durchaus unzugänglich, funktionslos und antagonistisch sein.
Die Skizze der Architektur des öffentlichen Raumes, die ich bis jetzt vorgestellt habe, legt den Akzent auf die Gestaltungsbedingungen von Herrschaftsfreiheit und auf experimentelle Öffnungen, das heißt auf das Wahrnehmbarmachen und Verkörpern von Qualitäten.


7. Kritik am Raumbegriff

Ziel dieser Begriffsbestimmung ist es einerseits, einen Begriff des öffentlichen Raumes vorzuschlagen, der weder vom Gegensatz zum Privaten ausgeht noch von einer Raumauffassung, die lediglich die Repräsentation oder aber die Subversion von Macht erklären kann. Auch wenn man ihn als rhythmische Periodisierung fasst, lässt der Raum nur das Durchkreuzen hegemonialer Wahrnehmungsordnungen zu.
Das Entscheidende beim öffentlichen Raum ist nicht die Frage, ob er dem Staat oder Privatleuten oder keinem gehört, es ist auch nicht die Frage, wie er sich zum Geheimnis oder zur Intimität oder zu einer Machtstruktur verhält, sondern: inwiefern er Grundlage für ereignishafte Interaktionen werden kann. Der öffentliche Raum entsteht erst aus einer aufgebrochenen Wahrnehmungsordnung, er ist dynamisch, performativ und anarchisch.
Daher ist es notwendig, einen Begriff des Raumes zu verwenden, der diesen nicht mehr nur als Strukturvorgabe, Bewegungsanordnung oder Syntheseleistung auffasst. Denn auch in den jüngsten Debatten herrscht ausgehend von Foucault und Deleuze immer noch die Auffassung vor, Raum müsse als System, als Ensemble von Relationen gedacht werden. Auch ein Raumbegriff, der quasi das Außen der räumlichen Machtdistribution noch mit zu erfassen versucht, und dabei auf Strategien der Bewegung, der Dauer oder der Deterritorialisierung zurückgreift, unterstellt die Geschlossenheit dessen, wogegen diese sich richten, eine Geschlossenheit, die letztlich auf den Handlungs- und Kognitionskategorien eines humanen Subjekts fußen.
Zumindest der öffentliche Raum aber lässt sich nicht unabhängig von emergenter Materialität und Performativität konzipieren. Er geht nicht aus den Ordnungsmustern der Erfahrungs- und der Erkenntnissysteme hervor, sondern stimuliert auf unsystematische Weise eine Vielzahl sinnlicher Prozesse, von denen die Erfahrung nur eine Variante ist. Dieser Raum muss daher als Weite oder Tiefe, als Wirbel oder als Gleiten, als Brechung, als Streuung, als Strömung begriffen werden, denn er geht aus einer qualitativen Vielheit hervor.


8. Spannung

Typisch für Stadtplätze ist nämlich gerade die Spannung zwischen den verschiedenen Bewegungszentren und geometrischen Steuerungsinstrumenten zum Material, zu den sie umgebenden Häusern, zum Straßenbelag, zum freien Himmel, zu den Pflanzen und Tieren, zur Ubiquität der Geräusche, zur Vielzahl möglicher Blickrichtungen, zur ausfransenden  Unübersichtlichkeit der Straßen, Gassen, Tore, Fenster, und zum Unterirdischen. Nicht ein alles beherrschender Blick, sondern das Risiko der Interaktion, die Unvorhersehbarkeit des Klimas, das Ausstellen des Organischen, die blinden Flecken der Gegenseitigkeit prägen die Gestalt der Plätze.
All diese Spannungsphänomene sind nämlich nicht das Andere, das Gegenüber der klaren und distinkten Platzgestalt, sondern bringen seine Erfahrbarkeit erst hervor und sind zugleich Teil seiner Erfahrung. Auch vom alltäglichen Straßenverkehr lassen sich diese Phänomene nicht abstrahieren.
Die kollektive Produktion von Erfahrungen in öffentlichen Räumen entsteht aus der experimentellen Interaktion von Menschen, Tieren, Dingen, Kräften usw. Bei solchen Interaktionen sind nicht nur menschliche Intentionen ausschlaggebend beteiligt. Auch sind sie nicht nur für ein interpretationsfähiges Bewusstsein relevant, sondern für alle daran beteiligten Akteure. Humane und nichthumane Aktionen werden von situativen Auftrittsbedingungen einander zugeordnet. Das Offene einer experimentellen Situation besteht folglich gerade nicht in den Ordnungskategorien eines Theatralitätsgefüges, das alle Bewegungen, Wahrnehmungen und Zeichen einander zuordnet, sondern in der Einräumung der Ausnahme, des Unabsichtlichen und Unbeherrschbaren.


9. Experimentelle Konfiguration

Daher darf die Verkörperungsfunktion des Handelns nicht nur als Widerstand oder Anpassung
[9], Erduldung oder Erfüllung in den Blick kommen, denn sonst bliebe unsere Analyse den inhaltlichen Vorgaben der aggressiv-penetranten Seite verpflichtet. Experimentellen Konfigurationen vorgelagert sind Techniken der Kollektivierung, die grundsätzlich die Unterscheidung von Personen und Sachen aufzubrechen und neu anzulegen vermögen. Die Inszenierung des Experiments in der Architektur des öffentlichen Raumes ordnet immer mehrere mögliche Akteure einander so zu, dass ein Ereignis im Zusammenwirken mehrerer voneinander unabhängiger Kräfte emergiert, wobei das „Zusammen“ dieser Handlungskräfte wesentlich darin besteht, weitere Handlungen auszulösen und folglich nicht das Ereignis zu verursachen. Der möglichen Offenheit und Unberechenbarkeit experimenteller Konfigurationen und der Singularität dabei entstehender Situationen, die nicht immer von Instrumenten oder Aufzeichnungsmedien zu stabilisieren sind, entspricht eine Versammlung außerhalb kulturell und sozial festgelegter Orte. Genau diese Versammlung leistet der öffentliche Raum. Die Versammlung ist zugleich eine Desorganisation, bei der Ordnungskategorien einer virtuell un­end­lichen Rekombination unterworfen werden. Die Versammlung kann neue experimentelle Situationen  hervorbringen, sie kann aber auch ein abwartendes Sein-Lassen entstehen lassen, das auch die distanzierteste Beobachtung stets nur stört und verzerrt.


10. Ereignis ist Handlung

Dieser auf humane Handlungsspielräume zielenden Freiheit des Experiments entgegen inszeniert der öffentliche Raum jedoch auch unabhängig von menschlichen Registrationsapparaturen dem Ereignis einen Erscheinungsraum.
Der öffentliche Raum führt folglich nicht nur die Beherrschbarkeit des Erlebnisses vor, sondern schafft eine offene Stelle für die „Möglichkeit der Entmenschung“[10], für Erscheinung von etwas in seiner Unähnlichkeit, in seiner Singularität und Fremdheit. Diese offene Stelle vollzieht daher die Aufhebung von Unterscheidungen, sie ist die Gelegenheit neuer Entscheidung, die Gelegenheit zur Hinwendung zu dem, was bislang ausgegrenzt und unmöglich war. Damit zielt das Ereignis auf eine Freiheit von der Beherrschung (durch den Menschen). Schnittpunkt der beiden Schichten des öffentlichen Raumes ist demnach der Platz für Entscheidungen als Vollzugsform der Freiheit.
Daraus folgt, dass öffentliche Räume Experimente als kollektivbildende Erfahrungsproduktionen einräumen, bei denen sich Ereignisse als Entscheidungen in dynamischen Spielräumen einstellen.
Derartige Ereignisse sind mit Blick auf ihre heteronome Erscheinungsweise weder als Effekt einer Aktion noch als Signal innerhalb einer symbolischen Ordnung aufzufassen. Was sich im Ereignis zeigt, besitzt vielmehr selbst eine Handlungsqualität. Das Ereignis antwortet nicht nur, sondern ist selbst eine Verkörperung, ein Eingriff, der die experimentelle Situation neu konfiguriert, auch wenn er als Widerstand, Erduldung oder Erfüllung zu bewerten ist. Das so verstandene Ereignis liefert daher ein brauchbares Kriterium, um Handlungen von bloßen Vorkommnissen, von bloßem Tun oder von physiologischen Funktionen zu unterscheiden: Das Ereignis handelt im Rahmen des Spielraums, der durch die kollektive Experimentalarchitektur konfiguriert worden ist. Es ermöglicht dadurch weitere Spielzüge, dass es von anderen Handelnden in diesem Raum nicht durch einen bloßen Beschluss hätte herbeigeführt werden können. Es verändert daher die Architektur und erweitert den Kreis des Entscheidbaren.


11. Die Leerstelle im Zentrum

Öffentliche Räume setzen sich daher einerseits zusammen aus experimentellen Konfigurationen, in denen die konkreten Umstände des Erfahrens und die lokalen Bedingungen der Beobachtbarkeit ausgehandelt werden, und andererseits aus Zonen der Unverfügbarkeit, aus Fremdkörpern und Schatten, aus jenem Möglichkeitsraum, der als Ressource der „Verkörperung“ und der „Wahrnehmbarmachung“ genutzt aber nicht funktionalisiert werden kann.
Verkörperung bezeichnet den Vorgang und das Resultat einer Handlung, die sich aus einer situativen Konfiguration herauslöst. Diese Verkörperung wird wahrnehmbar in dem Maße, wie der Raum als Medium den Verkörperungsvorgang inszeniert und in Bezug auf eine bestimmte Konfiguration der Sinne qualifiziert. Der Raum vermittelt dann das Spiel der Veränderung mit den Profilen der Erfahrbarkeit.
Die Architektur des öffentlichen Raumes ist dasjenige, was die Konfiguration von Schauplätzen und Spielstätten ermöglicht.
Denn das wirklichkeitsstiftende Potential performativer Prozesse tritt nur dann auf, wenn Dinge, Kräfte oder Lebewesen sich öffentlich in einer unvorherbestimmten Weise zeigen. Das Zeigen ereignet sich notwendigerweise in einem Kollektiv, denn die Wahrnehmbarkeit eines derartigen Prozesses als Vollzug hängt von der Architektur eines kollektiven Experiments ab, in dem sich das, was als Handlung gilt, erst herausstellen muss. Dieses Herausstellen gelingt durch die Figuration von Schichten und Zwischenräumen, von Impulsen und Oberflächen, von Aufnahme und Vergegenständlichung innerhalb einer Vielzahl von Schattierungen, sie gelingt durch die Figuration der Gegenseitigkeit, in der sich Wahrnehmung in einer Zone der Kontingenz (über jedes Reiz-Reaktions-Schema hinaus) vollziehen kann. Aus der Verdichtung, Intensivierung und Abstimmung dieser Figuration entsteht eine Architektur, die den Zufall erfahrbar und gestaltbar macht.
Durch diese Konfiguration wird die Möglichkeit eröffnet, dass sich Wahrnehmungsakte verdinglichen, ohne dass sie zugleich schematisiert oder funktionalisiert würden.
So bringen sie selbst ihrerseits Bedingungen hervor, in denen eine Handlung auf eine andere antworten kann, ohne dass die Handlungsereignisse kausal verknüpft wären, denn Handlungsereignisse bestehen genau in der Wahrnehmung dieses Spielraums. Diese Rahmenbedingungen machen Handlungen (ganz unabhängig vom Gutdünken der Individuen, denen diese zugeschrieben werden) als solche sichtbar. Sie können auf viele erweitert oder auf wenige eingeengt, sie können verflüssigt, verstetigt oder unterbunden werden. Dass wir überhaupt handeln können, hängt nicht von unserem Willen, sondern von dieser Architektur ab. Wo auch immer experimentelle Versammlungen stattfinden, liegt Öffentlichkeit in diesem Sinne vor. Doch sie kann auch zur Grundlage kultureller Prozesse werden, wenn die Leerstelle der Versammlung ins Zentrum der Interaktion gestellt wird. Wenn Öffentlichkeit aufgesucht, gestaltet und gesteigert werden kann, wenn sie zur Emergenz von Handlungsspielräumen führen soll, so lässt sie sich letztlich nicht auf die Gestaltungskategorien Offenheit, Transparenz, Unbegrenztheit, Zugänglichkeit oder Nachbarschaft reduzieren, sondern im Zufall, in der Herrschaftsfreiheit, im Einräumen von Entscheidbarkeit.
Die Architektur des öffentlichen Raumes situiert die Peripherie, die Umwelt, das Fremde im Zentrum eines urbanen Systems.
Sie entsteht aus raumgreifenden Impulsen, aus Spuren und Sonden, die sich aus Ordnungen, Herrschaftsformen und Ontologien herauslösen, Kontraste bilden und neue Möglichkeiten erspüren, insbesondere Möglichkeiten der freien Assoziation und der Selbstdarstellung des Einzigartigen. So emergiert aus einer Architektur des Zufalls die Möglichkeit herrschaftsfreier Entscheidungsprozesse und wünschbarer Interaktionsregeln. Durch diese Spannng schafft sie einen Freiraum der Erfahrung, eine Reflexionsfläche und eine Schwelle der Selbstveränderung.
 


Anmerkungen:

[1] Siehe hierzu meinen Aufsatz: “Experiment und Ereignis”, Zum Spielraum möglicher Handlung unter der Bedingung des Naturgesetzes“. Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie 2 (2003), S. 105 – 124.

[2] Aristoteles, Physik II, 194b 2 sq., cf. Plato, Polit. 259E)

[3] Diogenes Laertius schreibt: “Anaximander sprach nicht nur vom Grund (Archè), er hat auch, so scheint es, Gründe gebaut: ein Modell, über das sehr wenig bekannt ist, aber dessen verschiedene Teile scheinbar eine Himmelssphäre, eine Weltkarte und ein Gnomon enthielten.” {Diog. Laertius, 2.1-2}

[4] Hannah Arendt, Vita Activa, oder Vom tätigen Leben, München 1967, S. 226. Auch hier antizipiert Arendts Ablehnung des Autors zugunsten eines „Gewebes“ viel von Foucaults späterer Position.

[5] Vita Activa, S. 227.

[6] Vita Activa, S. 214f.

[7] Vita Activa, S. 113.

[8] Vita Activa, S. 217f.

[9] Wie beispielsweise in dem viel beachteten wissenschaftsphilosophischen Entwurf von Andrew Pickering, The Mangle of Practice, Time, Agency and Science, Chicago 1995.

[10] Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Gesamtausgabe Bd. 65, Frankfurt/M. 1989, S. 384, 508, 510.

 


feedback  


9. Jg., Heft 1
November 2004