Gebaute Räume
Zur kulturellen Formung von Architektur und Stadt

9. Jg., Heft 1
November 2004
   

 

___Gert Selle
München
  Öffnen und Schließen
Über alte und neue Bezüge zum Raum

 

   

Öffnen und Schließen sind ins Tierreich weisende Gesten unvordenklichen Alters. Sie begründen und umschreiben die überlebensnotwendige Erfahrung eines bergenden Raumes wie bei einer Muschel, die sich öffnet und schließt. Und sie sprechen von einer Ambivalenz: Jedem sichernden Verschließen muss ein entsicherndes Öffnen vorangegangen sein oder folgen, wie im Wechsel von Unterschlupf und Nahrungssuche gefordert. Das Doppelmotiv gilt auch für das eigenleibliche Innere, das sich entgegen aller Lebensvorsicht regelmäßig öffnen und schließen muss: Iss nicht mit offenem Mund! Sprich nicht mit vollem Mund! Wer weiß, welche Erfahrung hinter diesen Regeln guten Benehmens steckt. Auf alten Bildern verließ die Seele einst ihren Leib durch den Mund, und im Exorzismus entfuhren ihm die Teufel und Dämonen, die durch diese Pforte in das Haus des Körpers hineingekommen sein mussten. Es war ratsam, den Mund wie eine Tür geschlossen zu halten oder ihn zu versiegeln, damit kein Geheimnis entschlüpfte.
Der Mund ist ein Loch, das ins Innere führt und wieder aus ihm heraus wie das Loch, das der Zimmermann im Haus gelassen hat. Die ungehaltene Aufforderung „Tür zu!“ bedeutet, dass es zieht oder jemand etwas nicht sehen oder mithören soll. Sie dürfte verdeckt aber auch heißen, dass man lieber nicht bei offenen Türen lebt, sie könnten eingerannt werden. Besser, sie dem Eindringling vor der Nase zuzuschlagen oder gar nicht erst zu öffnen.
Öffnen und Schließen sind Basisgesten des Wohnens. Sie führen in die Unvordenklichkeit des Anfangs aller Innenraumerfahrung, die mit Flucht, Geborgenheit und Abwehr beginnt. Die geschlossene Tür ist eine Einladung oder eine Falle. Wer heute eine fremde Tür unbefugt öffnet, begeht juristisch Hausfriedensbruch, wenn nicht gar Einbruch. Das Schließen einer Tür bedeutet von Anfang an Sicherung des Lebens, das Öffnen eine Gefährdung oder eine Gewalttat von außen oder eine Selbst-Befreiung.
Das Betreten oder Verlassen eines Raumes geschieht in einem körperlichen Akt, in einer Abfolge bestimmter Bewegungen, die von Wahrnehmung und Erfahrung geleitet werden bzw. diese bestätigen oder modifizieren. Dabei passiert man eine Grenze. Die Türzone ist Grenzgebiet, die Grenzlinie mit mehr oder weniger Entschiedenheit gezogen. Die erste Tür mag ein Felsbrocken gewesen sein, mit dem die Urhorde des Nachts den Eingang zu ihrer Höhle von innen verschloss. Dieser massiven Markierung entsprechen heute Schließanlagen mit Überwachungskamera. Aber auch ein leichter, wehender Vorhang wie in warmen Ländern zieht die magische Trennungslinie zwischen dem Innen und dem Außen.
Wie das Loch in der Mauer des umbauten Raumes auch beschaffen und bewehrt sein mag, im Hinein und im Wiederhinaus wiederholen wir verinnerlichte Bewegungserfahrungen und folgen wir unterschiedlichen Motivationen. Manchmal zieht es uns mit Macht in die Helligkeit eines verheißungsvoll schönen Tages, manchmal wollen wir in der Dunkelheit und Wärme des Verstecks bleiben. Der Psychologe Michael Balint spricht in seiner Typenlehre des personalen Bindungsverhaltens von einem Hin und Her zwischen Aufgeben und Wiedererlangen der Sicherheit (BALINT 23). Einerseits werde die Nähe zu einem Objekt, das heißt bei ihm zu einem Menschen, gesucht; andererseits entstehe das Bedürfnis zum Schweifen in „freundliche Weiten“. Von dieser Ambivalenz scheint auch das Verhalten gegenüber Räumen geprägt. Nur im pathologischen Fall wird Enge oder Weite nicht ausgehalten, siehe Klaustrophobie oder Agoraphobie als extreme Positionen der Raumerfahrung.

Ich gehe davon aus, dass es, bezogen auf gebaute Räume, einige Verhaltensregelmäßigkeiten gibt. Raum ist, was uns momentan umfängt und dem wir mit einem unbestimmten Spektrum nuancierter individueller Empfindungen begegnen, indem wir zum Beispiel den Wahrnehmungsvorschlägen folgen, die eine Architektur macht, oder indem wir uns gegen sie sträuben.

Im Raum sein, im Ruhezustand oder in einer Bewegung, heißt immer, den Raum auf eine bestimmte Weise wahrzunehmen. Wohliges Strecken im Bett (dem denkbar leibfreundlichsten Innenraum) oder rasches Durchqueren eines großen, leeren Zimmers sind gewiss von unterschiedlichen Wahrnehmungen begleitet. Letztlich lässt das Betreten eines Raumes und die Bewegung darin in der Regel keinen Sinn unbeschäftigt. Sehen, Hören, Riechen, die Temperaturempfindung der Haut, die Kinästhetik des Körpers mit seinem Gleichgewichtssinn werden aktiv. Hinzukommen die Fähigkeit zu sozialer Orientierung, falls Menschen mit im Raum sind, und ein unbewusstes kulturelles >Wissen< zur Einordnung und Bewertung des Wahrnehmbaren. Einzig das Schmecken eines Raumes haben wir im Laufe der Evolution verlernt, während wir immer noch wie Tiere unseren Geruch in der benutzten Wohnung hinterlassen. In Japan wird der Innenraum gebrauchter Autos aufwendig desodoriert, sonst kauft sie angeblich keiner.

Die elementare Funktion der Bewegung im Raum, durch die dieser überhaupt erst für die Wahrnehmung erschlossen wird, ist heute theoretisch hinreichend diskutiert (vgl. dazu die Ausführungen der Arbeitsgruppe des Sonderforschungsbereiches „Kulturen des Performativen“, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für historische Anthropologie, Heft 13, Berlin 2004, S. 25 ff.)
Es ist auch so, dass wir erst durch unsere Bewegung zum wahrnehmenden Subjekt im Raum und gegenüber dem Raum werden, dass Aneignung des Raumes und Aneignung oder Bestätigung des Selbst in diesem Akt zusammenfallen: Ich bin hier und nicht dort. Im Raum sein heißt Gewahrwerden der eigenen Anwesenheit darin samt der im Ereignis der Begehung oder des Aufenthalts mitproduzierten Gestimmtheit und Selbstaufmerksamkeit. Ich bewege mich leibhaftig im Raum, also bin ich. Und zwar hier und nicht irgendwo. Bewegung im Raum, sei sie noch so flüchtig ausgeführt, kann jederzeit zu einem performativen Akt existenzieller Selbstvergewisserung im Hier und Jetzt werden. Es bedarf dazu nur einiger Aufmerksamkeit, während man sich der Bewegung und dem Raum überlässt.
Nun will ich nicht generell die Bewegung im Raum thematisieren, sondern auf ein Detailgeschehen, auf den Raum vor dem Raum, auf die Schwelle aufmerksam machen als Raum des Übergangs, in dem man verharrt, also für einen Moment bewegungslos ist oder sich unmerklich bewegt wie bei einem Tanz auf der Stelle. Will man in ein Haus oder einen Raum hinein oder aus ihm heraus, muss man die Schwelle zwischen Außen und Innen passieren, die selber ein Raum ist, ein Raum vor einem leeren oder auch schon angeeigneten, besetzten Raum. Es gibt erkennbare Verhaltensfiguren in diesem Übergangsraum; eine ist zum Beispiel das Vor-der-Tür-Stehen und Warten nach dem Klingeln, ob jemand öffnen wird – klassische Einstellung in jedem Krimi, wenn der Kommissar ungeduldig vor einer Tür steht. Spiegelverkehrt dazu hinter der Tür, wie jemand sein Auge vorsichtig dem >Spion< nähert, um den Draußenstehenden zu taxieren, unschlüssig, ob er ihm öffnen soll.
Das Warten vor einem verschlossenen Raum hat rituellen Charakter. Das Zwischenraumsegment auf der Grenze von Innen und Außen ist ein Feld performativer Verdichtung. Architektonisch wird der kleine Leerraum durch Schwelle und Laibung dargestellt. Die existentielle, soziale, psychische und ästhetische Performance des Wohnens beginnt hier, um sich im Innern fortzusetzen. Umgekehrt beginnt hier die Außenwelt für den Bewohner. So füllt sich dieser Kleine Grenzraum mit Gesten, die über ihn hinausweisen.
Auf der Schwelle verharrt der Eintretende oder auch der Heraustretende mitten in der Bewegung für einen Moment. Ein Fremder zögert oder scharrt aus Verlegenheit mit den Füßen auf der Matte, weil er nicht weiß, was ihn drinnen erwartet. Ein Heraustretender bleibt witternd auf der Schwelle stehen (prüft zum Beispiel, ob es regnet), und weil er die Höhle hinter sich zusperren muss, dreht er sich um und hantiert mit dem Schlüssel. Man könnte sich diesem Geschehen ohne große Umstände forschend nähern: Anstelle eigens dafür angelegter empirischer Studien könnten Aufzeichnungen einer Überwachungskamera (als permanent laufender Film von Körpern in Bewegung im Raum) systematisch ausgewertet werden. Dabei entstünde vielleicht in mikrologischer Sicht ein Atlas von Bewegungsformen, bezogen auf den kleinen Übergangsraum. Die Videosequenzen ließen sich verlangsamen, stoppen, zerlegen, vergleichen, ordnen usw., was auf eine verhaltenswissenschaftliche oder auch künstlerische Analyse des Geschehens hinausliefe.
Eine solche hat der >Stadttänzer< Walter Siegfried mit seiner Videobeobachtung von Fahrgästen der Münchner U-Bahn unternommen, wie sie sich in das technische System der Rolltreppen einschwingen und es am Ende immer mit einem Tanzschritt wieder verlassen. Geschnitten bezeugt Siegfrieds Filmdokument eine eindrucksvolle unbewusste Choreographie zwischen Stillstand und Bewegung in einem unauffälligen technischen Raum des Alltags, dem Anfang oder Ende der Rolltreppe. (vgl. SIEGFRIED 1998)

Die Tür, baugeschichtlich älter als das Fenster, bildet die Schranke des Zugangs, während der Schwellenraum eine Art Vorhof darstellt, in dem man sich, von der unsichtbaren elektronischen Concierge beobachtet, nur kurz aufhält. Über eine Schwelle treten heißt immer, einen grundlegenden Positionswechsel zu vollziehen. Daher die Geste des Zögerns. Über eine Schwelle oder durch ein Tor gehen sind starke sprachliche Metaphern. Es ist immer ein kleines Abenteuer, morgens durch die Tür nach draußen in den Tag zu gehen, und ein kleines Fest der Heimkehr, sobald die Tür abends hinter einem wieder zufällt. Weil dieser Raum des Übergangs in seinen synästhetischen, psychologischen und philosophischen Dimensionen und Funktionen heute nur selten seine architekturtheoretisch und baupraktisch angemessene Beachtung findet, haben Baumärkte die Gestaltungshoheit über die Türzone angetreten. So hat dieser scheinbar neutrale Raum des Übergangs eine Art Diffusion erfahren; er ist angefüllt mit vorgefertigten Insignien eingebildeter Individualität und sozialer Distinktion.
Dabei ist dieser Ort für die Bewohner der Abschiedsraum aus der persönlichen Wohlaufgehobenheit und zugleich der Empfangsraum bei der Wiedereinkehr in Wärme und Sicherheit. In besseren bürgerlichen Zeiten verstanden es Architekten, die Bühne des Abschieds und der Wiederkehr zu gestalten. Heute ist man auf ein Design von Requisiten angewiesen, die man überall kaufen kann. Der Narthex vor der eigenen Tür wird mit Marmorstufe, Messingbeschlägen, Dekorbriefkasten, Kranzgebinde usw. herausgeputzt, was aber an der ausgeprägten Choreographie des Hinein- und Herausgehens nichts ändert. Sie bleibt stabil in den Formen körperlicher Bewegungen und unsichtbarer Emotionen, mit denen sie vollzogen wird.
Wohnraum ist immer ein von Erinnerungen und Sehnsüchten besetzter Raum. Er ist als Hülle des Lebens eine >virtuelle<, selbst produzierte, imaginierte Architektur im Kopf, beruht auf einem unbewussten Wissen um Notwendigkeiten, die über alle funktionalen äußeren Bedürfnisse hinausgehen. Eine Wohnung suchen, sie endlich finden und sich in ihr einrichten, ist ein existentiell weitreichendes Ereignis, ein Stück Biographie, eine Lebensleistung, einschließlich der reproduzierten Erinnerungen und Phantasmen, die einen dabei leiten. Flüchtlinge und Obdachlose wissen darum.
Auch das so genannte Traumhaus, in Bausparkassenprospekten und vom Fernsehen für die Lotterie abgebildet, spricht davon. Selbst in diesen synthetischen Pseudoarchitekturen mit ihrem gnadenlos falschen Anspruch wird vermutlich bedürfnisgerecht und von einem persönlichen Raumsinn der Erinnerung und Projektion geleitet gewohnt; es gibt eben doch ein richtiges Wohnen im falschen. Denn das Hauptmotiv bleibt die Suche nach dem Schutz des eigenen Daches über dem Kopf. Und es bleiben die tänzerischen Bewegungen des Hinantretens und Verharrens vor der Tür beim Heimkommen, bis beide Hände in den Manteltaschen nach dem Schlüssel graben. Es bleibt auch die emotionale Bewertung des heimatlichen Raumes für den, der darin zu Hause ist.

Raum, Motiv und Bewegung sind beim Öffnen und Schließen aufeinander bezogen. In den Figurationen der beiden Gesten ist die verborgene Geschichte des Wohnens enthalten. Gebauter Raum ist materialisierter, physisch begrenzter Raum, also das, was man anspruchsvoll Architektur nennt. Es ist aber zugleich ein erinnerter bzw. projizierter, imaginativ ausgelegter, persönlich interpretierter Wahrnehmungsraum, der nicht durch sein metrisch-reales Maß und nicht durch den architektonischen Entwurf endgültig definiert ist. Als wie weit oder wie eng ein Innenraum, als wie bewegungsanregend oder einschüchternd ein umbauter Platz empfunden wird, ist einerseits in der Anmutung des Gebauten als Impuls zur Bewegung und Wahrnehmung, andererseits in Situation und Verfasstheit der Wahrnehmenden angelegt. Kann schon der Glaube Berge versetzen, bricht die Einbildungskraft wenigstens Wände, und sei es durch eine Fototapete. Dann bewegt man sich im Sitzen durch den eingebildeten Wald. Das heißt, sein Bild auf der Fläche der Wand reicht aus, um uns zu einem virtuellen Gang zwischen Bäumen zu animieren.
Es gibt die verdeckten funktionalen und ästhetischen Zwänge, die strukturelle Gewalt hinter dem Gebauten, die auf den Bewohnern lastet, wie wir seit der Funktionalismusdebatte wissen. Es gibt aber auch innere Raumerweiterungen, die souveräne Nichtbeachtung der physischen Grenzen der Einschalung durch den Raum, sonst müssten alle Gefängnisinsassen Selbstmord begehen und hätte es nie ein Mönch in seiner Zelle ausgehalten. Raum ist, was wir wahrnehmen, Raum ist aber auch, was wir projizieren und imaginieren. Das Projizierte und Imaginierte bildet die Bewegungsräume im Kopf. Dennoch bedarf es einer nüchternen Phänomenologie der Gesten, die zunächst das Sichtbare notiert, um auf den Grund des Unsichtbaren zu kommen. Bezogen auf die Türzone als Grenze und Durchgangsraum darf man diese Feststellung treffen, weil der grundlegende Wechsel als symbolische oder als existentielle Entscheidung ausgelegt werden kann: Will ich draußen oder will ich drinnen sein – beides zugleich geht nicht. Es sei denn, ich zögere auf der Schwelle sichtbar oder in Gedanken.

Räume sind reale und virtuelle Wahrnehmungskonstrukte. Räume kann man real betreten oder imaginieren. Wenn man drin ist, kann man sich in andere Räume träumen oder nach draußen. Wenn man draußen ist, kann man sich nach drinnen träumen. Man sollte daher von einer Gleichwertigkeit realer und vorgestellter Räume sprechen und von der Fähigkeit, beide zu nutzen in einer doppelten Aneignungsbewegung des Wahrnehmbaren und des Nicht-Wahrnehmbaren.

Vielleicht schleppen wir in unsere Raumerfahrung in Form von Bildern im Kopf – solchen, die kulturell geprägt sind, und solchen, die biographisch spezifiziert sind – mit uns herum und aktivieren sie im Betreten beider Räume, des realen und des vorgestellten.
Von dem britischen Plastiker Antony Gormley, der diese großen, schweren Bleifiguren in der Landschaft aufstellt, gibt es eine Arbeit mit dem Titel „home“. Da liegt ein Körper im Freien auf dem Boden, während sein Kopf in einem winzigen Haus steckt. Ist es ein Haus der Weite oder der Enge? Es könnte das Gefangensein im Raum der Erinnerung und Erfahrung gemeint sein oder das Eintauchen in den Projektionsraum der Imagination, die alle Enge vergessen macht.

Es gibt Innenraumzonen, die bevorzugt dazu dienen, vorhandenen Raum imaginativ zu erweitern. Da ist zunächst der Winkel oder die Ecke, von Gaston Bachelard als „Kastenhälfte, halb Wand, halb Tür“ beschrieben (BACHELARD 166). Wer sich in einem engen Winkel aufhält, kann durch rasche Körperdrehung momentan seine Position, die er im Raum und zum Raum einnimmt, grundlegend verändern. Er kann den Winkelraum öffnen und wieder schließen. Es gibt auch hier die Positionen des Draußen bzw. Davor und des Drinnen.
Es ist ein Rest- oder Randraum, der aufgrund vorherrschender Orthogonalität gebräuchlicher Grundrisse von selbst entsteht, aber zum unentbehrlichen Raum für Absonderungswünsche geworden ist, als wäre er dafür vorgesehen. Für die Geschichte der Privatheit ist er von großer Bedeutung. Denn im Winkel oder in der Ecke gelingen Ansätze zu Individualisierung am ehesten. Die Ecke ist der Platz im Abseits, an den man als Kind gewiesen wurde, um einsam zu leiden, aber auch, um sich selbst im Trotz zu behaupten. Als Spielecke nähert sie sich deutlich jenem gern aufgesuchten Rückzugsort, der positiv belegt ist, und zwar gleich doppelt: Weil man  allein in der Ecke spielend ungestört ist, und weil bei diesem Spiel aus dem engen Realraum ein weiter Phantasieraum werden kann. Bei der Nutzung von Winkeln und Ecken geht es nie nur um reale Tätigkeiten, sondern immer auch um Phantasmen, um Be- oder Entgrenzung der Wahrnehmung. Auch der Herrgottswinkel ist ein Ort der Imagination, indem er sich zum Raum der Transzendenz öffnen lässt. Beim Spiel und bei der Andacht entstehen auf kleinstem Realraum weite innere Vorstellungsräume. Auch solche, in denen man still ist und sich nicht bewegt wie im Raum des Gebets.

Die Geschichte der Individualität ist auf solche Orte im Raum angewiesen. Nicht immer ergeben sie sich so deutlich zu erkennen wie Spielecke oder Herrgottswinkel. Man könnte meinen, das Bett sei früh ein solcher Ort des Rückzugs zu sich selbst gewesen, doch dabei würde außer Acht gelassen, dass die mitten im Raum platzierte kastenumbaute Schlafstatt mit Dach und Vorhang einst mehrere Personen gleichzeitig wie ein Haus im Haus zusammen mit Gästen beherbergte. Alleinsein war eher bei kleinen, niedrigeren Betten in der engen Kammer möglich. Dort ergab sich ein schmaler Restraum zwischen Wand und Bett, das Gässchen oder die ruelle (vgl. RANUM 224) auf der Seite, die einer allein zum Niederlegen und Aufstehen benutzte. Das Bett ist heute ein abgeschlossener warmer, dunkler Privatraum, Etui des Körpers, Ort der Träume oder sorgenvoller Schlaflosigkeit. Es ist immer noch der intimste, privateste Innenraum. Die ruelle aber war und ist ein unbeabsichtigt freier Reproduktionsraum des Ich – schon ein Draußen als Schwelle zur Öffentlichkeit der Tageswelt und noch ein Drinnen, ein Raum zum einsamen Sinnieren, Phantasieren, oder um, auf der Bettkante sitzend, über den vergangenen oder den kommenden Tag nachzudenken.
Das moderne Ich im Werden hat seine Genese vielleicht vor allem an diesem Ort erlebt. Denn die ruelle darf kulturgeschichtlich als einer der ersten identifizierbaren Privaträume im Raum gelten. Auch die damals noch geringe persönliche Habe wurde an dieser Stelle aufbewahrt.

Die ruelle ist ein individuelles Territorium im Innenraum, zugleich Schwellenraum ohne Tür wie die Ecke. Zubettgehen oder Aufstehen sind an diesem Ort Vorbereitungen für Übertritte in die Räume der Nacht oder des Tages. Die Türen zu dem einen wie dem anderen Raum bleiben unsichtbar.
Der physische Schwellenraum der ruelle, von Wand, Ecke und Bettkante begrenzt, führt körperlich in die Enge der Kammer, weitet sich aber geistig ins Unbegrenzte des Traumes, der Imagination und des Denkens, sobald die Schwelle zu diesen Räumen überschritten ist. Offenbar bedarf es eines unauffälligen physischen Raumes im Raum, damit dies geschieht. Dann entsteht die Erfahrung des Alleinseins, indem ein neutrales Raumsegment radikal privatisiert wird. Kaum ein Architekt wird jemals daran gedacht haben, dass ein zufällig entstehender Raum wie das Gässchen an der Seite des Bettes momentan zum wichtigsten Ereignisraum der ganzen Wohnung werden kann.

Ein Mann oder eine Frau auf der Bettkante, den Blick gegen die Wand (das heißt nach innen auf sich selbst) gerichtet, seitlich die Begrenzung der Ecke, nach der anderen Seite der schmale offene Gang in den Raum – so hätte Edward Hopper den auf sich gestellten, vereinsamten Menschen in der Fremde der späteren Moderne malen können. Das Gässchen zwischen Wand und Bett, auch im Hotelzimmer zum Hinein- und Herausgehen bestimmt, war einst der Raum, der es dem werdenden Individuum erlaubte, sich wenigstens zweimal am Tag selbst zu Bewusstsein zu bringen.
Wie dieser mit der Geschichte des Wohnens gekoppelte Prozess der Öffnung individueller Seelen- und Bewusstseinsräume weitergegangen ist, muss hier nicht dargelegt werden. Aber sobald heute Situationen entstehen, in denen moderne Wohnstandards nicht mehr greifen, wird deutlich, dass die Entfernung zum Anfang noch nicht groß ist. Wer im Flüchtlingslager oder im Asylanten-Container ein Bett an der Wand mit einer ruelle ergattert, in die ein Koffer passt, hat Glück gehabt und kann in Ruhe nachdenken, trauern und hoffen.

Öffnen und Schließen sind Gesten, die sich auf reale Räume und imaginäre Sinn-Räume richten. Sie beziehen sich nicht nur auf gebaute Architekturen. Eine Schublade ließe sich noch dazu rechnen, das Auf- und Zuknöpfen eines Kleidungsstückes schon weniger, der Eintritt in den Raum des Selbst bedarf der Architektur vielleicht noch in Gestalt einer Zelle oder eben der ruelle.
Den Schubladen, Truhen, Schränken hat Bachelard ein eigenes Kapitel seiner Poetik des Raumes gewidmet. Sie gewinnen mit ihrer Wahrnehmung von Geheimnissen eine fast metaphysische Dimension. Das Motiv des Vergrabens, dem die Geste der Ausgrabung entspricht, gibt jedem in der Wohnung befindlichen Schatzhaus sein Gewicht. Man erinnert die Schrankwand, die die kleinen Wohnungen kleiner Leute noch kleiner machte oder das Buffet im Gelsenkirchener Barock. Das waren, mit allem, was sie bargen, Identitätsschreine. Wer sie öffnete und durchsuchte, fand gegenständliche, bildliche und schriftliche Zeugnisse ganzer Lebensgeschichten, wir können auch sagen, deren Architekturfragmente.
Wer einen Schatz eingräbt, gräbt sich mit ihm ein.“ (BACHELARD 118). Dieser Geste des Verschließens entsprechen Gesten des Öffnens, wenn andere die Schränke und Schubladen öffnen, um den Nachlass zu sichten, und plötzlich das Leben einer Person sich vor einem ausbreitet.
Die metaphorischen und metaphysischen Dimensionen des Öffnens und Schließens von Räumen sind im Haus der Sprache wohl aufgehoben: Jemand schlägt die Tür hinter sich zu. Für immer? Man steht vor verschlossener Tür. Es geht nicht weiter! Ein Tor tut sich auf. Wird man jenseits der Schwelle frei sein?

Kehren wir zu den beobachtbaren realen Phänomenen des Öffnens und Schließens zurück. Wie nehmen wir sie im Moment der Gegenwart wahr? Haben die alten Gesten eine Modernisierung erfahren? Deutet, wer seinen Laptop auf- oder zuklappt, etwas grundlegend Neues oder Altes an? Oder wer in Schubladen kramt, die wiederum Unterschubladen (links) haben, die immer tiefer und verzweigter in den >Datenraum< führen – tut er nicht etwas sehr Altes? Wo sind heute die Geheimfächer untergebracht, die sich einst in jedem Schreibmöbel befanden? Welche Bilder des Verhaltens nehmen wir heute als alltagsbeherrschend wahr?
Menschen sitzen allein in einem Raum vor ihrem PC, regungslos, den Blick starr auf den Bildschirm gerichtet. Nur die Hand mit der Maus bewegt sich leicht, oder ein Finger berührt zart die Tastatur. Selbst im ICE, an dessen Fenstern die Landschaft vorüberzieht, schaut keiner von seinem Laptop auf ins Freie. Der Blick bleibt auf das kleine leuchtende Fenster geheftet, das in den Raum der Daten führt, wie in eine Transzendenz. Der reale Umraum, in dem das geschieht, wird nicht wahrgenommen, nur dieser virtuelle Raum. Dennoch gibt es für den, der am Computer arbeitet, drei Räume: den realen Raum, in dem er sitzt, der ihn aber nicht interessiert. Den virtuellen Raum, den er sich mit dem Schlüssel des Passwortes öffnet und der seine Aufmerksamkeit einsaugt. Und vielleicht noch einen kleinen persönlichen Raum abseitiger Phantasien, in den er sich verirrt, wenn die Konzentration nachlässt und der Blick aus dem Zugabteil in die wirkliche Landschaft draußen abschweift.
Der Beobachter nimmt nur zwei Räume wahr; den realen mit dem/den real darin Sitzenden. Den Raum der Datenwelt, in den sie schauen, sieht er nicht. Auch nicht den, den sie phantasieren. Dafür taucht vor seinem inneren Auge eine alte Raumabbildung auf, die ihn an die beobachtete Situation erinnert. Es ist das Idealportrait des Heiligen Hieronymus, der zu Beginn der Neuzeit oft dargestellt wurde, wie er allein in einem Kastengestühl, einem Raum im Raum sitzt, in der Klausur konzentriert auf die Offenbarung des Göttlichen, auf dem Pult ein aufgeschlagenes Buch, den Blick in ein Jenseits entrückt. Zu allem Überfluss trägt er einen Heiligenschein, damit jeder Betrachter merkt, was da läuft.
Um die Köpfe der am Computer Arbeitenden schwebt kein Heiligenschein. Aber sonst entspricht das setting der Situation geistiger Anstrengung im historischen studiolo, dessen karge, aber anheimelnde Einrichtung (heute Tisch, Drehstuhl, PC und Drucker) die Emigration in immaterielle bzw. transzendente Räume begünstigt.
Und noch etwas Gemeinsames kommt hinzu: Um jeden Einzelnen entsteht ein unsichtbarer Raum der Absonderung und Eingeschlossenheit. Ersatzweise für den Schein der Heiligkeit nehmen wir eine Aura von Abgeschiedenheit und Unansprechbarkeit wahr. Selbst im Großraumbüro ist diese Aura um jeden Einzelnen zu spüren. Die Leute sitzen wie Hieronymi an ihrem Platz, während sie mit dem geheimnisvollen Raum der Daten kommunizieren. Um jeden von ihnen bildet sich eine Zone des Respekts, die vor Störung schützt. Schließlich galt geistige Arbeit im Gegensatz zur körperlichen einmal als etwas Besonderes, was man daran erkannte, dass sie im Sitzen ausgeübt wurde. Die am PC Sitzenden wirken >vergeistigt<, weil sie sich nur körperlich wie im Raum Sitzende verhalten, mental aber ganz woanders sind. Sie sind Anwesend-Abwesende, sobald sie die Schwelle zum virtuellen Raum überschritten haben und nur ihr Körper im Realraum zurückbleibt.

Die Aura ist natürlich vor allem ein Produkt der Einbildungskraft des Beobachters; aber er imaginiert sie zu Recht. Man könnte Aura einen atmosphärischen Raum im Raum um etwas Körperhaftes nennen. Die modernen Hieronymi im neuen Bild rühren sich sowenig von der Stelle wie der Heilige im alten Bild. Dem Raum der Unendlichkeit, in den er bewegungslos schaut, entspricht die Weite des Internet, in der seine späten Kollegen surfen, während sie unbeweglich und unansprechbar sitzen.
Die Gesten der Aneignung des Raumes werden vollends zu Metaphern – das ist neu –, aber sie gelten noch in allen Räumen, in den alten wie in den neuen. Im physikalisch fest umgrenzten Raum, den man früher den wirklichen genannt hätte; in den digital generierten Räumen einer anderen Realität und in den halluzinierten Räumen einer Beobachter-Wahrnehmung, die irritiert die Wiederauferstehung alter symbolischer Figurationen zur Kenntnis nimmt.

Mindestens metaphorisch behalten die Grundgesten des Öffnens und Schließens ihre Gültigkeit. Man öffnet oder schließt heute Datensammlungen wie früher Schubladen oder Schränke. Der Beobachter öffnet das Buch der Kultur- und Kunstgeschichte, weil er meint, geklonte heilige Hieronymi im Raum sitzen zu sehen. Er klappt die Tür zur komparativen Phantasie aber gleich wieder zu, weil ihn das Phänomen der Ähnlichkeit samt Aura irritiert: Da sitzen doch in Wirklichkeit nur Sachbearbeiter oder irgendwelche Computerfreaks an ihrem Gerät!
Gleichwohl stellt sich der historische Bezug leicht her. Begriff und Erfahrung des Raumes reichen weit zurück in einen Raum der menschlichen Wahrnehmungsgeschichte. Das kulturelle Vokabular der Gesten steht noch zur Verfügung. Es bleibt die Grundlage zur Beschreibung sichtbarer und unsichtbarer, realer und virtueller, physisch-leiblicher und geistig-seelischer Räume.
Gewiss sind die räumlichen Erfahrungen gegenwärtig im Begriff, sich zu verändern und den neuen kulturellen Gegebenheiten anzupassen. Aber der alte Bestand der Bewegungsfigurationen ist noch nicht angegriffen und auch noch nicht vom Stillsitzen widerlegt. Das Betreten und Verlassen eines Raumes wird wie zu allen Zeiten von der Doppelgeste des Öffnens und Schließens gerahmt.
Mit dieser Verhaltenskonstante können wir offenbar rechnen, solange sich Raum durch eine wahrnehmbare oder nicht wahrnehmbare Begrenzung definieren lässt.


Literatur

Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes. Übersetzt von Kurt Leonhard. München 1975

Balint, Michael: Angstlust und Regression: Beitrag zur psychologischen Typenlehre. Stuttgart 1959

Ranum, Orest: Refugien der Intimität. In: Georges Duby (Hg.): Geschichte des privaten Lebens, Bd. 2: Vom Feudalzeitalter zur Renaissance. Frankfurt am Main 1990

Selle, Gert: Die eigenen vier Wände. Zur verborgenen Geschichte des Wohnens. Frankfurt/New York 1999 (3)

Siegfried, Walter: Wahrnehmungsirritationen als Impulse für Aufmerksamkeit. In: Flamboyant, Hg.: Studio 7, International Theatre Ensemble e.V.

 


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9. Jg., Heft 1
November 2004